Unverkäufliche Leseprobe Im Visier der Geheimdienste von Helmut Roewer Deutschland und Russland im kalten Krieg ISBN 978-3-7857-2326-5 © 2008 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG I . Kapitel: Keine Stunde null. Das Jahr 1945 Als der großdeutsche Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel in Berlin-Karlshorst in der ersten Morgenstunde des 9. Mai 1945 mit hochmütiger Miene seine Unterschrift unter die Urkunde zur bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht setzte, war der Zweite Weltkrieg in Europa bereits seit eineinviertel Stunden zu Ende.1 Aber es war keine Stunde null, wie vielfach zu lesen war. Dafür sorgte schon ein Mann namens Iwan Serow, der bei der Kapitulationszeremonie dem Deutschen über die Schulter schaute. Serow, den seine Gegner den sowjetischen Heydrich nannten, hatte trotz seiner jungen Jahre bereits eine breite blutige Spur durch Osteuropa gezogen. Iwan Serow wurde 1905 geboren. Einundzwanzigjährig trat er der Kommunistischen Partei bei, zwei Jahre später der Roten Iwan Serow (im Profil), am frühen Morgen des 9. Mai 1945 hinter Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel stehend, der soeben in Berlin-Karlshorst die Kapitulationsurkunde für die deutsche Wehrmacht unterzeichnet. Offenbar ist Serow dann geschwind auf die andere Seite des Tisches gesprungen: Gleich darauf steht er hinter dem sichtlich enervierten Marschall Georgi Shukow. Ke i n e S t u n d e n u l l 11 Armee, die ihn zur Generalstabsausbildung auf die FrunseAkademie schickte. Doch erst mit der Großen Säuberung kam seine Stunde. Serow wechselte 1938 in die sowjetische Geheimpolizei NKWD, wo soeben der Georgier Lawrenti Berija seinen Dienst als Generalkommissar für Staatssicherheit angetreten hatte. Der machte Serow zunächst zum Chef der Hauptverwaltung Miliz, das war die Zentralverwaltung der gewöhnlichen Polizei für das Gebiet der gesamten Sowjetunion. Ein gewaltiger Karrieresprung für den dreiunddreißigjährigen Major der Roten Armee – ein Sprung, der nur möglich war, weil unter Berija auch das große Aufräumen im Sicherheitsapparat begonnen hatte, dem Tausende von altgedienten Tschekisten zum Opfer fielen. Bereits im Herbst 1939 stand die nächste Aufgabe an. Serow wurde Innenminister der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Eine bedeutsame Aufgabe, denn in der Folge des Hitler-Stalin-Pakts vom August 1939 und des deutschen Angriffs gegen Polen war am 17. September 1939 der sowjetische Überfall auf das geschlagene Polen von Osten her gefolgt, der in die verabredungsgemäße Teilung des Landes einmündete. Das östliche, nunmehr sowjetische Polen wurde mit erheblichen Teilen der Ukrainischen S S R zugeschlagen. Aus sowjetischer Sicht kam es nunmehr darauf an, die dortige Bevölkerung von den Segnungen des Sozialismus zu überzeugen. Im Klartext bedeutete das die Enteignung von Gewerbetreibenden und Bauern und die physische Liquidierung der führenden Schicht der polnischen Intelligenzija. 1941 rückte Serow, wieder in Moskau, zum stellvertretenden Minister des N K W D auf. Seine Domäne wurde die Deportation ganzer Völkerschaften. Nach den Polen, Weißrussen, Ukrainern, Esten, Litauern und Letten rückten nach Beginn des Deutsch-Russischen Krieges die Russlanddeutschen auf den Platz eins der Liste des Deportationsterrors. Im weiteren Verlauf des Krieges kamen die Kalmücken, die Karatschajer, die Krimtartaren und die Karbadiner an die Reihe; sie alle standen 12 I m Vi s i e r d e r G e h e i m d i e n s t e im Verdacht, keine willfährigen Untertanen des Sowjetsystems zu sein. 1944 übernahm Serow eine weitere zusätzliche Funktion. Er wurde Beauftragter des N K W D bei der 1. Belorussischen Front der Roten Armee, die den Schwerpunkt des Angriffs auf das Deutsche Reich bildete. Serows Einsatz hier galt der Unterdrückung nationaler politischer Ansätze in der zurückeroberten Ukraine und in Polen. Mit den sowjetischen Truppen des Marschalls Georgi Shukow erreichte der Generaloberst der Staatssicherheit Berlin. Gleich nach der Kapitulationszeremonie berichtete Serow seinem Chef Berija über deren Verlauf und das Verhalten der Beteiligten nach Moskau. Berija legte diesen Bericht unverzüglich den Genossen Stalin und Molotow vor. Darin hieß es: »Das Benehmen der Deutschen bei der Ankunft auf dem Flughafen und in den zur Übernachtung zugewiesenen Räumen war ausgesprochen herausfordernd … Die Besprechungen des Gen. Shukow mit den Alliierten verliefen normal, abgesehen von einer Verzögerung der Unterzeichnung der Kapitulation um zwei bis drei Stunden, da der Mitarbeiter des Außenministeriums, der Gesandte Smirnow, im aus Moskau übermittelten Text der Kapitulationsurkunde vier Zeilen ausgelassen hatte, die Alliierten das bemerkten und die Unterzeichnung zurückwiesen.«2 Stalin ernannte Serow am 21. Juni 1945 zum stellvertretenden Chef der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (S M A D). Sein Vorgesetzter war der Marschall der Sowjetunion Shukow. Es ist allerdings kaum zweifelhaft, wer von den beiden in Wirklichkeit das Sagen hatte. Auch wie die Herren zueinander standen, ist belegt: Die Memoiren des Marschalls der Sowjetunion geben deutlich Auskunft. Auf den einhundertfünfzehn einschlägigen Seiten kommen Dutzende von Namen vor, die der Oberbefehlshaber der 1. Belorussischen Front und spätere Befehlshaber der sowjetischen Truppen in Deutschland 1945/46 für erwähnenswert gehalten hat. Nur einer fehlt. Der von Iwan Serow.3 Ke i n e S t u n d e n u l l 13 Für die Sowjets bedeutete der Standort Deutschland zweierlei: Er war Teil des eigenen Machtbereichs, und er war ein vorgeschobener Posten für künftige Zeiten. Dementsprechend handelten die hier eingesetzten konkurrierenden Dienste. Sie waren ein brutaler Unterdrückungsapparat nach innen und ein Vorposten für die weitere Expansion. Zur Etablierung der Sowjetmacht nach innen ergriff Serow als Erstes eine altbekannte Maßnahme. Er ließ Lager errichten, um wirkliche oder vermeintliche Feinde des Sowjetsystems einzusperren. Diese NKWD-Lager sind unter der Bezeichnung Speziallager oder kurz Spezlager in die frühe deutsche Nachkriegsgeschichte eingegangen. Hierfür nutzte die sowjetische Geheimpolizei ehemalige nationalsozialistische Konzentrationslager. Symbolträchtiger konnte kaum zum Ausdruck gebracht werden, dass dem totalitären N S-Staat ein weiteres totalitäres Regime nachgefolgt war. Werwolf und andere Fabeltiere. Die sowjetischen Organe bei der Arbeit In die Lager wurde gesperrt, wer nach dem Willen der neuen Herrscher dorthinein gehörte. Ganz oben auf der sowjetischen Agenda standen die Werwölfe. Das, so wurde gemunkelt, war eine Organisation, die sich vom Feind überrollen ließ und in seinem Rücken den Kampf fortführen sollte. Kein Wunder, dass die Sowjets derartige Behauptungen bitterernst nahmen, denn sie entsprachen ihren eigenen Denk- und Handlungsmustern, die sie im Krieg gegen N S-Deutschland mit der Partisanenbewegung angewendet hatten. Zwar entsprachen die Rahmenbedingungen für eine Partisanenkriegführung im Frühsommer 1945 in keiner Weise der Situation in Russland von 1942 bis 1944, es fehlte zum Beispiel ein unbesetztes Hinterland, doch immerhin, man konnte ja nicht wissen, zumal man dem Fanatismus der in den Untergang taumelnden 14 I m Vi s i e r d e r G e h e i m d i e n s t e Nationalsozialisten noch über das Kriegsende hinaus einiges zutraute. Schauen wir uns also die Werwölfe an, über die so Unterschiedliches und Unvereinbares berichtet worden ist. Der Werwolf war ein Fabeltier, halb Mann, halb Wolf, und er passte prächtig in den germanischen Mythenschwulst der N S-Bewegung. Schon Hitlers Hauptquartier in der Ukraine bei Winniza hatte 1942 diese Bezeichnung als Decknamen geführt. Als sich im Herbst 1944 die alliierten Armeen den Reichsgrenzen in Ost und West in dramatischer Weise näherten, erging die Weisung Hitlers, eine Werwolforganisation ins Leben zu rufen. Diese sollte sich überrollen lassen und im Rücken des Feindes den Kampf fortführen. Chef des Werwolfs wurde ein S S -Obergruppenführer namens Prützmann. Hans Prützmann schien hierfür besonders geeignet, hatte er doch seit dem Beginn des Deutsch-Russischen Krieges im Jahr 1941 als Höherer SS- und Polizeiführer (HSSPF) hinter der Ostfront genau das gnadenlos bekämpft, was ihm der Führerbefehl jetzt zu schaffen befahl. Ihm zur Seite trat als Stabschef der S D-Funktionär Karl Tschiersky. Dessen Betätigungsfeld war zuvor das Unternehmen Zeppelin gewesen, eine Sabotageorganisation des SD, die mit angeworbenen sowjetischen Kriegsgefangenen arbeitete. Zwar unternahmen die beiden Männer einige Versuche, eine Werwolforganisation auf die Beine zu bringen, doch mit ihrem eigenen Glauben an diese Sache kann es nicht weit her gewesen sein, denn Werwolfchef Prützmann setzte sich gegen Kriegsende von Berlin nach Flensburg ab, wo ihn die Briten schließlich auflasen. Der von ihm befürchteten Auslieferung in die Sowjetunion entzog sich der oberste Werwolf. Am 21. Mai 1945 setzte er seinem Leben durch Zyankali ein Ende. In Einzelfällen ist von Werwölfen explizit berichtet worden. So schrieb beispielsweise der Romanautor Erich Loest in seinen Memoiren, er sei selbst ein solcher Werwolf gewesen: Ke i n e S t u n d e n u l l 15 »Da tauchte eines Morgens ein Heldenwerber auf, ein Hauptmann mit dem Deutschen Kreuz in Gold und der Goldenen Nahkampfspange, und hielt eine Rede, die in der These gipfelte, noch seien die wunderbaren kriegsentscheidenden Waffen nicht ganz fertig, eine winzige Spanne müsse der Feind noch hingehalten werden, diese Galgenfrist müssten die Jungen erkämpfen, die unerbittlichsten, besten, härtesten. Werwolf! … Da meldete L. sich, unter anderem, weil er den Fußmarsch, Hungermarsch nach Görlitz fürchtete, und weil er wusste, dass es keine Lebenschance für ihn gab, wenn gerade an seinem Abschnitt der russische Sturm losbrach. Noch einmal würde er ausgebildet werden und schließlich im Rücken des Feindes kämpfen, verschworen mit wenigen, die schlau und zäh waren wie er.«4 Wir sind ein wenig skeptisch, ob sich alles so zutrug, wie der Chronist Loest berichtet hat, und behalten im Hinterkopf, dass hier einer schrieb, der die Laufbahn des sozialistischen Schriftstellers eingeschlagen hatte. Am 6. Mai 1945 jedenfalls wanderte der Neunzehnjährige erst einmal in der Tschechoslowakei in U S-amerikanische Kriegsgefangenschaft. Den Kampf im Rücken des Feindes hatte er sich verkniffen. Andere machten es angeblich, einige Kilometer von Loests Heldentaten entfernt, ganz anders. In der nordböhmischen Stadt Aussig jagten sie am 31. Juli 1945 das Munitionsdepot im Stadtteil Schönpriesen in die Luft. Dem Attentat folgte ein Massaker an den in der Stadt befindlichen Sudetendeutschen auf dem Fuß. Das war die Rache für den Werwolfanschlag. So ist es jahrzehntelang erzählt worden. Heute wissen wir es besser. Mit hoher Sicherheit kann davon ausgegangen werden, dass sowohl der Anschlag auf das Munitionsdepot als auch die angebliche Gewaltreaktion der Bevölkerung hierauf gezielte Aktionen der Abteilung Z waren. Hinter der ominösen Bezeichnung verbarg sich der ins tschechische Innenministerium integrierte Geheimdienst. 16 I m Vi s i e r d e r G e h e i m d i e n s t e Gustav Lübbe Verlag in der Verlagsgruppe Lübbe Originalausgabe Copyright © 2008 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG , Bergisch Gladbach Textredaktion: Dr. Anita Krätzer, Schwarzenbek Register: Heike Rosbach, Nürnberg Sämtliche Fotos in diesem Band stammen, wenn nicht anders vermerkt, aus dem Privatarchiv des Autors. Satz: Bosbach Kommunikation & Design GmbH, Köln Gesetzt aus der Trump Druck und Einband: Ebner & Spiegel GmbH, Ulm Alle Rechte, auch die der fotomechanischen und elektronischen Wiedergabe, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form reproduziert oder übermittelt werden, weder in mechanischer noch in elektronischer Form, einschließlich Fotokopie. Printed in Germany ISBN 5 4 978-3-7857-2326-5 3 2 1 Sie finden die Verlagsgruppe Lübbe im Internet unter: www.luebbe.de Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de Helmut Roewer erreichen Sie im Internet unter: www.helmut-roewer.de 4