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24524 · JAnuAr 2015
Etappensiege gegen die tückische Krankheit
WUR zEl DES ÜBEl S
DA S UNHEIl KoMMEN SEHEN
gESCHUlTE KöRPER ABWEHR
Verhängnisvolles Wirken
von Krebsstammzellen
neue Methoden zur
früherkennung
Behandlungserfolge mit gezielt
abgerichteten Immunzellen
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01
spezial Biologie · Medizin · HirnforscHung 1/15
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EDITORIAL
Gerhard Trageser
Redaktionsleiter Sonderhefte
Mit Physik und den Waffen des Immunsystems
A
ls US-Präsident Richard Nixon 1971 den »Krieg gegen
den Krebs« erklärte, schien das Ziel, die Krankheit in einem nationalen Kraftakt binnen 25 Jahren zu besiegen, nicht
utopischer als John F. Kennedys Vorgabe von 1961, noch vor
Ablauf des Jahrzehnts einen Menschen auf den Mond zu bringen. Doch Krebs hat sich als hartnäckiger Gegner erwiesen.
Trotz beachtlicher Fortschritte bei der Vorbeugung, Früherkennung und Behandlung, die in jahrzehntelanger intensiver
Forschung erreicht wurden, ist er immer noch die zweithäufigste Todesursache in den westlichen Industrieländern.
Teilweise liegt das an einem an sich erfreulichen Trend:
unserer stetig steigenden Lebenserwartung. Mit zunehmendem Alter häufen sich in unserem Körper Mutationen, die
Zellen entarten lassen. Je länger also ein Mensch lebt, desto
größer ist das Risiko, dass eine davon zu wuchern beginnt.
Darum tritt Krebs in einer alternden Gesellschaft von Natur
aus häufiger auf.
Der Kampf gegen die Krankheit kommt aber auch deshalb
nur schleppend voran, weil sich die Fülle an Erkenntnissen
über ihre Ursachen nicht ohne Weiteres in Therapieansätze
ummünzen lassen. So hat sich herausgestellt, dass einem
­Tumor oft nicht mehr als ein paar wenige entartete Stammzellen Grunde liegen, die im Gewebe versteckt sind, so dass
sie sich kaum aufspüren und beseitigen lassen (S. 6). Solange
sie aber nicht ausgemerzt sind, bilden sie den Tumor, auch
wenn er chirurgisch, medikamentös oder radiologisch entfernt wurde, immer wieder neu.
Eigentlich waren die Voraussetzungen für den Kampf gegen Krebs denkbar günstig. Auf dem Gebiet der Genetik und
Molekularbiologie gab es in den vergangenen Jahrzehnten
gewaltige Fortschritte, man denke nur an die DNA-Sequen­
zierung. Doch die neuen, enorm leistungsfähigen Analysemethoden zeigten nur immer klarer, wie komplex und vielfältig die Mechanismen sind, die zu unkontrollierter Zell­
wucherung führen. Was die Unmenge der damit gewonnenen
neuen Einsichten dagegen nicht offenbarte, war ein einheitliches Grundprinzip, das einen Ansatz für ein allgemein anwendbares Therapieverfahren geboten hätte. Unter der Flut
an Detailinformationen droht die Tumorbiologie deshalb
WWW.SPEKTRUM.DE
mittlerweile eher zu ersticken, als dass sie ihrem Ziel näher
käme, eine durchschlagende Heilmethode zu liefern (S. 38).
Vor diesem Hintergrund hat sich unlängst eine neue Richtung entwickelt: die physikalische Krebsforschung. Statt sich
immer tiefer in molekulare Feinheiten zu verlieren, fahnden
ihre Vertreter nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten im Verhalten von Tumorgewebe, etwa bei mechanischen Eigenschaften wie der Elastizität und Kontraktionsfähigkeit (S. 41).
Und an Stelle der Aktivitäten von einzelnen wuchernden Zellen betrachten sie das Verhalten der Geschwulst als Gesamtsystem (S. 44). Dabei ziehen sie auch Computermodelle heran und führen mit ihnen virtuelle Experimente durch (S. 47).
N
och einen anderen Weg beschreiten Forscher, die Krebs
mit den eigenen Waffen des Körpers zu bekämpfen suchen. Im Prinzip ist unser Immunsystem nämlich in der
Lage, entartete Zellen zu erkennen und selbst zu beseitigen.
Manchmal versagt es in dieser Wächterfunktion jedoch –
etwa weil Krebszellen sich geschickt tarnen oder natürliche
Mechanismen zum Zügeln der Körperabwehr ausnutzen.
Immuntherapien zielen folglich darauf ab, solche Bremsen
zu lösen (S. 55) oder die immunologischen Spürhunde gezielt auf die Tumorzellen zu hetzen (S. 62).
Auch mit solchen Mitteln wird es allerdings wohl nicht gelingen, den Krebs in der Weise zu »besiegen«, dass er in allen
seinen Formen und Stadien mit einer einzigen Standardmethode heilbar wäre. Stattdessen dürfte die Medizin im Ringen mit dem zähen Gegner weiter Boden gut machen – und
einen schon bestehenden Trend fortsetzen, wonach sich bei
einer wachsenden Zahl von Krebsarten die Heilungsaussichten stetig verbessern. Das sollte bewirken, dass die Krankheit
allmählich ihren Schrecken verliert und immer weniger
Grund dafür besteht, eine Krebsdiagnose – wie früher meist –
als Todesurteil zu empfinden.
Herzlich Ihr
3
I N H A LT
25
41
a
UNIVERSITÄT ZÜRICH; MARKUS KNUST UND MARCO PRINZ, UNIVERSITÄT FREIBURG
Tückische Invasoren
Krebszellen verschaffen sich mit
Botenstoffen Zutritt zu Blutgefäßen,
um weitere Organe zu besiedeln.
a
FOTOLIA / JUAN GÄRTNER [M]
Die Elastizität von Tumorzellen, die sich
per Laser messen lässt, erlaubt Rückschlüsse auf den weiteren Krankheitsverlauf.
ONKOGENESE
Gerlinde Felix
ANGIOGENESE
20 Krebs,
Blutgerinnung
und Stress
Matthias W. Hentze und A. E. Kulozik
Gefäßneubildung in Tumoren.
4
Robert Gatenby
Hauptmerkmale der Entartung.
TUMORMARKER
26 Verräterische Satelliten-RNA
Gabi Warnke
Genetisches Indiz für Bösartigkeit.
BIOMECHANIK II
41 Krebszellen im Kräftespiel
Erika Jonietz
Tumore sind oft auffallend steif.
VORSORGEUNTERSUCHUNG
28 Streit um die ProstatakrebsFrüherkennung
David Stipp
Alternde Zellen fördern Entartung.
BIOMECHANIK I
38 Der Blick fürs Wesentliche
FRÜHERKENNUNG
ZELLULÄRE SENESZENZ
TUMORPHYSIK
12 Krebsstammzellen im Visier
14 Unheil durch nicht mehr
teilungsfähige Zellen
Mathematische Modelle helfen Forschern, besser zu verstehen, wie sich Tumorzellen an ihre Umgebung anpassen.
METASTASIERUNG
INTERVIEW
Andreas Trumpp
Fatale Rolle der Krebsstammzellen.
Virtuelles Tumorwachstum
25 Türöffner für Krebszellen
6 Wurzel des Übels
ALEXANDER R. A. ANDERSON, INTEGRATED MATHEMATICAL ONCOLOGY, MOFFITT CANCER CENTER
Steif und fest
URSACHEN
47
MODELLENTWICKLUNG I
Marc B. Garnick
Schadet der PSA-Test mehr, als er
nutzt?
44 Berechnung des Tumors
DIAGNOSTIK
35 Das Unheil kommen sehen
Cassandra Willyard Neue Methoden zum frühzeitigen
Nachweis von Krebs.
Neil Savage
Simulation von Krebs im Computer.
MODELLENTWICKLUNG II
47 Und nun zur aktuellen
Krebsvorhersage …
Katharine Gammon
Mathematik verbessert Prognose.
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
55
62
NATIONAL CANCER INSTITUTE / PUBLIC DOMAIN
Hemmungen abbauen
»Checkpoints« zügeln die Immunabwehr. Ihren Missbrauch durch
Tumoren gilt es zu unterbinden.
ISTOCK / JUAN GÄRTNER
Kaderschmiede für Immunzellen
Beim adoptiven Zelltransfer entnimmt man einem Krebspatienten Immunzellen
und verändert sie so, dass sie den Tumor angreifen. Danach werden sie vervielfältigt und zurück in den Körper gebracht.
THERAPIEN
CHEMOTHERAPIE
50 Nano-Arzneitransporter
Katherine Bourzac
Winzige Wirkstoffkapseln befördern ihre Fracht sicher zum Ziel­
gewebe.
IMMUNTHERAPIE III
62 Auftragskiller
der Körperabwehr
INFOGRAFIK
68 Zelluläre Mobilmachung
IMMUNTHERAPIE IV
70 Bakterien gegen Tumoren
IMMUNTHERAPIE II
Gerlinde Felix
Aufheben des Stoppsignals für
Fresszellen.
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Katherine Bourzac
Die Schlacht zwischen Immun- und
Krebszellen direkt verfolgen.
Karen Weintraub
Die Blockade von körpereigenen
Immun­reaktionen durch Krebs­
zellen lösen.
60 Den Schutzpanzer der
Krebszellen ausschalten
IMMUNTHERAPIE V
76 Liveschaltung zum Tumor
Courtney Humphries
Die Immunpolizei gezielt gegen
den Tumor abrichten.
IMMUNTHERAPIE I
55 Freie Fahrt fürs Immunsystem
Sarah DeWeerdt
Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.
IMMUNTHERAPIE VI
80 Am Ort des Geschehens
Elie Dolgin
Impfimplantate wirken besonders
lang und spezifisch.
IMMUNTHERAPIE VII
84 Impfen gegen Krebs
Eric von Hofe
Erste erfolgreiche Vakzine.
INTERVIEW
74 Eine Kettenreaktion,
die den Tumor zerstört
Thierry Boon
Tumorantigene als Zielscheiben für die Körperabwehr.
Editorial 3 · Impressum 26 · Vorschau 90
Titelmotiv: iStock / Juan Gärtner
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INTERVIEW
Wurzel des Übels
Lange glaubten Mediziner, Tumoren bestünden aus mehr oder minder gleichrangigen Zellen. Doch immer mehr Belege deuten auf einen hierarchischen
Aufbau hin. An der Spitze steht dabei eine entartete Stammzelle, die das Tumor­
gewebe hervorbringt und immer wieder erneuert. Was wissen Forscher heute
über Krebsstammzellen? Ein Gespräch mit Andreas Trumpp vom Deutschen Krebs­
forschungs­zentrum in Heidelberg.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / PHILIPP ROTHE
PROFESSOR DR. ANDREAS
TRUMPP leitet die Abteilung
»Stammzellen und Krebs« im
Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Zudem
ist er Geschäftsführer des
Heidelberger Instituts für
Stammzell-Technologie und
Experimentelle Medizin
(HI-STEM).
Medikamente oder Strahlen können eine Krebserkran­
kung in vielen Fällen wirksam zurückdrängen. Oft schlägt sie
aber später erneut zu. Woran könnte das liegen?
Andreas Trumpp: Es mehren sich die Hinweise darauf, dass so
genannte Krebsstammzellen den Tumor zurückkehren lassen.
Was muss man sich darunter vorstellen?
Trumpp: Um das zu erklären, muss ich ein wenig ausholen.
Wir alle haben in unserem Körper eine ganze Reihe verschiedener Stammzellen. Die adulten Stammzellen des erwachsenen Organismus sind lebenslang dafür zuständig, Gewebe
und Organe zu erhalten. Sie bringen jeweils die Zellen des Gewebes oder Organs hervor, dem sie angehören. So produzieren Blutstammzellen mehr als ein Dutzend Zelltypen des
Bluts, und aus epithelialen Stammzellen gehen alle Zelltypen der Haut hervor. Eine Haut- oder Blutstammzelle kann
aber natürlicherweise keine Nervenzellen generieren. Denn
adulte Stammzellen lassen immer nur ganz bestimmte reife
Zelltypen entstehen – im Gegensatz zu embryonalen Stammzellen, die alle Zelltypen des Körpers erzeugen können. Für
beide Stammzellsysteme gilt jedoch, dass sie hierarchisch
aufgebaut sind.
6
Was heißt das genau?
Trumpp: Es gibt stets eine Stammzelle an der Spitze der
Rangordnung. Sie ist in der Lage, sich selbst zu erneuern.
Wenn sie sich teilt, entstehen zwei Tochterzellen; eine davon bleibt Stammzelle, während sich die andere weiterentwickelt. Vom Blut bildenden System, dem bislang am besten untersuchten Stammzellsystem, ist bekannt, dass sich
aus nur wenigen Stammzellen diverse Vorläuferzellen entwickeln, deren Abkömmlinge wiederum zu den verschiedenen Blutzelltypen ausreifen, etwa den weißen und roten
Blutkörperchen. Auf diese Weise bringen die Stammzellen
Milliarden von Töchtern hervor, obwohl sie selbst nur wenige Exemplare umfassen und entsprechend schwer auffindbar sind. Bei der Maus zum Beispiel kontrollieren nur etwa
1000 Blutstammzellen das gesamte System. Sie sitzen wie
beim Menschen tief verborgen im Knochenmark, sind unter normalen Umständen wenig aktiv und teilen sich selten. Wenn aber frisches Blut gebraucht wird, beispielsweise
nach einer Verletzung, können sie in kurzer Zeit die Produktion von Abermillionen neuen Blutzellen einleiten und
kontrollieren.
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MARTIN MÜLLER
Die Gesundheit des Menschen hängt
unter anderem von seinem Genom ab.
So können Veränderungen im Erbgut
Krebsstammzellen entstehen lassen,
die Tumoren und Tochtergeschwülste
(Metastasen) hervorbringen.
WWW.SPEK TRUM .DE
7
Und was sind Krebsstammzellen?
Trumpp: Unserer Meinung nach sind Tumoren nach einem
ähnlichen Prinzip aufgebaut wie gesunde Körpergewebe –
ein hierarchisch organisiertes System mit einer Zelle an der
Spitze, die Stammzelleigenschaften besitzt.
Das unterscheidet sich deutlich von der bisherigen
Lehrmeinung.
Trumpp: Richtig, bislang dachte man, ein Tumor sei eine
­Ansammlung mehr oder minder gleichrangiger Zellen. Das
neue Konzept postuliert hingegen, dass aus wenigen Zel­
len mit Stammzelleigenschaften die Hauptmasse der Geschwulst hervorgeht.
Was ergibt sich daraus für die Behandlung?
Trumpp: Dass man die Krebsstammzellen treffen muss, um
Krebs zu heilen.
Wie entstehen diese Zellen eigentlich?
Trumpp: Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Es könnte
sein, dass das Erbgut von adulten Stammzellen mutiert.
Sammeln sich die Veränderungen im Genom an, beginnt die
Zelle irgendwann zu entarten und sich häufig und unkon­
trolliert zu teilen. Eine Stammzelle gibt ihre Mutationen an
sämtliche Abkömmlinge weiter – eine Art Verstärkerkaskade.
Was für Möglichkeiten gibt es noch?
Trumpp: Erste genetische Veränderungen können sich auch
schon im Fötus oder sogar in den embryonalen Stammzellen
ereignen. Die Körperzellen, die aus ihnen hervorgehen, sind
dann verletzlicher und werden im Lauf des Lebens womöglich schneller entarten. Vorstellbar ist auch, dass eine ausdifferenzierte Körperzelle Mutationen erfährt, die ihr erneut
Stammzelleigenschaften verleihen. Man sagt dann, sie wird
partiell reprogrammiert.
Welcher dieser Varianten messen Sie die größte Bedeu­
tung bei?
Trumpp: Unserer Meinung nach spielen zwei Prozesse zusammen, wenn aus einer normalen Stammzelle eine Krebsstammzelle entsteht, nämlich erste Mutationen in der
Stammzelle und ihre partielle Reprogrammierung. Das Ergebnis ist ein Tumor, eine unglaublich komplexe Struktur,
die wie ein Stammbaum organisiert ist. Das Gros der entarteten Zellen lässt sich mit Medikamenten und Strahlen zurückdrängen. Die Zelle an der Spitze der Hierarchie aber –
die Krebsstammzelle – erweist sich oft als sehr resistent
und produziert früher oder später erneut bösartige Abkömmlinge.
Gibt es ein Beispiel aus der Medizin, das diese These
stützt?
Trumpp: Nehmen wir die chronische myeloische Leukämie,
eine Blutkrebsart. Man ist sich heute ziemlich sicher, dass die
erste Mutation, die so genannte BCR-ABL-Translokation, in
einer einzigen Blut bildenden Stammzelle im Knochenmark
geschieht. Diese gibt die Mutation an ihre Abkömmlinge, die
Vorläuferzellen, weiter. Eine von denen erwirbt irgendwann
eine weitere genetische Veränderung, hat jetzt also zwei davon, und gibt sie an ihre Tochterzellen weiter. Von diesen
mutiert später erneut eine, die somit drei Mutationen trägt
8
und so weiter. Bis lebensgefährliche Leukämiestammzellen
entstehen, haben sie außer der ursprünglichen BCR-ABLTranslokation noch mindestens ein halbes Dutzend weitere
Genveränderungen eingefangen. Bei soliden Tumoren findet
man typischerweise mehr als 50 solcher Mutationen.
Was lässt sich daraus für die Therapie ableiten?
Trumpp: Infolge der BCR-ABL-Translokation entsteht ein
neues Eiweiß, eine so genannte Tyrosinkinase, die in normalen Zellen nicht existiert. Sie ist ständig aktiv und treibt die
Zellen dazu an, sich wieder und wieder zu teilen. Seit gut
zehn Jahren gibt es den Arzneistoff Imatinib, der zielgerichtet die BCR-ABL-Tyrosinkinase blockiert. Mit ihm und seinen
Nachfolgepräparaten konnte die Behandlung der chronischen myeloischen Leukämie entscheidend verbessert werden. Die Zahl der Patienten, die fünf Jahre nach der Diagnose
noch leben, liegt heute bei weit über 90 Prozent, und das bei
sehr gemäßigten Nebenwirkungen. Leider jedoch greift Imatinib die Leukämiestammzellen nicht wirksam an. Wenn
man das Präparat absetzt, kommt der Tumor in wenigen
­Wochen zurück. Man muss den Arzneistoff also lebenslang
einnehmen, um die Nachkommen der Krebsstammzellen
immer wieder zurückzudrängen.
Es ist doch sicher kompliziert, Krebsstammzellen zu
isolieren, um sie im Labor zu untersuchen.
Trumpp: Das ist in der Tat schwierig, denn sie zeichnen sich
nicht durch einheitliche Marker aus. Damit meinen wir
Oberflächenmerkmale, die sie wie Flaggen kennzeichnen
würden. Das Oberflächenprotein CD133 war einer der ersten
heiß diskutierten Marker für Krebsstammzellen, später kamen weitere hinzu. Aber bis heute gibt es kein bekanntes
Merkmal, anhand dessen man eine Krebsstammzelle verlässlich identifizieren kann. Einige Marker geben zwar Hinweise in diese Richtung, aber trauen kann man ihnen nur,
wenn man sie an einen funktionalen Test koppelt.
Wie geht das?
Trumpp: Eine Zelle, die aussieht wie eine Krebsstammzelle,
muss erst zeigen, dass sie tatsächlich Krebs erzeugen kann.
Der bislang einzige sichere Nachweis besteht darin, die verdächtige Zelle zu isolieren, in ein Tier, meist eine Maus, zu
transplantieren und dann zu schauen, was passiert. Bringt
die Zelle dort wieder einen Tumor hervor, haben wir es sicher
mit einer Krebsstammzelle zu tun. Die meisten Zellen eines
Tumors sind dazu nicht in der Lage – sie stehen auf einer tieferen Hierarchiestufe als die Krebsstammzelle.
Ein ziemlich großer Aufwand.
Trumpp: Bei gesunden Blutstammzellen kennen wir mittlerweile rund zwei Dutzend Marker, die einen verlässlichen
Nachweis erlauben. Mit ihrer Hilfe können wir die Stammzellen von den Blutzellen trennen, obwohl letztere 200 000fach zahlreicher sind. Bei Krebsstammzellen gibt es aber das
Problem, dass sie viele Mutationen erworben haben und sich
zudem permanent weiter verändern. Auch ihre Oberflächenmerkmale wandeln sich ständig ab, weshalb man sie eben
nur in Zeit raubenden Transplantationsversuchen sicher
identifizieren kann.
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
Das Krebsstammzell-Konzept
Tumor
in der Brust
Krebsstammzelle
Strahlen- oder
Chemotherapie
Krebsstammzellnische
Tumorzellen, hervorgegangen aus der
Krebsstammzelle
Die Therapie tötet die meisten Tumorzellen ab. Die Krebsstammzelle in
ihrer schützenden Nische übersteht
den Angriff jedoch.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MARTIN MÜLLER
Monate oder Jahre später: Die Krebsstammzelle teilt sich und bringt
neue Tumorzellen hervor. Der Tumor
kehrt zurück.
Der Tumor findet Anschluss an das
Blut­gefäßsystem. Krebszellen breiten
sich mit dem Blut im Körper aus –
unter ihnen auch Metastasen bildende Stammzellen.
WWW.SPEK TRUM .DE
9
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / PHILIPP ROTHE
»Man muss die Krebsstammzellen
treffen, um Krebs zu heilen«
Bei welchen Tumorerkrankungen wurden Krebsstamm­
zellen bislang nachgewiesen?
Trumpp: In den späten 1990er Jahren hat man sie bei verschiedenen Arten von Blutkrebs gefunden, später auch in
­Tumoren der Brust, der Prostata, des Gehirns oder des Darms.
Ob es Krebsstammzellen tatsächlich bei allen Krebsarten
gibt, wissen wir nicht. Die bisherigen Erkenntnisse lassen
aber darauf schließen, dass sie bei den meisten dieser Erkrankungen existieren.
Die Fachzeitschriften »Nature« und »Science« haben
kürzlich Studien über Krebsstammzellen veröffentlicht, die
für Aufsehen sorgten. Was war das Besondere daran?
Trumpp: Um Krebsstammzellen nachzuweisen, indem man
sie in Mäuse überträgt, muss man das Immunsystem der Tiere ausschalten, damit es die menschlichen Zellen nicht sofort
wieder abstößt. Kritiker haben immer bemängelt, dass Versuche mit immungeschwächten Mäusen wenig Rückschlüsse auf Tumorerkrankungen beim Menschen erlauben. Die
Autoren der neuen Studien haben Krebsstammzellen in Tieren mit intaktem Immunsystem nachgewiesen, was diesen
Einwand entkräftet. Zudem gelang beim Glioblastom – einem aggressiven Hirntumor – der Nachweis, dass eine Untergruppe von stammzellähnlichen Krebszellen den Tumor
nach zunächst erfolgreicher Chemotherapie zurückkehren
lässt. Meines Erachtens ist das ein weiterer gewichtiger Beleg
für die Existenz von Krebsstammzellen.
Haben Ihre eigenen Forschungen auch solche Hinwei­
se ergeben?
Trumpp: Bei vielen Krebskranken lösen sich Zellen vom Primärtumor und wandern in Blut und Lymphe ab. Dies ist der
erste Schritt der Metastasierung, also der Bildung von Tochtergeschwülsten. Wir haben Tumorzellen im Blut von Brustkrebspatientinnen untersucht und getestet, ob sie Metastasen
hervorbringen konnten. Es zeigte sich, dass nur einige dazu fä10 hig waren, nämlich solche mit Stammzelleigenschaften. Ihr
Anteil lag zwischen einem und rund 40 Prozent der zirkulierenden Tumorzellen. Wir vermuten daher, dass nur sie in der
Lage sind, Fernmetastasen zu bilden.
Lässt das auf eine therapeutische Möglichkeit hoffen,
die bislang schwer behandelbaren Tochtertumoren anzu­
greifen?
Trumpp: Unser nächstes Ziel ist es, neue Marker zu finden,
die es erlauben, Metastasen bildende Zellen im Blut von
Krebspatienten sicher nachzuweisen. Wir haben bereits drei
Oberflächenmoleküle gefunden, die auf solche Zellen hinweisen. Sie könnten sich als nützliche Marker für die Diagnose, vielleicht auch als Ziele für neue Medikamente erweisen.
Gemeinsam mit Andreas Schneeweiss vom Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen Heidelberg und Partnern aus
der Industrie wollen wir Wirkstoffe entwickeln, die an Metastasen induzierenden Krebsstammzellen im Blut ansetzen
und sie nachhaltig bekämpfen. Womöglich können wir auch
bereits existierende Tochtergeschwülste ins Visier nehmen.
Denn wir vermuten, dass diese nahezu vollständig aus Krebsstammzellen bestehen. Das würde erklären, warum sie so
therapieresistent sind – und zugleich aufzeigen, wie sie eventuell bekämpft werden können.
Normale Stammzellen überdauern an speziellen Orten
im Körper, in so genannten Stammzellnischen. Könnte das
auch auf Krebsstammzellen zutreffen?
Trumpp: Wir gehen davon aus, dass es in jedem Organ und
Gewebe unseres Körpers Nischen gibt, in denen Stamm­
zellen sitzen und bei Bedarf aktiviert werden – etwa die Blut
bildenden Stammzellen, die gut geschützt in Höhlen im
­Inneren des Knochenmarks überdauern. An solchen Orten
könnten sich auch Krebsstammzellen verstecken.
Eines Ihrer ersten Projekte hatte zum Ziel, ruhende
Krebsstammzellen aus ihren Schutzräumen zu locken und
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
so anfälliger für Medikamente zu machen. Was ist daraus
geworden?
Trumpp: Unsere Idee war, die ruhenden Leukämiestammzellen mit Interferon-alpha, einem Botenstoff des Immunsystems, aus ihrer Nische zu holen und anschließend mit
zielgerichteten Medikamenten oder Chemotherapeutika zu
zerstören. Wir arbeiten nach wie vor an diesem Ansatz, haben aber erkennen müssen, dass die Verhältnisse komplexer
sind als gedacht. Die Methode kann funktionieren, aber womöglich ist Interferon-alpha nicht der bestmögliche Lockstoff und allein nicht effizient genug. Wir erproben bereits
weitere Substanzen, die ebenfalls die Schläfer aufwecken
können.
Gibt es noch andere Beispiele für medizinische Ansät­
ze, die sich auf Erkenntnisse der Krebsstammzellforschung
stützen?
Trumpp: Das biopharmazeutische Unternehmen Apogenix,
eine Ausgründung des Deutschen Krebsforschungszentrums, hat einen Wirkstoff entwickelt, der gerade erfolgreich
eine klinische Phase-II-Studie bei Patienten mit einem Glioblastom durchlaufen hat. Der Wirkstoff lässt auf neue Behandlungsmöglichkeiten für diese tückische Krebserkrankung hoffen. Wie meine Kollegin Ana Martin-Villalba und
ihre Mitarbeiter am Deutschen Krebsforschungszentrum
kürzlich gezeigt haben, ist der Erfolg vermutlich darauf zurückzuführen, dass diese Substanz besonders die Krebsstammzellen des Tumors angreift.
Die so genannte personalisierte Medizin geht davon
aus, dass Patienten, die äußerlich an der gleichen Krebser­
krankung leiden, auf Grund molekularer Unterschiede ihrer
Tumoren in Gruppen aufgeteilt und unterschiedlich behan­
delt werden müssen.
Trumpp: Das gilt beispielsweise für das Pankreaskarzinom,
den Bauchspeicheldrüsenkrebs. Wir haben die molekularen
Eigenschaften der Krebsstammzellen von Pankreasadenokarzinomen – der häufigsten Variante – bestimmt und können anhand dieser Merkmale mindestens drei Gruppen von
Patienten voneinander abgrenzen. Sie unterscheiden sich sowohl im Ansprechen auf die Therapie als auch hinsichtlich
der mittleren Überlebenszeit. Bislang werden die Patienten
jedoch meist einheitlich behandelt.
Was genau kennzeichnet diese verschiedenen Erkran­
kungsarten?
Trumpp: Vom Subtyp A wissen wir, dass die Krebszellen auf
Gemcitabin – den herkömmlich verabreichten Arzneistoff –
kaum reagieren. Bei den betroffenen Patienten stellt sich
deshalb die Frage, ob die belastende Therapie für sie überhaupt sinnvoll ist. Bei den Subtypen B und C haben wir in
Tierversuchen festgestellt: Wenn wir Gemcitabin zusammen
mit neuen Medikamenten einsetzen, die zielgerichtet auf bestimmte tumorspezifische Moleküle einwirken, dann kann
dies den Tumor stark hemmen oder sogar eliminieren. Einige der von uns getesteten Arzneimittel sind bereits für die
Behandlung anderer Krebsarten zugelassen, werden bislang
aber nicht gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs eingesetzt. Wir
WWW.SPEK TRUM .DE
wollen die Kombination von herkömmlichen Chemotherapeutika und neuen Medikamenten bald in einer klinischen
Studie erproben.
Gibt es noch weitere Hoffnungsschimmer für die Pa­
tienten? Das Pankreaskarzinom gehört ja nach wie vor zu
den Krebserkrankungen mit schlechter Prognose.
Trumpp: Zusammen mit unseren Kollegen am Deutschen
Krebsforschungszentrum und am Universitätsklinikum Heidelberg sequenzieren wir gerade das Genom der unterschiedlichen Subtypen des Pankreaskarzinoms. Wir lesen
die Erbinformation der Krebszellen also quasi Buchstabe
für Buchstabe. Die genetischen Profile, die wir dabei finden,
wollen wir den verschiedenen Patientengruppen zuordnen.
Hoffentlich ergeben sich daraus Angriffspunkte für neue
Therapien. Verschiedene Tumorarten haben ja manchmal
überraschende molekulare Gemeinsamkeiten. So treten
Mutationen, die bestimmte Signalwege durcheinanderbringen, in gleicher Weise bei völlig verschiedenen Krebs­
erkrankungen auf. Arzneistoffe, die auf solche Signalwege
einwirken, können also möglicherweise mehrere Krebsarten angreifen.
Entartete Zellen haben oft unzählige Mutationen er­
worben. Was bedeutet das für Ihre Forschung?
Trumpp: Wir müssen herausfinden, welche der gestörten
molekularen Signalwege wir blockieren müssen, damit ein
Tumor zu Grunde geht. Welche von den vielen genetischen
Veränderungen sind entscheidend? Keine einfache Frage.
Aber ich glaube, dass uns das internationale Krebsgenomprojekt wertvolle Hinweise liefern wird. Es hat zum Ziel, die
genetischen Besonderheiten der 50 häufigsten Tumorarten
offenzulegen.
Wird es sie eines Tages geben, die ersehnte Pille gegen
Krebs?
Trumpp: Sie meinen, dass man eine Art gordischen Knoten
findet, den man mit einem Hieb durchschlagen kann? Das
wäre schön. Aber daran glaube ich – noch – nicht, zumindest
nicht bei soliden Tumoren. Dennoch: Im Moment ist sehr
viel Bewegung in der Krebsforschung. Krebsstammzellen
werden bei immer mehr Tumorarten nachgewiesen; es gibt
bereits einige zielgerichtet ansetzende Medikamente; weitere sind in klinischer Erprobung; und die Entschlüsselung des
Krebsgenoms lässt auf neue, medizinisch verwertbare Einsichten hoffen. Nimmt man all das zusammen, lässt sich eines Tages vielleicht auch für Krebserkrankungen erreichen,
was bei anderen Leiden schon gelungen ist – beispielsweise
bei Diabetes oder Aids, die unbehandelt tödlich verlaufen,
sich bei guter medizinischer Betreuung aber in Schach halten lassen. Mit einem Arsenal verschiedener Therapien
könnten die Mediziner künftig Krebs zu einer gut behandelbaren chronischen Erkrankung machen, mit der die Patienten über lange Zeit gut leben können. Das ist es, worauf ich
persönlich hoffe. Ÿ
Das Gespräch führte Claudia Eberhard-Metzger. Sie lebt und arbeitet als
Wissenschaftsjournalistin in Maikammer an der Südlichen Weinstraße.
11
MIT FRDL. GEN. VON CÉDRIC BLANPAIN, UNIVERSITÉ LIBRE DE BRUXELLES
ONKOGENESE
Krebsstammzellen im Visier
Schon seit Längerem spekulieren Forscher über Krebsstammzellen als »Wurzel« von
Tumorerkrankungen. Neue Ergebnisse untermauern am Beispiel von Hirn-, Haut- und Darmtumoren, dass diese Zellen tatsächlich eine entscheidende Rolle spielen.
VON GERLINDE FELIX
J
eder Mensch hat Stammzellen. Sie
schlummern in den Organen, können
sich unbegrenzt teilen und zu verschie­
denen Zelltypen heranreifen. Bei Be­
darf liefern sie Nachschub an gesunden
Zellen und helfen dem Körper so, sich
­zu regenerieren.
Bis vor etwa 15 Jahren glaubten For­
scher, Tumoren bestünden aus einer
Masse gleichartiger Zellen, die sich un­
gehemmt teilen­. Doch dann fiel kana­
dischen Genetikern auf: Wenn man
menschliche Leukämiezellen in Labor­
mäuse überträgt, lässt nur eine Unter­
gruppe davon die Tiere an Krebs erkran­
ken. Bei ihnen musste es sich also um
eine Art Masterzellen handeln, die als
einzige in der Lage sind, neue Tumoren
hervorzubringen – Krebsstammzellen.
Seither haben Forscher weltweit neue
Erkenntnisse dazugewonnen. Demnach
sind Tumoren hierarchisch organisiert,
vergleichbar einer Pyramide. Die Krebs­
stammzellen stehen dabei an der Spit­
ze: Sie erneuern sich selbst, bringen
aber auch sämtliche anderen Zelltypen
des Tumors hervor und bauen so die
Geschwulst auf. Strahlen- und Chemo­
therapien lassen den Tumor zwar häu­
fig schrumpfen. Doch nach Monaten
oder Jahren kehrt er oft zurück – und er­
weist sich diesmal als resistent gegen­
über der Behandlung.
Nimmt man an, dass die Krankheit
von Krebsstammzellen ausgeht, über­
rascht das nicht; denn sowohl die Strah­
lenbehandlung als auch die Chemothe­
rapie zerstören vorwiegend Zellen, die
sich rasch vermehren. Krebsstamm­
zellen sitzen jedoch tief verborgen in
schützenden Nischen, sind unter nor­
malen Umständen wenig aktiv und tei­
len sich selten. Zudem verfügen sie oft
über effiziente Mechanismen, um Zell­
12 gifte aus ihrem Inneren herauszubeför­
dern und Schäden am Erbgut zu repa­
rieren. Deshalb können die konventio­
nellen Therapien ihnen wenig anhaben.
Das bedeutet aber auch, dass man
Tumorerkrankungen bei der Wurzel
­packen kann, wenn man gezielt die
Krebsstammzellen angreift. Genau die­
sen Ansatz erforschen Wissenschaftler
nun seit Jahren. Doch mit jedem neuen
Detail, das ans Licht kommt, wird deut­
licher, wie komplex das Geschehen auf
zellulärer Ebene ist. »Es gibt wohl ver­
schiedene Arten von Krebsstammzel­
len, und alle sind hochgefährlich«, sagt
Andreas Trumpp (siehe den Beitrag S. 6),
Leiter der Abteilung »Stammzellen und
Krebs« am Deutschen Krebsforschungs­
zentrum und Geschäftsführer des Hei­
delberger Instituts für Stammzelltech­
nologie und Experimentelle Medizin
(HI-STEM).
Gezielter Schlag gegen den Krebs
Vor drei Jahren erschien im Fachblatt
»Nature« eine Studie unter der Leitung
von Luis Parada vom Southwestern
­Medical Center in Dallas, Texas (Nature
488, S. 522, 2012). Sie untermauerte das
Krebsstammzellkonzept am Beispiel
von Glioblastomen, aggressiven Hirntu­
moren bei Erwachsenen. An genetisch
veränderten Mäusen, die spontan Hirn­
tumoren ausbilden, konnte Paradas
Team zeigen, dass einige Tumorzellen
Eigenschaften haben, die denen von
Stammzellen ähneln. Von dieser speziel­
len Untergruppe stammen die übrigen
Zellen des Tumors ab, wie die Unter­
suchungen belegten. Zudem beobachte­
ten die Forscher, dass genau diese Unter­
gruppe sehr resistent gegenüber Subs­
tanzen ist, die Zellwachstum und Zelltei­
lung hemmen. Sie kann eine Chemothe­
rapie also mit großer Wahrscheinlichkeit
überleben und den Tumor nach der Be­
handlung zurückkehren lassen.
Das Krebswachstum in der Maus
lässt sich eindämmen, wenn man die
stammzellähnlichen Tumorzellen ver­
nichtet. Parada und seinen Kollegen ge­
lang dies mit einem experimentellen
Trick. Sie veränderten die Zellen so, dass
jene, die für Stammzellen typische
Oberflächenproteine trugen, sich mit
dem Arzneistoff Ganciclovir zerstören
ließen. Der Stoff wird normalerweise ge­
gen Herpesviren eingesetzt. Nachdem
die Forscher die mutmaßlichen Krebs­
stammzellen mit Ganciclovir eliminiert
hatten, beseitigten sie noch die meisten
übrigen Tumorzellen mittels Chemo­
therapie. Diese kombinierte Behand­
lung führte zu einem dramatisch ein­
geschränkten Wachstum des Tumors.
Allerdings stellt die Methode keinen
Therapieansatz dar, sondern demonst­
riert nur die Bedeutung der stammzell­
ähnlichen Tumorzellen.
Niederländische Forscher um Hans
Clevers von der Universität in Utrecht
haben ferner herausgefunden, dass
Stammzellen bereits in Darmpolypen
der Maus – einer möglichen Vorstufe
für Darmkrebs – aktiv sind (Science 337,
S. 730, 2012). Sie machen fünf bis zehn
Prozent der Polypenzellen aus. Clevers
und sein Team wiesen nach, dass die
Polypen aus Zellen heranwachsen, in
denen die gleichen Gene aktiv sind wie
in normalen Stammzellen des Darms.
Cedric Blanpain von der belgischen
Université Libre de Bruxelles und sei­
nen Mitarbeitern gelang es zudem, auch
in Mäusen, die an Hautkrebs erkrankt
waren, eine Untergruppe von Tumor­
zellen mit Stammzelleigenschaften zu
lokalisieren (Nature 488, S. 527, 2012).
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
MIT FRDL. GEN. VON BON-KYOUNG KOO, HUBRECHT INSTITUTE UMC UTRECHT
Nachkommen einer Tumorstammzelle.
Wissenschaftler der Université Libre
de Bruxelles (Belgien) benutzten eine
genetische Markierungstechnik, um
Krebsstammzellen in Hauttumoren von
Mäusen zu kennzeichnen. Alle Zellen,
die auf dem Bild grün erscheinen, also
große Teile des Tumors, stammen von
einer einzigen Krebsstammzelle ab.
Die Forscher kennzeichneten einzelne
Krebszellen mit Hilfe einer genetischen
Markierungstechnik und verfolgten
ihre weitere Entwicklung während des
Tumorwachstums. Dabei zeigte sich,
dass Papillome – gutartige Geschwulste
der Haut oder Schleimhaut, die eine
Vorstufe von Hautkrebs darstellen kön­
nen – aus zwei Zelltypen bestehen. Der
eine stellt das Wachstum nach gewisser
Zeit ein, der andere hingegen kann sich
unbegrenzt teilen und bringt die Haupt­
masse des Tumors hervor.
Eine weitere Studie aus neuerer Zeit
beleuchtet die Wechselwirkungen zwi­
schen Krebsstammzellen und Hormo­
nen (Oncogene 10.1038/onc.2012.275,
2012). Den Untersuchungen zufolge ist
das Hormon Progesteron indirekt dazu
in der Lage, Brustkrebszellen in einen
stammzellähnlichen Zustand zurück­
zuversetzen. In diesem Status sind sie
resistenter gegenüber Chemotherapie,
was die Tumorerkrankung deutlich ge­
fährlicher macht.
»Bei Leukämien und beim Prostata­
karzinom kommt es sogar vor, dass
Krebsstammzellen die Nischen für adul­
te Stammzellen quasi überfallen und
Schnitt durch einen Darmtumor der
Maus. Zellen mit Stammzelleigenschaften
sind blau angefärbt. Braun erscheinen
hin­gegen die so genannten Paneth-Zellen:
Drüsenzellen, die im Dünndarm, Mastdarm und Magen auftreten. Die PanethZellen bilden eine Nische für die Tumor­
stammzellen.
einnehmen«, so Trumpp. Dort seien sie
dann weit gehend gefeit vor therapeuti­
schen Eingriffen und lauerten auf ihre
nächste Chance zur Tumorbildung.
Zudem, so betont Trumpp, verän­
derten sich Krebsstammzellen im Lauf
der Zeit. Je weiter eine Krebserkrankung
fortschreite, umso mehr Mutationen
sammelten sich in ihnen an. Das ließe
neue Krebsstammzellen entstehen, die
gegenüber ihren Vorgängern bestimm­
te Wachstums- oder Resistenzvorteile
haben könnten, so dass sie sich besser
vermehren als diese. »Neuere Erkennt­
nisse deuten an, dass es in einem fort­
geschrittenen Tumor nicht nur eine
Gruppe von Zellen gibt, die von einem
gemeinsamen Vorgänger abstammen,
sondern viele solche Gruppen, die mit­
einander konkurrieren«, sagt Trumpp.
»Es handelt sich um so genannte Sub­
klone, an deren Spitzen genetisch ver­
schiedene Krebsstammzellen stehen.«
Laut Martin Sprick, einem Mitarbei­
ter von Trumpp am HI-STEM, können
therapeutische Eingriffe diese Evolu­
tion der Krebsstammzellen in eine
gänzlich unerwünschte Richtung len­
ken. »Vielleicht macht die Chemothera­
Woher kommen Krebsstammzellen?
Noch ist unklar, ob Krebsstammzellen durch Entartung aus normalen Stammzellen
entstehen oder aus bereits ausgereiften Zellen hervorgehen, die durch Mutationen
erneut Stammzelleigenschaften erlangen. Andreas Trumpp vom Deutschen Krebsforschungszentrum und seine Mitarbeiter haben in den vergangenen Jahren das
Blut bildende System untersucht und dabei Hinweise auf den ersten Mechanismus
gefunden. Demnach können bestimmte genetische Veränderungen normale Stammzellen in Krebsstammzellen verwandeln. Eine wichtige Rolle dabei scheint das MYCGen zu spielen, das die Aktivität anderer Gene verstärkt. Wenn es mutiert ist, kann
sich eine Blutstammzelle so verändern, dass sie unentwegt bösartige Tochterzellen
ins Blut entlässt und Leukämie verursacht.
pie die Krebsstammzellen erst richtig
fit, weil sie per Selektion die wider­
standsfähigsten und am besten ge­
schützten begünstigt«, spekuliert er.
Aus den Krebsstammzellen schei­
nen auch die Tochtergeschwülste (Me­
tastasen) des Tumors hervorzugehen.
Aktuelle Erkenntnisse deuten darauf
hin, dass irgendwann in der Entwick­
lung des Tumors Metastasen bildende
Krebsstammzellen entstehen. Sie sit­
zen zunächst in der Nähe des Primär­
tumors, und zwar auf der Innenseite
von Blutgefäßen, die ihn versorgen.
Dort lassen sie sich in geschützten
­Nischen aus gefäßauskleidenden Zellen
(Endothelzellen), Immunzellen und
Bindegewebskomponenten nieder und
werden von den Endothelzellen mit
­Botenstoffen und Wachstumsfaktoren
versorgt. Irgendwann verlassen die Me­
tastasen bildenden Stammzellen ihre
Nische und wandern in andere Organe
ein, um dort Tochtergeschwülste auf­
zubauen. Diese Fähigkeit haben »nor­
male« Krebsstammzellen nicht.
All dies lässt es dringend geboten
­erscheinen, medizinische Verfahren zu
entwickeln, die sich gezielt gegen Krebs­
stammzellen richten. Ein Ziel, auf das
Trumpp schon lange hinarbeitet. Seine
Mitarbeiterin Marieke Essers und er
haben­ gezeigt, dass der körpereigene
Botenstoff Interferon-alpha Leukämie­
stammzellen dazu bringen kann, ihre
Nische zu verlassen und sich zu teilen.
Das macht sie anfällig für eine Chemo­
therapie. Allerdings müsse diese Me­
thode noch weiterentwickelt werden,
bevor man sie an Patienten anwenden
könne, betont Trumpp.
Gerlinde Felix ist freie Medizin- und Wissenschaftsjournalistin in Markt Wartenberg.
WWW.SPEK TRUM .DE
13
ZELLULÄRE SENESZENZ
Unheil durch nicht mehr
teilungsfähige Zellen
Auch Zellen setzen sich mit fortschreitendem Alter zur Ruhe. Sie hören auf, sich
zu teilen. Früher interpretierten Mediziner dies als sinnvolle Vorkehrung gegen Krebs.
Nun aber stellt sich heraus, dass solche seneszenten Zellen schädliche Stoffe
abgeben. Dadurch beschleunigen sie nicht nur den körperlichen Verfall, sondern
begünstigen sogar die Entstehung von Krebs.
Von David Stipp
E
nde 2011 berichteten Jan M. van Deursen und seine
Kollegen an der Mayo Clinic in Rochester (Minneso­
ta) über den gelungenen Versuch, Alterungsvorgän­
ge bei Mäusen zu verlangsamen. Ihr Trick war, dafür
zu sorgen, dass in den Tieren alle Zellen, die ihre Fähigkeit
zur Teilung einbüßten und damit in den Zustand der Senes­
zenz übergingen, sofort zerstört wurden. Van Deursens Er­
gebnisse bedeuteten einen Wendepunkt in der Altersfor­
schung; denn sie hauchten einer umstrittenen, schon mehr
als ein halbes Jahrhundert alten Hypothese neues Leben ein.
Demnach ist der Verlust der Teilungsfähigkeit von Zellen die
Ursache für den allmählichen Verfall des Körpers im Alter.
Zum negativen Bild der zellulären Seneszenz passen auch
jüngste Erkenntnisse über ihre Rolle bei der Ent­
stehung von Krebs. Lange galt sie als
Schutz davor, dass gealterte
Zellen, in denen sich mutmaßlich viele schädliche
Mutationen angehäuft haben, unkontrolliert zu
wuchern beginnen. Wie sich nun zeigte, fördern
solche Zellen in mancher Hinsicht jedoch das
Tumorwachstum, indem sie ihre Nachbarn
zur Teilung anregen.
Diesen neuen Erkenntnissen zufolge
könnte ein verlangsamter Eintritt der
Körperzellen in die Seneszenz unter
Umständen helfen, Krebs und an­
dere alterstypische Krankheiten
hinaus­zuzögern. Zwar erscheint
Seneszente Zellen, die ihre Teilungsfähigkeit verloren haben,
lassen sich mit einem einfachen Farbtest erkennen: Bei
Zusatz einer bestimmten Chemikalie verfärben sie sich blau.
14 SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
AUF EINEN BLICK
VERBINDUNG ZWISCHEN ALTERN UND KREBS
1
In den 1960er Jahren erkannten Forscher, dass Körperzellen
nach einer gewissen Zeit aufhören, sich zu teilen. In dieser
zellulären Seneszenz sahen Mediziner lange die eigentliche Ursache für das Altern, da sie das Regenerationsvermögen von
Gewebe beeinträchtigt.
2
Als biologischer Sinn der Seneszenz galt, dass sie Krebs vorbeugt. Denn sie hindert Zellen, die im Lauf des Lebens
mutmaßlich viele Mutationen angehäuft haben, an der unkontrollierten Vermehrung.
3
Wie sich inzwischen herausstellte, bleiben die meisten Zellen
jedoch lange genug teilungsfähig, um auch im hohen Alter
noch eine Regeneration von Gewebe zu ermöglichen.
4
Zudem fördern seneszente Zellen Krebs, statt ihn zu verhüten: Sie sondern Stoffe ab, die ihre Nachbarn schädigen und
zur Teilung anregen sowie Entzündungen auslösen.
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Wurden sie im Tierversuch eliminiert, verlangsamte das den
Alterungsprozess und linderte altersbedingte Gebrechen.
ANATOMY BLUE
5
15
die Beseitigung seneszenter Zellen für Menschen in abseh­
barer Zeit nicht als realistische Option – erforderte sie bei den
Mäusen des Mayo-Teams doch komplizierte genetische Ein­
griffe. Vielleicht führen einfachere Maßnahmen aber zum
gleichen Ergebnis.
Altern als Preis für Schutz gegen Krebs?
Die Geschichte der Forschung über die zelluläre Seneszenz
ist von Aufsehen erregenden Entdeckungen und spektaku­
lären Kehrtwendungen geprägt. Der US-Gerontologe Leo­
nard Hayflick erkannte schon 1961, dass menschliche Zellen
nach rund 50 Teilungszyklen die Fähigkeit zur Vermehrung
ein­büßen. Auf diesen Mechanismus führte er letztlich die
­Alterung des gesamten Körpers zurück: Das Abschalten der
Zellteilung ­mache es unmöglich, geschädigtes Gewebe zu er­
neuern. Laut Hayflick sind Zellen darauf programmiert, nach
einer festen Anzahl von Replikationszyklen in den Ruhe­
zustand überzugehen, damit sie sich nicht unkontrolliert
vermehren und krebsartig wuchern können. Den Beitrag der
zellulären Seneszenz zum Altern hielt der Forscher für den
Preis, den wir dafür bezahlen, besser gegen Krebs geschützt
zu sein.
Untersuchungen ab den 1970er Jahren stützten diese
Vorstellung. Demnach steckt eine molekulare Uhr hinter
der »Hayflick-Grenze«. Jedes Mal, wenn sich eine Zelle teilt,
verkürzen sich die so genannten Telomere. Dabei handelt es
sich um Abschnitte am Ende der Chromosomen, die aus re­
petitiven DNA-Sequenzen samt den zugehörigen Proteinen
bestehen. Sind sie unter eine bestimmte Länge geschrumpft,
stellt die Zelle die Teilung ein.
Spätere Studien weckten jedoch Zweifel an dieser Theorie.
So berichteten mehrere Forschungsgruppen Ende der 1990er
Jahre, dass die Fähigkeit von Hautzellen, sich zu vermehren,
mit dem Alter nicht wesentlich nachlässt. Offenbar errei­
chen im Leben eines Menschen nicht genug Zellen die Hay­
flick-Grenze, um die Geweberegeneration deutlich einzu­
schränken. Im Einklang mit diesen Befunden fanden sich bei
Mäusezellen sehr lange Telomere, was anscheinend verhin­
dert, dass ihre zelluläre Uhr abläuft, bevor sie sterben. 2001
16 erklärten die beiden Gerontologen Harriet und David
Gershon vom Technion in Haifa (Israel) in einem
Übersichtsartikel die Telomer-Theorie des Alterns
deshalb für »irrelevant«.
Damit rückte die zweite mögliche Funktion der
zellulären Seneszenz ins Zentrum des Interesses:
die Schutzwirkung gegen Krebs. Schon Anfang der
1990er Jahre war bekannt, dass bestimmte Arten von Zell­
schädigungen – insbesondere Mutationen – unkontrolliertes
Wuchern und andere Veränderungen hervorrufen können,
die für Tumoren typisch sind. Wie sich außerdem zeigte, lö­
sen solche gefährlichen Zellschäden in der Regel die Senes­
zenz aus – vermutlich, um die nicht mehr normal funktio­
nierenden Zellen daran zu hindern, bösartig zu werden. Bei­
spielsweise bewirkt die Zugabe mutagener Oxidationsmittel
zur Nährlösung von Zellkulturen den Übergang in das Ruhe­
stadium.
Passend dazu entdeckte 1997 die Arbeitsgruppe von Manu­
el Serrano, heute am spanischen nationalen Krebsforschungs­
zentrum in Madrid, dass auch eine lang anhaltende Stimula­
tion zur Teilung die Seneszenz auslöst. Mutierte Gene, die das
Wachstum von Tumoren antreiben, sind bekannt dafür, sol­
che andauernden Teilungssignale auszusenden.
Wie diese und weitere Entdeckungen nahelegten, gibt es
eine Art Antikrebsmechanismus innerhalb der Zelle. Er bein­
haltet die kontinuierliche Suche nach Zeichen einer Schädi­
gung, die eine unkontrollierte Vermehrung in Gang setzen
könnte. Wenn sich solche Hinweise häufen und einen Grenz­
wert überschreiten, wird in schweren Fällen das Apoptose­
programm gestartet, in dessen Verlauf sich die Zelle selbst
auflöst. In anderen Fällen ist die Reaktion nicht so drastisch:
Die entartete Zelle tritt in den Zustand der Seneszenz ein, in
dem sie sich nicht mehr teilen kann. Das erlaubt ihr, quasi im
Ruhestand weiterzuexistieren.
Doch dann versetzten neue Befunde auch dieser Theorie
einen schweren Schlag: Forscher entdeckten, dass seneszente
Zellen zwar nicht selbst wuchern, aber trotzdem Krebs auslö­
sen können. Eine prominente Rolle spielte dabei Judith Cam­
pisi, die inzwischen am Buck Institute for Research on Aging
in Novato (Kalifornien) arbeitet. Ihre Untersuchungen er­
schütterten die Vorstellung, wonach seneszente Zellen nur in
aller Ruhe ihren Lebensabend verbringen, und lieferten Indi­
zien dafür, dass sie sowohl das Tumorwachstum fördern als
auch weiteres Unheil in ihrer Umgebung anrichten können.
Die ersten Hinweise auf eine solche heimtückische Wir­
kung tauchten in den späten 1990er Jahren auf. Es handelte
sich um Befunde, wonach seneszente Zellen das umliegende
Gewebe – ihre »Mikroumgebung« – schädigen könnten und
es so in eine »üble Gegend« verwandeln, in der Tumoren ge­
deihen. 2001 erhärtete das Team von Campisi diesen Ver­
dacht. Wie eine bahnbrechende Studie zeigte, können senes­
zente Zellen in einer Zellkultur Nachbarn, die sich in ­einem
Krebsvorstadium befinden, dazu anregen, außergewöhnlich
aggressive Tumoren zu bilden, wenn man sie später Mäusen
injiziert.
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
Dieser schlechte Einfluss rührt offenbar von der Tendenz
vieler alternder Zellen her, einen Mix potenziell gefährlicher
Moleküle abzusondern. Einige davon begünstigen die unge­
hemmte Vermehrung oder lösen Proteine auf, welche die
Zellen eines Gewebes umgeben und an ihrem angestamm­
ten Platz halten. Metastasierende Tumorzellen scheinen die­
selben abbauenden Enzyme einzusetzen, um sich gleichsam
durch die Hülle des jeweiligen Gewebes zu fräsen.
Zusammenhang mit der Wundheilung
Campisi prägte für das Phänomen den Begriff »seneszenz­
assoziierter sekretorischer Phänotyp« oder kurz SASP. Wei­
tere Belege dafür, dass alternde Zellen unter bestimmten
Umständen schädliche Moleküle abscheiden, veröffentlichte
die Forscherin im Jahr 2008. Damit stürzte sie viele Wissen­
schaftler in große Verwirrung. Warum sollten Zellen in ei­
nem Zustand, der offenkundig zur Verhinderung von Krebs
diente, ihn auf andere Weise aktiv fördern? Das schien kei­
nen Sinn zu ergeben. Doch Campisi lieferte eine mögliche
Lösung des Rätsels, indem sie auf Untersuchungen zur
Wundheilung verwies.
Diese scheint nämlich in mancher Hinsicht dem Krebs zu
ähneln. Beispielsweise sind Tumoren und teilweise geheilte
Wunden mit Faserproteinen überzogen, die entstehen, wenn
Vorläufer von Gerinnungsproteinen aus Blutgefäßen entwei­
chen und sich zu einem Maschennetz verbinden, das die Re­
paratur des verletzten Gewebes unterstützt. Unter dem Ein­
druck solch auffälliger Gemeinsamkeiten vermutete der Pa­
thologe Harold Dvorak von der Harvard Medical School in
Boston schon 1986, dass Tumoren die Wundheilungsme­
chanismen des Körpers für ihr entartetes Wachstum miss­
brauchen. Sie wirken auf unseren Körper, so seine damalige
Wie gute Zellen zu bösen wurden
Ursprünglich galt Seneszenz bei Zellen – also der dauerhafte Verlust der Teilungsfähigkeit – als Ruhezustand mit
einer positiven und einer negativen Seite (links unten):
Einer­seits unterbindet sie die unkontrollierte Selbstvermehrung und beugt damit Krebs vor. Andererseits behindert sie
die Regeneration von Gewebe, da diese teilungsfähige
Zellen erfordert, und ist damit ein Grund für den
Verfall des Körpers im Alter. Heute erscheint die
zelluläre Seneszenz ausschließlich negativ (rechts).
So hat sich gezeigt, dass seneszente Zellen schädliche Stoffe ausscheiden können. Diese fördern
chronische Entzündungen, die vielen Alters­
erscheinungen zu Grunde liegen. Zudem regen sie Nachbarzellen zur Teilung an und
teilungsunfähige
fördern damit das Tumorwachstum.
seneszente Zelle
Neue Sicht
sekretorische
seneszente Zelle
nichtsekretorische
seneszente
Zelle
abgesonderte
Moleküle
Folgen
Frühere Sicht
schlecht:
fördert Krebs
in anderen Zellen
Folgen
gut:
Die Zelle verhindert
ihre eigene unkontrollierte Vermehrung.
normale Zelle
schlecht:
Die zelluläre Seneszenz fördert
die Alterung des
Gewebes.
präkanzeröse Zelle
schlecht:
verursacht Entzündungen
präkanzeröse
Zelle
Tumor
geschädigtes
Gewebe
Entartete Zellen bleiben
ungefährlich, weil sie
nicht wuchern können.
WWW.SPEK TRUM .DE
Die Zellen können sich nicht mehr
teilen, was für die Erneuerung des
Gewebes notwendig wäre.
Die abgesonderten Stoffe regen Zellen zum Wuchern an.
Chronische Entzündungen
können zur Entstehung von
Krebs sowie zu altersbedingten Erkrankungen wie Morbus
Alzheimer, Diabetes oder
Arteriosklerose beitragen.
GERT NIELSEN
aktivierte Entzündungszellen
im Gewebe
17
VAN DEURSEN LABORATORY, MAYO CLINIC
Aussage, wie »eine endlose Reihe von Wunden, die dauernd
eine Heilung einleiten, aber nie wirklich abheilen«.
Neueren Untersuchungen zufolge spielt die Zellalterung
dabei eine Rolle. Wenn Gewebe verletzt wird, gehen Zellen im
Wundbereich in den Zustand der Seneszenz über. Dadurch
regen sie eine Entzündung an, die den Heilungsprozess an­
stößt. Unter anderem schütten sie dazu chemische Boten­
stoffe aus – so genannte Zytokine, die Immunzellen anlocken
und aktivieren, um mögliche Infektionen zu bekämpfen so­
wie tote Zellen und Unrat zu entfernen. Später vermehren sich
gesunde Zellen, um die verlorenen zu ersetzen. Schließlich
sondern seneszente Zellen abbauende Enzyme ab, um Protein­
fasern, die zunächst ein Stützgerüst gebildet hatten, wieder
zu zerlegen; dieser Abbau begrenzt die Narbenbildung.
Indem Campisi alle diese Puzzleteile zusammensetzte,
­gelangte sie zu der Schlussfolgerung, dass die zelluläre Senes­
zenz im Verlauf der Evolution nicht nur dazu diente, übermä­
ßigem Wachstum geschädigter Zellen vorzubeugen, sondern
zugleich eine Rolle bei der Wundheilung übernahm. Dadurch
aber musste sie SASP in ihr Repertoire aufnehmen. Leider
macht der sekretorische Betriebsmodus seneszente Zellen
jedoch zu ausgezeichneten Komplizen für Tumoren, die den
Wundheilungsprozess für ihr eigenes Wachstum ausnutzen.
Außerdem kann die Fähigkeit solcher Zellen, eine Entzün­
dung auszulösen, letztendlich den gesamten Körper in eine
»üble Gegend« verwandeln. Einiges spricht nämlich dafür,
dass schwache Entzündungen nicht nur Krebs, sondern über­
dies Arteriosklerose, die Alzheimerdemenz, Typ-2-Diabetes
und weitere altersbedingte Krankheiten begünstigen.
Normalerweise schwindet mit dem Alter das Fettgewebe unter
der Haut (unten). Bei genetisch veränderten Mäusen, die seneszente Zellen unverzüglich eliminieren, bleibt die Fettschicht, die
hier weiß erscheint, dagegen erhalten (oben). Das spricht für eine
Beteiligung der zellulären Seneszenz am Alterungsprozess.
Wie seneszente Zellen zum Altern beitragen
Nachdem die unrühmliche Rolle seneszenter Zellen bei der
Entstehung von Krebs aufgedeckt war, begannen Forscher
auch wieder nach Zusammenhängen mit dem Altern zu su­
chen. Dabei zeigte sich, dass die Ruheständler mit verdäch­
tiger Häufigkeit überall dort vorkommen, wo etwas schief­
gelaufen ist. Auch im alternden Körper insgesamt finden sie
sich auffallend zahlreich. So gelang 2006 der Nachweis, dass
sich die Immunabwehr bei betagten Mäusen im selben Maß
abschwächt, wie die Seneszenz bei jenen Stammzellen zu­
nimmt, die normalerweise stetig die diversen Zelltypen des
Immunsystems produzieren.
Hilfreich für solche Experimente war die Entdeckung von
Erkennungsmerkmalen für seneszente Zellen. Zu den wich­
tigsten solchen Seneszenzmarkern gehört die erhöhte Kon­
zentration eines Proteins namens p16, das von dem Gen
p16Ink4a kodiert wird. David Beach von der Queen Mary Univer­
sity in London hat es 1993 entdeckt. Wie sich später heraus­
stellte, wirkt es dabei mit, Zellen an der Vermehrung zu hin­
dern, wenn bestimmte Arten von Schädigungen auftreten.
Norman E. Sharpless und seine Kollegen von der Universi­
ty von North Carolina in Chapel Hill konnten mit einer Reihe
von Untersuchungen bei Nagetier- und menschlichen Zellen
einen statistischen Zusammenhang zwischen Alterung und
p16-Spiegel nachweisen. Letzterer erhöht sich demnach mit
18 den Lebensjahren, während zugleich die Fähigkeit der Zellen
abnimmt, sich zu vermehren und verletztes Gewebe zu repa­
rieren. Wie die Gruppe von Sharpless 2004 berichtete, gilt
dies für fast alle Zelltypen. Interessanterweise lässt sich der
p16-Spiegel durch verminderte Kalorienzufuhr senken. Das
passt zu der seit den 1930er Jahren bekannten Tatsache, dass
bei einer Reihe von Tierarten eine strenge Diät die Lebens­
spanne verlängern und ein gesundes Altern fördern kann.
Im Jahr 2009 lieferte das Labor von Sharpless ein weiteres
Puzzleteil. Demnach steigt auch in den T-Zellen des mensch­
lichen Immunsystems der p16-Spiegel steil mit dem Alter an.
Besonders ausgeprägt ist dieser Anstieg bei Rauchern und
körperlich wenig aktiven Menschen – ein Anhaltspunkt ­dafür,
dass beide Verhaltensweisen die zelluläre Seneszenz begüns­
tigen. Sharpless ist ein jung aussehender Mann von 45 Jahren.
Trotzdem hat er, wie er mir lachend erzählte, bereits einen
doppelt so hohen p16-Spiegel wie seine Doktoranden. Das
stellte er fest, nachdem sein Labor einen leicht anwendbaren
Test zur Messung des Markers entwickelt hatte.
Sharpless und seine Kollegen wiesen aber nicht nur eine
statistische Beziehung zwischen dem p16-Spiegel und Merk­
malen des Alterns nach. Sie belegten mit einer Reihe von Un­
tersuchungen auch einen direkten kausalen Zusammen­
hang. Demnach ist die zelluläre Seneszenz nicht etwa eine
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
bloße Begleiterscheinung des Alterns von Geweben und des
gesamten Organismus, sondern trägt aktiv dazu bei. Das
­ergaben Versuche, über die das Team 2006 berichtete. Dabei
hatten die Forscher in betagten Mäusen das p16-Gen blo­
ckiert, so dass die Tiere nur in stark vermindertem Maß se­
neszente Zellen bilden konnten. Daraufhin vermochten die
Nager abgestorbene Pankreaszellen nach einer Giftgabe fast
genauso gut zu regenerieren wie jüngere Artgenossen. Au­
ßerdem waren sie besser als normale Gleichaltrige dazu im
Stande, Nervenzellen in bestimmten Regionen ihres Gehirns
zu erneuern. Und auch die Regenerationsfähigkeit der Blut­
stammzellen lag über dem alterstypischen Wert.
Anderen Untersuchungen aus den letzten sieben Jahren
zufolge liefern genetische Unterschiede in der Menge an p16,
die verschiedene Menschen produzieren, möglicherweise ei­
nen Hinweis auf ihr persönliches Risiko, verschiedene alters­
bedingte Krankheiten wie Arteriosklerose oder Morbus Alz­
heimer zu entwickeln. Laut Sharpless haben diese Ergebnisse
große Beachtung bei Medizinern gefunden, die sich mit sol­
chen Altersleiden befassen.
Gibt es ein Mittel gegen den körperlichen Verfall?
Noch aufregender sind die eingangs erwähnten Forschungs­
arbeiten an der Mayo-Klinik, die beweisen, dass sich durch
Eingriffe in die zelluläre Seneszenz typische Alterserschei­
nungen hinauszögern lassen. Das Team von van Deursen er­
zeugte Mäusestämme, die gleich doppelt genetisch verändert
waren. Zum einen hatten die Tiere einen Defekt im Erbgut,
der in verschiedenen Geweben zu einer vorzeitigen zellulä­
ren Seneszenz führte. Zum anderen trugen sie ein Gen, das
dafür sorgte, dass ein bestimmter Wirkstoff jede Zelle abtöte­
te, in der das p16-Gen angeschaltet wurde. Eine lebenslange
Behandlung mit dieser Substanz entfernte also kontinuier­
lich sämtliche Zellen, die ins Seneszenzstadium übergingen.
Das hatte eminente positive Auswirkungen, wie die For­
scher berichteten. Gewisse altersbedingte Störungen wie
etwa grauer Star, die bei unbehandelten Mäusen schon in
jungen Jahren eintraten, verzögerten sich deutlich. So blieb
das Unterhautfettgewebe länger erhalten, und der Muskel­
abbau setzte nicht so früh ein. Selbst wenn die Behandlung
später im Leben der Mäuse begonnen wurde, verlangsamte
sich der altersbedingte Verlust von Fett- und Muskelgewebe.
So spektakulär die Befunde des Mayo-Teams sind, ist da­
mit noch nicht gesagt, ob es generell – und auch bei uns
Menschen – von Vorteil wäre oder sich lebensverlängernd
auswirken könnte, seneszente Zellen regelmäßig aus dem
Verkehr zu ziehen. Campisi weist etwa darauf hin, dass die
Mäuse unter künstlich induziertem, vorzeitigem Altern litten,
weshalb die Ergebnisse nicht ohne Weiteres auf das normale
Altern übertragbar seien. Zudem bewahrte das rasche Ent­
fernen der seneszenten Zellen die Nager keineswegs vor ihrer
Haupttodesursache: vorzeitigem Herz-Kreislauf-Versagen.
Deshalb lebten sie auch nicht wesentlich länger.
Aber einmal angenommen, irgendwann käme der Beweis,
dass eine Blockade der zellulären Seneszenz tatsächlich das
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Altern bis zu einem gewissen Grad verlangsamen oder we­
nigstens gegen Falten wirken und andere altersbedingte Ge­
brechen lindern könnte – wie ließe sich diese Erkenntnis
­medizinisch nutzen? Das Verfahren der Mayo-Forschungs­
gruppe auf Menschen zu übertragen hieße, Genmanipula­
tionen an befruchteten Eizellen vornehmen zu müssen. Das
erscheint aus ethischen Gründen ausgeschlossen. Das p16Gen medikamentös auszuschalten, wäre auch problema­
tisch. Dadurch stiege womöglich das Krebsrisiko. Dennoch
bieten sich einige erstaunlich einfache Optionen.
Da ist einmal die Erkenntnis, dass Raucher und Men­
schen mit Bewegungsmangel im Allgemeinen erhöhte p16Spiegel haben. Demnach könnten Abstinenz vom Glimm­
stängel und körperliche Bewegung helfen, jene Art moleku­
larer Schädigungen zu verhindern, welche die zelluläre
Seneszenz fördern. Einen ähnlich positiven Effekt hätte
wohl auch das Abnehmen. Wie van Deursen und sein Kol­
lege James Kirkland vermuten, können Vorläufer von Fett­
zellen, so genannte Präadipodizyten, bei übergewichtigen
Menschen und Tieren einen Zustand auslösen, der dem be­
schleunigten Altern stark ähnelt. Eine große Anzahl dieser
Zellen wird nämlich seneszent und fördert somit gemäß
Campisis Theorie chronische leichte Entzündungen im ge­
samten Körper.
Es gibt auch vorläufige Hinweise, wonach ein Wirkstoff
namens Rapamycin der zellulären Seneszenz vorbeugen
könnte, ohne Krebs zu begünstigen. Interessanterweise hat
die Substanz die Lebensspanne von Mäusen verlängert,
­denen sie dauerhaft verabreicht wurde (siehe Spektrum der
Wissenschaft 7/2012, S. 22). Wie die Forschungsgruppe von
Campisi außerdem unlängst nachwies, unterdrücken einige
entzündungshemmende Medikamente die Sekretion schäd­
licher Stoffe durch seneszente Zellen.
Es scheint also nicht ausgeschlossen, dass sich irgendwann
ein wirksames Mittel gegen das Altern und seine Beschwer­
den findet. Bis dahin aber rät Sharpless allen, die sich eines
langen Lebens in Gesundheit erfreuen möchten: »Nicht rau­
chen, vernünftig essen und sich bewegen!« Ÿ
DER AUTOR
David Stipp ist Wissenschaftsjournalist, lebt in
Boston und hat sich auf Gerontologie spezialisiert. Sein Buch »The Youth Pill: Scientists at
the Brink of an Anti-Aging Revolution« erschien
2010 bei Penguin. Stipp schreibt einen englischsprachigen Blog zur Alternsforschung unter
www.davidstipp.com.
QUELLEN
Baker, D. J. et al.: Clearance of p16Ink4a-Positive Senescent Cells
Delays Ageing-Associated Disorders. In: Nature 479, S. 232 – 236,
2011
Rodier, F., Campisi, J.: Four Faces of Cellular Senescence. In: Journal
of Cell Biology 192, S. 547 – 556, 2011
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1184762
19
ANGIOGENESE
Krebs, Blutgerinnung und Stress –
eine pikante Ménage-à-trois
Ein erhöhtes Krebsrisiko geht oft Hand in Hand mit einer verstärkten Neigung
zu Blutgerinnseln. Die beiden verbindet ein bislang unbekannter
Regulationsmechanismus bei der Bildung des Gerinnungsfaktors Prothrombin.
Von Matthias W. Hentze und Andreas E. Kulozik
A
m Silvestertag 1866 entdeckte Armand Trous­
seau (1801 – 1867) in seinem linken Arm ein Blut­
gerinnsel. Der Pariser Internist hatte sich durch
seine bahnbrechenden wissenschaftlichen Bei­
träge in ganz Frankreich einen ausgezeichneten Ruf erwor­
ben. Unter anderem hatte er einen Zusammenhang beob­
achtet zwischen dem häufigen Auftreten von Blutgerinnseln
und Tumoren, insbesondere des Magens und der Bauch­
speicheldrüse. Die Krankheitskombination wurde nach ihm
auch als Trousseau-Zeichen benannt. Auf Grund dieser Er­
fahrungen interpretierte Trousseau sein eigenes Blutgerinn­
sel als Hinweis auf eine Krebserkrankung, von der er bis da­
hin noch nichts wusste. Tatsächlich erlag er ihr schon im
Sommer des folgenden Jahres.
AUF EINEN BLICK
ÜBERRASCHENDE ZUSAMMENHÄNGE
1
Krebspatienten leiden häufig an einer Neigung zu Blut­
gerinnseln. Umgekehrt haben Menschen mit einer verstärkten
Blutgerinnung ein erhöhtes Krebsrisiko.
2
Geraten Zellen durch Entzündungsprozesse unter Stress –
etwa bei Krebs –, blockiert ein Enzym namens p38-MAP-Kinase
jene Proteine, die normalerweise die Produktion von Prothrombin
drosseln. Dadurch entsteht dieser Blutgerinnungsfaktor im
Übermaß.
3
Thrombin, die aktive Version von Prothrombin, trägt auch
zur Bildung neuer Blutgefäße bei und kann den Kitt auflösen,
der die Zellen zusammenhält. Möglicherweise erhöhen also
Krebszellen ihre Prothrombinproduktion, um besser in gesundes
Gewebe einzudringen und neue Blutgefäße herzustellen, welche
die Tumorzellen versorgen.
4
Dabei bestimmt ein zuvor unbekannter Mechanismus, wie viel
Prothrombin entsteht. Er beeinflusst die Umwandlung der
Vorläufer-mRNA in die reife mRNA – den Bauplan für das Protein –
und letztlich die Menge des gebildeten Prothrombins.
20 Es dauerte eineinhalb Jahrhunderte, bis nun endlich neue
Forschungsergebnisse Licht ins Dunkel dieses mysteriösen
Zusammenhangs zwischen Tumoren und der Neigung zur
Bildung von Blutgerinnseln (Thrombose) bringen. Unter­
suchungen zu den Ursachen dieser so genannten Thrombo­
philie haben einen bislang unbekannten Mechanismus auf­
gedeckt, über den unser Körper die Produktion einzelner
Proteine reguliert. Ihn nutzen auch Tumoren, um sich besser
im Körper auszubreiten. Die zum Teil überraschenden
­Erkenntnisse erlauben nun sowohl neue Einblicke in die
Prozesse, die bei Entzündungen ablaufen, als auch in die
Entwicklung innovativer Behandlungsstrategien gegen Tu­
morerkrankungen.
Zentraler Akteur des Dramas ist ein Protein namens Pro­
thrombin. Dessen Umwandlung in Thrombin, etwa bei Ver­
letzungen, stellt einen wichtigen Schritt bei der Blutgerin­
nung dar. Zu große Mengen von Prothrombin, das auch F2
(Gerinnungsfaktor II) genannt wird, stören die fein regu­
lierte Balance zwischen blutgerinnungsfördernden und
-hemmenden Molekülen, was letztlich zu Thrombophilie
führt.
Wie alle Eiweiße besteht auch Prothrombin aus einer Ket­
te von Aminosäuren. Diese sind gemäß einem vorgegebenen
Bauplan miteinander verknüpft – der Boten-RNA (mRNA für
messenger RNA). Die mRNA besteht im Wesentlichen aus Ab­
folgen der basischen Moleküle Adenin (A), Cytosin (C), Gua­
nin (G) und Uridin (U) und beginnt ihr Dasein als direkte
­Kopie der in der DNA kodierten genetischen Information
(siehe Grafik S. 23). Bevor sie jedoch als Blaupause für die
­Eiweißsynthese dienen kann, muss sie mehrere Reifungs­
schritte (»Prozessierung«) durchlaufen:
➤ Im mittleren Teil der Vorläufer-mRNA gehen oft zahlrei­
che Abschnitte verloren, so genannte Introns;
➤ das vordere Ende wird chemisch verändert, um die Stabi­
lität zu erhöhen;
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
➤ Enzyme schneiden das hintere Ende an einem exakt fest­
gelegten Punkt ab und hängen dort eine Abfolge von rund
250 Adeninen an: den »Poly-A-Schwanz«.
Dieser letzte Schritt ähnelt der Bearbeitung eines abge­
schnittenen Seils, das sonst ausfransen würde. Der Poly-ASchwanz spielt für die Funktionsfähigkeit der mRNA und
auch für ihre Stabilität eine entscheidende Rolle. Letzteres ist
wichtig, denn: Häufen sich größere Mengen einer mRNA an,
entsteht im Allgemeinen mehr entsprechendes Eiweiß – so
auch bei der Prothrombin-mRNA.
Forscher um den niederländischen Biochemiker Rogier M.
Bertina von der Universität Leiden hatten schon 1996 eine
ungewöhnliche ererbte Mutation in der Prothrombin-mRNA
entdeckt, die bei vielen Thrombophiliepatienten auftritt.
Und zwar findet sich diese genau an jener Stelle des hinteren
RNA-Teils, wo er vor Anfügen des Poly-A-Schwanzes abge­
schnitten wird. Die Entdeckung überraschte die Wissen­
schaftler, denn meistens wirken sich Veränderungen der
RNA nur dann auf ihre Funktion aus, wenn sie die Amino­
säureabfolge des Eiweißes betreffen. Die Schnittstelle liegt
jedoch hinter der Region, die den Bauplan dafür enthält. Zu­
dem geht die bei etwa ein bis zwei Prozent der nord- und
westeuropäischen Bevölkerung vorkommende und damit
vergleichsweise häufige Mutation nicht wie üblich mit einer
AG. FOCUS / SCIENCE PHOTO LIBRARY / PIETRO MOTTA
Die Blutgerinnung ist ein komplizierter mehrstufiger Ablauf, an dessen Ende sich ein Netzwerk aus Fibrinfasern
bildet, in dem sich die roten Blutkörperchen verfangen. Ein wichtiger Schritt bei dieser biochemischen Reaktionskaskade ist die Umwandlung von Prothrombin in Thrombin. Normaler­weise hat die Blutgerinnung die Aufgabe,
den Körper etwa bei Verletzungen vor über­mäßigem Blutverlust zu schützen. Eine zu große Menge an Prothrombin kann aber dazu führen, dass die Betroffenen vermehrt spontan Gerinnsel in den Blutgefäßen bilden.
WWW.SPEK TRUM .DE
21
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Der französische Mediziner Armand Trousseau (1801 – 1867) entdeckte einen Zusammenhang zwischen dem häufigen Auftreten
von Blutgerinnseln und bestimmten Tumoren (genannt Trousseau-Zeichen). Ironie des Schicksals: Trousseau starb an einer
Krebserkrankung, die er bei sich selbst auf Grund eines Blutgerinnsels im Arm diagnostizierte.
eingeschränkten Funktion einher, sondern mit einer gestei­
gerten: Es entsteht dadurch mehr Protein.
Wegen dieser ungewöhnlichen Situation betrachteten die
Forscher die Veränderung zunächst gar nicht als wirklichen
Auslöser der erhöhten Eiweißsynthese, sondern nur als ei­
nen genetischen Marker für eine bis dato noch unbekannte
Ursache. Außerdem war man zu dieser Zeit allgemein der
Auffassung, der Reifungsprozess am hinteren Ende der
mRNA sei ein zwar notwendiger, aber kaum regulierter
Schritt auf dem Weg vom Gen zum Protein. Zumindest wa­
ren damals noch keine Zusammenhänge zwischen Verände­
rungen an der Schnittstelle in der RNA und irgendwelchen
Krankheiten durch gesteigerte mRNA-Produktion bekannt.
Nachdem wir uns jedoch die Basenabfolge an dieser Stelle
der Prothrombin-mRNA genauer angeschaut hatten, fiel uns
auf: Bei Thrombophilie wird das normalerweise vorkom­
mende CG durch ein CA ersetzt. Nun enthalten aber die
mRNAs der meisten anderen Proteine dort genau dieses CA
und kein CG. Insofern bildet die Prothrombin-mRNA eine
Ausnahme unter den RNAs.
Daraus zogen wir zwei Schlussfolgerungen. Zum einen
könnte der Reifungsprozess am hinteren Ende der Prothrom­
bin-mRNA davon abhängen, ob hier ein CG oder ein CA steht.
Und zum anderen könnte der Wechsel von CG zu CA bei
Thrombophilie möglicherweise die Reifung fördern und da­
mit zu mehr Prothrombin-mRNA führen, da CA ja eigentlich
den Normalfall darstellt. Unsere folgenden Untersuchungen
bestätigten diese Annahmen. Damit hatten wir ein grund­
sätzlich neues Prinzip etabliert, wie Genveränderungen Er­
krankungen auslösen können: indem sie die Prozessierung
22 der Vorläufer-mRNA fördern und dadurch die Menge an ge­
reifter mRNA erhöhen.
Die Entdeckung warf jedoch sofort wieder neue Fragen
auf: Weshalb hat das Prothrombin-Gen bei Gesunden ein
ineffizientes Reifungssignal? Und wie schaffen es die Zellen,
trotzdem ausreichende Mengen des Proteins zu produzie­
ren? Eine genauere Untersuchung des RNA-Strangs zeigte
zunächst, dass an der hinteren Schnittstelle sogar noch ein
weiteres Element fehlt, das normalerweise die Prozessierung
des Moleküls fördert. Dieses DSE (Abkürzung für »downstream
sequence element«) enthält sehr viel Uridin, was bei der Pro­
thrombin-RNA nicht der Fall ist.
Dann entdeckten wir jedoch einen kurzen Abschnitt, den
wir USE für »upstream sequence element« nannten und der
die Effizienz von CG als Reifungssignal massiv erhöhen kann.
Dieser »USE-Verstärker« funktioniert allerdings nicht nur
im Zusammenspiel mit CG, sondern genauso bei einem CA-­
Signal, und führt dann zu einer überhöhten ProthrombinmRNA-Produktion. Genau das passiert bei Thrombophilie­
patienten.
Aber warum hat sich überhaupt dieses komplizierte Sys­
tem aus einem abgeschwächten Element, das von einer an­
deren Sequenz verstärkt werden muss, im Verlauf der Evolu­
tion herausgebildet? Es wäre doch viel einfacher, wenn wie
bei anderen RNAs ein einziges, ausreichend effizientes Signal
die Aufgabe übernähme. Ein möglicher Zweck bestünde da­
rin, die mRNA-Produktion bei Bedarf erhöhen zu können,
also regelbar zu machen. Um herauszufinden, wie der USEVerstärker beim Reifungsprozess mitwirkt, mussten wir uns
näher mit jenen Proteinen beschäftigen, die an der Prozes­
sierung am Schwanzende von mRNAs beteiligt sind.
Diese Eiweiße finden sich dabei teilweise zu größeren
Komplexen zusammen und können sich erst dann an die
mRNA anheften, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Wie wir he­
rausfanden, wird der Vorgang erleichtert, wenn sich an den
USE-Verstärker einige weitere Proteine binden (mit den Be­
zeichnungen U2AF35, U2AF65 und PTB).
Zellen unter Stress
Von diesen Molekülen war bereits bekannt, dass sie eine Rol­
le spielen, sobald Zellen unter Stress geraten. Daher riefen
wir als Nächstes bei Laborkulturen diesen Zustand durch Zu­
gabe der Substanz Anisomycin hervor. Ergebnis: Die Zellen
bildeten vermehrt Prothrombin-mRNA. Wie lässt sich das er­
klären?
Normalerweise kleben andere Proteine – genannt FBP2
und FBP3 – am USE und blockieren so den Zugang der Ver­
stärkerproteine U2AF35, U2AF65 und PTB. Bei zellulärem
Stress lösen sich FBP2 und -3 jedoch ab, was den Verstärkern
ermöglicht, sich an das USE anzuheften, worauf sich größere
Mengen an stabiler mRNA bilden. Experimente, bei denen
wir in kultivierten Zellen einerseits U2AF35, U2AF65 und PTB
beziehungsweise andererseits FBP2 und FBP3 gezielt aus­
schalteten, untermauerten diese Vorstellung: Sie belegten,
dass erstere drei Proteine für die Reifung der ProthrombinSPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
mRNA benötigt werden, während die beiden letzteren diesen
Prozess blockieren.
Schließlich entdeckten wir die entscheidende Rolle eines
Enzyms namens p38-MAP-Kinase, von dem bereits bekannt
war, dass es durch intrazellulären Stress aktiviert wird: Es
hängt den USE-Blockierern FBP2 und -3 eine oder mehrere
Phosphatgruppen an, die chemisch gesehen sauer reagieren.
Das erklärt, warum sich die beiden Proteine dann nicht mehr
an das USE der ebenfalls sauren mRNA binden – denn »sau­
er« und »sauer« stoßen sich ab.
Damit fügten sich die vielen Puzzleteile zu einem Ge­
samtbild zusammen, das sowohl den ungewöhnlichen Bau­
plan der Prothrombin-mRNA und deren Rolle bei der Throm­
bophilie erklärt als auch ein ganz neues Regulationsprinzip
für die Umsetzung genetischer Information in Proteine ent­
wirft (siehe Grafik S. 24):
➤ Die Reifung der Prothrombin-mRNA wird nicht wie üb­
lich recht unflexibel über hocheffiziente Signale in der Se­
quenz (CA) und das »downstream sequence element« (DSE)
gesteuert, sondern über die Kombination eines deutlich ab­
geschwächten Signals (CG) ohne DSE mit einem regelbaren
Verstärker, dem USE.
➤ Der Verstärker kann dann seine Aufgabe erledigen, wenn
sich die Faktoren U2AF35, U2AF65 und PTB an ihn binden.
Heften sich jedoch ihre Gegenspieler FBP2 und -3 an ihn,
wird er ausgeschaltet.
➤ In gestressten Zellen sorgt die p38-MAP-Kinase dafür,
dass sich die beiden FBPs nicht mehr an das USE anlagern.
Folge: mehr Prothrombin-mRNA und entsprechend mehr
Prothrombin, was die Blutgerinnung erleichtert.
DNA
➤ Wirkt dieser Verstärkermechanismus auf Grund einer
Mutation zusammen mit einem normal starken RNA-Rei­
fungssignal (CA) statt mit einem abgeschwächten (CG), so
entsteht ein Übermaß an Prothrombin. Die Betroffenen nei­
gen dann zu Thrombosen.
Diese Erkenntnisse helfen aber nicht nur, die Thrombo­
philie besser zu verstehen, sondern wirken sich auch auf
ganz andere Bereiche der Medizin aus. Jeder Klinikarzt weiß,
dass das Thromboserisiko bei Patienten mit entzündlichen
Erkrankungen oder bei Stresssituationen wie Operationen
ansteigt. Und wie eingangs beschrieben, wurde Armand
Trousseau durch seine Thrombose im Arm bewusst, dass er
womöglich Krebs hatte – obwohl der Tumor selbst noch kei­
ne Symptome verursachte. Interessanterweise lassen sich
bei solchen Erkrankungen meist größere Mengen an Pro­
thrombin nachweisen, und die p38-MAP-Kinase ist in der
näheren Umgebung von Entzündungen und Tumoren über­
durchschnittlich aktiv. Diese Zusammenhänge erforschten
wir anhand von Tiermodellen sowie an Gewebeproben von
Patienten.
Zunächst nutzten wir die Tatsache, dass man bei Mäusen
durch Einspritzen der bakteriellen Substanz LPS (Lipopoly­
saccharid) eine Entzündungsreaktion hervorrufen kann, die
vor allem in der Leber die Prothrombinproduktion anregt.
Wie wir feststellten, findet sich in solchen Mauslebern tat­
sächlich mehr reife Prothrombin-mRNA, und das Verstärker­
protein PTB neigt dort dazu, sich an das USE zu binden – des­
sen Gegenspieler FBP2 und FBP3 jedoch weniger.
Ergänzend untersuchten wir Gewebeproben von Krebs­
patienten, denen Metastasen aus der Leber entfernt worden
Transkription
Vorläufer-mRNA
Intron
Intron
Intron
Prozessierung
mRNA
5’-Ende
proteinkodierender
3’-Ende
Teil
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / ART FOR SCIENCE
Translation
Protein
WWW.SPEK TRUM .DE
Intron
Die als DNA gespeicherte genetische Information für
ein Protein wird zunächst in
Vorläufer-mRNA übersetzt
(Transkription), die dann in reife mRNA umgewandelt wird.
Ein wesentlicher Teil dieser
Prozessierung ist das Herausschneiden von Introns und
das Zusammenfügen der so
entstandenen Enden, aber
auch Veränderungen am hinteren Ende der RNA, welche die
Stabilität des Moleküls beeinflussen (siehe Grafik S. 24).
Erst danach dient das Endprodukt als Bauanleitung für
die Proteinsynthese (Trans­
lation).
23
Regulation der Prozessierung am hinteren Ende
der Prothrombin-mRNA: Molekularer Schaltmechanismus
waren. Es zeigte sich, dass diese Geschwulste im angrenzen­
den gesunden Lebergewebe die Prothrombinproduktion sti­
mulieren. Auch wenn hier streng genommen noch nicht be­
wiesen ist, dass der beschriebene Verstärkermechanismus
via p38-MAP-Kinase und USE dafür verantwortlich ist, deutet
gegenwärtig alles darauf hin.
Damit die Blutgerinnung ordnungsgemäß ablaufen kann,
muss das aus Prothrombin entstehende Enzym Thrombin
andere Proteine zerschneiden. Wegen dieser Funktion als Ei­
weißschere kann es auch den Kitt zwischen den einzelnen
Zellen – die extrazelluläre Matrix – auflösen und damit dem
Tumor helfen, sich in gesundes Gewebe hinein auszubreiten.
Außerdem ist noch eine zweite Funktion des Gerinnungsfak­
tors bekannt: Er kann an speziellen Schaltermolekülen auf
verschiedenen Zellen andocken und dadurch unter anderem
das Gefäßwachstum ankurbeln. Bei Krebs verbessert das je­
doch vor allem die Blutversorgung des Tumors. Auf diese
Weise können Metastasen den beschriebenen Regulations­
mechanismus zu ihren Zwecken missbrauchen – aber damit
auch einen neuen strategischen Angriffspunkt gegen die Tu­
moren liefern. So ließen sich Medikamente, die eigentlich
die Blutgerinnung hemmen sollen, möglicherweise gegen
Krebs einsetzen.
Vermutlich gibt es eine Reihe weiterer mRNAs, die sich
ebenfalls dieses bisher unbekannten Regulationsprinzips be­
dienen. Sind erst die entsprechenden Gene und Proteine
identifiziert, dürften wir besser verstehen, wie Tumoren, Ent­
zündungen und vielleicht auch noch andere Stresszustände
in das Steuerungsnetzwerk hineinspielen und wie sich da­
raus hilfreiche Behandlungsansätze für Patienten entwi­
ckeln lassen.
24 Prothrombin-mRNA
Verstärkerproteine
CG
CA
USE
FBP 2/3
p38
MAPK
P
FBP 2/3
bei Reifung der mRNA
Schnitt und Anhängen
einer Poly-A-Sequenz
Stress
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / ART FOR SCIENCE
Die Vorläufer-mRNA wird hinter dem CG-Reifungssignal (bei
Gesunden) beziehungsweise bei Thrombophiliepatienten hinter dem ­effizienteren CA-Signal abgeschnitten. Daraufhin wird
dort ein Poly-A-Schwanz angehängt. Diesen Vorgang reguliert
die Zelle über die Kombination des schwachen CG-Signals mit
einem regelbaren Verstärker, dem USE (upstream sequence element). Der Verstärker wird dann tätig, wenn sich Verstärkerproteine wie U2AF35, U2AF65 und PTB an ihn binden. Dafür müssen aber erst ihre Gegenspieler FBP2 und -3 entfernt werden.
Dies geschieht etwa, wenn die Zelle unter Stress gerät. Dann
heftet die p38-MAP-Kinase an die FBPs einen Phosphatrest an,
worauf diese sich vom USE lösen. Das führt zu mehr Prothrombin-mRNA und entsprechend mehr Prothrombin, was die Blutgerinnung erleichtert. Liegt auf Grund einer Mutation ein starkes RNA-Reifungssignal (CA) vor statt eines abgeschwächten
(CG), entsteht Prothrombin im Übermaß. Die Betroffenen neigen dann zu Thrombosen.
Bei dieser wissenschaftlichen Reise, die vor mehr als 150
Jahren in Paris begann, brachte uns die Veränderung eines
einzelnen Bausteins des Prothrombin-Gens auf eine ent­
scheidende Spur. Sie hat zu ungeahnten Entdeckungen ge­
führt und ist nun auf bestem Weg, sogar wichtige Grundla­
gen des Tumorwachstums aufzuklären. Ÿ
DI E AUTOREN
Matthias W. Hentze (links) ist
Direktor des Europäischen
Laboratoriums für Molekular­
biologie (EMBL) und Pro­fessor
für Molekulare Medizin an der
Universität Heidelberg.
Andreas E. Kulozik ist Professor
für Kinderheilkunde und Jugendmedizin und Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und
Jugendmedizin III am Universitätsklinikum Heidelberg. Die beiden
Forscher gründeten 2002 die Molecular Medicine Partnership Unit
(MMPU) der Universität Heidelberg und des EMBL, der sie gemeinsam vorstehen.
QUELLEN
Danckwardt, S. et al.: p38 MAPK Controls Prothrombin Expression
by Regulated RNA 3’ End Processing. In: Molecular Cell 41,
S. 298 – 310, 2011
Danckwardt, S., Hentze, M. W., Kulozik, A. E.: 3’ End mRNA
Processing: Molecular Mechanisms and Implications for Health
and Disease. In: EMBO Journal 27, S. 482 – 498, 2008
Gehring, N. H. et al.: Increased Efficiency of mRNA 3’ End
Formation: A New Genetic Mechanism Contributing to Hereditary
Thrombophilia. In: Nature Genetics 28, S. 389 – 392, 2001
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1152344
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
IM FOKUS: TÜRÖFFNER FÜR KREBSZELLEN
Die überwiegende Mehrheit der Krebskranken stirbt nicht
am Primärtumor, sondern an den Folgen von Tochter­
geschwülsten (Metastasen). Diese entstehen, wenn in
der Blutbahn kursierende entartete Zellen in andere
Organe eindringen. Schweizer Forscher konnten nachweisen, dass ihnen dabei ein Pförtner auf der Innenwand
(dem Endothel) der Blutgefäße hilft. Dieser Rezeptor wird
von einem tumoreigenen Botenstoff aktiviert und
schleust, wie auf dieser nachträglich eingefärbten elek­
tronenmikroskopischen Aufnahme zu sehen ist, eine
Krebszelle (blaugrün) zwischen den Endothelzellen einer
Blutkapillare (rostrot) hindurch, indem er deren Zusam­
menhalt lockert. Seine Aufgabe im gesunden Körper ist
noch unbekannt, wahrscheinlich beeinflusst er bei
­Immunreaktionen die Durchlässigkeit der Blutgefäße.
Cancer Cell 22, S. 91 – 105, 2012
UNIVERSITÄT ZÜRICH; MARKUS KNUST UND MARCO PRINZ, UNIVERSITÄT FREIBURG
TUMORMARKER
Verräterische Satelliten-RNA
Bestimmte RNA-Moleküle kommen in Tumorzellen weit häufiger vor als in gesundem Gewebe. Möglicherweise stellen sie einen zuverlässigen Hinweis auf die Erkrankung dar.
VON GABI WARNKE
K
rebs ist die zweithäufigste Todesursache in Deutschland, jährlich
sterben rund 200 000 Bundesbürger daran. Mit einem eindeutigen Marker, der
die Erkrankung schon im Früh­stadium
offenbart, ließe sich diese Zahl dramatisch senken. Doch bisher erschwert die
verwirrende Vielfalt der Erscheinungsbilder eine sichere Diagnose. Denn
Krebs ist nur ein Sammelbegriff für
etwa 100 verschiedene Arten bösartiger
Wucherungen im Körpergewebe. Ein
wesentlicher Aspekt solcher Tumoren
sind Veränderungen im Erbmaterial,
etwa Schäden an der DNA oder eine ge-
störte Regulation der Aktivität von Genen. Solche Hinweise nutzen Mediziner
oft schon jetzt als »Marker«, um Krebs
zu diagnostizieren.
Als die Mitglieder des Humangenomprojekts 2003 die vollständige Sequenz
des menschlichen Erbguts präsentierten, stellte sich heraus: Lediglich zwei
bis drei Prozent der DNA sind Gene, die
Proteine kodieren. Einige weitere Abschnitte regulieren die Aktivität von
Genen – sie steuern also, wann, wo und
wie oft diese in RNA übersetzt werden.
Trotzdem schienen immer noch mindestens 60 Prozent der Erbsubstanz
nutzlose »Schrott-DNA« zu sein. Doch
vor einigen Jahren entdeckten Wissen­
schaftler die »pervasive transcription«,
die allgegenwärtige Transkription. Demnach werden nicht nur die Gene, sondern fast alle Teile des menschlichen
Genoms in RNA übersetzt, auch die vermeintlich nutzlosen Areale. Anscheinend erzeugt eine Zelle im Lauf ihres
Lebens von praktisch jedem Abschnitt
der DNA mindestens ein paar RNA-Kopien. Oft liest sie ihr Erbgut sogar in beide Richtungen ab. Die Funktion dieser
zahllosen RNA-Schnipsel ist bislang jedoch noch unbekannt.
IMPRESSUM
Artikelnachweise: Wurzel des Übels SdW 2/2013 · Krebsstammzellen im Visier SdW 3/2013 · Unheil durch nicht mehr teilungsfähige Zellen SdW 4/2013 · Krebs, Blutgerinnung und Stress –
eine pikante Menage-a-trois SdW 7/2012 · Türöffner für Krebszellen SdW 10/2012 · Marker für Krebs SdW 5/2011 · Streit um die
Prostatakrebs-Früherkennung SdW 10/2012 · Das Unheil kommen sehen; Der Blick für das Wesentliche; Krebszellen im Kräftespiel; Berechnung des Tumors SdW 8/2013 · Und nun zur aktuellen Krebsvorhersage; Nano-Arzneitransporter SdW 9/2013 ·
Freie Fahrt durch das Immunsystem SdW 8/2014 · Den Schutzpanzer der Krebsstammzellen durchbrechen SdW 9/2012 · Auftragskiller der Körperabwehr; Zelluläre Mobilmachung; Bakterien gegen Tumoren SdW 7/2014 · Eine Kettenreaktion, die den
Tumor zerstört SdW 8/2014 · Liveschaltung zum Tumor; Am Ort
des Geschehens SdW 9/2014 · Impfen gegen Krebs SdW 3/2012
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übernimmt die Redaktion keine Haftung; sie behält sich vor,
Leserbriefe zu kürzen.
ISSN 2193-4452 / ISBN 978-3-95892-002-6
SCIENTIFIC AMERICAN
75 Varick Street, New York, NY 10013-1917
Editor in Chief: Mariette DiChristina, President: Steven
Inchcoombe, Executive Vice President: Michael Florek,
Vice President and Associate Publisher, Marketing and
Business Development: Michael Voss
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
JÖRG HOHEISEL UND ANDREA BAUER, DKFZ HEIDELBERG
TING, D.T. ET AL.: ABERRANT OVEREXPRESSION OF SATELLITE REPEATS IN PANCREATIC
AND OTHER EPITHELIAL CANCERS. IN: SCIENCE 331, S. 593–596, 2011, FIG. 3C;
ABDRUCK GENEHMIGT VON AAAS / CCC
Einige Forscher stellten nun einen
Zusammenhang mit der Entwicklung
von Krebs her, darunter David T. Ting
vom Massachusetts General Cancer
Center und Doron Lipson von der Helicos BioSciences Corporation in Cambridge (US-Bundesstaat Massachusetts).
Ting und Lipson untersuchten die Transkription von so genannter SatellitenDNA. Dies sind ebenfalls nicht kodierende Erbgutsequenzen, die aus 100- bis
1000-fachen Wiederholungen einer kurzen Abfolge der Bausteine des Erbguts
bestehen. Obwohl sie durchschnittlich
zehn Prozent eines Säugetiergenoms
ausmachen, betrachteten Forscher auch
die Satelliten ursprünglich als inaktive
Schrott-DNA. Erst nachdem die allgegenwärtige Transkription bekannt wurde, stellte sich heraus, dass auch verschiedene Satelliten zumindest gelegentlich abgelesen werden.
Die beiden Wissenschaftler analysier­
ten die gesamte RNA bösartiger Tumorzellen und entdeckten dabei eine ex­
Ein menschlicher Bauchspeicheldrüsentumor produziert viel mehr HSATII-RNA
(rot) als gesunde Zellen (links im Bild).
WWW.SPEK TRUM .DE
Die Mikroskopaufnahmen zeigen den Unterschied zwischen klar geordnetem, gesundem Gewebe (links) und einem Tumor der Bauchspeicheldrüse (rechts).
trem verstärkte Transkription jener
Wiederholungssequenzen. Der Vergleich von Tumoren menschlicher
Bauchspeicheldrüsen mit gesundem
Gewebe zeigte: Erstere enthielten im
Mittel 21-mal so viel Satelliten-RNA.
Das markanteste Beispiel war der Satellit HSATII – seine Transkription war in
den Krebszellen 131-mal stärker als normal. Auch in aggressiven Tumoren aus
Lunge, Niere, Gebärmutter und Prostata
war die Konzentration der HSATII-RNA
deutlich erhöht. Weil dieser Satellit in
gesundem Gewebe kaum transkribiert
wird, betrachten ihn die Forscher nun
als potenziellen Krebsbiomarker. Ihre
Vermutung fanden sie bestätigt, als sie
den umgekehrten Versuch durchführten: Alle Zellen der Bauchspeicheldrüse,
in denen die Forscher HSATII-RNA fanden, waren Krebszellen. Die Methode
funktionierte selbst bei Tumoren, die
mit einer üblichen Form der Biopsie
nicht nachgewiesen worden waren.
Daraufhin wollten es die Wissenschaftler noch genauer wissen: Beeinflusst die Aktivierung der Satelliten
möglicherweise weitere Gene? In bösartigen Tumoren suchten sie darum nach
DNA-Sequenzen, deren Transkriptionsraten mit denjenigen der Satelliten korrelieren. Hierbei fanden sie vor allem
so genannte Retrotransposonen. Diese
»springenden Gene« können ihre Position in der DNA ändern, wofür die Zelle
sie in eine RNA-Zwischenform transkribiert. Und tatsächlich: Die Forscher entdeckten in bösartigen Tumoren RNA-
Abschriften des Retrotransposons LINE1 (langes verstreutes Kernelement 1,
Long Interspersed Nuclear Element 1),
und zwar vergleichbar häufig wie die
Satelliten. Übersetzte eine Zelle mehr
Satelliten-DNA in RNA, stieg also auch
die Konzentration der LINE-1-RNA im
selben Maß. Darüber hinaus wiesen
Ting und Lipson nach, dass Krebszellen
Gene häufiger ablesen, die sich auf der
DNA direkt neben einer LINE-1-Sequenz
befinden – und zwar umso mehr, je näher sie am Retrotransposon liegen.
Ergeben all diese Befunde ein einheitliches Bild? Dass die Ableseraten
von Satelliten- und RetrotransposonenDNA in Krebszellen gleichzeitig steigen,
spricht für eine gemeinsame Regula­
tion. Dafür könnten so genannte epigenetische Mechanismen verantwortlich
sein, welche die Aktivität größerer Bereiche des Erbguts zugleich beeinflussen. So werden Teile der DNA stillgelegt,
indem diese fest an Proteine binden.
Auch Satelliten-DNA liegt meist auf dieselbe Weise verpackt vor, weshalb sie in
gesundem Gewebe kaum abgelesen wird.
Die Daten von Ting und Lipson sprechen dafür, dass epigenetische Effekte
in Tumorzellen größere Bereiche der
DNA frei legen. Zahlreiche vorher inaktive Abschnitte werden dadurch ausgewickelt und können dann transkribiert
werden; möglicherweise enthalten sie
sowohl Satelliten als auch LINE-1.
Gabi Warnke ist Diplombiologin und freie
Wissenschaftsjournalistin in Heidelberg.
27
VORSORGEUNTERSUCHUNG
Streit um die
ProstatakrebsFrüherkennung
Schaden PSA-Tests zur Früherkennung
von Prostatakrebs mehr, als sie nutzen?
Eine wachsende Zahl von Studien lässt die
ak­tuellen Vorsorgemaßnahmen fragwürdig erscheinen.
Von Marc B. Garnick
E
nde 2011 ließ die amerikanische Preventive Services
Task Force eine Bombe platzen. Das Expertengremium, das die US-Regierung in Gesundheitsfragen berät, empfahl gesunden Männern, nicht mehr an PSATests zur Früherkennung von Prostatakrebs teilzunehmen.
Denn diese Messungen des Blutspiegels an prostataspezifischem Antigen (PSA) hätten als Instrument zur Krebsvorsorge nur wenig oder gar keinen Nutzen. Statt Leben zu retten,
führten sie nur dazu, dass hunderttausende Männer unnötig
operiert oder bestrahlt würden – mit Nebenwirkungen wie
Impotenz, Inkontinenz und Rektalblutungen.
Die amerikanischen Experten schätzten, dass seit 1985
mehr als eine Million Männer auf Grund eines positiven
PSA-Tests an der Prostata behandelt worden waren. Mindestens 5000 von ihnen starben kurz nach dem Eingriff, weitere
300 000 wurden impotent, inkontinent oder beides. Kurz
nachdem die Task Force diese alarmierenden Zahlen veröffentlicht hatte, hagelte es empörte Kommentare von medi­
zinischen Fachgesellschaften. Auch die American Urological
Association, ein amerikanischer Berufsverband von derzeit
mehr als 18 000 Urologen, äußerte Kritik.
Die Kontroverse ist nicht neu – schon seit Langem debattieren Experten über den Nutzen des PSA-Tests. Trotzdem
tendiert die öffentliche Meinung in den USA immer noch dahin, seinen massenhaften Einsatz zu befürworten. Als internistischer Onkologe, der sich auf Prostatakrebs spezialisiert
hat, stimme ich der Einschätzung der Task Force jedoch in
den wesentlichen Punkten zu. Vielen medizinischen Laien
ist nicht klar, wie schwach die Belege sind, die für den PSATest als Instrument zur Krebsfrüherkennung sprechen. Er
liefert zwar nützliche Informationen – aber erst, nachdem
ein Prostatakrebs diagnostiziert wurde. Zudem wissen nur
wenige, dass bei der medizinischen Behandlung des Prosta28 Rasterelektronenmikroskopische
Aufnahme von Prostatakrebs­
zellen. Das Bild ist eingefärbt, um
die ­Kontraste zu verstärken.
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
WWW.SPEK TRUM .DE
29
AG. FOCUS / SCIENCE SOURCE / PARVIZ M. POUR
takarzinoms häufig Komplikationen auftreten, trotz ausgefeilter Therapieformen, die zumindest unter Befürwortern
als besonders fortschrittlich gelten.
Eine weitere Kontroverse betrifft die Frage, ob und wann
diejenigen Patienten behandelt werden sollen, die unzweifelhaft an Prostatakrebs erkrankt sind. Auch hier sprechen die
vorliegenden Daten für einen deutlichen Kurswechsel – weg
von aggressiven Soforteingriffen und hin zu einem vorsichtigeren, individuell angepassten Vorgehen. Die Ursache für
diesen Sinneswandel liegt in der Erkenntnis, dass eine Prostatakrebserkrankung von Patient zu Patient sehr unterschiedlich verlaufen kann. Die möglichst frühzeitige Therapie ist deshalb nicht das Patentrezept, für das viele Ärzte, ich
einbegriffen, sie lange Zeit gehalten haben.
Sowohl die PSA-Messung als auch die heutigen Therapien
gegen Prostatakrebs sind mit grundlegenden Problemen behaftet. Eine Reihenuntersuchung zum frühzeitigen Erkennen von Krankheiten – ein so genanntes Screening – liefert
im Idealfall nur bei den Patienten ein positives Ergebnis, die
unbehandelt tatsächlich die Symptome der Erkrankung ausbilden würden. Dementsprechend sollte ein perfektes Prostatakrebs-Screening ausschließlich Tumoren identifizieren,
die ohne medizinischen Eingriff zu gesundheitlichen Pro­
blemen führten. Die betroffenen Männer könnten anschließend therapiert werden, wobei der Eingriff im besten Fall sowohl hocheffektiv wäre als auch keine ernsthaften Nebenwirkungen hätte. Wenn beides vorläge – ideales Screening
und ideale Therapie –, dann wäre es in der Tat angezeigt, so
viele Männer wie möglich zu testen und alle zu behandeln,
bei denen der Test positiv ausfällt.
Doch davon sind wir weit entfernt. Ein positiver PSA-Test
bedeutet nicht, dass der Patient ein Prostatakarzinom hat,
sondern nur, dass er eins haben könnte. Das prostataspezifische Antigen (PSA) ist ein Protein, das von der Prostata produziert und der Samenflüssigkeit beigemischt wird. Nor­
malerweise fällt seine Konzentration im Blut verschwindend
gering aus. Sie kann aber aus verschiedenen Gründen ansteiAUF EINEN BLICK
GEFÄHRLICHE VORSORGE?
1
Der PSA-Test lässt sich als Reihenuntersuchung an gesunden
Männern einsetzen, um möglichst frühzeitig Prostatakrebs zu
erkennen. Groß angelegte Studien lassen jedoch Zweifel daran
aufkommen, ob hierdurch das Risiko, an Prostatakrebs zu sterben,
wirklich sinkt.
2
Bei hunderttausenden Männern hat ein positives Testergebnis
zu unnötigen Behandlungen mit schweren Nebenwirkungen
geführt. Ärzte und Gesundheitsexperten streiten deshalb darüber,
ob das PSA-Screening als Instrument der Krebsfrüherkennung
sinnvoll ist.
3
Ein guter Kompromiss könnte darin bestehen, am Screening
festzuhalten, die Therapie eines dabei entdeckten Prostata­
karzinoms jedoch so lange aufzuschieben, bis der Krebs sich als
tatsächlich gefährlich erweist.
30 gen, etwa bei einer altersbedingten gutartigen Vergrößerung
der Prostata, im Zuge einer Infektion, nach sexueller Aktivität – oder eben auf Grund des Wachstums eines bösartigen
Prostatatumors.
Wenn der PSA-Test wiederholt ein positives Ergebnis liefert, entnimmt der Arzt Gewebe aus der Prostata, um es zu
untersuchen. Diese so genannte Biopsie ist unangenehm
und bringt gewisse Risiken mit sich, stellt aber noch nicht
das eigentliche Problem dar. Denn sie erlaubt es immerhin
festzustellen, ob sich in der Prostata des Patienten ein bösartiger Tumor gebildet hat oder nicht. Das wirkliche Dilemma
besteht darin, dass die Mediziner nicht erkennen können, ob
ein so gefundener Tumor gefährlich ist oder ob er dem Betroffenen zeitlebens nie Probleme bereiten wird.
Im fortgeschrittenen Alter
erkrankt die Prostata fast immer
Studien zufolge haben mehr als die Hälfte der amerikanischen Männer, die zwischen 50 und 60 Jahre alt sind, Prostatakrebs. Bei den Männern über 80 sind es sogar mehr als drei
Viertel. Die Mehrzahl von ihnen stirbt jedoch nicht an dem
Tumorleiden, sondern an anderen Erkrankungen. Bei wem
ist eine Behandlung unbedingt geboten und bei wem völlig
unnötig? Die Ärzte wissen es in der Regel nicht.
Diese Unklarheit wäre hinnehmbar, wenn die Therapie
keine Risiken mit sich brächte. Denn dann könnte man viele
behandeln, um das Leben weniger zu retten. Leider sieht die
Realität jedoch anders aus. Denn in unmittelbarer Nähe der
Prostata liegen Enddarm, Harnblase und Penis. Das macht es
schwierig, hier zu operieren oder zu bestrahlen, ohne die benachbarten Organe zu beschädigen.
Eine chirurgische Entfernung der Prostata führt oft zu Inkontinenz, da der Arzt den Blasenausgang von der Harnröhre
trennen muss. Zwar verbindet er die beiden Strukturen später wieder, doch kommt es während solcher Eingriffe immer
wieder zu Schäden am Schließmuskel, der die Blasenent­
leerung kontrolliert. Zudem können die Nerven und Blutgefäße, die für die Erektionsfunktion verantwortlich sind, versehentlich durchtrennt werden, was den Patienten impotent
macht. Angeblich treten solche Komplikationen bei roboter­
assistierten Operationen seltener auf, doch fehlen bislang
große, unabhängige Studien, die das klar belegen.
Auch eine Bestrahlung der Prostata kann Impotenz zur
Folge haben. Zusätzlich lauert hier die Gefahr, dass Enddarm
und Harnblase Schaden nehmen, da sie von der kaum vermeidbaren Streustrahlung getroffen werden. Blutungen aus
dem Enddarm und ungewollter Stuhlabgang sind häufige
Nebenwirkungen der Strahlentherapie, die generell zu selten
dokumentiert werden. Sie treten auch nach dem Einbringen
kleiner radioisotopenhaltiger Nadeln oder Körner, so genannter Seeds, in die Prostata auf, sowie nach chirurgischen
Eingriffen. Schließlich stehen zur Behandlung des Prostata­
karzinoms noch diverse medikamentöse Verfahren zur Auswahl – Hormon-, Immun- und Chemotherapien –, die ebenfalls Nebenwirkungen haben. Dazu zählen der Verlust des SeSPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
Ernüchternde Daten
In den 1990er Jahren führte der verbreitete Einsatz des PSAScreenings zu einem dramatischen Anstieg der Tumordiagnosen in den USA (blau). Bald darauf ging die Zahl der Todesfälle durch Prostatakrebs zurück (rot). Doch das zeitliche Zusammentreffen dieser beiden Trends beweist noch keinen
ursächlichen Zusammenhang. Tatsächlich zeigten zwei große, prospektive Studien aus dem Jahr 2009, dass das PSAScreening die Gefahr, an Prostatakrebs zu sterben, wenig
oder überhaupt nicht senkt. Der Rückgang der Todesfälle
könnte auf Veränderungen der Lebensgewohnheiten beruhen oder auf dem zunehmenden Einsatz von cholesterinsenkenden Arzneistoffen, so genannten Statinen. Deren entzündungshemmende Wirkung könnte vor Prostatakrebs
schützen.
JEN CHRISTIANSEN, NACH: SEER CANCER STATISTICS REVIEW 1975–2008, NATIONAL CANCER INSTITUTE
Veränderungen in der Zahl der Protatakrebsdiagnosen und
-todes­fälle in den USA (Anzahl Betroffener pro 100 000 Männer)
200
Tastuntersuchung, also dem Befühlen der Prostata durch
den Arzt. Lieferten die Tests ein auffälliges Ergebnis, wurden
Biopsien vorgenommen, und falls darin Krebszellen erkennbar waren, empfahl der Arzt in der Regel eine Therapie. Die
zweite Gruppe bekam kein regelmäßiges Screening angeboten, erhielt jedoch die übliche medizinische Versorgung, falls
notwendig. Wenn ein Mann aus dieser Gruppe etwa Probleme
beim Wasserlassen hatte – ein möglicher Hinweis auf Prostatakrebs –, wurde er entsprechend inspiziert und behandelt.
Am Ende des Untersuchungszeitraums analysierten die
Forscher beide Gruppen im Hinblick auf folgende Aspekte:
Lebten die Männer, die an regelmäßigen Vorsorgetests teilgenommen hatten, länger als jene der Vergleichsgruppe?
Und starben sie seltener an Prostatakrebs als diese? Die erste
Frage beantworteten beide Studien mit einem klaren Nein.
Bezüglich der zweiten Frage fiel die Antwort mehrdeutig aus.
Die europäische Erhebung ergab bei den Männern, die am
Screening teilnahmen, ein um 20 Prozent geringeres Risiko,
an Prostatakrebs zu sterben. Die US-Untersuchung hingegen
zeigte auch in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen
den beiden Gruppen.
Viele unnötige Eingriffe
150
100
Diagnosen
50
Todesfälle
0
1975
1985
1995
2005
xualtriebs, Impotenz, Gewichtszunahme, Knochenschwund,
Hitzewallungen sowie Störungen der Herz- und Leberfunk­
tion. Deshalb sollte der Arzt deshalb immer sämtliche Risiken sorgfältig gegen den möglichen Nutzen abwägen.
Seit einiger Zeit mehren sich die Erkenntnisse, die gegen
den Einsatz des PSA-Tests in der Krebsfrüherkennung sprechen. Bereits 2008 empfahl die Preventive Services Task Force,
dass Männer über 75, die keine Prostatabeschwerden haben,
nicht damit untersucht werden sollten. Denn die vorliegenden Daten hatten ergeben, dass Prostatakrebspatienten dieser Altersgruppe mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht an ihrem Tumorleiden sterben, sondern aus anderen Gründen.
Nur ein Jahr später zeigten die Ergebnisse zweier sehr großer Erhebungen – der europäischen »ERSPC«- und der amerikanischen »PLCO«-Studie –, dass dies auch für jüngere Männer gelten könnte. In beiden Studien teilten die Forscher gesunde Männer zwischen 50 und 74 Jahren per Zufall in zwei
Gruppen ein (insgesamt lag die Teilnehmerzahl bei rund
250 000). Die erste Gruppe nahm regelmäßig an Früherkennungstests teil, entweder mittels PSA-Messung oder mittels
WWW.SPEK TRUM .DE
In der europäischen Studie ermittelten die Forscher zudem,
wie viele Patienten getestet und behandelt werden müssen,
um einen Todesfall durch Prostatakrebs zu verhindern. Dieses
Verhältnis zu kennen, ist sehr wichtig, um den Nutzen eines
Screenings zu bewerten. Laut den Berechnungen ist es erforderlich, 1400 Männer zu untersuchen und 48 davon zu behandeln, um einem Todesfall vorzubeugen. Das bedeutet, dass 47
Patienten eine Therapie mit zweifelhaftem Nutzen erhalten,
die bei vielen erhebliche Nebenwirkungen zeitigt. Zusätzlich
fragwürdig erscheint das Screening, bedenkt man, dass sich
die Gesamtsterblichkeit zwischen den regelmäßig untersuchten Männern und der Vergleichsgruppe nicht unterschied.
Allerdings müssen wir Vorsicht walten lassen, wenn wir
diese Studien interpretieren. Denn die Daten zeigen zwar
recht eindeutig, dass die meisten gesunden Männer ohne
Prostatabeschwerden keine regelmäßigen Früherkennungs­
untersuchungen benötigen. Doch bei Patienten mit einem
Familienangehörigen, der vor dem 70. Lebensjahr an Prostata­
krebs gestorben ist, erscheint die regelmäßige Messung des
PSA-Werts gerechtfertigt. Sie besitzen möglicherweise eine
ererbte Veranlagung, die das Erkrankungsrisiko erhöht. In
­einigen Jahren wird es vielleicht möglich sein, besonders gefährdete Männer mit genetischen Tests zu identifizieren, um
sie in einem speziellen Vorsorgeprogramm zu betreuen.
Einer meiner Patienten, Herr H., nahm schon vor 19 Jahren den heutigen Standpunkt der Preventive Services Task
Force ein. 1996 war bei ihm im Alter von 54 Jahren ein PSATest positiv ausgefallen und anschließend Prostatakrebs diagnostiziert worden. Er konsultierte viele Spezialisten, darunter auch mich, und alle rieten ihm zur Therapie. Trotzdem
lehnte er jegliche Behandlung ab, denn nach dem Studium
der verfügbaren Fachliteratur war er zu dem Schluss gekom31
men, es sei unwahrscheinlich, dass er in absehbarer
Zukunft an dem Krebs sterben würde. Zudem ging er
davon aus, dass nach einigen
Jahren des Wartens neue,
wirksamere Therapien zur
Verfügung stehen würden.
Er gewöhnte sich lediglich
eine gesündere Lebensweise
an und nahm ab. Jahr für Jahr, nachdem er diese mutige Entscheidung getroffen hatte, gab ich meinem Patienten erneut
den Rat, sich behandeln zu lassen. Und jedes Mal lehnte er ab.
Heute geht es dem inzwischen 73-Jährigen immer noch
sehr gut. Weder wurde er operiert noch bestrahlt noch mit
Medikamenten behandelt, trotzdem hat sein Tumor nicht
gestreut. Sein PSA-Wert ist in dieser Zeit von 7 auf 18 Einheiten gestiegen – eine ausgesprochen gemächliche Zunahme,
die darauf schließen lässt, dass der Krebs sehr langsam
wächst. Der Verzicht auf eine Therapie war offenkundig richtig. Indem Herr H. sich ausführlich informierte und unsere
Ratschläge kritisch hinterfragte, konnte er eine gut begründete Entscheidung treffen. So vermied er es, den ungewissen
Nutzen einer frühzeitigen Behandlung mit ihren fast sicheren Folgeschäden zu erkaufen.
Tatsächlich beruhten die ärztlichen Therapieempfehlungen zu der Zeit, als Herr H. erstmals in meiner Sprechstunde
erschien, nicht etwa auf hochwertigen klinischen Studien,
sondern auf falschen Vorstellungen vom Verlauf einer Prostatakrebserkrankung. Wir wussten, dass manche Tumoren
nur langsam wachsen, andere hingegen sich sehr aggressiv
entwickeln. Doch es galt als ausgemacht, dass die weitaus
meisten irgendwann metastasieren und somit unheilbar
würden. Einen Krebs im Frühstadium zu entdecken und sofort zu bekämpfen, erschien damals als praktisch gleichbedeutend damit, ein Leben gerettet zu haben. Diese Logik liegt
auch dem heutigen Prostatakrebs-Screening zu Grunde.
Tumorwachstum im Schneckentempo
Doch die Sterblichkeitsstatistiken der letzten 25 Jahre zeigen,
dass die Angelegenheit komplizierter ist. Seit den 1990er Jahren geht die Zahl der Männer, die an Prostatakrebs sterben,
zurück. Die Befürworter von Früherkennungsprogrammen
führen dies auf den massenhaften Einsatz des PSA-Tests zurück – doch wie wir an den beiden prospektiven Studien aus
Europa und den USA gesehen haben, steht diese Annahme
auf wackligen Füßen. Zudem hätte die Prostatakrebssterblichkeit viel schneller und deutlicher sinken müssen, wenn
sie wirklich auf Grund des PSA-Screenings abgenommen
hätte. Tatsächlich scheinen unsere früheren Überzeugungen
nicht korrekt gewesen zu sein. Wie wir inzwischen wissen,
wachsen viele Prostatakarzinome extrem langsam, oft sogar
praktisch gar nicht.
Forscher entdecken immer mehr Beispiele für Tumoren,
die zunächst als bösartig eingestuft werden und doch so gemächlich wachsen, dass sie sich weder im Körper ausbreiten
noch schwer wiegende klinische Symptome verursachen.
Deshalb erwägen Mediziner bereits, ihnen eine besondere
Bezeichnung zu geben – etwa »indolenter Tumor«, was soviel wie »träge Geschwulst« bedeutet. Dies soll unterstrei-
Situation in Deutschland
In der Bundesrepublik bieten die gesetzlichen Krankenkassen
allen Männern ab 45 einmal jährlich eine Tastuntersuchung an,
um Prostatakrebs möglichst früh zu erkennen. Dabei untersucht der Arzt die Genitalien und befühlt die Prostata, indem er
einen Finger in den Enddarm einführt. Der PSA-Test ist nicht im
gesetzlichen Früherkennungsprogramm enthalten – die Kosten
dafür muss der Betroffene selbst tragen.
Zur Bewertung des PSA-Screenings gibt es unterschiedliche
Stimmen. Die Deutsche Krebshilfe kommt zur Einschätzung,
dass bei ihm »das Verhältnis von Nutzen und Schaden bislang
nicht ausreichend bekannt« ist. Männer über 40 sollten sich
umfassend über die Prostatakrebsfrüherkennung informieren
und nach Beratung mit ihrem Arzt entscheiden, ob sie den Test
nutzen wollen. Auch die aktuelle ärztliche Leitlinie zum Thema
Prostatakarzinom äußert sich bezüglich des PSA-Screenings
­zurückhaltend: »Ein Einfluss auf die Gesamtüberlebenszeit ist
nicht nachgewiesen.«
32 Die Deutsche Gesellschaft für Urologie empfiehlt allen Männern ab 40 die Bestimmung des PSA-Werts und eine Tastuntersuchung mit dem Finger. Sei in der Familie des Mannes bereits
eine Prostatakrebserkrankung aufgetreten, dann sei eine jährliche Untersuchung ab dem 40. Lebensjahr mit Bestimmung des
PSA-Werts dringend angeraten.
Der Krebsinformationsdienst (KID) des Deutschen Krebsforschungszentrums urteilt, dass der PSA-Test nach wie vor umstritten ist: Es stehe noch nicht fest, ob Männer länger und vor
allem besser leben, wenn sie diese Untersuchung regelmäßig
durchführen. Sei ein Mann bereits an einem Prostatakarzinom
erkrankt, helfe der Test dagegen, die Behandlung zu planen und
ihren Erfolg zu kontrollieren. Zusammen mit der Krankenversicherung AOK und der Universität Bremen hat der KID einen Onlinetest erstellt, der Männern die Entscheidung für oder gegen
einen PSA-Test erleichtern soll: www.psa-entscheidungshilfe.de
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
chen, dass die betroffenen Patienten für einen sehr langen
Zeitraum unbehandelt bleiben können oder vielleicht sogar
überhaupt keine Therapie benötigen. Zum Zeitpunkt der ersten Diagnose wissen wir zwar noch nicht, ob es sich um einen
indolenten Tumor handelt, doch können wir seine weitere
Entwicklung anhand seiner Eigenschaften recht gut abschätzen und in regelmäßigen Untersuchungen verfolgen.
Zugegeben: Eingeübte Gewohnheiten zu ändern, ist in der
Medizin genauso schwer wie in anderen Lebensbereichen.
­ icherlich wird es viele Ärzte und Patienten geben, die sich
S
nicht damit wohlfühlen, auf das PSA-Screening zu verzichten, nachdem jahrelang das Gegenteil empfohlen wurde. Einige Patienten sind überdies fest davon überzeugt, dass die
Vorsorgeuntersuchung ihr Leben gerettet hat. Wir sollten
ihre medizinische Betreuung jedoch umgestalten, um sie
vor unnötigen Behandlungen zu bewahren. Dazu müssen
wir bei einem diagnostizierten Prostatakarzinom die Therapieentscheidung nur so lange aufschieben, bis wir einiger-
Mögliche Komplikationen
Zur Behandlung des Prostatakarzinoms zerstören die Ärzte
das Tumorgewebe mittels Bestrahlung, oder sie entfernen
die Prostata bei einem chirurgischen Eingriff. Auch Immun-,
Chemo- oder Hormontherapien werden eingesetzt. Wegen
der anatomischen Lage des Organs kommt es dabei häufig
zu ernsten Nebenwirkungen. Die Prostata, die einen Teil der
Samenflüssigkeit produziert, sitzt direkt am Ausgang der
Harnblase und unmittelbar vor dem Enddarm. Zudem ver-
Blase
laufen ganz in der Nähe Nervenstränge, die die Erektion
steuern. Operation und Bestrahlung können deshalb zu
Komplikationen wie Harninkontinenz und unkontrolliertem
Stuhlabgang, Impotenz und rektalen Blutungen führen. Zu
den Nebenwirkungen medikamentöser Therapien gehören
der Verlust des Sexualtriebs, Impotenz, Gewichtszunahme,
Knochenschwund, Hitzewallungen sowie Störungen der
Herz- und Leberfunktion.
Samenbläschen
Harnröhre
Prostata
Samenleiter
BRYAN CHRISTIE
Enddarm
WWW.SPEK TRUM .DE
33
Drüsengang
Prostata
prostataspezifisches
Antigen
Übergang
ins Blut
freies PSA
ACT-gebundenes PSA
MG-gebundenes PSA
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / BUSKE-GRAFIK
Die Prostata produziert das
prostataspezifische Antigen
(PSA) und mischt es über
ihre Ausführungsgänge dem
Sperma bei. Aus verschiedenen
Gründen – etwa bei Prostatakrebs – kann PSA auch ins Blut
gelangen. Dort liegt es in freier
Form vor oder ist an verschiedene Plasmaproteine gebunden,
etwa an Antichymotrypsin
(ACT) oder Makroglobulin (MG).
maßen genau wissen, ob wir es mit einer aggressiven, potenziell tödlichen Erkrankung zu tun haben oder mit einem indolenten Tumor.
Viele meiner Prostatakrebspatienten haben sich gegen einen sofortigen Eingriff entschieden und erhalten keinerlei
Therapie. Stattdessen nehmen sie an einem Programm teil,
das als »aktives Beobachten« bezeichnet wird – sie lassen
­regelmäßig ihren PSA-Wert messen und Prostatabiopsien
durchführen. Eine Therapie kommt in Betracht, wenn der
PSA-Wert rasch steigt, die Biopsie ein beschleunigtes Tumorwachstum anzeigt oder die Einordnung des Tumorgewebes
gemäß der Gleason-Klassifikation ergibt, dass die Krebszellen deutlich aggressiver geworden sind.
Kürzlich kamen Experten im Auftrag der National Institutes of Health zu der Einschätzung, das aktive Beobachten sei
»eine brauchbare Option, die Patienten mit einem Niedrig­
risiko-Prostatakarzinom angeboten werden sollte«. Und eine
in Kanada durchgeführte Langzeitstudie hat ergeben, dass
etwa ein Prozent der Patienten, die sich für diese Option entscheiden, innerhalb von zehn Jahren an der Krebserkrankung sterben. Zum Vergleich: Bei der chirurgischen Entfernung der Prostata beträgt das Risiko tödlicher Komplikationen etwa 0,5 Prozent.
Die Entscheidung gegen eine Therapie ist nicht endgültig.
Operation, Bestrahlung und andere Therapien stehen auch
später noch zur Verfügung, und die vorliegenden Studiendaten zeigen, dass der Aufschub der Behandlung das klinische
Resultat nicht verschlechtert. Für die Patienten, bei denen irgendwann tatsächlich ein Eingriff erforderlich wird, eignen
sich dann möglicherweise neue Behandlungsansätze, die nur
den erkrankten Teil der Prostata entfernen und deshalb weniger Nebenwirkungen haben. Tragfähige Studien zum Vergleich mit konventionellen Verfahren sind jedoch noch nicht
abgeschlossen.
Für die vier Prozent der amerikanischen Patienten, bei denen der Tumor bereits in die Knochen oder andere Organe
34 gestreut hat, gibt es noch keine Therapie, die zur vollständigen Heilung führt. Aber die verfügbaren Behandlungen werden allmählich effektiver. Gängige Eingriffe zielen darauf ab,
die Wirkung des Testosterons zu unterbinden, um das Wachstum der Tumoren zu hemmen. Es gibt jedoch stets einige
Krebszellen, denen es irgendwann gelingt, diese chemische
Kastration zu überwinden. Deshalb hat die amerikanische
Arzneimittelzulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) inzwischen zwei neue Therapieverfahren zur Behandlung des fortgeschrittenen Prostatakarzinoms bewilligt. Bei dem einen handelt es sich um den therapeutischen
Krebsimpfstoff Provenge, der die Immunreaktion gegen den
Tumor verstärken soll. Die zweite neu zugelassene Therapie
basiert auf dem Arzneistoff Abirateron, der die Tumorzellen
selbst an der Produktion von Testosteron hindert. Studien zu
beiden Behandlungsansätzen zeigen, dass sie die Überlebenszeit der Patienten im Mittel um vier Monate verlängern.
Weitere Verfahren sind in der Entwicklung.
In den knapp zwei Jahrzehnten, seit Herr H. sich gegen eine
Therapie entschied, haben wir viel über Prostatakrebs gelernt. Das ermöglicht uns heute, die medizinische Betreuung
an die individuelle Situation des Patienten anzupassen, statt
alle Betroffenen gleich zu behandeln. Wir Ärzte sollten zudem die Botschaft mitnehmen, dass wir sowohl uns selbst als
auch unseren Patienten stets klarmachen müssen, über welche gesicherten Erkenntnisse wir tatsächlich verfügen und
was wir nicht wissen. Und wir sollten den Mut haben, uns an
der besten wissenschaftlichen Evidenz zu orientieren, statt
etablierten Glaubensgrundsätzen zu folgen. Ÿ
DER AUTOR
Marc B. Garnick ist Onkologe und Spezialist für
Prostatakrebs. Er arbeitet an der Harvard Medical
School und am Beth Israel Deaconess Medical
Center, beide in Boston (USA). Gemeinsam mit
Kollegen gibt er den Jahresbericht der Harvard
Medical School über Prostataerkrankungen heraus.
Der Autor berät außerdem mehrere Risikokapitalfirmen bei Investitionen in neu gegrün­
dete Unternehmen, die innovative Therapien gegen Prostatakrebs
entwickeln.
QUELLEN
Chou, R. et al.: Screening for Prostate Cancer: A Review of the
Evidence for the U.S. Preventive Services Task Force. In: Annals of
Internal Medicine 155, S. 762 – 771, 2011
Garnick, M. B., MacDonald, A. (Hg.): 2012 Annual Report on
Prostate Diseases. Harvard Health Publications, 2012
McNaughton-Collins, M. F., Barry, M. J.: One Man at a Time – Resolving the PSA Controversy. In: The New England Journal of Medicine
365, S. 1951 – 1953, 2011
WEBLI N KS
www.krebsinformationsdienst.de
Das Deutsche Krebsforschungszentrum informiert ausführlich rund
um Krebs und seine Früherkennung.
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1159803
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
MIT FRDL. GEN. VON BACKMAN LABORATORY, NORTHWESTERN UNIVERSITY
Krebszellen (links) weisen im Vergleich mit normalen Zellen (rechts) Dichteänderungen im Nanometerbereich auf (rot).
DIAGNOSTIK
Das Unheil kommen sehen
Physiker entwickeln neue Techniken, um Tumoren zeitiger zu erkennen.
Von Cassandra Willyard
D
er Physiker Peter Kuhn sieht sich und seine Kollegen vor allem als Erfinder und Problemlöser. Seit
einiger Zeit versucht er – so wie viele andere Physiker auch – ein Problem zu lösen, das Biologen
und Onkologen schon seit Jahrzehnten beschäftigt: nämlich
wie sich Krebs möglichst früh erkennen lässt, um seine Ausbreitung im Körper zu verhindern.
Kernspintomografie, Computertomografie und Positronen-Emissionstomografie sind heute unverzichtbare Methoden, um Krebsherde aufzuspüren und ihr Wachstum zu verfolgen. Nach wie vor arbeiten Physiker daran, diese bildgebenden Verfahren weiter zu verbessern und miteinander zu
AUF EINEN BLICK
EFFIZIENTE FRÜHWARNSYSTEME
1
Krebserkrankungen werden häufig erst in fortgeschrittenem
Stadium erkannt, wenn es für eine wirksame Behandlung
bereits zu spät ist.
2
Um das zu ändern, arbeiten Physiker an neuen Methoden
zur Krebsfrüherkennung. So weisen sie entartete Zellen mit
Hilfe magnetischer Nanopartikel, weiterentwickelter Mikro­
skopieverfahren und rechnergestützter Bildauswertung nach.
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kombinieren, um noch aussagekräftigere Diagnoseergebnisse zu erhalten. Zunehmend schlüpfen sie aber auch in die Rolle von Pathologen, indem sie Techniken entwickeln, die ent­
artete Zellen in Blut- und Gewebeproben nachweisen. Diese
Techniken – von Nanosensoren bis hin zu verbesserten Mikroskopen – könnten das Potenzial besitzen, Krebsherde viel
früher zu entdecken, als man es bislang für möglich hielt.
Aus soliden Tumoren lösen sich ständig Zellen, die in den
Blutstrom gelangen und in andere Körperregionen wandern,
wo sie sich festsetzen und Tochtergeschwülste bilden können.
»Dieser Prozess ist bislang kaum verstanden«, sagt Kuhn, der
am Scripps Research Institute in La Jolla (Kalifor­nien) arbeitet. Das liege unter anderem an der sehr geringen Zahl zirkulierender Tumorzellen: Mitunter fänden sich in der Blutprobe eines Krebspatienten nur einige wenige entartete Zellen
unter vielen Milliarden normalen. »Wir stehen also vor einem
klassischen physikalischen Problem: der Detektion eines seltenen Ereignisses«, erläutert der Physiker.
Zum Nachweis der Krebszellen haben Kuhn und sein
Team die Technik der so genannten Flüssigbiopsie entwickelt. Hierfür benötigen sie eine Probe von zwei Milliliter
Blut. Daraus entfernen sie zunächst alle roten Blutkörperchen und übertragen den Rest als dicht gepackte, einlagige
Schicht aus zehn Millionen Zellen auf einen Objektträger.
35
Effiziente Kameraüberwachung
»Sobald verdächtige Zellen entdeckt sind, lässt sich die Probe
genauso weiteruntersuchen wie jede normale Biopsie«, erklärt Kuhn. Seine Daten belegen, dass die Flüssigbiopsie
mehr zirkulierende Tumorzellen nachweist als der verbreitete CellSearch-Test. Dieser isoliert Tumorzellen mit Hilfe von
Antikörpern und Magneten aus dem Blut und wurde von der
amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA für die klinische
Anwendung zugelassen.
Momentan untersuchen die Wissenschaftler um Kuhn, ob
sich aus der Zahl zirkulierender Tumorzellen ableiten lässt,
wie eine bereits diagnostizierte Erkrankung weiter verlaufen
oder auf eine Therapie ansprechen wird. Theoretisch eignet
sich die Flüssigbiopsie aber auch selbst zur Diagnose. Wie das
Team kürzlich nachwies, kann sie Tumorzellen im Blut von
Patienten mit nichtkleinzelligem Bronchialkarzinom aufspüren, und das bereits in frühen Stadien der Erkrankung.
Um das volle diagnostische Potenzial der Methode auszuschöpfen, bedürfe es noch einiger Fortschritte, bemerkt Kelly
Bethel, die als Pathologin am Scripps Research Institute mit
Kuhn zusammenarbeitet. Sie will die Technik nutzen, um zirkulierende Tumorzellen bei Menschen mit hohem Krebsrisiko aufzuspüren – etwa bei Personen mit nicht näher charakterisierten Wucherungen in Lunge oder Bauchspeicheldrüse.
Hier könnte der Nachweis solcher Zellen den Ärzten dabei
helfen, gutartige von bösartigen Tumoren zu unterscheiden.
Noch erlaubt die Flüssigbiopsie nicht, das Herkunftsorgan
zirkulierender Tumorzellen zu bestimmen. Doch schon bald
könnte sie diese Möglichkeit bieten. Die Forscher suchen bereits nach typischen Merkmalen von Zellen, die aus der Leber
stammen. »Ich bin zuversichtlich, dass sich die Technik noch
erheblich weiterentwickeln lässt«, sagt Bethel.
Ein handlungsorientiertes Projekt zum Thema »Krebs«
für die gymnasiale Oberstufe: kostenfrei unter
www.wissenschaft-schulen.de/krebs
36 Diagnostik auf Einzelzellniveau
Das Cell-CT-Verfahren erzeugt dreidimensionale Bilder von
Einzelzellen und analysiert sie auf Gestaltmerkmale, die für
bestimmte Tumorarten typisch sind.
Kamera
rotierendes
Glasröhrchen
Bildserie
Zelle
dreht
sich
1. In ein Gel eingebettet
werden Zellen einzeln durch
ein feines Glasröhrchen
transportiert.
2. Während das Röhrchen
rotiert, fotografiert eine
Kamera jede Zelle aus mehreren Blickwinkeln.
3. Aus diesen Aufnahmen
erstellt ein Computerprogramm dreidimensionale
Abbildungen der Zellen.
4. Das System analysiert, ob in
den 3-D-Bildern ungewöhn­
liche Strukturen vorkommen,
die auf Krebs hindeuten.
750 Kilometer weiter südöstlich forscht Sanjiv Gambhir
ebenfalls über neue Ansätze der Krebsdiagnostik. Der Leiter
der radiologischen Abteilung an der Stanford University (Kalifornien) ist frustriert darüber, dass bei vielen Krebspatienten die Krankheit erst erkannt wird, wenn es bereits zu spät
ist. Entdecke der Arzt beispielsweise einen Brusttumor von
der Größe einer Murmel, dann enthalte dieser bis zu drei
Milliarden Zellen und habe wahrscheinlich bereits in andere
Organe gestreut. Um es erst gar nicht dazu kommen zu lassen, will Gambhir die Geschwulste bereits dann aufspüren,
wenn diese noch kleiner sind als ein Stecknadelkopf.
Der Radiologe und sein Team haben einen briefmarkengroßen Microarraychip entwickelt, der Tumorproteine mit
Hilfe magnetischer Nanopartikel nachweist. Auf der Oberfläche des Chips sind Antikörper fixiert, die an tumorspezifische Proteine binden. Trägt man einen Tropfen Blut oder andere Körperflüssigkeit auf den Chip auf, bleiben darin befindliche Tumorproteine an den Antikörpern hängen. Später
geben die Forscher weitere Antikörper hinzu, die sich ihrerseits an die gefangenen Tumormoleküle heften.
Im nächsten Schritt setzt das Team magnetische Nano­
partikel zu, die an einen der Antikörper koppeln. Sie lassen
sich anschließend per Magnetfeldmessung nachweisen. Das
ermöglicht es, die Proteine in einer bestimmten Probe zu
identifizieren. Der Chip weist Tumorproteine in tausendfach
niedrigerer Konzentration nach als ein Standard-ELISA, das
am häufigsten eingesetzte Verfahren zum Aufspüren solcher
Moleküle im Blut. Zurzeit ist Gambhir in der Lage, damit 256
verschiedene Tumorproteine zu detektieren. Um zu entscheiden, welche davon diagnostisch besonders wichtig sind,
arbeitet das Team eng mit Biologen zusammen. »Diese TechSPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH WILLYARD, C.: PLAYING DETECTIVE. IN: NATURE 491, S. S64–S65, 2012
Dann fügen sie Fluoreszenzfarbstoffe hinzu: einen zum Anfärben der Zellkerne, einen Antikörper zum Markieren von
Immunzellen und einen weiteren, der an Epithelzellen bindet. Anschließend nimmt eine digitale Mikroskopkamera
etwa 10 000 Bilder der Zellschicht auf. »Diese Fotos gehen wir
nun Stück für Stück durch«, beschreibt Kuhn. Er und sein
Team verwenden einen Computeralgorithmus, der anhand
der Fluoreszenzmuster bestimmte Epithelzellen erkennt,
aus denen später einmal Tumoren hervorgehen können –
etwa solche der Brust, der Lunge, des Darms, der Prostata, der
Bauchspeicheldrüse und der Leber.
nik hilft uns nur, wenn wir wissen, nach welchen Proteinen
wir suchen sollen«, erklärt der Radiologe.
Während Gambhir auf innovative Technologien setzt, arbeitet Peter Kuhn mit einem jahrhundertealten Gerät, dem
Mikroskop. Doch obgleich betagt, lässt sich auch dessen diagnostisches Potenzial noch verbessern. Das amerikanische
Unternehmen VisionGate etwa hat ein optisches Verfahren
namens Cell-CT entwickelt, das dreidimensionale digitale
Bilder von Zellen erzeugt. Hierfür werden die Zellen perlenschnurartig in einem dünnen, mit Gel gefüllten Glasröhrchen aufgereiht. Während das Röhrchen rotiert, fotografiert
das Mikroskop jede Zelle aus verschiedenen Blickwinkeln.
Ein Computerprogramm erzeugt daraus 3-D-Bilder, die ungewöhnliche Strukturen in Krebszellen erkennen lassen.
»Manchmal sieht der Kern einer entarteten Zelle wie ein
deformierter Wasserball aus«, berichtet der theoretische
Physiker Paul Davies vom Center for the Convergence of Physical Science and Cancer Biology der Arizona State University
(USA). Er und seine Kollegen haben mit Hilfe der 3-D-Aufnahmen kürzlich nachgewiesen, dass Zellen des Brustgewebes
unterschiedliche Gestaltmerkmale zeigen – je nachdem, ob
sie aus gesundem Gewebe, aus gut- oder bösartigen Tumoren stammen. Auf konventionellen zweidimensionalen Bildern sind diese Merkmale kaum zu erkennen.
Bestechend genaue Abbildung
Cell-CT gibt die Struktur der Zellen so präzise wieder, dass
man daran Hunderte von unterschiedlichen Messungen vornehmen kann. Die resultierenden Daten lassen sich nach
Mustern durchsuchen, die auf Krebs hindeuten. »Das Verfahren ist nicht auf die Expertise eines Pathologen ange­
wiesen, es funktioniert vollautomatisch«, erläutert Deirdre
Meldrum, Elektroingenieurin und Leiterin des Center for
­Biosignatures Discovery Automation an der Arizona State
University. Zurzeit entwickelt das Unternehmen VisionGate
das Verfahren zu einer Früherkennungsmethode für Lungenkrebs weiter. Laut aktuellen Untersuchungen erlaubt sie,
entartete Zellen im Atemwegssekret von Personen nachzuweisen, die ein hohes Erkrankungsrisiko tragen.
Eine Mikroskopiemethode, die noch subtilere Krankheitszeichen aufspürt, hat Vadim Backman entwickelt, Biomedi­
ziningenieur an der Northwestern University in Evanston (Illinois, USA). »Die konventionelle Lichtmikroskopie kann nur
Strukturen darstellen, die mindestens einen halben Mikrometer groß sind«, sagt er. Er habe jedoch Hinweise darauf gefunden, dass die frühesten Veränderungen, die im Zuge einer
Entartung einsetzen, sich auf der Nanometerskala abspielen.
Um solch winzige Details zu untersuchen, haben Backman und seine Kollegen ein Instrument entwickelt, das konventionelle Mikroskopie und Spektroskopie vereint. Das Partial Wave Spectroscopic Microscope (Partialwellen-Spektroskopiemikroskop) beleuchtet die fragliche Zelle und analysiert
die Wellenlängen des reflektierten Lichts. Untersuchungen
der Arbeitsgruppe zeigen: Die epigenetischen und genetischen Prozesse, die einer Entartung vorausgehen, verändern
WWW.SPEK TRUM .DE
die intrazelluläre Dichte auf Längenskalen im Nanometer­
bereich – obwohl die Zelle oberflächlich völlig normal wirkt.
Je größer diese Abweichungen, desto näher steht die Zelle am
Übergang zum Krebs.
Die nanometergroßen Dichteveränderungen sind nicht
nur am Ort des entstehenden Tumors nachweisbar, sondern
beeinflussen auch benachbarte Zellen. Das macht die Partialwellen-Spektroskopiemikroskope zu einem wertvollen Instrument der Krebsfrüherkennung, meint Backman. So ließen
sich Anzeichen für Lungenkrebs eventuell schon in einfachen Abstrichen der Wangenschleimhaut erkennen. Backman und sein Team benutzten die neue Mikroskopiemethode, um Enddarmzellen von mehr als 100 Patienten zu untersuchen, die sich einer Darmspiegelung unterzogen hatten.
Dabei stellten sie einen deutlichen Zusammenhang fest zwischen Veränderungen der intrazellulären Dichte auf der Nanometerskala und dem Risiko für Darmkrebs.
Die Physiker hoffen, dass solche Methoden den Onkologen dabei helfen werden, Krebs zeitiger zu entdecken – und
zwar bevor er sich im Körper ausbreiten kann. Die Fünf-Jahres-Überlebensrate beträgt beim Lungenkrebs 50 Prozent, sofern die Krankheit früh diagnostiziert wird. Doch das ist selten der Fall, da die Symptome meist erst in fortgeschrittenen
Erkrankungsstadien auftreten. Hat der Krebs sich erst einmal im Körper ausgebreitet, fällt die Überlebensrate auf ein
Prozent. Bestenfalls würden die neuen Verfahren nicht nur
die ersten Anzeichen des Entartungsprozesses registrieren,
sondern auch zwischen mehr und weniger gefährlichen Veränderungen unterscheiden. Dies ist jedoch ein enorm
schwieriges Unterfangen, das Kuhn und seine Wissenschaftlerkollegen noch lange beschäftigen wird. Ÿ
DI E AUTORI N
Cassandra Willyard ist Wissenschaftsjournalistin.
Sie lebt und arbeitet in Brooklyn, New York.
QUELLEN
Damania, D. et al.: Nanocytology of Rectal Colonocytes to Assess
Risk of Colon Cancer Based on Field Cancerization. In: Cancer
Research 72, 2720 – 2727, 2012
Nandakumar, V. et al.: Isotropic 3D Nuclear Morphometry of
Normal, Fibrocystic and Malignant Breast Epithelial Cells Reveals
New Structural Alterations. In: PloS One 7, e29230, 2012
Wendel, M. et al.: Fluid Biopsy for Circulating Tumor Cell
Identification in Patients with Early- and Late-Stage Non-Small Cell
Lung Cancer: a Glimpse into Lung Cancer Biology. In: Physical
Biology 9, 016005, 2012
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1199283
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Nature Outlook 491, S. 64 – 65
37
BIOMECHANIK I
Der Blick fürs Wesentliche
Molekularbiologische Analysen von Tumorzellen liefern eine gigantische,
kaum noch zu überblickende Datenflut. Ist das der richtige Weg zu einer
besseren Medizin, oder verlieren wir uns in Details?
Von Robert Gatenby
I
n den zurückliegenden Jahren haben wir atemberau­
bende Fortschritte in der Genetik und Molekularbiolo­
gie erlebt. Technische Verfahren, etwa zur DNA-Sequen­
zierung oder zur Proteincharakterisierung, besitzen
mittlerweile eine Leistungsfähigkeit, die noch vor 20 Jahren
undenkbar schien. Diese Entwicklung hat viele Bereiche der
Lebenswissenschaften revolutioniert, darunter die Tumor­
biologie. Tausende Forschungsarbeiten aus den aufstreben­
den Gebieten der Genomik, Proteomik und Metabolomik
zum Thema Krebs zeugen davon.
Die neuen Analysemethoden haben allerdings auch ge­
zeigt, wie enorm komplex Krebserkrankungen sind. Jede
­Tumorart zeichnet sich durch spezifische Merkmale aus,
­sowohl was ihre Physiologie als auch was ihre Genetik und
Epigenetik betrifft. Ja, selbst Zellen innerhalb ein und dessel­
ben Tumors können sich erheblich voneinander unterschei­
den. Die Antwort darauf lautete bisher: noch mehr Geld in
molekulartechnologische Verfahren investieren, um noch
mehr Tumorproben zu analysieren. Doch führt das unauf­
hörliche Sammeln von Detailinformationen wirklich zu
­besseren Krebstherapien? Welchen Nutzen können wir aus
dem gewaltigen Datenberg ziehen, den all die Sequenzierer,
Microarrays und Massenspektrometer unablässig weiter
aufhäufen?
AUF EINEN BLICK
WENIGER IST MANCHMAL MEHR
1
Die technischen Verfahren der Molekularbiologie sind mittlerweile enorm leistungsfähig. Beispielsweise lässt sich ein komplettes menschliches Genom binnen weniger Tage sequenzieren.
2
Krebsforscher nutzen die neuen Möglichkeiten, um tausende
Tumorproben auf ihre molekularen Details zu untersuchen.
Das führt zu einer enormen Datenflut.
3
Immer mehr Wissenschaftler befürchten, dass diese riesige
Informationsmenge den Blick auf die wesentlichen Prinzipien
von Krebserkrankungen verstellt.
4
Physiker versuchen daher, reduktionistische Ansätze für die
Krebsmedizin zu entwickeln. Sie charakterisieren Tumorzellen etwa anhand weniger mechanischer Eigenschaften oder
entwickeln theoretische Modelle des Tumorwachstums.
38 Nehmen wir einmal an, es hätte diese technologischen
Entwicklungen nicht gegeben und wir wären insbesondere
nicht in der Lage, die Genome von tausenden Tumorzellen
zu sequenzieren. Natürlich hätten wir dann viel weniger In­
formationen darüber, welche genetischen Merkmale dieser
oder jener Tumor hat. Aber wüssten wir auch weniger über
die Biologie von Krebserkrankungen? Meines Erachtens lau­
tet die Antwort »nicht unbedingt«.
Viele Forscherkollegen werden mir hier heftig wider­
sprechen. Die meisten Biologen und Onkologen halten es für
selbstverständlich, dass die grundlegenden Mechanismen
von Krebserkrankungen genetischer Natur sind. Viele ein­
schlägige Artikel beginnen mit dem Satz: »Krebs ist eine
Krankheit der Gene.« Medizinstudenten lernen heute die
­typischen Mutationen der verschiedenen Krebsarten aus­
wendig – und nehmen implizit an, damit würden sie ein um­
fassendes Verständnis erlangen. Es ist an der Zeit, diese An­
nahme in Zweifel zu ziehen.
Fragwürdige Zuversicht
Es herrscht der optimistische Glaube, immer detailliertere
molekularbiologische Analysen von immer mehr Tumor­
proben müssten letztlich zu Durchbrüchen in der Krebs­
medizin führen – vornehmlich in Form von zielgerichteten
Therapien, die entartete Zellen hochspezifisch angreifen
und wenig Nebenwirkungen haben. Doch die bisherigen Er­
fahrungen mit solchen »Targeted Therapies« lehren, dass
diese im Allgemeinen nur vorübergehend wirken und die
Krebszellen mit ihrer unerbittlich fortschreitenden Evolu­
tion letztlich die Oberhand gewinnen. Wir sollten uns also
vielleicht nicht länger darauf verlassen, die steigende Raffi­
nesse unserer molekulartechnologischen Verfahren führe
mehr oder weniger zwangsläufig zu wirksameren Behand­
lungen.
Eine Alternative könnten Projekte bieten, die eine Brücke
von der Tumorbiologie zur physikalischen Forschung schla­
gen. Von den Physikern können wir etwas Wichtiges lernen,
nämlich die klare Trennung der experimentellen Beobach­
tungen von den Prinzipien des untersuchten Systems. Egal
ob es um die Beschreibung von Planetenbewegungen, die
Analyse atomarer Spektren oder die Suche nach subatoma­
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
ren Teilchen geht: Physiker definieren ein System nicht an­
hand empirischer Daten. Vielmehr nutzen sie experimentel­
le Befunde, um theoretische Modelle zu prüfen, welche die
grundlegenden Prinzipien des Systems abbilden. Mir scheint,
wenn wir auch für die Tumorbiologie einen theoretischen
Rahmen entwickeln wollen, sollten wir uns an ein Postulat
des Evolutionsbiologen Theodosius Dobzhansky halten: dass
nämlich Krebserkrankungen nur im Licht der Evolution
sinnvoll erklärbar sind.
Daher frage ich mich, ob das Sequenzieren von immer
mehr Krebsgenomen ausreicht oder überhaupt notwendig
ist, um die evolutionäre Dynamik von Tumoren und ihre Re­
aktion auf therapeutische Eingriffe zu verstehen. Darwin
wusste nichts über Molekulargenetik. Sein Modell der biolo­
Physiker entwickeln neue Ansätze, um Tumorerkrankungen zu untersuchen und zu behandeln.
Beispielsweise lässt sich mit Laserstrahlen messen, wie verformbar entartete Zellen sind
(siehe Kasten S. 43). Das erlaubt Rückschlüsse auf den weiteren Krankheitsverlauf.
FOTOLIA / JUAN GÄRTNER [M]
WWW.SPEK TRUM .DE
39
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: JANSSEN RESEARCH & DEVELOPMENT, LLC 2012
250
Zahl der zugelassenen
Krebsmedikamente
5
28
4
200
3
150
8
100
0
1970
7
6
50 4
1980
1
4
2
1975
2
1985
1990
1995
2000
Budget des National Cancer Institute
(Milliarden US-Dollar)
altersstandardisierte Krebssterblichkeit in
den USA (Todesfälle auf 100 000 Einwohner)
300
0
2005
gischen Evolution setzte lediglich einen nicht näher definier­
ten »Mechanismus der Vererbung« voraus. Fast 100 Jahre
lang führten Evolutionsbiologen und Ökologen ihre Untersu­
chungen durch, ohne etwas von Genetik zu wissen – und er­
kannten dennoch die fundamentalen Prinzipien, nach denen
komplexe biologische Gemeinschaften funktionieren. Dies
war möglich, weil die evolutionäre Entwicklung sowohl ein­
zelner Arten als auch die von Artengemeinschaften davon ab­
hängt, wie ihre äußeren, phänotypischen Merkmale – und
nicht ihre Genome – mit den Selektionsfaktoren der Umwelt
zusammenwirken. Mit anderen Worten: Um die grundlegen­
den Funktionsprinzipien von Lebensgemeinschaften zu er­
kennen, braucht man nicht unbedingt die Genetik. Im Gegen­
teil, die exzessive Beschäftigung mit genetischen Merkmalen
kann sogar den Blick für das Wesentliche verstellen.
Vom Wesen der Fische lernen
Dies lässt sich gut am Beispiel der Höhlenfische zeigen. Über­
all auf der Welt gibt es Unterwasserhöhlen, in denen diverse
Fischarten leben. All diese Tiere haben sich an die ewige Dun­
kelheit angepasst, indem sie leistungsfähigere taktile Organe
ausbildeten und ihre Sehfähigkeit und Hautpigmentierung
verloren. Die heutigen höhlenbewohnenden Fische stam­
men von mehr als 80 verschiedenen Arten ab – ein beeindru­
ckendes Beispiel konvergenter Evolution. Würde man ihre
Genome sequenzieren, erhielte man eine riesige Menge von
äußerst heterogenen Informationen. Diese Daten würden
nicht nur Unterschiede zwischen den Arten widerspiegeln,
sondern auch die genetische Variabilität innerhalb der Spe­
zies. Sicher könnte man daraus interessante Erkenntnisse
­gewinnen, doch die grundlegenden Charakteristika dieser
­Fische – größere taktile Organe, Verlust des Sehsinns und der
Pigmentierung – erschließen sich bereits durch simples Be­
trachten der Tiere.
Es gibt den sprichwörtlichen Mann, der seinen Schlüssel
unter einer Straßenlaterne sucht, obwohl er ihn ganz woan­
ders verloren hat – und zwar, weil er unter der Laterne mehr
sieht. Ganz ähnlich fühlen auch wir Forscher uns zu Arbeits­
feldern hingezogen, die einen hohen Informationsertrag
versprechen. Doch Datenfülle ist keine Garantie für wissen­
40 Viele Wissenschaftler möchten neue Wege in der Krebsforschung
beschreiten, etwa über eine verstärkt physikalische Herangehensweise. Denn die bisherigen Fortschritte im Kampf gegen Krebs
sind oft enttäuschend. 1971 rief der damalige US-Präsident Richard
Nixon den »War on Cancer« (Krieg gegen Krebs) aus. Die finanziellen Zuwendungen ans amerikanische National Cancer Institute
stiegen in den Folgejahren dramatisch an (braune Linie) – verbunden mit dem Auftrag, ein Heilmittel gegen Tumorerkrankun­
gen zu finden. Tatsächlich hat die US-Arzneimittelbehörde FDA
seither zahlreiche Krebsmedikamente zugelassen. Trotz alledem
ist die altersstandardisierte Krebssterblichkeit in den USA seit
den 1950er Jahren nur um elf Prozent gesunken (rote Linie).
schaftlichen Erfolg. Dobzhansky schrieb einmal: »Viele Wis­
senschaftler hegen den naiven Glauben, sobald sie nur ge­
nügend Informationen über ein Problem zusammentragen
hätten, würden diese sich schon irgendwie so zusammen­
fügen, dass eine überzeugende und wahrhaftige Lösung des
Problems herauskommt.«
Die enorme Datenmenge, die wir mit Hilfe der neuen
molekulartechnologischen Verfahren anhäufen, ist zweifel­
los von großem Nutzen. Doch um ihretwillen haben wir
andere Forschungsansätze vernachlässigt – darunter mög­
licherweise solche, die uns zu »echten« Lösungen führen
würden. Würden wir die Evolution und Ökologie von Tumo­
ren verstehen, was bislang nicht der Fall ist, dann würden
wir vermutlich auch klarer erkennen, dass die Aussagefähig­
keit dieser Daten begrenzt ist. Solange wir die grundlegen­
den Prinzipien von Krebserkrankungen nicht erfasst haben,
erzeugen unser anhaltendes Vertrauen und unsere gewalti­
gen Investitionen in die Molekulartechnologie womöglich
nur eine Fortschrittsillusion.
Wenn wir in der Tumorbiologie echte Fortschritte machen
wollen, brauchen wir ein tragfähiges theoretisches Gerüst.
Ähnlich wie in der Gravitationstheorie oder der Quanten­
feldtheorie, müssen wir die Gesetzmäßigkeiten definieren,
die dem komplexen molekularbiologischen Geschehen in
Tumoren zu Grunde liegen. Das wird erst gelingen, wenn wir
an der richtigen Stelle suchen. Ÿ
DER AUTOR
Robert Gatenby leitet die Abteilungen für Radiologie und Integrierte Mathematische Onkologie am H. Lee Moffitt Cancer Center in Tampa,
Florida.
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Nature Outlook 491, S. 55
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
BIOMECHANIK II
Krebszellen im Kräftespiel
Onkologen erforschen die mechanischen Wechselwirkungen
zwischen Tumorzellen und ihrer Umgebung, um die Ausbreitung
von Karzinomen besser zu verstehen – und eventuell zu stoppen.
Von Erika Jonietz
N
och Ende des 19. Jahrhunderts wussten Ärzte
kaum mehr über Karzinome, als dass sie fester
sind als das umgebende Gewebe. Nach wie vor
gibt meist das Ertasten eines Knotens bei Brustund Prostatakrebs den Anlass zu einer eingehenderen Dia­
gnostik. Seit etwa 30 Jahren zeichnet sich ab, dass die me­
chanischen Eigenschaften von Karzinomen – also von Geschwülsten, die aus Zellverbänden auf äußeren oder inneren
Körperoberflächen hervorgehen – in der Tumorentwicklung
eine große Rolle spielen. »Mechanische Kräfte bestimmen
150
675
1050
> 5000
WWW.SPEK TRUM .DE
PASZEK, M.J. ET AL.: TENSIONAL HOMEOSTASIS AND THE MALIGNANT PHENOTYPE. IN:
CANCER CELL 8, S. 241–254, 2005, FIG. 2C; ABDRUCK GENEHMIGT VON ELSEVIER / CCC
Wenn gesunde Zellen entarten, wird das resultierende
Tumorgewebe zunächst steifer, wie die Zunahme des Elastizitätsmoduls zeigt (Werte in Pascal).
41
maßgeblich, wie Zellen sich teilen und mit anderen wechselwirken, wie sie Signale verarbeiten und senden. Es sind auch
Kräfte im Spiel, wenn bösartige Zellen in andere Gewebe eindringen, metastasieren und sich an Oberflächen anheften«,
erklärt Muhammad Zaman, biomedizinischer Ingenieur an
der Boston University in Massachusetts. Daher bilden mechanische Prozesse in der noch jungen physikalischen
Krebsforschung einen Schwerpunkt – in der Hoffnung, neue
Ansatzpunkte für Therapien und Diagnoseverfahren zu
finden.
Eine Grundfrage lautet: Sind die mechanischen Eigenschaften der Zellen solider Tumoren untereinander vergleichbar oder hängen sie maßgeblich von denen der jeweiligen Mikroumgebung ab, beispielsweise den Proteingerüsten
und den einwirkenden Kräften? Im ersten Fall müssten universelle Gesetze die Mechanik von Tumoren beschreiben, im
zweiten wäre eine Vielzahl mechanischer Konstellationen zu
erforschen.
Weichere Zellen
dringen leichter in andere Gewebe
Josef Alfons Käs, Zellbiophysiker, vertritt die erste These. Der
Leiter des Labors für Soft Matter der Universität Leipzig ist
davon überzeugt, dass einige Zellcharakteristika, die er bei
Brust- und Gebärmutterhalskrebs findet, für alle Karzinome
gelten. Während die Molekularbiologie ein immer komplexeres und damit schwerer zu interpretierendes Bild liefert,
erlaubt die Physik seiner Ansicht nach eine klarere Sicht auf
das Krankheitsgeschehen. »In der Systembiologie definiert
man funktionelle Einheiten für das Netzwerk Zelle, das
bringt Struktur hinein. Ein solches Modul ist die Biomechanik einer Zelle, also ihre Materialeigenschaften. Wie steif ist
sie beispielsweise, und welchen Einfluss hat das darauf, wie
gut sie sich teilen oder fortbewegen kann. Aus dieser Perspektive sind Zellen einfach Beispiele für weiche Körper, die
dann derselben Physik gehorchen wie etwa Kolloide.«
Käs hat etwa beobachtet, dass Brustkarzinomzellen – entartete Epithelzellen der Brustdrüse – weicher werden, wenn
die Erkrankung voranschreitet. Die Erklärung dafür: Um das
umliegende Gewebe zu befallen, müssen die Zellen durch Lücken im Proteingerüst der extrazellulären Matrix schlüpfen,
was leichter gelingt, wenn sie sich verformen können. Dem
AUF EINEN BLICK
WEICHE KÖRPER, HARTE FAKTEN
1
Physiker sehen in lebenden Zellen »weiche Körper«, vergleich­bar Kolloiden. Im Lauf der Tumorentwicklung verändern
Karzinomzellen mechanische Eigenschaften wie Verformbarkeit
und Kontraktilität.
2
Krebsforscher diskutieren, ob die gemessenen Parameter auf
alle Tumorarten verallgemeinerbar sind oder stark von der
zellulären Mikroumgebung abhängen. Im ersten Fall könnten bald
neue Ansätze für Diagnose und Therapie gefunden werden.
42 entspricht auch, dass der aus Keratin aufgebaute Teil des
Zellgerüsts in bösartigen Krebszellen abgebaut wird. Im
scheinbaren Widerspruch zur Verformbarkeit nimmt aber
mit der Tumorentwicklung auch die Fähigkeit zu, sich bei
mechanischen Reizen zusammenziehen zu können. Käs vermutet, dass sich diese Zellen dadurch einfacher aus dem Verband lösen und den Ursprungstumor verlassen können.
»Eine sehr weiche Zelle könnte zwar leichter durch Lücken
schlüpfen, um sich aktiv zu bewegen, muss sie jedoch zudem
eine Kraft aufbringen können. Deshalb benötigen Tumor­
zellen beides, um in andere Gewebe vorzudringen und zu
metastasieren: eine deformierbare Oberfläche und einen
kontraktilen Körper.«
Daher hat sein Team einen »optischen Zellstrecker« entwickelt, der mit zwei gegenläufigen Laserstrahlen die Verformbarkeit von 30 Zellen pro Minute vermisst (siehe Kasten rechts). Damit hofft der Physiker, die Wahrscheinlichkeit einer Metastasierung, vor allem aber die Existenz
metastasierender Zellen, schonender als bislang bestimmen zu können – bevor Tochtergeschwulste entstehen.
Umgekehrt sollte es möglich sein, die mechanischen Veränderungen von Krebszellen medikamentös zu stoppen und
so der Metastasenbildung entgegenzuwirken. Käs kooperiert zurzeit mit einem Pharmaunternehmen, um geeignete Hemmstoffe zu identifizieren.
Auch die Resistenz von Tumorzellen gegen Chemotherapien könnte sich physikalisch erklären lassen. Muhammed
Zaman ist ihr mit Hilfe der Mikrorheologie auf der Spur. Bei
diesem Verfahren zur Charakterisierung weicher Systeme injizieren Forscher den Zellen Nanopartikel und beobachten
deren Bewegung im Inneren. Industrielabore messen auf
diese Weise beispielsweise viskoelastische Eigenschaften von
Kunststoffschäumen.
Zaman gibt dabei dreidimensionalen Zellkulturen den
Vorzug, da sie dem Umfeld eines echten Tumors eher entsprechen als konventionelle Kulturen in flachen Plastikschalen, die unter anderem viel empfindlicher auf Zellgifte ansprechen. Er pflanzt Krebszellen mal in eine steifere, mal in
eine weichere Matrix und testet zudem verschiedene Konzentrationen von Chemotherapeutika, immer auf der Suche
nach einer Korrelation zwischen mechanischen Parametern
und Wirkstoffresistenz. Am Ende hofft Zaman vorhersagen
zu können, ob ein Tumor behandelbar ist oder ob er eine Resistenz zu entwickeln droht.
Die meisten Wissenschaftler der neuen onkologischen
Disziplin bezweifeln allerdings, dass sich Karzinomzellen
verschiedener Ursprungsgewebe wirklich physikalisch ähneln. Valerie Weaver, Bioingenieurin an der University of
California in San Francisco, ist überzeugt: »Eine Tumorerkrankung bedeutet zwar immer eine Störung der Mechanik des Gewebes, doch wie sich diese im Einzelnen auswirkt, hängt von der Krebsart ab.« So würden mechanische
Umgebungsreize über das Zellinnenskelett an den Zellkern
weitergeleitet, wo sie Genaktivitäten beeinflussten. Als Folge könnten Enzyme gebildet werden, welche das Kollagen
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
Der »optische Zellstrecker« des Labors für Zellbiophysik der Universität Leipzig misst die Elastizität und
Kontraktionsfähigkeit von Krebszellen, um das Risiko der Bildung von Tochtergeschwülsten zu bestimmen.
Laserstrahlen
Kamera
Messkanal
Zellen
bewegen sich
durch den
Messkanal
elastisches
Nachgeben
0,030
Rückkehr
in den
Ausgangszustand
Brustkrebs
Grad 3+
0,025
Brustdrüsenzellen aus Kar­
zinomen lassen sich mit zunehmender Aggressivität (Malignitätsgrad G1 bis G3+) leichter
dehnen, entspannen dann aber
auch schnell wieder (Relaxation).
Als Kontrollgruppe dienten
gesunde Zellen dieses Gewebes.
der extrazellulären Matrix verdauen, was es den Krebszellen ermöglichte zu proliferieren. Diese Prozesse dürften
aber ihrer Ansicht nach in verschiedenen Geweben unterschiedlich ablaufen, weil deren mechanische Eigenschaften differieren. Zudem ist Weaver der Ansicht, dass die
physikalischen Anpassungen der Krebszellen teilweise erst
außerhalb des Ursprungstumors erfolgen, was die Zahl der
möglichen Konfigurationen mechanischer Variablen vervielfachte.
Ben Fabry, Biophysiker an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, verwendete Kollagenmatrizes
mit eingebetteten fluoreszierenden Körnchen, um zu beobachten, wie Tumorzellen die umgebende Matrix beeinflussen, und um daraus ihre Kontraktionsfähigkeit zu berechnen. Dabei zeigte sich, dass Zellen invasiv wachsender Brustund Lungenkarzinome viel stärker kontrahieren können als
solche nichtinvasiver Geschwulste. Das würde die Theorie
von Käs bestätigen. Allerdings ergab sich kein einheitliches
Bild: Ein im Ursprungsgewebe verbliebener Genitalkrebs lieferte die höchsten gemessenen Kontraktilitätswerte. Fabry
verwundert das nicht: »Die Zellen unterschiedlicher Krebs­
arten nutzen verschiedene Invasionsstrategien. Manche setzen auf eine weichere, flexiblere Konsistenz, andere auf Steifigkeit oder Kontraktilität.«
Die korrespondierenden molekularen Vorgänge sind noch
kaum bekannt. »Wenn jemand behauptet, ein Phänomen sei
rein mechanisch bedingt, kann man fast sicher sein, dass
auch Biochemie im Spiel ist, und das gilt umgekehrt genauso«, erklärt Jan T. Liphardt vom Bay Area Physical SciencesOncology Center im kalifornischen Berkeley.
WWW.SPEK TRUM .DE
0,035
relative Verformung
Die Zellen bewegen sich durch
einen flüssigkeitsgefüllten Kanal
und werden zwischen zwei
Laserstrahlen in der Schwebe gehalten (links). Während die
Intensität des Laserlichts allmählich ansteigt, nimmt eine
Kamera Serienbilder auf.
Brustkrebs
Grad 3–
0,020
0,015
0,010
Brustkrebs
Grad 1
0,005
Kontrollzellen
0
0
1
2
3
4
5
Zeit (in Sekunden)
Weaver erinnert sich, dass James Watson, der Entdecker
der DNA-Helixstruktur, 2012 kritisierte: »Ich verstehe nicht,
wie sich daraus Therapieansätze ergeben könnten.« Die Forscherin entgegnete damals: »Die einfachsten Signalsysteme
sind mechanischer Art. Sie spielen eine so grundlegende
Rolle für alle Lebensformen und insbesondere die vielzel­
ligen Systeme, dass sie beim Krebs nicht bedeutungslos sein
können.« Doch Weaver räumt ein, dass Watson einen wunden Punkt getroffen hatte: »Neue Therapieformen sind vorerst nicht in Sicht. Der schwierige Teil unserer Arbeit beginnt gerade erst.« Ÿ
DI E AUTORI N
Erika Jonietz ist Wissenschaftsjournalistin in Austin (US-Bundesstaat Texas).
QUELLEN
Baker, E. L. et al.: Extracellular Matrix Stiffness and Architecture
Govern Intracellular Rheology in Cancer. In: Biophysical Journal 97,
S. 1013 – 1021, 2009
Fallica, B. et al.: Bioengineering Approaches to Study Multidrug
Resistance in Tumor Cells. In: Integrative Biology 3, S. 529 – 539,
2011
Koch, T. M. et al.: 3D Traction Forces in Cancer Cell Invasion. In:
PLoS One 7, e33476, 2012
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1199281
© Nature Publishing Group
www.nature.com
Nature Outlook 491, S. 56 – 57
43
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH JONIETZ, E.: THE FORCES OF CANCER. IN: NATURE 491, S. S56–S57, 2012; DIAGRAMM NACH: JOSEF A. KÄS, UNIVERSITÄT LEIPZIG
Diagnose auf Distanz
MODELLENTWICKLUNG I
Berechnung des Tumors
Computermodelle von Geweben helfen, Krebserkrankungen besser
zu verstehen. Zudem liefern sie neue Therapieansätze.
Von Neil Savage
A
ls der Antikörper »Bevacizumab« vor elf Jahren
für die Behandlung von Brustkrebs zugelassen
wurde, hielten Ärzte und Forscher ihn für einen
viel versprechenden Wirkstoff. Denn wachsende
Tumoren benötigen zunehmend mehr Sauerstoff und sen­
den daher chemische Signale aus, um die Bildung neuer
Blutgefäße anzuregen, die ins Tumorgewebe einsprossen.
Bevacizumab hemmt diesen Prozess, schneidet die Ge­
schwulst damit von der Blutzufuhr ab und lässt sie schrump­
fen. Doch schon bald stellten die Mediziner fest, dass einige
der so behandelten Patientinnen keineswegs von der The­
rapie profitierten, im Gegenteil: Ihre Brusttumoren wuch­
sen noch intensiver ins umgebende Gewebe ein. Eine ge­
naue Untersuchung des Phänomens bestätigte zwar, dass
der Anti­körper wie vorgesehen das Wachstum neuer Blutge­
fäße unterbindet. Doch der daraus resultierende Sauerstoff­
mangel im Tumor führt zur verstärkten Aktivierung von
Krebsstammzellen, was die Geschwulst aggressiver macht.
Daher widerrief die US-Arzneimittelbehörde FDA (Food and
Drug Administration) Ende 2011 ihre Zulassung für das Me­
dikament.
Diese Geschichte zeigt: Krebs ist eine komplexe Erkran­
kung. Tumoren setzen sich aus diversen Zelltypen zusam­
men, die sich in verschiedenen Zellzyklusstadien befinden
und unterschiedliche chemische Signale aussenden und
empfangen. Größere Geschwülste sind von Blutgefäßen
durchzogen und treten in eine komplizierte Wechselwirkung
AUF EINEN BLICK
MIT DER KRAFT DER THEORIE
1
Computermodelle bilden ab, was in einem Tumor geschieht
und wie sich Krebszellen verhalten. Sie erlauben unter
anderem, die Entwicklung eines Tumors unter verschiedenen
Bedingungen zu simulieren.
2
Mit Hilfe solcher Modelle wollen Forscher Ansätze für neue
Krebstherapien finden. Berechnungen zeigten etwa, dass
neu wachsende Blutgefäße so modifiziert werden können, dass sie
im Gewebe »hängen bleiben«, statt den Tumor zur erreichen.
44 mit dem umgebenden Körpergewebe und den Organen, in
die sie einwachsen. Zudem zeigen sie vielfältige Reaktionen
auf Arzneistoffe, die sich gegen sie richten.
DNA-Sequenzierungen und Proteincharakterisierungen
machen es möglich, dass wir Tumorzellen heute genauer un­
tersuchen können als je zuvor. Sie liefern enorme Datenmen­
gen, die erst ansatzweise ausgewertet sind. Um diese Kom­
plexität zu durchdringen – etwa um zu verstehen, warum
Arzneistoffe wie Bevacizumab nicht immer wie erwartet wir­
ken –, nutzen Forscher seit einiger Zeit Computermodelle.
Diese machen sichtbar, wie Tumoren wachsen, liefern Ansät­
ze für mögliche Gegenmaßnahmen und simulieren, welche
Folgen ein bestimmter medizinischer Eingriff hat.
»Wir besitzen heute unvorstellbar viele Informationen
über Krebserkrankungen«, sagt Jasmin Fisher, Neuroimmu­
nologin an der britischen Cambridge University. »Doch an­
gesichts der enormen Komplexität der Daten erkennen wir
darin keine sinnvollen, systematischen Zusammenhänge.«
Im Faktengestrüpp verfangen
Auch der Biophysiker James Glazier, Direktor am Institut für
Biokomplexität der Indiana University in Bloomington
(USA), meint, die Informationsflut in der Krebsforschung
berge die Gefahr, sich in Einzelergebnissen zu verlieren. On­
kologen konzentrierten sich immer mehr auf Gene und Pro­
teine, doch um eine Krebserkrankung zu verstehen und
wirksam zu bekämpfen, müsse sie als ein System aufgefasst
werden und nicht bloß als eine Menge bestimmter Zellaktivi­
täten. Glazier zufolge liegt der wissenschaftliche Fokus zu­
nehmend darauf, Genome und Signalübertragungswege von
individuellen Zellen zu analysieren – was dazu führe, dass
viele Forscher das Gesamtsystem aus dem Blick verlieren.
»Selbst mit der genauesten Kenntnis darüber, was innerhalb
einer einzelnen Krebszelle geschieht, lässt sich niemals vor­
hersagen, wie sich ein Tumorgewebe verhalten wird«, sagt
der Biophysiker. »Die Komplexität von Geweben entsteht
großteils durch die Wechselwirkungen der Zellen unterei­
nander und mit dem extrazellulären Umfeld.«
Einer von denen, die Krebs als ganzheitliches System be­
trachten möchten, ist Philip Maini, Leiter des Zentrums für
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
Simulierte Wucherung
Wenn ein Tumor wächst, veranlasst er nahe gelegene Blutge­
fäße dazu, Ausläufer zu ihm hin zu entsenden. Dadurch be­
kommt er Anschluss ans Gefäßsystem – und somit Sauerstoff
und Nährstoffe. Dieser Prozess, die »Angiogenese«, lässt sich im
Tag 15
Computermodell abbilden. Unten sind die Ergebnisse einer sol­
chen Simulation gezeigt. Daraus geht hervor, dass der wuchern­
de Tumor zunehmend mehr Gefäße an sich zieht und dabei das
Adernetzwerk in seiner Umgebung massiv verändert.
Tag 75
Tag 30
800
600
Blutgefäße
400
Tumor
neu
gebildete
Adern
(lila)
200
0
500
0
200
400
600
entwickelter
Tumor mit
Anschluss
ans Gefäßsystem
800 µm
SHIRINIFARD, A. ET AL.: 3D MULTI-CELL SIMULATION OF TUMOR GROWTH AND ANGIOGENESIS. IN: PLOS ONE 4, E7190, 2009, FIG. 4
Mathematische Biologie an der University of Oxford (Eng­
land). Er versucht im Computermodell abzubilden, wie Arz­
neistoffe wirken, die sich gegen das Wachstum von Tumor­
blutgefäßen richten. Diese Medikamente entfalten ihren
größten Nutzen dann, wenn sie mit einer Strahlenbehand­
lung oder einer weiteren Chemotherapie kombiniert wer­
den. Mainis Modell zeigt, dass ihre Effektivität wesentlich
von der Dichte des Gefäßnetzes innerhalb des Tumors ab­
hängt.
Computermodelle können nicht nur dazu dienen, die Wir­
kung eines Medikaments vorherzusagen, sie können auch
mögliche Angriffspunkte für neue Arzneien aufzeigen. Da­
mit lassen sich medizinische Hypothesen prüfen, ohne Tier­
versuche durchzuführen, wie Forscher betonen. »Dieser For­
schungsansatz ist von großer Bedeutung, wenn wir verste­
hen wollen, wie Pharmaka bei komplexen Erkrankungen
wirken«, sagt Adriano Henney von der Universität Heidel­
berg, Direktor des Deutschen Netzwerks Systembiologie der
Leber, das sich zum Ziel gesetzt hat, Computermodelle des
gesamten Organs zu entwickeln.
Auf dem Weg hin zu solchen Modellen stellt Jasmin Fisher
im Computer nach, welche relevanten Signal- und Stoff­
wechselwege in Zellen existieren, wie diese funktionieren
und auf welche Weise ihre Wechselwirkungen untereinander
das Schicksal der Zellen bestimmen. »Wir betrachten biologi­
sche Prozesse so, als wären es Computerprogramme. Wir fra­
gen also: Wie sieht der Algorithmus aus, der über das Verhal­
ten der Zelle bestimmt?« Fishers Modellierungsansatz setzt
Erkenntnisse über zelluläre Prozesse in formale Instruktio­
nen um, die ein Computer ausführen kann. Stammzellen
beispielsweise beschreiten unterschiedliche Differenzie­
rungswege, je nachdem ob sie sich zu Blut- oder Herzmuskel­
zellen entwickeln. Dabei laufen die Veränderungen teils si­
WWW.SPEK TRUM .DE
multan ab und können über Rückkopplungssignale beein­
flusst werden, die eine Zelle während ihrer Reifung erhält.
Fishers Programm erlaubt den Forschern, diese Prozesse vir­
tuell zu manipulieren – etwa indem sie die Abfolge von Er­
eignissen ändern oder bestimmte Signalstärken reduzieren –
und anschließend zu prüfen, ob das so modifizierte Modell
im Einklang mit experimentellen Befunden steht.
Die große Herausforderung dabei lautet, so Maini, für
jede Maßstabsebene den richtigen mathematischen Ansatz
zu finden. So könne man intrazelluläre Vorgänge wie die Her­
stellung eines Proteins häufig am besten mit Differenzial­
gleichungen beschreiben, während sich Wechselwirkungen
der Zellen untereinander eher mit regelbasierter Program­
mierung darstellen lassen.
Kristallisieren und schäumen
Um das Problem der verschiedenen Maßstabsebenen zu be­
wältigen, hat Glazier eine quelloffene Modellierungssoft­
ware namens CompuCell3D entwickelt. Sie behandelt sowohl
Zellbestandteile als auch Zellen und ihre Verbände als diskre­
te Objekte. Der Anwender kann verschiedene Daten in ein
Zellmodell einfließen lassen – etwa wie die Zelle auf chemi­
sche Reize reagiert oder wie stark sie an anderen haftet – und
dann beobachten, wie sich diese Vorgaben auf das jeweils be­
trachtete System auswirken.
Glazier hatte schon im Jahr 2000 mit der Entwicklung der
Software begonnen. Sie basiert auf einer Vorgängerversion,
die simulierte, wie bestimmte Kristallstrukturen wachsen.
Dabei waren ihm Ähnlichkeiten zwischen dem Entstehen
kristalliner Strukturen und der Blasenbildung in schäumen­
den Flüssigkeiten aufgefallen. Zudem stellte sich heraus,
dass seine Software auch Wechselwirkungen zwischen Zellen
in einem heranwachsenden Embryo beschreiben kann.
45
Die Modelle, die Glazier, Fisher und andere entwickelt ha­
ben, versetzen selbst Krebsbiologen mit geringen Program­
mierkenntnissen in die Lage, eigene Computersimulationen
durchzuführen. »Mit unserer quelloffenen Software wollten
wir von Anfang an erreichen, dass jeder Wissenschaftler da­
mit maßgeschneiderte Simulationen erstellen kann, die
dann wiederum andere Forscher nutzen und an ihre jeweili­
gen Erfordernisse anpassen können«, erläutert Glazier. Eine
Nutzeroberfläche mit vereinfachter Darstellung der zu mo­
dellierenden biologischen Prozesse sorgt dabei für leichte
Bedienbarkeit. Der Anwender kann virtuelle Zellen, Proteine
oder Gene per Mausklick auswählen und wie gewünscht in
die Simulation einbauen.
Der Computerwissenschaftler Nicholas Flann und der
Biologe Gregory Podgorski, beide von der Utah State Univer­
sity (USA), modellieren mit Hilfe von CompuCell3D, wie ein
Tumor die Bildung neuer Blutgefäße anregt. Sie wollen he­
rausfinden, wie man diese so genannte Angiogenese hem­
men und das Krebswachstum eindämmen kann. Schon mi­
kroskopisch kleine Tumoren sondern ein Protein namens
VEGF ab (Vascular Endothelial Growth Factor, auf Deutsch
etwa: Wachstumsfaktor für die innerste Zellschicht der Ge­
fäßwände). Es veranlasst nahe gelegene Blutäderchen dazu,
in Richtung der Geschwulst auszusprossen. Im lebenden Or­
ganismus dauert dieser Prozess ein bis drei Tage – im Com­
puter spielt er sich binnen weniger Minuten ab.
Hunderttausend Wege
zum Aushungern
Flann und Podgorski statteten ihr Modell mit 40 biochemi­
schen Parametern aus. Dazu gehörten etwa die Fähigkeit
­einer Zelle, einen bestimmten Wachstumsfaktor zu erken­
nen, oder die Stärke, mit der Ausläufer von wachsenden Blut­
gefäßen an Stromazellen im benachbarten Gewebe binden.
Die Software wählte jeweils drei Parameter aus, modifizierte
einen davon nach dem Zufallsprinzip und prüfte, ob diese
Veränderung das Blutgefäßwachstum im Modell verstärkt
oder abschwächt. Insgesamt ergaben sich 100 000 mögliche
Kombinationen von Parametern, bei denen die Nährstoff­
versorgung des Tumorgewebes eingeschränkt ist. Um die Er­
gebnisse statistisch abzusichern, wurde jede Kombination
128-mal getestet. Die Berechnungen liefen parallel auf zwei
großen Computernetzwerken der US National Science Foun­
dation und der US Air Force.
Dass das Modell sinnvolle Ergebnisse liefert, zeigte sich
zunächst daran, dass es auf bekannte Angriffspunkte des
­Tumors hinwies – nämlich auf Signalwege, für deren Hem­
mung es bereits Medikamente gibt. Es legte jedoch auch bis­
lang unbekannte Therapieansätze offen. Laut den Berech­
nungen kann etwa eine veränderte Haftwirkung zwischen
dem Vorderende von aussprossenden Blutgefäßen und dem
umgebenden Zellverband dazu führen, dass die Äderchen
gewissermaßen im Gewebe hängen bleiben, statt in den Tu­
mor einzuwachsen. Möglicherweise ließen sich neue Medi­
kamente entwickeln, die genau darauf abzielen, meint Flann.
46 Angesichts des komplexen Geschehens im Tumor, an dem
sich hunderte Zellen beteiligen, hätte die alleinige Kenntnis
der Krebs auslösenden Genmutation oder bestimmter Stoff­
wechselwege in entarteten Zellen niemals zu dieser Entde­
ckung geführt – davon ist Flann überzeugt.
Computermodelle ermöglichen virtuelle Experimente,
deren Durchführung im Labor zu teuer und Zeit raubend
wäre. Forscher können damit neue Hypothesen testen oder
die Schritte nachvollziehen, die zu einem bestimmten biolo­
gischen Effekt führen. Doch die Modelle müssen experimen­
tell überprüft werden, weil sie nur von wissenschaftlichem
Wert sind, wenn sie das reale Krankheitsgeschehen zutref­
fend abbilden. Maini warnt vor Computersimulationen, die
sich auf unvereinbare Daten stützen – etwa aus Experimen­
ten mit Mäusen, Ratten und menschlichen Zellen. Sie könn­
ten die Forscher in die Irre führen. So hungern die angio­
genesehemmenden Arzneistoffe, die er untersucht hat, Tu­
moren bei Mäusen auf andere Weise aus als bei Menschen.
Deshalb müsse man die entsprechenden experimentellen
Befunde voneinander trennen und könne sie nicht in dassel­
be Modell einfließen lassen.
Bei allen Bedenken sind sich die meisten Wissenschaftler
darüber einig, dass Computermodelle neue Möglichkeiten
eröffnen, um komplexe Tumorerkrankungen zu erforschen.
»Sie erlauben es, mit den riesigen Datenmengen umzuge­
hen, die wir angesammelt haben – auf eine Weise, die unser
Gehirn nicht beherrscht«, sagt der Mediziner und System­
biologe Adriano Henney. »Dabei wenden wir Verfahren aus
den Ingenieurwissenschaften, der Physik, Chemie und dem
Maschinenbau auf biologische Systeme an. Ich kann mir
nicht vorstellen, wie wir die Datenfülle der heutigen Lebens­
wissenschaften bewältigen sollen, wenn nicht mit den Prin­
zipien der Mathematik und Physik.« Ÿ
DER AUTOR
Neil Savage ist Wissenschafts- und
Technologiejournalist. Er lebt in Lowell,
Massachusetts (USA).
QUELLEN
Fisher J., Henzinger T. A.: Executable Cell Biology. In: Nature
Biotechnology 25, S. 1239 – 1249, 2007
Stamper I. J. et al.: Modelling the Role of Angiogenesis and
Vasculogenesis in Solid Tumour Growth. In: Bulletin of Mathemati­
cal Biology 69, S. 2737 – 2772, 2007
Swat, M. H. et al.: Multi-Scale Modelling of Tissues Using
CompuCell3D. In: Methods in Cell Biology 110, S. 325 – 366, 2012
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1199282
© Nature Publishing Group
www.nature.com
Nature Outlook 491, S. 62 – 63
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
MODELLENTWICKLUNG II
Und nun zur aktuellen
Krebsvorhersage …
Komplexe mathematische Modelle helfen Forschern zunehmend zu verstehen, wie
sich Krebszellen und Tumoren evolutionär entwickeln. Damit liefern sie ihnen
unter anderem neue Ansätze, Resistenzen gegen Chemotherapeutika zu überwinden.
Von Katharine Gammon
N
icht nur bei Lebewesen, auch bei Tumoren kann
man von Evolution und ökologischen Bedingun­
gen reden: Die Kräfte der Variation und Selektion,
die auf Organismen in ihrer Umwelt einwirken,
bestimmen ebenso die Entwicklung von Krebszellen in ih­
rem Inneren. »Viele Aspekte von Krebserkrankungen lassen
sich mit der Evolutionstheorie erklären«, meint etwa Carlos
Maley, Bioinformatiker und Evolutionsbiologe an der Uni­
versity of California in San Francisco. »Wenn wir in diesen
Evolutionsprozess gezielt eingreifen, können wir ihn wo­
möglich aufhalten oder in eine Richtung lenken, wo er leich­
ter beherrschbar ist.« Zu diesem Zweck wildern nun zuneh­
mend Mathematiker auf ureigensten Gebieten der Biologen
und entwickeln immer aufwändigere, detailgetreue Modelle
der Ökologie und Evolution von Tumoren.
Der wichtigste Grund für Rückschläge bei der Krebs­
therapie ist die Heterogenität der Zellen einer Geschwulst.
Bei einer großen Population von sehr unterschiedlichen
AUF EINEN BLICK
KREBS IM COMPUTER
1
Mathematiker revolutionieren das Verständnis von Tumor­
erkrankungen: Ihre Modelle stellen grundlegende Vor­
stellungen zu den Krankheitsprozessen bei Krebs sowie zu den
optimalen Therapien in Frage.
2
Die Simulationen helfen unter anderem, klinische Studien drastisch zu beschleunigen, und ermöglichen ein besseres
Verständnis der biologischen Evolution von Tumorzellen und ihrer
Anpassung an die Bedingungen ihrer jeweiligen Umgebung.
3
Damit lässt sich unter anderem die Entwicklung eines Krebses
vorhersehen und sogar in gewünschte, leichter therapierbare
Richtungen beeinflussen.
WWW.SPEK TRUM .DE
Krebszellen wird es immer einige geben, die eine Chemo­
therapie oder Bestrahlung überleben und die Erkrankung
wiederaufflammen lassen. Daher erstellen Mathematiker
Modelle, die berechnen sollen, in welche Richtung sich eine
mutierende Tumorzelle entwickeln wird – in der Hoffnung,
diese Evolution rechtzeitig aufzuhalten.
Mit Hilfe solcher Modelle können Forscher inzwischen
das Verhalten einiger der gefährlichsten Tumoren vorhersa­
gen. Bislang prognostizieren Ärzte etwa den Krankheitsver­
lauf beim malignen Gliom, einem aggressiven Hirntumor,
auf Grundlage bildgebender Verfahren sowie der Untersu­
chung von Gewebeproben. Doch die Einstufung nach diesem
System stimmte vielfach nicht mit der tatsächlichen Bösar­
tigkeit überein, die der Krebs dann zeigte. Daher entwickel­
ten Wissenschaftler der University of Washington in Seattle
und vom Moffitt Cancer Center in Tampa, Florida, ein mathe­
matisches Modell, in das Zellteilungsrate, Invasionsneigung
und Veränderungen der äußeren Erscheinung der Geschwüls­
te einflossen. Das Modell verknüpfte dazu Daten aus Studien
mit bildgebenden Verfahren mit anderen Simulationen, die
das Wachstum von Blutgefäßen und die direkte Umgebung
des Tumors berücksichtigen. Damit war es nicht nur in der
Lage, das Wachstumsmuster der Wucherung bei jedem Pati­
enten individuell nachzuvollziehen, sondern auch ihre wei­
tere Entwicklung zuverlässig vorherzusagen, womit sich das
bisherige Einstufungssystem verbessern ließ.
Solche Simulationen beginnen sich auf die klinische Pra­
xis auszuwirken. Alexander Anderson, ein Spezialist für ma­
thematische und Computermodelle am Moffitt Center, der
an der Studie zum malignen Gliom mitarbeitete, nutzt das
Modell dazu herauszufinden, wie sich Tumoren bewegen
und ausbreiten. Seine Arbeitsgruppe entwickelte Computer­
modelle, die sich auf die Veränderungen einzelner Krebs­
47
ALEXANDER R. A. ANDERSON, INTEGRATED MATHEMATICAL ONCOLOGY, MOFFITT CANCER CENTER
Das Innere eines Tumors
lässt sich per ­Computer
visualisieren.
zellen konzentrieren. Dazu griffen die Forscher auf klinische
Daten von 650 Prostatakrebspatienten zurück: Sie unter­
suchten Dünnschichtschnitte jedes Tumors auf die Anwe­
senheit von 250 charakteristischen Molekülen hin – so ge­
nannten Markern. Aus den gewonnenen Daten baute Ander­
son dann ein Modell und erstellte damit digitale Versionen
jeder einzelnen Biopsie. Wenn sein Team das Modellszenario
zeitlich und räumlich weiterlaufen lässt, erhält es einen Er­
wartungswert zur Aggressivität des Tumors.
Besonders gezielt wirkende Tumortherapien
erhöhen die Gefahr von Resistenzen
Die Gefährlichkeit der individuellen Geschwulst zuverlässig
einschätzen zu können, ist gerade beim Prostatakarzinom
wertvoll, denn viele dieser Tumoren werden unnötigerweise
chirurgisch entfernt oder mit zu drastischen Mitteln thera­
piert (siehe den Beitrag ab S. 28). Um die Vorhersagefähigkeit
des Modells zu ermitteln, testet Andersons Team es nun zu­
sammen mit einem Bio­logen an Mäusen. Falls es sich hier be­
währt, wäre es das erste Computermodell, das die Aggressivität
eines Tumors vor ­Beginn der Therapie prognostizieren kann.
Damit würde es Krebsmedizinern eine willkommene Hilfe­
stellung bei der Auswahl der geeignetsten Therapie geben.
Daneben beeinflussen mathematische Modelle auch, wie
manche Wissenschaftler über alternative Ansätze der Krebs­
therapie nachdenken. Denn aus den neuen Erkenntnissen zur
Tumorevolution zogen manche Forscher einen auf den ers­
ten Blick überraschenden Schluss: Bei den meisten Krebser­
krankungen können die aktuellen »gezielten« Therapien gar
nicht funktionieren. Wenn Wirkstoffe zum Einsatz kommen,
die an ganz spezifischen mutierten Proteinen ansetzen, erläu­
tert Anderson, »müssen dem Modell zufolge unvermeidlich
Resistenzen auftreten, weil es auch andere Wege gibt, die zu
48 denselben Merkmalen führen«. Zellen, welche die erste The­
rapie überleben, können sich so weiterentwickeln, dass sie am
Ende genauso bösartig sind wie zuvor, jetzt aber unempfind­
lich gegen den eingesetzten Wirkstoff. Die Erkenntnisse zur
evolutionären Dynamik von Tumoren legen nahe: Der Ver­
such, einen Krebs vollständig abzutöten, fördert zwangsläu­
fig Therapieresistenzen, was wiederum die Überlebenschan­
cen des Patienten reduziert. Die Computermodelle zeigen,
dass es bessere Behandlungsstrategien geben könnte.
Einige Forscher möchten etwa die Programmierung der
Krebszellen verändern und gegen diese selbst wenden. Ro­
bert Gatenby, Onkologe am Moffitt Cancer Center, sucht nach
grundlegenden Prinzipien, die sich in dem Sinn therapeu­
tisch nutzen lassen. Eine Möglichkeit, Angriffe auf Tumor­
zellen zu erleichtern, besteht darin, diese einander ähn­licher
zu machen. Je mehr sich die Zellen in ihren Merkmalen glei­
chen, umso höher ist die Chance, dass die Behandlung an­
schlägt, und umso geringer das Risiko, dass sie therapie­
resistent werden. Kurz gesagt sucht Gatenby nach Tricks, die
eine Entwicklung von Resistenzen verhindern. Mathemati­
sche Modelle ermöglichen es ihm und anderen Forschern,
die richtigen Kombinationen von Wirkstoffen zu finden so­
wie die beste zeitliche Abfolge der Verabreichung, um das
­Risiko einer Resistenzbildung zu minimieren.
In einer an Mäusen durchgeführten Studie zum so ge­
nannten tripelnegativen Brustkrebs legten die Forscher an­
hand von Computermodellen fest, wann sie welche Medika­
mente in welcher Reihenfolge einsetzen. Bei dieser schwer
therapierbaren Tumorart fehlen den Zellen drei Rezeptor­
typen, und zwar solche für Östrogen, Progesteron sowie den
Epidermiswachstumsfaktor. Die Ergebnisse der Studie legen
nahe: Verabreicht man den Tieren Östrogen, beginnt sich der
Krebs an eine Umgebung mit hoher Östrogenkonzentration
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
anzupassen und entsprechende Rezeptoren auszubilden.
Durch diese zielgerichtete Beeinflussung der Tumorevolu­
tion wird der Krebs von Östrogen abhängig und so beispiels­
weise mit dem bewährten Medikament Tamoxifen, einem
Antiöstrogen, behandelbar.
Die Therapie einer Krebserkrankung wäre wesentlich
­einfacher, wenn die Onkologen genau vorhersagen könnten,
wie diese auf bestimmte Medikamente anspricht. Nach wie
vor müssen die Ärzte einen andauernden Kampf gegen ei­
nen sich fortlaufend weiterentwickelnden Feind führen, so
Gatenby. Doch er sieht einen Ausweg: »Wir müssen die ge­
samte Vorgehensweise wie bei einem Schachspiel strategisch
vorausplanen und mit der ersten Behandlung eine evolutio­
näre Reaktion der Krebszellen provozieren, wogegen die
zweite Therapie wirkt.«
Evolutionäre Schachzüge
Gatenbys Team nutzt ein spieltheoretisches Modell, in dem
jede Therapie ein Spielzug ist, der die wahrscheinlichste
­Reaktion des Tumors vorwegnimmt. Es zeigt, dass sich die
Geschwülste zwar an die jeweilige Situation adaptieren, aber
nicht zu vorausschauenden Anpassungen in der Lage sind.
Das gibt den Onkologen einen entscheidenden Trumpf in die
Hand: Sie können die Umwelt des Tumors so manipulieren,
dass er sich leichter bekämpfen lässt. Das Computer­modell
ermöglicht den Forschern, Therapien zu vermeiden, die zu
mehr Resistenzen führen würden, und grenzt damit die
­Auswahl der Medikamente, Dosierungen und Behandlungs­
intervalle auf die erfolgversprechendsten ein.
Das spieltheoretische Modell trug auch dazu bei, die Er­
gebnisse einer kürzlich durchgeführten klinischen Studie
an Patienten mit aggressivem Lungenkrebs zu erklären, die
wegen eines Rückfalls mit einer herkömmlichen Chemo­
therapie und zusätzlich mit einem Impfstoff gegen das
­Tumorsuppressorprotein p53 behandelt wurden. Diese über­
lebten etwa vier Monate länger als solche, die nur die Chemo­
therapie ohne Impfung erhielten. Der Anteil der Patienten,
die mehr als ein Jahr überlebten, verdoppelte sich sogar. »Der
Tumor reagierte zwar evolutionär erfolgreich auf die eine
Therapie, doch diese Anpassung machte ihn empfindlicher
gegen die andere Behandlung«, erläutert Gatenby. Diese
Strategie bezeichnet man als evolutionäre Zwickmühle. »Wir
behaupten nicht, dass sich das Spiel ewig weitertreiben lässt,
doch wenn wir mit solchen Schachzügen die Überlebenszeit
der Patienten um fünf oder zehn Jahre verlängern könnten,
so wäre dies schon ein enormer Fortschritt.«
Die mathematische Modellierung hilft zudem, die klini­
sche Erprobung von Medikamenten zu beschleunigen. Sämt­
liche verfügbaren Wirkstoffe in allen denkbaren Kombina­
tionen, Dosierungsvarianten und Reihenfolgen zu prüfen,
würde Millionen verschiedener Studien erfordern. So viele
Probanden und Geldmittel stehen gar nicht zur Verfügung.
Stattdessen verwenden die Forscher Simulationen, mit de­
nen sie die gleichen Informationen aus lediglich einer Hand
voll Experimenten gewinnen. Solche Modelle berechnen die
WWW.SPEK TRUM .DE
Mutationsrate und das Risiko einer Resistenzbildung und
schätzen sogar die Wahrscheinlichkeit des Ansprechens indi­
vidueller Tumoren auf eine Therapie ab.
Franziska Michor, Biostatistikerin an der Harvard School
of Public Health in Boston, Massachusetts, hat ein Modell er­
stellt, das optimale Dosierungen für die Therapie von Lun­
genkarzinomen berechnet. Sie berücksichtigte dafür die Ver­
mehrungs- und Absterberaten verschiedener Zelltypen, ihre
Mutationsneigung sowie die Geschwindigkeit, mit der das
Medikament abgebaut wird. Ihr Computermodell bestimmt
daraus die Wahrscheinlichkeit der Resistenzbildung für ver­
schiedene Dosierungsstrategien. »Letztlich werden wir die
Daten durch Experimente mit Mäusen und Untersuchungen
mit Patienten überprüfen müssen, doch die Pilotstudien
können wir am Computer durchführen«, erläutert Michor.
Das Modell kann alle denkbaren Kombinationen in wenigen
Sekunden prüfen. »Das ist der große Vorteil der Mathema­
tik«, sagt sie. »Eine Reihe klinischer Studien dauert eine Ewig­
keit, auf dem Computer geht alles sehr schnell.«
Ende 2013 startete das Memorial Sloan-Kettering Cancer
Center in New York die erste klinische Studie, die auf Michors
Modellrechnungen fußt. Die Forscher prüfen dabei Dosie­
rungskombinationen, die laut Simulation am besten geeig­
net sind, eine Resistenzbildung beim nichtkleinzelligen
Bronchialkarzinom zu vermeiden oder zumindest hinaus­
zuzögern. Diese Form des Lungenkrebses kann man in man­
chen Fällen zunächst mit so genannten EGFR-Tyrosinkinase­
hemmern gut behandeln; jedoch nimmt die Wirksamkeit
meist etwa ein Jahr nach Beginn der Therapie dramatisch ab.
Laut Michors Modell lässt sich die Resistenzbildung mit Hilfe
eines optimierten Dosierungsschemas immerhin um ein
weiteres Jahr verschieben. Ÿ
DI E AUTORI N
Katharine Gammon ist freie Wissenschafts­
journalistin in Santa Monica, Kalifornien.
QUELLEN
Basanta, D. et al.: Exploiting Evolution to Treat Drug Resistance:
Combination Therapy and the Double Bind. In: Molecular
Pharmaceutics 9, S. 914 – 921, 2012
Chmielecki, J. et al.: Optimization of Dosing for EGFR-Mutant
Non-Small Cell Lung Cancer with Evolutionary Cancer Modeling.
In: Science Translational Medicine 3, 90ra59, 2011
Swanson, K. R. et al.: Quantifying the Role of Angiogenesis in
Malignant Progression of Gliomas: In Silico Modeling Integrates
Imaging and Histology. In: Cancer Research 71, S. 7366 – 7375, 2011
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1201689
© Nature Publishing Group
www.nature.com
Nature 491, S. 66 – 67
49
CHEMOTHERAPIE
Nano-Arzneitransporter
Konventionelle Chemotherapien haben mitunter schwere Nebenwirkungen.
Nanopartikel bieten möglicherweise einen Ausweg: Sie können althergebrachte
Wirkstoffe an neue Zielorte bringen und so das gesunde Gewebe schonen.
Von Katherine Bourzac
W
enn Joseph DeSimone Medikamente mittels
Nanotechnik herstellt, vergleicht er sich gern
mit einem Bäcker. Er mischt Pharmaka mit
chemischem »Kuchenteig«, füllt die Mixtur
in winzige »Backformen«, lässt sie aushärten und löst anschließend die fertigen Stücke aus der Fassung. Er kann ihnen verschiedenste Formen geben: Scheiben, Würfel, lange
Stäbchen, Kringel oder auch eine pollen-, viren- oder erythrozytenähnliche Gestalt. Einen Unterschied gebe es jedoch
zum Bäcker, sagt DeSimone, Chemieingenieur an der University of North Carolina in Chapel Hill: Sämtliche Partikel, die
er in einem Fertigungsprozess herstelle, seien untereinander
völlig identisch – unabhängig vom jeweiligen Rezept.
Materialwissenschaftler und Chemiker, die mit Nanotechnologie arbeiten, sind kreativ und pedantisch zugleich. Die
Möglichkeit, Partikel nach beinahe beliebigen Vorgaben auf
den millionstel Millimeter genau herzustellen, versetzt sie in
die Lage, die Funktionen der Teilchen äußerst präzise zu kontrollieren. DeSimones vielgestaltige Partikel können sich beispielweise durch Blutgefäßwände quetschen oder ins Innere
AUF EINEN BLICK
MEDIKAMENT IN DER MINIVERPACKUNG
1
Nanopartikel als Träger von Arzneistoffen haben großes
medizinisches Potenzial. Sie können so gestaltet werden, dass
sie ihre Fracht nur in bestimmten Geweben – etwa Tumoren –
freisetzen.
2
Nanoverkapselte Wirkstoffe bewähren sich bereits im
klinischen Einsatz und zeigen deutlich weniger Nebenwirkungen als in herkömmlicher Darreichung.
3
Forscher arbeiten daran, noch effektivere und gezielter
wirkende Nanomedikamente zu entwickeln. Ein viel versprechender Ansatz ist das Stilllegen krebsrelevanter Gene mittels
RNA-Interferenz.
50 eines Tumors hineinbohren. Und die Form ist nur eine von
vielen Eigenschaften, die sich exakt vorgeben lassen. Nano­
partikel mit spezifischer stofflicher Zusammensetzung, Größe oder Oberflächenladung können Wirkstoffe an bisher
nicht erreichbare Orte transportieren und sie damit für neue
Anwendungen zugänglich machen. Solche Wirkstoffträger
dringen hochselektiv in Tumorgewebe ein oder schützen
ihre therapeutische Fracht davor, noch vor dem Erreichen
des Ziels abgebaut zu werden.
Damit haben Medikamente auf Basis von Nanotechnik
das Potenzial, eines der größten Probleme der Krebsmedizin
zu lösen: hinreichende Mengen eines Arzneistoffs an die gewünschte Stelle im Körper zu bringen, und zwar möglichst
ohne Nebenwirkungen oder Resistenzen hervorzurufen. Je
mehr die Forscher über das Mikromilieu von Tumoren herausfinden und je besser sie lernen, Trägerpartikel im Nanometermaßstab zu entwickeln und herzustellen, desto näher
kommen sie diesem Ziel. Dabei setzen sie manchmal Ansätze
um, die bisher unrealisierbar schienen – etwa Wirkstoffe, die
ihre Eigenschaften verändern, je nachdem, wo im Körper sie
sich befinden. Oder Präparate, die auf ein Zielprotein wirken,
das zuvor als pharmakologisch nicht beeinflussbar galt. Einige Labors arbeiten daran, Prinzipien aus der Robotertechnik
und den Computerwissenschaften auf Medikamente zu
übertragen. So sollen Nanopartikel mit Arzneimittelfracht
untereinander kommunizieren, mit dem Ziel, dass sie sich
stärker im Tumor anreichern.
Medizinische Verfahren auf Basis von Nanotechnologie
haben sich in der Krebsmedizin bisher vor allem dadurch bewährt, dass sie potenziell giftige Wirkstoffe von gesundem
Gewebe fernhielten, meint Rakesh Jain. Der Tumorbiologe
arbeitet am Massachusetts General Hospital in Boston (USA)
und ist an verschiedenen Pharmafirmen beteiligt. Viele Arzneien, erläutert Jain, seien zu giftig, um sie in höheren Dosen
zu verabreichen oder mit anderen ebenfalls toxischen Sub­
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
Ein rekonstruiertes 3-D-Bild
zeigt, wie sich 30 Nanometer
große Nanopartikel (grün)
in einem Tumor der Bauch­
speicheldrüse anreichern.
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stanzen zu kombinieren. Obwohl sie möglicherweise bestimmte molekulare Zielstrukturen hochspezifisch angreifen, wirken sie kaum gewebeselektiv – sie beeinflussen sowohl gesundes als auch entartetes Gewebe, was schwere
Nebenwirkungen verursachen kann.
Mit Nanopartikeln lässt sich dieses Problem umgehen.
Der Wirkstoff Doxorubicin beispielsweise wird mit Erfolg gegen verschiedene Krebsarten eingesetzt, kann jedoch lebensbedrohliche Schäden am Herzmuskel hervorrufen. Einen ihrer ersten Triumphe erlebte die Nanomedizin, als 1995 das
Medikament »Doxil« zugelassen wurde. Dabei handelt es
sich um nanometergroße Hüllen aus Fettmolekülen, die Doxorubicin enthalten. Sie verhindern sehr effizient, dass der
Stoff in den Herzmuskel eindringt.
Bereits Mitte der 1980er Jahre erkannten Forscher: Partikel
mit einem Durchmesser von rund 100 Nanometern sind zu
groß, um die Wand gesunder Blutgefäße zu passieren. Sie treten jedoch oft aus Tumorblutgefäßen aus, denn diese Adern
sind überwiegend unreif, chaotisch strukturiert und entsprechend löchrig. Die Erkenntnis gab den Anstoß dafür, das Medikament »Doxil« zu entwickeln. Um den Herzmuskel zu schützen, verpacken die Forscher den Wirkstoff in Lipidbläschen
mit einem Durchmesser von etwa 100 Nanometern. Hierfür
schütteln sie die Lipide zusammen mit dem Wirkstoff in wässriger Lösung, so dass sich die Fettmoleküle kugelförmig um
das Doxorubicin herum anordnen. Um diese Partikel vor dem
Zugriff des Immunsystems zu schützen, hüllen die Forscher
sie in einen Mantel aus Polyethylenglykol. Die so modifizierWWW.SPEK TRUM .DE
ten Partikel sammeln sich nach dem Verabreichen im Tumor
des Patienten an, wo das Medikament allmählich aus ihnen
entweicht und nahe gelegene Zellen angreift.
Das Risiko einer eingeschränkten Herzfunktion mit Blutstau beträgt bei der Doxil-Therapie nur etwa ein Drittel desjenigen bei der Gabe von unverkapseltem Doxorubicin. »Für
die Patienten bedeutet das eine grundlegende Verbesserung
der Lebensqualität«, sagt Rakesh Jain. Doch Wirkstoffe aus
gesunden Geweben fernzuhalten, ist meist deutlich einfacher, als sie gezielt in erkrankte hineinzubekommen. Die
Doxil-Partikel werden auf Grund ihrer Größe passiv daran
gehindert, in gesundes Gewebe einzutreten – doch sie sind
nicht in der Lage, aktiv in den Tumor einzudringen. Stattdessen sammeln sie sich in den Randzonen der Geschwulst an.
Das sei der Grund dafür, so Jain, dass nanopartikelverkap­
selte Medikamente die Überlebenszeit der Patienten bislang
nur geringfügig verbesserten, verglichen mit konventionellen Darreichungsformen.
Mittlerweile werden deutlich raffiniertere Nanomedikamente entwickelt als Doxil, auch wenn viele davon die Grundkonstruktion einer kugelförmigen Hülle mit eingeschlossenem Pharmakon beibehalten. Um die Freigabe des Wirkstoffs
am Zielort zu verbessern, bemühen sich Unternehmen wie
BIND Therapeutics (Cambridge, Massachusetts) darum, weitere Eigenschaften der Partikel zu optimieren, etwa deren
elektrische Ladung, chemische Zusammensetzung und Form.
Geschäftsführer Scott Minick beschreibt die Arbeitsweise von
BIND als »medizinisches Nanoingenieurswesen«. Im Gegen51
satz zu Doxil, das einfache Lipidmoleküle als Trägersubstanz
nutzt, funktionieren die Nanomedikamente von BIND auf
Basis von Polymeren, deren Eigenschaften leichter zu modifizieren sind. Dadurch lassen sich die wirkstoffbeladenen Hüllen besser an bestimmte Zielorte dirigieren, und es wird möglich, zu kontrollieren, wie schnell sie ihre Fracht freisetzen.
Zudem greifen die Polymerpartikel Krebszellen gezielt an, indem sie an deren Oberflächenmoleküle binden.
Das am weitesten fortgeschrittene Präparat des Unternehmens, BIND-014, besteht aus 100 Nanometer großen Polymerkügelchen, die mit Docetaxel beladen sind – einem
Wirkstoff, der Zellen während der Teilung abtötet. Wie bei
Doxil sorgt auch bei BIND-014 die Größe dafür, dass die Partikel nur Wände von Tumorblutgefäßen passieren. Anders
als bei Doxil ist jedoch das Innere der Kügelchen so konstruiert, dass sie das Medikament kontrolliert freisetzen. Ihre Außenhülle enthält zwei zusätzliche Bestandteile: Polyethylenglykol als Tarnkappe gegenüber dem Immunsystem sowie
Moleküle, die sich spezifisch an Oberflächenstrukturen von
Tumorzellen binden (siehe Kasten S. 54).
Unerwarteter Erfolg
Die ersten Ergebnisse einer klinischen Phase-I-Studie mit
BIND-014 seien viel versprechend, meint Scott Minick. »Die
Patienten in dieser Studie sind im Endstadium ihrer Krebserkrankung, und wir waren eigentlich nicht davon ausgegangen, bei ihnen eine nachweisbare Wirkung des Medikaments
festzustellen.« Dennoch hätten sich die Tumoren bei 2 von
17 Patienten nach Gabe des Präparats verkleinert.
Nanomedikamente zu entwickeln, die Wände von Tumorblutgefäßen passieren können, ist nur einer von vielen
Schritten beim Transport von Wirkstoff in die Geschwulst hinein. Obwohl sich ein Partikeldurchmesser von 100 Nanometern in vielerlei Hinsicht bewährt hat, ist dies keine optimale
Größe. »Wenn ein so großes Teilchen den Blutstrom verlässt,
bleibt es schnell im umgebenden Gewebe stecken, dringt
also kaum in den Tumor ein«, sagt Jeffrey Hubbell, Chemieingenieur an der Eidgenössischen Polytechnischen Hochschule in Lausanne, Schweiz. Kleinere Teilchen wären mobiler und böten speziell im Kampf gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs und einige Brusttumoren einen Vorteil. Diese
Geschwulste sind von einem widerstandsfähigen Netz aus
Kollagenfasern durchzogen, das sich für Wirkstoffpartikel als
schwer passierbar erweist.
Doch Polymernanopartikel mit verlässlichen Eigenschaften herzustellen, die deutlich kleiner sind als 100 Nanometer,
ist schwierig. Kazunori Kataoka, Materialwissenschaftler an
der Universität von Tokio, entwickelte den ersten Medikamententransporter auf Polymerbasis bereits Mitte der 1980er Jahre. Sein Unternehmen NanoCarrier in Kashiwa hat kürzlich
ein Verfahren ausgearbeitet, um 30 Nanometer große Polymerpartikel herzustellen, die Cisplatin transportieren – ein
sehr verbreitetes Mittel zur Hemmung der Zellteilung. Zurzeit
durchläuft das Nanomedikament eine klinische Phase-II-Studie an Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Cisplatin ist hochgiftig für die Nieren, weshalb die damit
behandelten Patienten enorm viel trinken müssen. Kataoka
zufolge ist das bei der nanoverkapselten Variante nicht nötig,
weil sich die Partikel auf Grund ihrer geringen Größe im Tumor ansammeln statt in der Niere. »Das Nanomedikament
hat in unseren klinischen Versuchen bereits viel versprechende Wirkungen gezeigt«, sagt er. In einer kleinen Phase-IStudie habe es die mittlere Überlebenszeit der Patienten
mehr als verdoppelt: von fünf auf über zwölf Monate.
Auch der Chemieingenieur DeSimone in North Carolina
verfolgt ähnliche Ziele: Er sucht nach der optimalen Größe
und Form, mit denen seine Nanopartikel möglichst tief in
den Tumor eindringen können. »Wir möchten verstehen, wie
Tumorzellen an Orte gelangen, wo sie nicht hingehö­ren –
und ihnen das nachmachen«, sagt er. Die neu entwickelten
Nanopartikel werden in
einen Tumor eingebracht.
In zielgerichtet applizierten elektromagnetischen
Feldern heizen sie sich
auf und erwärmen ihre
Umgebung. Die Reaktion
des Gewebes darauf bewirkt, dass andere, wirkstoffbeladene
Partikel
sich bevorzugt im Tumor
anreichern.
52 1. Einbringen von Gold-Nanostäbchen in die Geschwulst
Tumor
2. Verabreichen elektromagnetischer Felder
3. Die Nanostäbchen
erwärmen sich und
den Tumor.
4. Der Hitzestress
löst eine Signal­
kaskade aus,
die das Blut gerinnen lässt.
Blutgefäß
5. Wirkstoffbeladene
Partikel, die im
Blutstrom wandern, reichern sich
­daraufhin an der
Stelle an.
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH BOURZAC, K.: CARRYING DRUGS. IN: NATURE 491, S. S58–S60, 2012, FIG. 2
Indirekt kommunizierende Körnchen
Übersicht: Laufende klinische Studien zur Nanomedizin
Unternehmen
Therapeutikum
Zusammensetzung
Entwicklungsstand
Beschreibung
Calando
Pharmaceuticals
CALAA-01
Nanopartikel aus Polymeren, enthalten RNA-Fragmente, die Gene
inaktivieren
Phase I
Die in den Partikeln enthaltene RNA legt in soliden
Tumoren Gene still, welche für die Zellteilung benötigt
werden.
BIND
Biosciences
BIND-014
Nanopartikel aus Polymeren, enthalten den Wirkstoff Docetaxel und
binden spezifisch an Tumorzellen
Phase II
Die Wirkstoffträger koppeln an ein prostataspezifisches
Membranprotein und wirken damit sowohl gegen solide
Prostatatumoren als auch deren Metastasen.
Nippon Kayaku
NK105
Nanopartikel aus Polymeren,
enthalten den Wirkstoff Paclitaxel
Phase III
Ermitteln des progressionsfreien Überlebens (Zeit ohne
Fortschreiten der Erkrankung) nach Behandlung von
Patientinnen mit metastasierendem oder wiederkehrendem Brustkrebs
NanoCarrier
Nanoplatin
(NC-6004)
Nanopartikel aus Polymeren,
enthalten den Wirkstoff Paclitaxel
Phase I / II
abgeschlossen
Kombinierte Gabe von Nanoplatin und Gemcitabin, um
Patienten mit fortgeschrittenem oder metastasierendem
Bauchspeicheldrüsenkrebs zu behandeln. Ziel: weniger
Nierenschäden, verglichen mit einer reinen GemcitabinTherapie
Cerulean
Pharma
CRLX101
säureempfindliche Nanopartikel aus
Polymeren, setzen den Wirkstoff
Campthotecin im sauren Mikromilieu
von Krebszellen frei
Phase II
In verschiedenen Studien wird geprüft, ob sich CRLX101 zur
Behandlung des fortgeschrittenen, nichtkleinzelligen
Bronchialkarzinoms beziehungsweise von Eierstockkrebs
eignet.
Medikamente müssten in der Lage sein, den Tumorzellen
überallhin zu folgen.
DeSimone hat sich beim Herstellen seiner Nanopartikel
von der Halbleiterindustrie inspirieren lassen, die Milliarden
winziger Transistoren fertigt. Mit seiner eigenen patentierten
Herstellungsmethode kann er gezielt jeweils eine einzige Eigenschaft der Nanopartikel verändern, etwa deren Steifigkeit,
und anschließend untersuchen, wie sie durch den Körper
wandern. So lässt sich etwa die Frage klären, ob weichere Nanopartikel besser ins Innere von Geschwülsten eindringen.
Erbanlagen ausschalten
Eine der meistversprechenden Anwendungen für nanoverkapselte Wirkstoffe ist das Abschalten (»Silencing«) von Genen. Dabei werden kleine RNA-Schnipsel verabreicht. Sie blockieren die Aktivitäten von Genen, die für das Tumorwachstum wichtig sind, indem sie deren Boten-RNA abfangen; der
Vorgang wird als RNA-Interferenz bezeichnet. Theoretisch
können die Forscher RNA-Schnipsel herstellen, die jedes beliebige Gen ausschalten. Noch fehlen aber geeignete Transportvehikel zum Einbringen in den Organismus. Das hat die
Entwicklung wirksamer RNA-Therapien bislang verzögert,
erklärt William Hahn, Onkologe an der Harvard Medical
School in Boston, Massachusetts. Nanopartikel könnten sich
als geeignete Träger erweisen und so dem Gen-Silencing
zum medizinischen Durchbruch verhelfen.
Nanometergroße Vehikel für therapeutische RNA-Stücke
zu entwickeln, ist jedoch eine knifflige Angelegenheit. Diese
müssen nämlich bis ins Innere der Krebszellen gelangen. Oft
werden die Partikel bereits in der Leber aus dem Blutstrom
gefiltert. Überwinden sie dieses Hindernis, wartet bereits das
nächste auf sie: Sobald sie an die Oberfläche der Tumorzellen
binden, stülpt sich die Zellmembran dort nach innen und
bildet ein Endosom, ein Membranbläschen, dessen Inneres
mittels Protonenpumpen stark angesäuert wird. In dem entstehenden Milieu zersetzen sich die meisten Verbindungen.
WWW.SPEK TRUM .DE
Die Forscher arbeiten an verschiedenen Tricks, um diese
Todesfalle zu umgehen. Der Chemieingenieur Mark Davis
vom California Institute of Technology (USA) hat Polymer­
partikel entwickelt, die im Inneren der Endosomen positive
Ladungen absorbieren. Dies erhöht den osmotischen Druck
im Endosom und lässt es platzen, so dass die therapeutischen RNA-Schnipsel im Zellplasma ankommen, statt vorher
abgebaut zu werden.
Herkömmliche Arzneistoffe entfalten ihre Wirkung oft, indem sie an Proteine binden und diese inaktivieren. Leider kodieren die meisten krebsrelevanten Gene für Proteine, die mit
den verfügbaren Methoden nicht angreifbar sind. Einige dieser Eiweißstoffe »verstecken« sich im Inneren der Tumorzellen, wo sie für therapeutische Antikörper unerreichbar bleiben. Andere bieten auf Grund ihrer äußeren Gestalt kaum
pharmakologische Angriffspunkte. Die Nanotechnologie, sagt
Davis, könnte helfen, diese Resistenzen zu durchbrechen. Mit
geeigneten Trägerpartikeln für therapeutisch wirksame RNAFragmente wäre es nicht mehr erforderlich, die Proteine anzugreifen, da diese gar nicht mehr hergestellt würden. Zudem
ließen sich Partikel mit unterschiedlicher RNA-Fracht applizieren, was mehrere krebsrelevante Gene gleichzeitig inaktivierte. »Damit würden wir den Tumor an mehreren Stellen simultan treffen und es ihm somit erschweren, eine Resistenz
zu entwickeln«, erläutert Davis. Falls einige Krebszellen während der Therapie mutierten, könnten die Ärzte auf Partikel
mit entsprechend angepasster RNA-Fracht umschwenken, so
dass auch die neu veränderten Gene stillgelegt würden.
Manche Wissenschaftler wollen noch fantasievollere Therapieverfahren entwickeln, indem sie auf Methoden aus der
Robotik und Computertechnik setzen. Ein Team um George
Church von der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, hat den Prototyp einer molekularen »Schließkassette« entwickelt, die mit Wirkstoff gefüllt ist. Sie besteht aus
DNA und gibt ihren Inhalt frei, nachdem sie eine logische
Operation ausgeführt hat, ähnlich jenen in der Digitaltech53
Bei dem Nanomedikament BIND-014 handelt es sich um Polymerpartikel,
die den zellteilungshemmenden Wirkstoff Docetaxel transportieren und
am Zielort freisetzen. Der Überzug aus Polyethylenglykol (PEG) schützt die
Partikel vor Angriffen des Immunsystems. Ligandenproteine auf ihrer Oberfläche koppeln an Oberflächenstrukturen von Tumorzellen.
nik. Church und seine Kollegen wählten das Erbmolekül als
Baustoff, da es vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten bietet.
Mit Hilfe einer Faltungstechnik, die als DNA-Origami bezeichnet wird, nimmt die DNA selbstständig eine fassähnliche Struktur an. Das entstehende Nanogefäß verfügt über
molekulare Schlösser und Angeln und öffnet sich, sobald es
mit den richtigen Schlüsseln in Kontakt kommt, etwa bestimmten Oberflächenmolekülen auf Krebszellen.
Church nennt sein Wirkstoffvehikel aus DNA einen Na­
nobot (verkürzt von Nanoroboter). Bekommt es zwei Eingangssignale präsentiert, nämlich zwei krebsspezifische Zell­
oberflächenmoleküle, generiert es das Ausgangssignal »Öffnen« und setzt den Wirkstoff frei. Kürzlich testete das Team
entsprechende DNA-Zylinder, die einen Arzneistoff gegen
Krebszellen enthielten. Diese Nanobots verfügten jeweils
über zwei »Schlösser«; jedes davon wurde von einer bestimmten Proteinsorte auf der Oberfläche aggressiver Leu­
kämiezellen aktiviert. Die Forscher zeigten, dass die Vehikel
bei Kontakt mit Blutkrebszellen aufklappen und ihre Fracht
entlassen, nicht jedoch bei Kontakt mit gesunden Zellen.
Zwei Schlösser bringen mehr Sicherheit als eins
Mit dem Einsatz logisch operierender Nanobots lösen die
Wissen­schaftler womöglich ein grundlegendes Problem der
Krebstherapie: Die meisten zielgerichteten Therapien nehmen lediglich eine einzige Sorte von Zelloberflächenmole­
külen ins Visier. Das birgt die Gefahr, auch gesunde Zellen zu
schädigen, die das entsprechende Oberflächenmerkmal ebenfalls besitzen. Nanopartikel wie die von Church und seinem
Team wirken selektiver, da sie von mehreren Zielstrukturen
gleichzeitig aktiviert werden müssen, und könnten sich somit
als deutlich schonender erweisen. Von der klinischen Anwendung sind sie jedoch noch weit entfernt; schon das Herstellen
ausreichender Partikelmengen gestaltet sich schwierig.
Logische Operationen sind nicht das Einzige aus der Informationstechnologie, von dem sich Krebsmediziner inspirieren lassen. Die Biomediziningenieurin Sangeeta Bhatia vom
Massachusetts Institute of Technology möchte Prinzipien
aus der Natur und der Robotik nutzen, um »intelligente« Nanopartikel zu entwickeln, die im Schwarm nach Tumoren suchen. »90 Prozent der krebsbedingten Todesfälle gehen auf
Metastasen zurück«, erläutert sie. Diese Tochtergeschwülste
zu finden sei schwierig, besonders wenn sie noch klein sind.
Bhatia und ihr Team arbeiten daher an therapeutischen Par54 Docetaxel
Polymer
PEG
tikeln, die in der Lage sind, Metastasen aufzuspüren, und diese Information an andere Partikel weitergeben, so dass jene
sich am entsprechenden Ort ansammeln. Erste Experimente
mit verschiedenen Partikelarten, die indirekt kommunizieren, ergaben eine überdurchschnittliche Wirkstoffanreicherung im Tumor (siehe Kasten auf S. 53).
Bhatia möchte diese Strategie ausweiten, in dem sie Gestaltungsprinzipien aus der Robotik nutzt. Wie Ameisen, die
einzeln nur zu simplen Tätigkeiten in der Lage sind, in der
Masse jedoch einen komplexen Ameisenhügel errichten, lassen sich auch Roboter so programmieren, dass sie gemeinsam eine kollektive Leistung erbringen. Mit Hilfe einfacher
Regeln, etwa »halte den größtmöglichen Abstand zu all deinen Nachbarn«, ist es Robotikern gelungen, Minidrohnen
wie Bienen im Schwarm fliegen zu lassen. Gelänge es, therapeutisch wirksame Nanopartikel auf ähnliche Weise zu dirigieren, ließe sich die Wirkstoffanreicherung im Tumor vielleicht noch weiter steigern.
Die Fähigkeiten der Forscher, Nanopartikel zu produzieren und an neue Anwendungen anzupassen, erweitern sich
stetig, und damit die Möglichkeiten der Krebstherapie. Sie
könnten eines Tages dazu beitragen, die Behandlung von
Krebserkrankungen einerseits weniger belastend und andererseits wirksamer zu gestalten. Ÿ
DI E AUTORI N
Katherine Bourzac ist Journalistin in San Francisco, Kalifornien.
QUELLEN
Douglas, S. M. et al.: A Logic-Gated Nanorobot for Targeted
Transport of Molecular Payloads. In: Science 335, S. 831 – 834, 2012
Hrkach, J. et al.: Preclinical Development and Clinical Translation of
a PSMA-Targeted Docetaxel Nanoparticle with a Differentiated
Pharmacological Profile. In: Science Translational Medicine 4,
128ra39, 2012
Jain, R. K., Stylianopoulos, T.: Delivering Nanomedicine to Solid
Tumors. In: Nature Reviews Clinical Oncology 7, S. 653 – 664, 2010
von Maltzahn, G. et al.: Nanoparticles that Communicate in vivo to
Amplify Tumour Targeting. In: Nature Materials 10, S. 545 – 552, 2011
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1202112
© Nature Publishing Group
www.nature.com
Nature 491, S. 58 – 60
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
BOURZAC, K.: CARRYING DRUGS.
IN: NATURE 491, S. S58–S60, 2012, FIG. 3
Ligandenproteine
Ein Winzling als Arzneitransporter
IMMUNTHERAPIE I
Freie Fahrt
fürs Immunsystem
Tumoren sind in der Lage, die gegen sie gerichtete Immunreaktion zu blockieren.
Neue Therapieverfahren sollen diese Bremsen lösen.
Von Karen Weintraub
Mediziner versuchen, dem
Immunsystem freie Fahrt zu
verschaffen, damit es gegen
Krebs vorgehen kann. Hierfür
lösen sie die Bremsen der
Immunabwehr mit Hilfe bestimmter Arzneistoffe,
so genannter Immuncheckpoint-Inhibitoren.
FOTOLIA / MARIA PAZ BOBÓ; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
WWW.SPEK TRUM .DE
55
Z
uerst war es nur eine Patientin, die wider Erwarten
AUF EINEN BLICK
am Leben blieb. Sharon, so ihr Name, litt an einem
malignen Melanom, also an bösartigem Hautkrebs.
DIE HEMMUNG DER HEMMUNG
Die Ärzte rechneten mit ihrem baldigen Tod – doch
Das Immunsystem verfügt über Mechanismen, um überschieder trat nicht ein. Weitere Melanompatienten kamen hinzu,
ßende Abwehrreaktionen zu verhindern – so genannte
Checkpoints. Tumoren »missbrauchen« diese Mechanismen, um
die deutlich länger lebten, als auf Grund ihrer Diagnose zu
die gegen sie gerichtete Immunreaktion zu stoppen.
erwarten stand, und nicht nur das: Ihre Geschwülste verklei­
Spezielle Arzneistoffe, die Immuncheckpoint-Inhibitoren, setzen
nerten sich dramatisch oder verschwanden sogar ganz.
die hemmenden Mechanismen außer Kraft und versetzen
Als sich die Erfolgsmeldungen häuften und in klinischen
die Körperabwehr so wieder in die Lage, den Tumor anzugreifen.
Studien niederschlugen, begann der Onkologe Antoni Ribas
Immuncheckpoint-Inhibitoren haben sich in klinischen Studien
allmählich zu akzeptieren, dass seine Immuntherapie tat­
als wirksam gegen verschiedene Krebsarten erwiesen. Forsächlich wirkte. Am Anfang hatte nur etwa jeder zehnte
scher arbeiten jetzt daran, darauf basierende Therapieverfahren zu
entwickeln und zu optimieren.
Krebspatient von dem Verfahren profitiert, doch als der
Medi­ziner und seine Kollegen es kontinuierlich weiterent­
wickelten, erhöhte sich die Erfolgsquote. Ribas forscht an der
University of California in Los Angeles über Tumorimmuno­
logie. Er behandelt dutzende Melanompatienten; viele von
Jedd D. Wolchok, Onkologe am Memorial Sloan-Kettering
ihnen müssten früheren Prognose zufolge eigentlich schon Cancer Center in New York City, knüpft große Hoffnungen an
seit Jahren tot sein.
diese Medikamentenklasse. Im Jahr 2013 hätten umfang­
Die Arzneistoffe, die der Onkologe einsetzt, werden als reiche Studien bestätigt, dass Immuncheckpoint-Inhibito­
­Immuncheckpoint-Inhibitoren bezeichnet. Sie richten sich ren Lungenkrebs eindämmen können. Und auch gegen Tu­
gegen eine tückische Strategie von Tumoren, nämlich das moren der Prostata, Brustdrüse, Niere, des Darms und ande­
Außerkraftsetzen der Immunabwehr. Das Immunsystem rer Organe schienen sie zu wirken.
verfügt über eine Reihe von Mechanismen (so genannte
Diese viel versprechenden Befunde warfen eine Reihe
Checkpoints), die verhindern, dass seine Zellen außer Kon­ weiterer Fragen auf: Wenn bereits die Gabe eines einzigen
trolle geraten und gesundes Körpergewebe angreifen. Sie Checkpoint-Inhibitors solche Effekte zeitigen kann, lässt
funktionieren etwa wie die Bremsen eines Autos: Versucht sich dann der Behandlungserfolg durch Verabreichen meh­
die Körperabwehr, bestimmte Immunzellen, die T-Lym­ rerer solcher Sub­stanzen noch verbessern? Was geschieht,
phozyten, zu aktivieren, un­
wenn man parallel dazu
terdrücken die Checkpoints
auch noch Chemotherapien,
Es
nützt
wenig,
aufs
Gaspedal
des
das. Tumoren können diese
genetische Eingriffe oder
Mechanismen für ihre Zwe­
­andere Immuntherapien an­
Immunsystems zu treten, ohne
cke benutzen, um Angriffe
wendet? »Die Krebsimmun­
gleichzeitig die Bremsen zu lösen
der T-Lymphozyten zu ver­
therapie dürfte ihr Potenzial
hindern. Immuncheckpointkaum ausschöpfen, wenn sie
Inhibitoren wiederum blockieren die Checkpoints, lösen also sich auf die Gabe einzelner Arzneistoffe beschränkt«, meint
gewissermaßen die Bremsen der T-Zellen und ermöglichen Lawrence Fong, Tumorimmunologe an der University of Ca­
es ihnen, den Tumor anzugreifen.
lifornia, San Francisco. »Vielmehr wird man sie wohl in Kom­
Die Erfolge, die Ribas verzeichnete, indem er bösartigen bination mit verschiedenen anderen Behandlungsformen
Hautkrebs mit Immuncheckpoint-Inhibitoren behandelte, einsetzen müssen.«
machten seine Fachkollegen aufmerksam. Doch ob sich die
Seit mehr als 100 Jahren versuchen Forscher die Fähig­
Arzneistoffe auch gegen andere Krebsarten einsetzen lassen keiten des Immunsystems für die Krebsmedizin zu nutzen
würden, erschien zweifelhaft. Das maligne Melanom sei ein (siehe den Beitrag auf S. 70). Doch zahlreiche therapeutische
Sonderfall, argumentierten die Mediziner, und es sei be­ Fehlschläge haben gezeigt, dass Tumoren die gegen sie ge­
kannt, dass das Immunsystem bei dieser Krebsart eine wich­ richtete Immunreaktion unterbinden können. Die meisten
tige Rolle spiele.
heutigen Immuntherapien sollen die Körperabwehr dazu
Vor drei Jahren setzte allerdings ein Um­denken ein. In ei­ befähigen, Krebszellen zu erkennen und anzugreifen (siehe
ner Studie hatte sich ein Immuncheckpoint-Inhibitor als den Beitrag auf S. 62). Auch der therapeutische Impfstoff
wirksam gegen das Nierenkarzinom erwiesen: Bei 31 Prozent ­Sipuleucel-T, Handelsname »Provenge«, zielt darauf ab. Er
der damit behandelten Patienten besserten sich die Sympto­ wurde im Jahr 2010 von der US-Arzneimittelbehörde FDA für
me deutlich. Von dem Arzneistoff profitierten außerdem 18 die Behandlung von Prostatakrebs zugelassen, was damals
Prozent der Lungenkrebspatienten, denen er verabreicht große Hoffnungen weckte. Doch die klinischen Erfolge dawurde. Das war der Beweis für Forscher und Pharmaunter­ mit erwiesen sich als insgesamt enttäuschend, denn nur ein
nehmen, dass Immuncheckpoint-Inhibitoren gegen mehre­ kleiner Teil der Patienten profitierte von der Impfung mit
re Tumor­arten wirken.
­Sipuleucel-T.
1
2
3
56 SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
Fehlschläge wie dieser führten zu einer Erkenntnis: Es
nützt wenig, auf das Gaspedal des Immunsystems zu treten,
wenn man nicht gleichzeitig die Bremsen löst. Und hier
kommen die Immuncheckpoint-Inhibitoren ins Spiel. Schon
vor 19 Jahren beobachtete James Allison, damals an der Uni­
versity of California in Berkeley, dass ein Checkpoint-Prote­
in namens CTLA-4 (cytotoxic T-lymphocyte antigen 4) TLymphozyten offenbar davon abhält, Tumoren anzugreifen.
Also blockierte Allison die Aktivität von CTLA-4 bei Labor­
mäusen mit verschiedenen Tumorerkrankungen, darunter
Hautkrebs. Zu seiner Überraschung bildeten sich die Tumo­
ren bei einigen Tieren vollständig zurück.
Ein unerwartet wirksamer
Antikörper gegen Melanome
Im Jahr 2011 erteilte die FDA die Zulassung für einen Arznei­
stoff, der CTLA4 hemmt – den Antikörper Ipilimumab (Han­
delsname Yervoy). Er war auf der Grundlage von Allisons For­
schungsergebnissen entwickelt worden und stellte seinen
klinischen Nutzen schon bald unter Beweis. Es war dieser An­
tikörper, der etlichen von Antoni Ribas’ Patienten das Leben
rettete. Das sorgte für Überraschungen, denn vorangegan­
gene Tierexperimente hatten vermuten lassen, dass Ipili­
mumab nur zusammen mit anderen Arzneistoffen deut­
liche Behandlungseffekte erzielen würde. Doch bei mensch­
lichen Krebspatienten erwies sich die Substanz als wirksamer
als bei Mäusen.
Eine 2013 publizierte Langzeitstudie untersuchte den
Nutzen von Ipilimumab bei der Behandlung des fortge­
schrittenen Melanoms. Gut 400 von den 1861 Patienten, die
den Antikörper verabreicht bekamen, lebten nach der Diag­
nose noch mindestens drei Jahre lang. Mehr als 300 Patien­
ten waren sogar sieben Jahre später noch am Leben. Das ist
beachtlich, da die mittlere Überlebenszeit bei herkömmli­
Das maligne Melanom, auch als »schwarzer Hautkrebs« bezeichnet, ist ein Tumor der Pigmentzellen. Er neigt dazu, früh Meta­
stasen zu bilden, und ist daher sehr gefährlich. Pro Jahr sterben in
Deutschland etwa 1500 Männer und 1200 Frauen daran.
NATIONAL CANCER INSTITUTE / PUBLIC DOMAIN
WWW.SPEK TRUM .DE
57
chen Therapieformen sechs bis neun Monate beträgt. Wird
der Antikörper mit anderen Arzneistoffen kombiniert, lässt
sich die Wirkung sogar noch verbessern.
So scheint sich Ipilimumab sehr gut mit einem weiteren
Antikörper namens Nivolumab zu ergänzen, der das Check­
point-Protein PD-1 hemmt. Anfang 2013 erschien eine Stu­
die, in der bei 53 Prozent jener Melanompatienten, welche
die höchste noch tolerierbare Dosis beider Sub­stanzen er­
hielten, der Tumor um 80 Prozent oder mehr schrumpfte. Al­
lerdings erlitten etwa 20 Prozent der Versuchsteilnehmer
schwere, wenngleich behandelbare Nebenwirkungen. Dazu
gehörten funktionelle Beeinträchtigungen der Bauchspei­
cheldrüse und Leber, juckende Hautausschläge sowie Lun­
gen- und Augenentzündungen.
Pharmaunternehmen halten solche Nebenwirkungen
für beherrschbar und entwickeln mit großem Engagement
weitere Immuncheckpoint-Inhibitoren. So testet die Firma
Merck einen PD-1-Inhibitor namens Lambrolizumab (MK3475) in sieben klinischen Studien an insgesamt 3000 Pa­
tienten mit Blasen- und Darmkrebs, Kopf-Hals-Tumoren,
Melanomen, Lungen- und Brustkrebs. In den meisten dieser
Studien kommt MK-3475 allein zum Einsatz. »Dennoch sind
wir besonders an Kombinationen mit anderen immun­
modulatorischen Substanzen interessiert«, sagt Eric Rubin,
leitender Krebsforscher bei Merck. Das Unternehmen prüft
daher auch die gemeinsame Verabreichung mit verschiede­
nen Chemotherapeutika, darunter Carboplatin, Cisplatin
und Pemetrexed.
Auch das Pharmaunternehmen Bristol-Myers Squibb
untersucht, wie sich Immuncheckpoint-Inhibitoren mit
anderen Wirkstoffen ergänzen lassen. Unter anderem ver­
abreichen die Forscher den Antikörper Ipilimumab zusam­
men mit dem Krebsimpfstoff Sipuleucel-T. Experimente
mit Mäusen deuten darauf hin, dass sich diese Kombination
bewähren könnte. Und die gemeinsame Gabe von Ipilimu­
mab und dem Antikörper Nivolumab, die bereits viel ver­
sprechende Ergebnisse erbracht hat, prüft das Unternehmen
derzeit in klinischen Phase-II- und Phase-III-Studien mit Me­
lanompatienten. Doch die Forscher hegen keine übertriebe­
nen Erwartungen. »Wir müssen darauf gefasst sein, dass sich
dies möglicherweise nicht als optimale Kombination er­
weist«, sagt Nils Lonberg, leitender Wissenschaftler bei Bris­
tol-Myers Squibb.
MEHR WISSEN BEI
FOTOLIA / SEBASTIAN KAULITZKI
Unser Online-
Dossier zum
Thema »Krebs – der Feind im
eigenen Körper« finden Sie unter
www.spektrum.de/krebs
58 Lonberg zufolge prüft das Pharmaunternehmen die ge­
meinsame Verabreichung von Ipilimumab, Nivolumab und
Lirilumab, einem menschlichen Antikörper, der die Anti­
tumoraktivität natürlicher Killerzellen fördert. Hierzu lau­
fen Phase-I-Studien mit Patienten, die an verschiedenen
Krebsarten leiden. Das Ziel lautet, sowohl die angeborene
Immunabwehr (in Form der unspezifisch wirkenden natür­
lichen Killer­zellen) als auch die adaptive Immunabwehr (in
Form spezifisch wirkender T-Zellen) auf den Tumor zu het­
zen. »Möglicherweise kommt es dabei zu einer gegenseiti­
gen Verstärkung dieser beiden Arme des Immunsystems«,
sagt Lonberg.
Es ist aber jetzt schon erkennbar, dass die optimale Arz­
neistoffkombination von vielen Faktoren abhängt: der Art
des behandelten Tumors, aber auch von Alter, Geschlecht,
Abstammung und genetischer Ausstattung des Patienten.
Jahrelanges Experimentieren wird erforderlich sein, um he­
rauszufinden, welche Kombination bei welcher Patienten­
gruppe am besten wirkt – ein Prozess, der sowohl für die Pa­
tienten als auch die Pharmaunternehmen Risiken birgt. So
könnte sich herausstellen, dass bestimmte Chemotherapien
das Immunsystem unterdrücken und so die Immuntherapie
konterkarieren, warnt Keith Flaherty, Onkologe an der Har­
vard University, der auf die Behandlung von Melanomen
spezialisiert ist.
Versuch und Irrtum? Riskant!
Großes Potenzial sieht Flaherty jedoch in der gemeinsamen
Anwendung von Immuncheckpoint-Inhibitoren und Thera­
pieverfahren, die gegen spezifische Krebsmutationen wir­
ken – etwa gegen die BRAF-Mutation, die bei Melanompatienten häufig vorkommt. »Hier besteht die Möglichkeit,
gezielt jene Mechanismen zu überwinden, mit denen der Tu­
mor der Immunüberwachung entgeht.«
Flaherty kritisiert, dass die Forscher auf dem Gebiet der
Krebsimmuntherapie teilweise planlos vorgingen. Einige
Pharmaunternehmen, sagt er, testeten Arzneistoffkombina­
tionen, ohne die beteiligten Wirkmechanismen verstanden
zu haben. »Das ist eine ziemlich unwissenschaftliche Heran­
gehensweise.« Ein solches Versuch-und-Irrtum-Verfahren
gefährde die Patienten, berge ein hohes Risiko des Scheiterns
und könne die gesamte Krebsimmuntherapie unnötig in
Misskredit bringen.
Da derzeit kaum Biomarker zur Verfügung stünden, an­
hand derer sich voraussagen lasse, welche Patienten am
ehesten von Immuncheckpoint-Inhibitoren und anderen
Immuntherapien profitieren, ließen sich Wirkstoffkombina­
tionen vielleicht noch gar nicht sinnvoll testen, meint Fla­
herty. »Ich fürchte, dass wir derzeit über keine wissenschaft­
lich fundierte Strategie verfügen, um kombinierte Krebs­
immuntherapien zu entwickeln«, sagt er. Das bedeute aber
nicht, dass solche Entwicklungsarbeiten grundsätzlich un­
sinnig seien.
Gelänge es, aussagefähige Biomarker zu finden, könnten
die Mediziner für jeden Patienten die am besten geeignete
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
Immuntherapie festlegen – sei es ein einzelnes Behandlungs­ T-Lymphozyten und andere Abwehrzellen massenhaft zum
verfahren oder eine Kombination aus mehreren verschiede­ Ort des Geschehens wandern. »Ärzte, die Immuntherapien
nen. So deuten beispielsweise einige Befunde darauf hin, einsetzen, müssen über dieses Ansprechverhalten sehr gut
dass Patienten, deren Tumoren das immundämpfende Pro­ im Bilde sein«, unterstreicht Topalian. »Es kann eine ganze
tein PD-L1 produzieren, gut auf Inhibitoren des Checkpoint- Weile dauern, bis die Wirkung eintritt – was die Entscheidung
Proteins PD-1 ansprechen. Das berichtet Suzanne Topalian, erschwert, ob die Behandlung fortgesetzt oder abgebrochen
Onkologin an der Johns Hopkins University in Baltimore, werden soll.«
Maryland (USA). Der beobachtete Zusammenhang, sagt sie,
Derzeit weiß niemand genau, wie lang Immuncheck­
sei plausibel – denn die Gegenwart von PD-L1 zeige an, dass point-Inhibitoren verabreicht werden müssen, bis ein sicht­
der Tumor auf genau jene
barer klinischer Erfolg ein­
Bremse des Immunsystems
treten kann. Ribas behandelt
Wegen der Erfolge mit Immuncheck- viele seiner Patienten mit
trete, die sich mit PD-1-Inhi­
Inhibitoren wenden sich Krebs­
bitoren lösen lasse.
MK-3475. Sie erhalten alle
Trotz insgesamt durch­
forscher vom Konzept der rein gene- zwei bis drei Wochen eine In­
wachsener Behandlungser­
fusion mit dem Antikörper.
tisch bedingten Erkrankung ab
folge haben Immuncheck­
Es ist geplant, jeden Patien­
point-Inhibitoren in einigen
ten zwei Jahre lang zu behan­
Fällen so gut gewirkt, dass die US-Arzneimittelbehörde FDA deln und dann eine Therapiepause einzulegen, um den wei­
vor zwei Jahren den Antikörper MK-3475 als bahnbrechen­ teren Krankheitsverlauf zu beobachten.
den Therapieansatz bezeichnete. Sie bescheinigte dem An­
»Auf Grund der derzeit verfügbaren Daten können wir
tikörper, er könne die Krebsbehandlung möglicherweise nicht entscheiden, wann wir die Therapie beenden können –
deutlich verbessern. Die FDA arbeitet mit Wissenschaftlern oder ob wir sie immer weiter fortsetzen müssen«, erklärt Ri­
und Pharmaunternehmen zusammen, um die Entwicklung bas. Die Mediziner hoffen, dass das Immunsystem der be­
von Therapieverfahren auf der Basis von MK-3475 zu be­ handelten Patienten irgendwann dazu übergeht, den Tumor
schleunigen.
selbstständig zu bekämpfen – und Krebs entweder definitiv
besiegt oder zumindest dauerhaft in Schach hält. Topalian
Nicht nur eine Sache der Erbanlagen
wagt sogar die hoffnungsvolle Spekulation, wonach Patien­
Seit Jahren konzentrieren sich Onkologen verstärkt auf die ten, die eine erfolgreiche Immuntherapie durchlaufen ha­
Genetik von Krebserkrankungen, um Arzneistoffe zu ent­ ben, möglicherweise für den Rest ihres Lebens vor einer
wickeln, die spezifischen Mutationen entgegenwirken. Nun Rückkehr des Tumors geschützt sein könnten – ähnlich wie
sei es an der Zeit, das Blickfeld zu erweitern, meint Ira Mell­ manche Impfungen im Kindesalter lebenslange Immunität
man, Krebsforscher bei dem Biotechnologieunternehmen verleihen. Ÿ
Genentech. »Wir wissen heute, dass Krebs nicht nur eine
Krankheit der Gene ist, denn wir verfügen über zahlreiche
DI E AUTORI N
Arzneistoffe, die auf Onkogene abzielen – und dennoch sind
Karen Weintraub ist Wissenschaftsjournalistin
viele Krebs­erkrankungen nach wie vor nicht heilbar.« Die Er­
und lebt in Cambridge, Massachusetts.
folge mit Immuncheckpoint-Inhibitoren hätten dazu ge­
führt, dass ­etliche Krebsforscher sich allmählich vom Kon­
zept der rein genetisch bedingten Erkrankung abwendeten.
Dieser Perspektivwechsel sei notwendig, sagt Mellman, denn
sonst werde sich kein Fortschritt einstellen und ließen sich
die Möglichkeiten der Krebsimmuntherapien nicht voll aus­
QUELLEN
schöpfen.
Hamid, O. et al.: Safety and Tumor Responses with Lambrolizumab
Auch die behandelnden Ärzte müssen ihre klinischen
(Anti-PD-1) in Melanoma. In: The New England Journal of Medicine
Strategien anpassen, um Immuncheckpoint-Inhibitoren und
369, S. 134 – 144, 2013
andere immunologische Behandlungsansätze möglichst ef­
Topalian, S. L. et al.: Safety, Activity, and Immune Correlates of AntiPD-1 Antibody in Cancer. In: The New England Journal of Medicine
fektiv einzusetzen. Denn Patienten sprechen auf Immun­
366, S. 2443 – 2454, 2012
therapien oft ganz anders an als auf konventionelle Behand­
Wolchok, J. D. et al.: Nivolumab plus Ipilimumab in Advanced Melungsmethoden, wie die Onkologin Suzanne Topalian be­
lanoma. In: The New England Journal of Medicine 369, S. 122 – 133,
2013
tont. Gängige Chemotherapien und gezielte Krebstherapien
führen, wenn sie erfolgreich sind, normalerweise zu einem
relativ raschen Schrumpfen des Tumors. Bei Immunthera­ Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1298013
pien hingegen kann es mehrere Monate dauern, bis die
© Nature Publishing Group
Geschwulst­sich merklich zurückzubilden beginnt. Mitunter www.nature.com
nimmt die Tumorgröße anfangs sogar zu, wenn nämlich Nature 504, S. S6 – S8
WWW.SPEK TRUM .DE
59
IMMUNTHERAPIE II
Den Schutzpanzer
der Krebszellen ausschalten
Wissenschaftler der Stanford University haben einen neuen Therapieansatz für Krebs entdeckt: Ist ein von Tumoren ausgehendes Signal blockiert, können Immunzellen sie attackieren.
VON GERLINDE FELIX
60 das auf die Fresszellen wie ein Stoppzeichen wirkt.
In einer Studie neueren kamen
­Stephan B. Willingham und Jens-Peter
Volkmer aus Weissmans Team und Kollegen dann zu dem Ergebnis, dass sich
die meisten menschlichen Krebsarten
dieses Tricks bedienen (PNAS 109, S. 6662 ,
2012). »So produzieren fast alle Krebszellen das Oberflächenprotein CD47 in
einer Menge, die durchschnittlich etwa
das Dreifache jener von gesunden Zellen beträgt«, sagt Volkmer. Die Zahl der
CD47-Moleküle bestimmten die Forscher mit der so genannten Durchflusszytometrie.
Des Weiteren entnahmen sie Gewebeproben von menschlichen Brust-, Eierstock-, Prostata-, Blasen-, Leber- und
Hirntumoren und transplantierten sie
in speziell gezüchtete Mäuse, die
menschliches Tumorgewebe nicht abstoßen. Ein paar Wochen später injizierten sie dann einen gegen CD47 gerichteten Antikörper in die Tiere. »Der Antikörper dockte bei allen untersuchten
Krebsarten an CD47 an und blockierte
auf diese Weise das ›Don’t eat me‹nach 2 Wochen
nach 4 Wochen
Signal«, so Volkmer. Daraufhin attackierten die Fresszellen die Tumoren.
Allerdings zeigte sich, dass Krebszellen
zusätzlich noch eine andere Struktur
auf ihrer Oberfläche haben müssen, die
Makrophagen zum Mahl einlädt. Denn:
Wurden die deutlich seltener auftretenden CD47-Proteine auf der Oberfläche
gesunder Zellen mit dem Antikörper
blockiert, war dies allein noch kein
Startsignal für die Fresszellen, sich diese Zellen einzuverleiben.
Als Müll markiert
Schon Ende 2010 beschrieben Mark
Chao und Ravindra Majeti vom Weiss­
man-Team, dass auf Krebszellen nicht
nur ein »Don’t eat me«-Signal zu finden ist, sondern als Gegenspieler auch
ein »Eat me«-Signal: das Oberflächenprotein Calreticulin (Science Transla­
tional Medicine 2: 63 ra94, 2010). Solange CD47 und Calreticulin ihre Signale
ungestört senden können, wird eine
Krebszelle offenbar nicht gefressen. Ist
jedoch von den beiden Proteinen selektiv das CD47 blockiert, attackieren die
Immunzellen.
nach 6 Wochen
nach 8 Wochen
MIT FRDL. GEN. VON JENS-PETER VOLKMER,
UNIVERSITÄT DÜSSELDORF
CD47-Antikörper
war hat die Krebstherapie in vielen
Bereichen inzwischen eindrucksvolle Fortschritte zu verzeichnen, doch
immer noch lassen sich manche Tumorformen kaum oder gar nicht heilen. Um entscheidende Verbesserungen zu erreichen, sind wohl auch grundsätzlich neue Ansätze erforderlich.
Irving Weissman und seine Mitarbeiter
von der Stanford University konzentrieren sich daher auf ein bestimmtes
Protein auf der Oberfläche von menschlichen Krebszellen, genannt CD47. Dieses verhindert nämlich, dass das Immunsystem Tumorzellen als Störenfriede erkennt und vernichtet.
Die Bildung von CD47-Proteinen ist
an sich ein normaler Schutzmechanismus von Körperzellen, um Angriffen
durch Fresszellen (Makrophagen) zu
entgehen. Daher reichern etwa Blutstammzellen, die vorübergehend ihre
sichere Nische im Knochenmark verlassen haben und im Blutkreislauf zirkulieren, CD47 auf ihrer Oberfläche an.
Das hatten Weissman und seine Kollegen schon 2009 herausgefunden (Cell
138, S. 271 , 2009). Ferner erkannten die
Forscher, dass bei bestimmten Blutkrebserkrankungen – der myeloischen
Leukämie und Lymphomen – die Tumorzellen ebenfalls mehr CD47 aufweisen. Ihre Schlussfolgerung: Krebszellen
nutzen diesen Schutzmechanismus,
um nicht von Fresszellen vernichtet zu
werden. Dabei bindet sich das CD47 kurzzeitig an ein Protein namens SIRP-a (sig­
nalregulatorisches Pro­tein alpha) auf
den Makrophagen. Der Kontakt löst in
diesen eine Kette biochemischer Reaktionen aus, woraufhin die Krebszelle
verschont wird. Die Forscher sprechen
vom »Don’t eat me«-Signal des CD47,
Kontrollgruppe
Z
Antikörper gegen das Oberflächenprotein CD47 halten in Mäuse eingepflanztes menschliches Tumorgewebe in Schach (oben). Ohne die Behandlung würden die Tiere bald dem
Krebs zum Opfer fallen (unten). Blau markiert schwaches, rot starkes Tumorwachstum.
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
STOP
Makrophage
SIRP-
DIE WELT
IM KOPF
Phagozytose
Makrophage
Doch warum sollten Krebszellen
überhaupt »Eat me«-Signale aussenden, um sich den Fresszellen als Häppchen anzubieten? Vermutlich hilft Calreticulin normalerweise, beschädigte
Zellen zu entfernen. Für diese Annahme spricht, dass gesunde Zellen kein
Calreticulin zeigen. Werden sie aber geschädigt, taucht das Protein plötzlich
auf ihrer Oberfläche auf. Es scheint die
Zelle für Makrophagen als »Müll« zu
markieren. »Bei Krebs könnte die Cal­
reticulinexpression auf der Oberfläche die kranke Zelle dazu anregen, vermehrt CD47-Proteine auszubilden, um
eine Phagozytose durch Fresszellen
doch noch abzuwenden«, erläutert
Mark Chao von der Stanford School of
Medicine.
Dass Calreticulin bei gesunden Zellen
fehlt, erklärt, warum eine Therapie mit
einem gegen CD47 gerichteten Antikörper nur vergleichsweise wenig schädliche Nebenwirkungen hat, einmal abgesehen von einer vorübergehenden Blutarmut. »Das Blockieren des ›Don’t eat
me‹-Signals unterdrückte das Wachstum nahezu jedes menschlichen Krebsgewebes in den von uns getesteten Mäusen, mit minimaler Toxizität für den
­Organismus«, führt Weissman aus.
Innerhalb einiger Wochen nach der
Antikörpertherapie schrumpfen die
implantierten Tumoren in den Tieren,
was Biolumineszenzaufnahmen zeigen
(Bild links). Abhängig von der Ausgangsgröße des Tumors verschwindet
WWW.SPEK TRUM .DE
CD47Antikörper
CD47
CD47
Tumorzelle
SIRP-
MIT FRDL. GEN. VON JENS-PETER VOLKMER, UNIVERSITÄT DÜSSELDORF
Tumorzelle
CD47 auf der Oberfläche
von Tumorzellen bindet
sich an SIRP-a auf Fresszellen (Makrophagen),
was auf Letztere wie ein
Stoppsignal wirkt. Ver­
hindert ein Antikörper
diese Interaktion, kann
die Fresszelle den Krebs
ungehindert angreifen.
der Krebs entweder ganz oder bildet zumindest keine Tochtergeschwülste
mehr. Zirkulierende Krebszellen dürften ebenfalls effektiv beseitigt werden.
Die CD47-Antikörpertherapie scheint
umso besser zu wirken, je kleiner der
Tumor ist und je früher die Therapie
beginnt. Allerdings hat bei einigen
Mäusen mit implantiertem Brusttumorgewebe der neue Therapieansatz
nicht zum erhofften Erfolg geführt. Woran dies liegt, ist bislang unklar.
Die aggressivsten Krebstypen haben
übrigens die größte Zahl an Calreticulinmolekülen auf ihrer Oberfläche. Damit sollte die Antikörpertherapie bei
diesen auch am durchschlagendsten
wirken. Die an der Studie beteiligten
Wissenschaftler sind sich ziemlich sicher, dass erste klinische Untersuchungen in ein oder zwei Jahren starten werden. Weissman könnte sich vorstellen,
den Tumor vorab mittels Operation
oder Radiotherapie zu verkleinern, um
die Antikörperbehandlung noch effektiver zu machen. Bei einer Kombination
mit Chemotherapie oder antientzündlicher Behandlung sei allerdings Vorsicht geboten, so der Wissenschaftler.
Durch den dabei auftretenden Zellstress besteht das Risiko, dass gesunde
Zellen plötzlich vermehrt »Eat me«-Signale aussenden – und dann ebenfalls
ein Opfer der Fresszellen werden.
Gerlinde Felix ist freie Medizin- und Wissenschaftsjournalistin in Markt Wartenberg.
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61
IMMUNTHERAPIE III
Auftragskiller
der Körperabwehr
Immunzellen lassen sich genetisch so verändern, dass sie Tumoren im
Körper eines Krebspatienten angreifen. Dieses bislang wenig beachtete
Verfahren rückt zunehmend in den Blick der Pharmaforschung.
Von Courtney Humphries
N
och vor wenigen Jahren erntete Michel Sadelain
vor allem Skepsis, wenn er vor Kollegen darüber
sprach, dass man die Krebsmedizin um den adoptiven Zelltransfer (ACT) erweitern könne. Sein
Vorschlag, einem Krebspatienten Immunzellen zu entnehmen, diese genetisch so zu verändern, dass sie den Tumor
des Erkrankten attackieren, und anschließend dem Patienten zurückzugeben, stieß auf große Zweifel. »Ich kann Ihnen
gar nicht sagen, vor wie vielen leeren Sälen ich über diese
Methode referiert habe«, erzählt Sadelain, ­Direktor am Center for Cell Engineering am Memorial Sloan Kettering Cancer
Center in New York.
Der adoptive Zelltransfer erlaubt den Medizinern, sich
die Schlagkraft des Immunsystems zu Nutze zu machen,
indem­ sie die körpereigenen T-Zellen (T-Lymphozyten) für
ihre Zwecke einsetzen. T-Zellen wandern durch den Orga­
nismus und »halten Ausschau« nach potenziell gefähr­
lichen Objekten, etwa eingedrungenen Krankheitserregern
oder pathologisch veränderten Körperzellen. Das tun sie
mit Hilfe von Erkennungsmolekülen, so genannten Rezeptoren. Bakterien oder Krebszellen tragen auf ihrer Ober­
fläche häufig andere Proteine als gesunde Körperzellen –
Antigene heißen solche fremden Oberflächenproteine in
der Fachsprache. Trifft nun eine T-Zelle auf ein Bakterium
oder eine Krebszelle, deren Antigen zu ihrem Rezeptor
passt, dann wird sie aktiv und startet eine Attacke gegen
den Schädling.
Krebszellen besitzen vielfach stark veränderte Oberflächenproteine und geben damit eigentlich ideale Angriffsziele für T-Zellen ab. Doch leider sind Tumoren in der Lage,
sich gegenüber der Immunabwehr abzuschirmen. Das Ziel
des adoptiven Zelltransfers besteht deshalb darin, die T-Zellen durch gezielte Eingriffe derart »scharf« zu machen, dass
sie den Schutzschild des Tumors durchbrechen können.
Sadelain nennt die so modifizierten T-Zellen »lebende Arzneistoffe«.
In den zurückliegenden Jahren hat es eine Reihe von Pilotstudien zum adoptiven Zelltransfer gegeben, die viel ver62 sprechende Resultate erbracht haben. Seither wächst die
Zahl der Mediziner, die sich für diesen Behandlungsansatz
interessieren, und sie haben dutzende klinische Studien gestartet, um seine Möglichkeiten ausloten. Es gibt Berichte
über Patienten mit aggressiven Krebserkrankungen, deren
Tumoren binnen Tagen oder Wochen verschwanden, nachdem sie dem Verfahren unterzogen worden waren. Allerdings ist die Zahl der insgesamt damit behandelten Krebskranken noch sehr klein. Trotzdem: Angesichts der Tatsache, dass Krebsmediziner es vielfach schon als Durchbruch
feiern, wenn ein Therapieverfahren die durchschnittliche
Überlebenszeit der Patienten um einige Wochen oder Monate verlängert, erregt die komplette Rückbildung von Tumoren erhebliches Aufsehen, auch wenn sie nur bei wenigen
Betroffenen zu beobachten ist.
Neues Interesse an alter Methode
Sadelain spricht nun nicht mehr vor leeren Sitzreihen. Plötzlich, so berichtet er, schlägt der adoptive Zelltransfer sowohl
Wissenschaftler als auch Vertreter von Pharmaunternehmen
in ihren Bann. Ganz so, als handle es sich um ein komplett
neues Verfahren – und nicht um ein Konzept, das Forscher
schon seit 20 Jahren kontinuierlich weiterentwickeln.
Noch stehen einer breiteren Anwendung mehrere Hürden
im Weg. Eine große Herausforderung liegt darin, die Aktivität der Immunzellen so zu kontrollieren, dass sie Krebszellen
vernichten, ohne gesundes Gewebe anzugreifen. Das ist
nicht einfach, denn oft sind vermeintlich tumorspezifische
Antigene auch auf normalen Körperzellen zu finden. Unklar
erscheint zudem, wie es gelingen kann, den adoptiven Zelltransfer in ein wirtschaftlich tragbares Behandlungsverfahren zu überführen. Lebende Immunzellen aus dem Patienten zu entnehmen und zu kultivieren, erfordert weit mehr
Zeit und Wissen, als ein fertiges Medikament zu verabreichen – und entsprechend höhere Kosten. Das ist vor allem
deshalb problematisch, weil – wie bei jedem neuen klinischen Verfahren – umfangreiche Studien mit Beteiligung
zahlreicher Kliniken nötig sind, um die Wirksamkeit des
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
AUF EINEN BLICK
MIT DEN WAFFEN DES KÖRPERS
1
Beim adoptiven Zelltransfer entnehmen Mediziner einem
Krebspatienten Immunzellen, vervielfältigen sie, verändern sie
manchmal auch und geben sie dem Kranken anschließend
zurück. Das Ziel lautet, die Zellen so zu selektieren und gegebenenfalls zu modifizieren, dass sie den Tumor angreifen.
2
Noch vor wenigen Jahren wurde das Verfahren kaum im
­klinischen Alltag eingesetzt, da es sehr komplex ist und die
Gefahr tödlicher Nebenwirkungen birgt.
3
Seit einigen Jahren berichten Mediziner jedoch vermehrt über
Erfolge mit diesem Verfahren, weshalb sich auch Pharmaunternehmen zunehmend dafür interessieren. Jetzt laufen die
ersten größeren klinischen Studien an.
ISTOCK / JUAN GÄRTNER
Menschliche T-Lymphozyten (blau) attackieren
eine Krebszelle (gelb). Es handelt sich um
eine nachträglich eingefärbte rasterelektronen­
mikroskopische Aufnahme.
WWW.SPEK TRUM .DE
63
­ doptiven Zelltransfers anhand großer Patientengruppen zu
a
belegen. Doch um solch groß angelegte Untersuchungen
durchzuführen, muss man erst die Möglichkeiten schaffen,
Zellen in aus­reichender Menge zu manipulieren, zu kultivieren und zu vertreiben. Die damit verbundenen hohen Investitionen werden die Unternehmen erst tätigen, wenn sie da­
rauf hoffen können, entsprechende Therapieverfahren langfristig profitabel zu vermarkten.
Befürworter des adoptiven Zelltransfers betonen, das
Verfahren biete die Chance, lebensbedrohliche Tumoren
auszumerzen – und diese Aussicht sei es wert, sich den Herausforderungen zu stellen. Sie verweisen auf jüngere Erfolgsmeldungen, die eine überraschende Effizienz der Methode
belegen.
Bisher existieren drei grundlegende Strategien beim adoptiven Zelltransfer (siehe Kasten rechts), wobei die einfachste davon am weitesten entwickelt ist. Das einen Tumor
umgebende Gewebe enthält mit hoher Wahrscheinlichkeit
Immunzellen, deren Aktivität gegen den Tumor gerichtet ist.
Mediziner entnehmen deshalb eine Probe dieses Gewebes
und versuchen, daraus entsprechende T-Zellen zu isolieren.
Gelingt das, kultivieren sie die Zellen anschließend im Labor,
bis diese sich hinreichend vermehrt haben. Sodann geben
die Mediziner dem Patienten die kultivierten T-Zellen in den
Körper zurück, und zwar gemeinsam mit dem T-Zell-Wachstumsfaktor Interleukin-2 (IL-2), der die weitere Vermehrung
der Immunzellen fördern soll.
Allerdings verfügt das körpereigene Abwehrsystem über
hemmende Mechanismen, die Immunreaktionen unter
Kontrolle halten. Sie verhindern oft, dass die rückübertra­
genen Immunzellen den Tumor wirksam angreifen. Daher
müssen die Patienten zusätzlich noch Medikamente oder
Strahlenbehandlungen erhalten, die das Immunsystem und
seine Hemmmechanismen schwächen, so dass die rückübertragenen T-Zellen Fuß fassen und sich im Organismus verbreiten können.
Fachleute bezeichnen dieses Verfahren als Therapie mit
tumorinfiltrierenden Lymphozyten (TIL). Es ist bisher erst
bei einer einzigen Krebsart erfolgreich angewendet worden:
dem metastasierten Melanom. Bei dieser Krebsart wandern
die T-Zellen in den Tumor ein, was es relativ leicht macht, sie
aus tumornahen Gewebeproben zu extrahieren. In den zurückliegenden 25 Jahren haben Wissenschaftler um Steven
Rosenberg gezeigt, dass die TIL-Therapie Melanome zurückdrängen und bei einem beträchtlichen Teil der Patienten sogar vollständig und lang anhaltend ausmerzen kann. Rosenberg forscht über Immuntherapien und leitet die chirurgische Abteilung am National Cancer Institute in Bethesda
(Maryland, USA).
Auch gegen die Tochtertumoren wirksam
T-Zellen, deren Aktivität sich gegen einen bestimmten
­Tumor richtet, können offenbar auch dessen Tochtergeschwulste (Metastasen) vernichten, wie Rosenbergs Studien
belegen. Bei etlichen Melanompatienten, die sich mit der
TIL-Therapie nachhaltig erfolgreich behandeln ließen, hatten die Tumoren bereits stark gestreut, weshalb andere Behandlungsmethoden keine Wirkung mehr zeigten.
So wie die TIL-Therapie derzeit zugeschnitten ist, weist sie
allerdings noch zwei wesentliche Nachteile auf. Zum einen
müssen die Patienten vier bis sechs Wochen warten, bis sich
ihre Immunzellen unter Kulturbedingungen so weit vermehrt haben, dass die Therapie beginnen kann. Zum anderen er­fordert das Verfahren, spezielle Zentren zur Zellzüchtung einzurichten – mit Personal, das darin geschult ist, Zellen zu kultivieren. Forscher arbeiten zurzeit daran, die
Vermehrung der Immunzellen zu beschleunigen, so dass sie
nur noch Tage statt Wochen in Anspruch nimmt. Zudem hat
ein Team um Cassian Yee, Tumorimmunologe am University
of Texas MD Anderson Cancer Center (Houston, USA), eine
Methode entwickelt, um T-Zellen mit Antitumoraktivität aus
dem Blut zu gewinnen. Das ermöglicht es vielleicht, auch sol-
In den klinischen Alltag
Zurzeit bieten nur wenige Behandlungszentren adoptive Zelltherapien gegen Krebs an. Pharma­
unternehmen arbeiten daran, diese Therapien für den breiteren Einsatz verfügbar zu machen.
64 Unternehmen
Therapieform
Partnerschaften und Studien
Adaptimmune
T-Zell-Rezeptor-Therapie (TCR)
Sponsert neun Pilot- und Phase-I-Studien an verschiedenen Behandlungszentren in
den USA
Novartis
Therapie mit chimären
Antigenrezeptoren (CAR)
Lizenzierungsvertrag mit der University of Pennsylvania, um Krebsimmuntherapien
zu entwickeln; organisiert weltweit klinische Studien über eine T-Zell-Therapie
gegen die akute lymphoblastische Leukämie, das so genannte CTL019-Programm
Lion
Biotechnologies
Therapie mit tumorinfiltrierenden Lymphozyten (TIL)
Lizenzierungsvertrag mit dem National Cancer Institute in den USA, um eine
TIL-Therapie zu entwickeln, mit der sich das fortgeschrittene metastasierte
­Melanom behandeln lässt
Kite Pharma
TCR, CAR
Zusammenarbeit mit dem National Cancer Institute, um entsprechende Therapieverfahren zu entwickeln und zu vermarkten
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
Beim adoptiven Zelltransfer
(ACT) attackieren ­Mediziner
den Tumor mit Hilfe von tumorinfiltrierenden Lymphozyten (TIL) oder genetisch
veränderten T-Zellen. Letztere werden entweder so modifiziert, dass sie auf ihrer
Oberfläche einen bestimmten T-Zell-Rezeptor tragen
(dann spricht man von TCRTherapie), oder so, dass sie
ein spezielles antikörperähnliches Molekül ausprägen, einen so genannten
chimären Antigenrezeptor
(CAR). Beide Methoden führen dazu, dass die T-Zellen
aktiv werden, wenn sie auf
ein bestimmtes Tumorantigen treffen.
Gewinnung von T-Zellen aus einer Gewebeprobe oder dem Blut
genetische
Veränderung der
Zellen
TIL
Isolierung und Vermehrung
von tumorinfiltrierenden
Lymphozyten (TIL)
TCR oder
Einführen eines Gens, das für
einen T-Zell-Rezeptor (TCR)
kodiert, der ein bestimmtes
Tumorantigen erkennt
CAR
Einführen eines Gens, das für
einen chimären Antigenrezeptor
(CAR) kodiert, der ein bestimmtes Tumorantigen erkennt
Tumorzelle
Tumorantigen
Dämpfung des Immunsystems per Chemotherapie
oder Bestrahlung, damit
die rückübertragenden
T-Zellen sich im Körper
des Patienten ausbreiten und vermehren
können.
T-ZellRezeptor
Tumorzelle
MHCKomplex
präsentiert den
T-Zellen
Antigene.
Tumorantigen
CAR
T-Zelle
CD3-Komplex übermittelt ein Aktivierungssignal.
Aktivierung der T-Zelle
T-Zelle
Kostimulatorische
Moleküle verstärken
die T-Zell-Antwort.
Aktivierung der T-Zelle
Rückgabe der Zellen in den Körper des Patienten, wo sie dessen Tumor attackieren
che Tumoren mit der TIL-Therapie zu behandeln, bei denen
die Entnahme von Gewebeproben sehr schwer fällt oder bei
denen sich die Immunzellen nicht in der Umgebung der Geschwulst anreichern.
Maßgeschneiderte Killerzellen
Die Erfolge der TIL-Therapie bei der Behandlung des metastasierten Melanoms lassen sich momentan nicht auf andere
Krebsarten übertragen, weil es dort deutlich schwieriger ist,
­T-Zellen mit Antitumoraktivität zu gewinnen. Forscher
­arbeiten daher an einem weiteren Verfahren des adoptiven
Zelltransfers. Sie wollen (unspezifische) T-Zellen genetisch so
verändern, dass diese die Fähigkeit erlangen, den Tumor zu
attackieren. Diese Strategie hat erstens den Vorteil, dem
­Pa­tienten keine tumorspezifischen T-Zellen entnehmen zu
müssen, und zweitens, dass man den Immunzellen mittels
des genetischen Eingriffs ganz bestimmte Eigenschaften verleihen kann.
Hierbei verfolgen die Forscher mehrere Ansätze. Bei der
­T-Zell-Rezeptor-Therapie (TCR-Therapie) bringen sie Gene in
die Immunzellen ein, die für bestimmte Rezeptormoleküle
kodieren. Haben die Zellen diese Rezeptoren dann hergestellt, erkennen sie die dazu passenden Tumorantigene.
Durch gezieltes Optimieren des eingepflanzten Genmate­
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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / ART FOR SCIENCE, NACH: NATURE 504, S. S13–S15, 2013
Angriff
der T-Zellen
rials lassen sich die Bindungseigenschaften der Rezeptoren
gegebenenfalls verbessern.
Um Zellen für die TCR-Therapie herzustellen, gewinnen
die Ärzte zunächst T-Zellen aus dem Blut des Patienten und
schleusen in diese dann das gewünschte Genmaterial mit
veränderten Viruspartikeln ein. Dabei lassen sich die Zellen
in vielfältiger Weise verändern – etwa so, dass sie sich im Körper besser vermehren und länger dort bleiben oder Signalmoleküle ausschütten, die andere Zellen zum Angriff auf
den Tumor veranlassen. In bisherigen Anwendungen der
TCR-Therapie gelang es bei einigen Patienten, den Tumor zu
verkleinern – beim metastasierten Melanom, bei Dickdarmkrebs und bei Sarkomen der Gelenkschleimhaut. Das Problem bei diesem Behandlungsansatz: Die Rezeptoren, deren
genetische Blaupause man in die T-Zellen einbringt, müssen
auf das Immunsystem des Patienten abgestimmt sein.
Eine flexiblere Strategie, die Therapie mit chimären Antigenrezeptoren (CAR), umgeht jene Schwierigkeit. Dabei verwenden die Mediziner ein Gen, das für ein künstliches, antikörperähnliches Protein kodiert. Es bindet zwar ebenfalls an
Antigene auf den Tumorzellen, muss aber nicht dem Immunsubtyp des Patienten entsprechen.
Chimäre Antigenrezeptoren bestehen aus drei Teilen: einem Antikörper, der an ein häufiges Tumorantigen bindet;
65
einem Rezeptorfragment, das die T-Zelle aktiviert; und
­unterstützenden Substanzen, so genannten kostimulatorischen Molekülen, zur besseren Vermehrung und längeren
Verweildauer der T-Zellen im Körper. Wird ein CAR-Gen in
eine T-Zelle eingebaut und abgelesen, funktioniert das entstehende Molekülkonstrukt wie ein Schalter: Sobald es an ein
passendes Tumorantigen koppelt, versetzt es die Zelle in den
Angriffsmodus.
Obwohl schon in den späten 1980er Jahren konzipiert,
haben CAR-Therapien erst in neuerer Zeit zu positiven Er­
gebnissen im Rahmen kleinerer klinischer Studien geführt.
Bisher zielen sie allesamt auf das CD19-Protein ab, das
Blutkrebszellen sowie entartete Zellen des Lymphgewebes
auf ihrer Oberfläche tragen. CD19 findet sich allerdings auch
auf gesunden weißen Blutkörperchen. Das bedeutet, die genetisch veränderten T-Zellen bei der CAR-Therapie greifen
mitunter auch normale weiße Blutkörperchen an, doch deren Verlust lässt sich medizinisch kompensieren.
Letzte Rettung
bei hochaggressivem Blutkrebs
Vor vier Jahren berichtete ein Team um Carl June vom Abramson Family Cancer Research Institute in Philadelphia
(USA) über die erfolgreiche Anwendung einer CAR-Therapie,
die auf CD19 abzielte. Drei Leukämiepatienten waren zuvor
erfolglos mit Chemotherapien behandelt worden; nach der
CAR-Therapie hingegen bildeten sich ihre Krankheitssym­
ptome zurück und verschwanden bei zwei Patienten sogar
ganz. In einer anderen Studie aus dem Jahr 2013, an der
­Michel Sadelain beteiligt war, wendeten Forscher ebenfalls
eine gegen CD19 gerichtete CAR-Therapie bei Leukämie­
patienten an. Diesmal verschwanden bei drei von fünf Betroffenen die Krebszellen vollständig. Das ist insbesondere
deshalb spektakulär, weil die Betroffenen an akuter lym­
phatischer Leukämie (ALL) gelitten hatten, einer äußerst aggressiven Erkrankung, und es bei ihnen auch schon mehrfach zu Rückfällen nach Chemotherapie gekommen war. Forscher untersuchen nun, ob CAR-Therapien auch gegen solide
Tumoren wirken.
Nun, da kleinere klinische Studien gezeigt haben, dass
man bestimmte Krebserkrankungen wirksam mit genetisch
veränderten T-Zellen behandeln kann, geht es um die Optimierung dieser Ansätze. Wie Sadelain betont, zeigen die
Studien, dass die konkrete Ausgestaltung der Therapie – etwa
die Art der stimulatorischen Moleküle – großen Einfluss auf
den klinischen Erfolg hat. Zumindest bei CAR-Therapien
­bestimmen diese Randfaktoren maßgeblich darüber, gegen
welche Krebsart die Behandlung wirkt. Es gilt daher, sowohl
bei TCR- als auch bei CAR-Therapien die optimalen Angriffsziele sowie die bestmögliche Zusammenstellung von ko­
stimulatorischen Molekülen zu finden.
Ganz wichtig ist es, den Angriff der veränderten Immunzellen so zu lenken, dass er sich nicht gegen gesundes Körpergewebe richtet. Hierfür müssen die Forscher Antigene auf
den Tumorzellen identifizieren, die hinreichend spezifische
66 Unser Dossier
»Neue Strategien
gegen Krebs«
berichtet über Präventions­
maßnahmen, Virotherapien,
das Krebsgenomprojekt,
Ansätze gegen Tumor­
stammzellen sowie Krebs­
impfungen.
Ziele abgeben. Das könnte schwieriger werden als erwartet.
Viele Tumorantigene finden sich auch in normalem Gewebe.
Der Rezeptor HER2 beispielsweise, auf den der therapeutische Antikörper Trastuzumab (Handelsname Herceptin) abzielt, kommt auch auf Herzmuskelzellen vor. Vor dem Einsatz einer adoptiven Zelltherapie muss also für sämtliche
Körpergewebe geklärt werden, ob sie das entsprechende Antigen ausprägen, und wenn ja, in welchem Ausmaß.
Neuere Arbeiten haben gezeigt, was passieren kann, wenn
T-Zellen unerwartet normale Köperzellen attackieren. In einer klinischen Studie behandelten Forscher vom National
Cancer Institute neun Krebspatienten mit einer TCR-Therapie, die auf ein Tumorantigen namens MAGE-A3 gerichtet
war. Zwei der Patienten fielen ins Koma und starben. Es stellte sich heraus, dass die genetisch veränderten T-Zellen nicht
nur auf MAGE-A3 losgegangen waren, sondern auch auf ein
weiteres Antigen aus der MAGE-A-Familie, das – wie die Forscher erst später feststellten – in geringen Mengen im Hirngewebe vorkommt. Ein anderer TCR-Therapieansatz, der
ebenfalls auf MAGE-A3 zielte, führte bei zwei Patienten zu
tödlichem Herzversagen. Hier hatten die veränderten Immunzellen das Protein Titin attackiert, das in Herzmuskel­
zellen zu finden ist. Das Unternehmen Adaptimmune, das
seinen Sitz nahe dem britischen Oxford hat und maßgeblich
an der Entwicklung dieses Therapieverfahrens beteiligt war,
hat seine Sicherheitstests stark ausgeweitet, um solche katastrophalen Nebenwirkungen künftig zu verhindern.
Einer der größten Vorteile des adoptiven Zelltransfers ist
der rasche Wirkungseintritt: Die Behandlungseffekte zeigen
sich binnen Tagen oder Wochen, viel schneller als bei anderen Immuntherapien. Allerdings kann eine Behandlung, die
solch durchschlagende Wirkungen zeitigt, auch gefährlich
werden. Unlängst verstarb eine Darmkrebspatientin während einer CAR-Therapie an unkontrollierbaren Immunreaktionen, die Mediziner als »Zytokinsturm« bezeichnen. Die
­rasche Zerstörung von Tumorgewebe kann auch zum so genannten Tumorlyse-Syndrom führen. Es tritt auf, wenn sich
Bestandteile abgestorbener Tumorzellen massenhaft über
den Kreislauf im Körper verteilen. »Unser Organismus ist
nicht darauf ausgelegt, Tumoren mit einer Masse von drei
bis acht Pfund in kürzester Zeit abzubauen«, sagt Bruce Levine, Direktor an der Einrichtung für klinische Zell- und Impfstoffproduktion der University of Pennsylvania. Doch genau
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
dies geschehe, wenn adoptive Zelltherapien innerhalb weniger Tage zur Zerstörung großer Tumoren führten.
Sowohl TCR- als auch CAR-Therapien durchlaufen zurzeit
klinische Studien, in denen ihre Wirkung gegen verschiedene
Krebsarten getestet wird. Das sind Eierstock- und Bauchspeicheldrüsenkrebs, Glioblastome (Hirntumoren) und Mesotheliome (Brust-, Bauchfell- und Herzbeuteltumoren). Die
Ergebnisse dieser Studien werden zeigen, ob sich die genannten Therapieansätze für einen breiteren Einsatz eignen. Hier
sind noch viele Fragen offen, etwa, weshalb manche Patienten stärker vom adoptiven Zelltransfer profitieren als andere. Einer der Gründe hierfür ist sicher die Variabilität der Immunzellen. Die T-Zellen mancher Patienten sind möglicherweise in ihrer Funktionalität stärker beeinträchtigt oder
vermehren sich schlechter als die Zellen an­derer Betroffener.
Es erscheint daher dringend nötig, Biomarkermoleküle zu
finden, anhand derer man funktionsfähige Immunzellen erkennen kann. Diese Marker könnten dazu dienen, den Erfolg
der Therapie vorher abzuschätzen, nur die »besten« Immunzellen für die Therapie auszulesen oder den Behandlungsfortschritt zu überwachen.
Die momentan verfügbaren adoptiven Zelltherapien
sind Spezialverfahren, die weltweit nur an wenigen universitären Behandlungszentren praktiziert werden. Bislang wurden sie fast ausschließlich in kleinen Pilotstudien getestet –
an Patienten, deren Tumorerkrankungen bereits weit fortgeschritten waren und die auf Chemotherapien nicht mehr
ansprachen. Mittlerweile laufen die ersten größeren Studien
an. Da es mehreren Forscherteams in den zurückliegenden
Jahren gelang, den klinischen Nutzen dieser Therapieverfahren zu bestätigen, erfährt die adoptive Zelltherapie zunehmend Aufmerksamkeit seitens der Pharmaindustrie (siehe
Kasten S. 64). Wenn man freilich Patienten in großem Stil mit
genetisch ver­änderten Zellen behandeln will, braucht man
kostengünstigere, schnellere und stärker automatisierte Verfahren, um Immunzellen zu modifizieren und zu kultivieren.
Was ist die beste Strategie?
Derzeit zielen die Pharmaunternehmen mit ihren adoptiven Zelltherapien auf häufige Tumorantigene wie CD19 und
MAGE-A3. Nicht alle Forscher halten dies für den richtigen
Ansatz. Rosenberg etwa glaubt, die besten Erfolgsaussichten
habe eine vollständig personalisierte Therapie, bei der man
die Immunzellen so verändert, dass sie auf Krebsantigene
abzielen, die sich nur auf den Tumorzellen des jeweiligen
­Patienten finden und nirgendwo sonst. Eine solche Behandlung, erläutert Rosenberg, setze eine umfassende genetische
Analyse der Tumorzellen voraus, um deren spezifische Mutationen und Antigene zu finden. Dieser Ansatz sei zwar sehr
aufwändig, doch »wir sollten erst einmal eine funktionierende Heilungsmethode finden, auch wenn sie sehr kompliziert
ist, und uns später darum kümmern, sie breiter anwendbar
zu machen«.
Vor drei Jahren stellten zwei amerikanische Organisationen – das gemeinnützige Cancer Research Institute in New
WWW.SPEK TRUM .DE
York sowie die Entertainment Industry Foundation in Los
Angeles – zusammen sechs Millionen Dollar zur Verfügung,
um die Möglichkeiten des adoptiven Zelltransfers auszu­
loten. Mit dem Geld sollen renommierte Krebsforscher he­
rausfinden, ob sich die Therapie mit einem anderen Behandlungsansatz kombinieren lässt, der ebenfalls große Hoffnungen unter Medizinern weckt: dem Einsatz von so genannten
Immun-Checkpoint-Inhibitoren. Das sind Arzneistoffe, die
körpereigene Abwehrreaktionen gegen Tumorzellen intensivieren, indem sie ­immunhemmende Signale unterdrücken (siehe die zwei voranstehenden Artikel). Diese beiden
Therapiemethoden sollten sich in ihrer Wirkung gegen den
Krebs gegenseitig verstärken, was vorläufige Studienergebnisse zu bestätigen scheinen.
Trotz ungeklärter Fragen halten viele Forscher und Ärzte
den adoptiven Zelltransfer für einen viel versprechenden Behandlungsansatz. Sie lässt sich sehr gut auf die individuellen
Gegebenheiten des jeweiligen Patienten abstimmen und flexibel an methodische Fortschritte anpassen. »Das ist nicht
bloß der nächste kleinmolekulare Arzneistoff oder die nächste Antikörpertherapie«, meint Sadelain, »das ist ein grundlegend neues Verfahren.« Ÿ
DI E AUTORI N
Courtney Humphries ist Wissenschaftsjourna­
listin in Boston, Massachusetts.
QUELLEN
Brentjens, R. J. et al.: CD19-Targeted T Cells Rapidly Induce Molecular Remissions in Adults with Chemotherapy-Refractory Acute
Lymphoblastic Leukemia. In: Science Translational Medicine 5,
177ra38, 2013
Kalos, M. et al.: T Cells with Chimeric Antigen Receptors Have
Potent Antitumor Effects and Can Establish Memory in Patients
with Advanced Leukemia. In: Science Translational Medicine 10,
95ra73, 2011
Robbins, P. F. et al.: Tumor Regression in Patients with Metastatic
Synovial Cell Sarcoma and Melanoma Using Genetically Engineered Lymphocytes Reactive with NY-ESO-1. In: Journal of Clinical
Oncology 29, S. 917 – 924, 2011
Rosenberg, S. A.: Cell Transfer Immunotherapy for Metastatic Solid
Cancer – what Clinicians Need to Know. In: Nature Reviews Clinical
Oncology 8, S. 577 – 585, 2011
WEBLI N KS
Diesen Artikel, weitere Literatur und weiterführende Informationen finden Sie im Internet: www.spektrum.de/artikel/1286303
© Nature Publishing Group
www.nature.com
Nature 504, S. S13 – S15
67
INFOGRAFIK
ZELLULÄRE MOBILMACHUNG
Forscher verstehen die Biologie des Immunsystems sowie von Tumoren immer besser. Mit diesen Erkenntnissen erkunden
sie neue Wege, um Krebs mit körpereigenen Waffen zu schlagen.
Natürliche Immunantwort
Effektorzelle
fördert die Vermehrung
von B-Zellen, die
Antikörper herstellen.
Zu Beginn der spezifischen Immunantwort des Körpers präsentieren spezialisierte Zellen
in den Lymphknoten unreifen Immunzellen Bruchstücke körperfremden Materials,
so genannte Antigene.
unreife T-Zelle
Gedächtniszelle
ermöglicht eine raschere
Antwort, wenn das Antigen
noch einmal auftritt.
Vermehrung
Reifung
Umherwandernde
dendritische Zellen (DC)
nehmen Fremdmaterial
auf und zerlegen es.
DC präsentieren
das fremde Antigen
unreifen T-Zellen.
Regulatorische T-Zelle
produziert Zytokine,
welche die Immunreaktion
im Zaum halten.
Aktivierte T-Zellen setzen
Zytokine frei, was eine
Immunantwort auslöst, darunter
die Vermehrung und Reifung von T-Zellen.
Killerzelle
erkennt und tötet
körperfremde Zellen.
Therapeutische Vorgehensweisen
Die derzeitigen Krebsimmuntherapien gehören zu einem der folgenden drei Grundtypen:
Unspezifische Immuntherapien
Zytokine und weitere Stoffe, die eine
allgemeine Immunantwort hervorrufen,
eignen sich auch als Hilfsstoffe (Adjuvanzien) für andere Therapien, etwa
Impfungen.
Künstlich hergestellte
Zytokine fördern die
Vermehrung von
Immunzellen.
Immunzelle
Monoklonale Antikörper
Impfstoffe
Diese Proteine heften sich an spezifische
Antigene an der Oberfläche von Krebszellen.
Impfstoffe lassen sich aus Krebszellen,
Zellteilen oder Antigenen herstellen.
mögliche Anwendungen:
einer der derzeit getesteten Ansätze:
Medikamente zu den Zielzellen bringen
DC eines Patienten werden
ihm zusammen mit einem
krebsspezifischen Antigen wieder gespritzt.
Krebszelle
Antigen
Medikament
DC
Zellen für Zerstörung markieren
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / ART FOR SCIENCE, NACH: NATURE 504, S. S2, 2013
Die DC präsentieren
das Antigen anderen
Immunzellen.
Helfer-T-Zelle
biochemischen Signalweg blockieren, um
Wachstum oder Vermehrung zu stoppen
Krebszelle
68 Immunzellen
attackieren
die Krebszellen
und töten sie.
Antigen
unreife T-Zelle
Aktivierte T-Zellen erkennen Tumoren, reifen
und vermehren sich.
Killerzelle
Krebszelle
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
Suche nach Synergien
Einzelne Immuntherapien für sich genommen waren bisher nur mäßig effektiv.
Daher suchen Forscher geeignete Kombinationen von Behandlungen, die ihre Wirksamkeit gegenseitig verstärken. Das Schema zeigt das Konzept eines zukünftigen
idealen Ansatzes, der bereits funktionierende Therapien mit Substanzen kombiniert,
die sich noch in klinischen Studien befinden oder sogar nur theoretisch existieren.
1 Direkte Umgebung des Tumors
Medikamente blockieren
Apoptose (programmierten
Der erste Therapieabschnitt macht die
Zelltod) in Tumorzellen und
Krebszellen verwundbar gegenüber
hemmen regulatorische
einer Immunattacke.
T-Zellen.
Gezielt veränderte Viren dringen in Krebszellen ein und zerstören sie, was
die angeborene Immunabwehr aktiviert.
Antigenpräsentierende
Zellen (APC) tragen Tumorantigene auf der Oberfläche.
DER LANGE WEG
ZUR IMMUNTHERAPIE
1891
Als der Chirurg William Coley liest,
dass der Tumor eines Patienten nach einer
Bakterieninfektion verschwand, beginnt er,
Krebspatienten Bakterien zu spritzen
(siehe Artikel ab S. 70).
1909 Der Biologe Paul Ehrlich vermutet,
dass Immunzellen den Körper nach Krebszellen absuchen, um deren Wachstum zu
verhindern.
1953
Mäuse mit Tumoren zeigen auch
noch nach deren Entfernung eine Immunreaktion gegen Krebszellen, was auf die
Existenz tumorspezifischer Antigene hindeutet.
1957 Entdeckung von Interferon, einem
immunstimulierenden Zytokin, das später
in unspezifischer Krebsimmuntherapie
eingesetzt wird
2 Impfstoff
Killerzellen setzen
Toxine frei, die Tumorzellen töten können.
Enthält krebsspezifische Antigene, unspezifische Adjuvanzien und andere Moleküle, die
das Immunsystem ankurbeln.
APC-aktivierende Moleküle
Zytokine
aktivieren
T-Zellen.
4 Blutbahn
Aktivierte T-Zellen
gelangen zum Tumor.
tumorspezifische
Antigene
Antikörper fördern die
T-Zell-Aktivierung und
verhindern ihre Hemmung.
1959 Bacillus Clamette-Guérin (BCG),
ein Tuberkuloseimpfstoff, hemmt Tumorwachstum bei Mäusen.
1973
Ralph Steinman und Zanvil A. Cohn
beschreiben die dendritischen Zellen,
die als antigenpräsentierende Zellen im
Immunsystem dienen.
1983 Entdeckung der T-Zell-Rezeptoren,
die von anderen Immunzellen präsentierte
Antigene erkennen und daraufhin die
Immunantwort verstärken
1986
Die ersten humanisierten Antikörper werden von der US-Arzneimittelbehörde FDA zugelassen.
gegen Krebs, Tituximab, wird von der
FDA für die Behandlung des Non-HodgkinLymphoms zugelassen.
Killerzelle
Helfer-T-Zelle
2008
3 Lymphknoten
APC präsentieren Antigene
aus dem Impfstoff unreifen
T-Zellen, worauf diese ausreifen und sich vermehren.
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Der erste therapeutische Krebsimpfstoff, Oncophage, wird in Russland zur
Behandlung von Nierenkrebs eingesetzt.
2010
Die FDA genehmigt den Krebsimpfstoff Provenge gegen Prostatakrebs.
Diese Grafik im Internet:
www.spektrum.de/artikel/1286304
69
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / ART FOR SCIENCE, NACH: NATURE 504, S. S3, 2013
1997 Der erste monoklonale Antikörper
IMMUNTHERAPIE IV
Bakterien gegen Tumoren
Vor mehr als einem Jahrhundert entdeckte der Arzt William Coley einen
Weg, das menschliche Immunsystem für den Kampf gegen Krebs
­einzuspannen. Jetzt wollen Forscher an damalige Erfolge anknüpfen.
Von Sarah DeWeerdt
A
MIT FRDL. GEN. VON DON MACADAM
n einem Herbsttag im Oktober 2005 stieg Donald
MacAdam die Treppen hinab in die Archive der
Yale University in New Haven, USA, wo er über
100 Jahre alten Krankenakten brütete und zwi­
schendurch immer wieder handschriftliche Notizen machte.
Währenddessen versuchten seine Mitarbeiter im Labor des
kanadischen Unternehmens MBVax Bioscience gerade, ei­
nen alten Bakterienstamm aus einem Patienten, der 1924
an Scharlach gestorben war, zu kultivieren, und experimen­
tierten dabei auch mit Techniken aus angestaubten Lehr­
büchern. Unter anderem züchteten sie die Mikroben auf
­Rinderhackfleisch, wie es im 19. Jahrhundert durchaus gän­
gig war.
Wozu der Blick in die Vergangenheit? Die Forscher arbei­
teten daran, eine durchschlagende Krebstherapie zu entwi­
ckeln. Hierfür versuchten sie ein therapeutisches Verfahren
zu rekonstruieren, das ein junger amerikanischer Arzt na­
mens William Coley gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwi­
ckelt hatte – und mittlerweile weit gehend in Vergessenheit
geraten war.
Coley hatte Bakterien benutzt, um das Leben seiner
Krebspatienten zu verlängern. Im Jahr 1890 starb eine seiner
ersten Patientinnen an einem Sarkom, einem Tumor des
Stützgewebes. Tief erschüttert durchforstete der Arzt die me­
dizinische Literatur, um irgendein Behandlungsverfahren
Ein historisches
Bakterienpräparat
(links), daneben
die moderne Version.
70 gegen Krebs zu finden. Er stieß auf einen Bericht über einen
Patienten, dessen Sarkom nach einer bakteriellen Infektion
der Haut verschwunden war. Coley gelang es, den Mann aus­
findig zu machen, und stellte fest, dass der Patient – sieben
Jahre nach der Infektion – immer noch tumorfrei war.
Und offenbar handelte sich nicht um einen Einzelfall.
Schon bald fand der Arzt weitere Dokumente, die teils Jahr­
hunderte zurückreichten und über spontane Rückbildungen
von Tumoren nach einer Infektion berichteten. Daraus lei­
tete er die Vermutung ab, die Konfrontation mit Krankheits­
erregern könne das Immunsystem von Krebspatienten dazu
anregen, den Tumor zu bekämpfen. Er isolierte jene Keime,
mit denen sich der von ihm aufgesuchte Mann angesteckt
hatte, bevor sein Sarkom verschwand. Es handelte sich um
das Bakterium Streptococcus pyogenes, eine kugelförmige
Mikrobe, die Infektionen des Rachenraums und der Haut
verursacht. Damit infizierte Coley einen seiner eigenen Sar­
kompatienten – mit durchschlagendem Erfolg: Binnen Wo­
chen bildeten sich die Symptome von dessen Krebserkran­
kung in dramatischer Weise zurück.
Besser als heutige Therapien
In den folgenden 40 Jahren behandelte Coley hunderte wei­
tere Patienten mit Bakterienpräparaten, wobei er ständig
­daran arbeitete, die Therapie zu verbessern. Bald ging er dazu
über, durch Hitze abgetötete Bakterien statt lebender zu ver­
wenden, um die Risiken der Behandlung zu verringern. Auch
versuchte er, die Wirksamkeit der Therapie zu erhöhen, in­
dem er seine Patienten mit zwei unterschiedlichen Bakte­
rienspezies infizierte.
Der damit erzielte klinische Erfolg ist selbst nach heutigen
Maßstäben beachtlich. Etwa jeden vierten Sarkompatienten,
den Coley behandelte, konnte er heilen. Zudem therapierte
er etliche Menschen mit anderen bösartigen Tumoren, von
denen einige ebenfalls genasen. Im Jahr 1999 verglichen
Forscher die dokumentierten Daten von 128 Patienten
Coleys mit denen von 1675 Krebskranken, die moderne The­
rapien durchlaufen hatten. Das verblüffende Ergebnis: Der
Arzt erzielte mit seiner Behandlung eine mittlere (genauer:
mediane) Überlebenszeit der Betroffenen von 8,9 Jahren, ver­
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
CANCER RESEARCH INSTITUTE / PUBLIC DOMAIN
Der amerikanische Onkologe William Coley (Mitte) entwickelte
vor 100 Jahren die erste immunologische Tumortherapie.
glichen mit 7,0 Jahren bei heutigen Patienten. Die Hälfte von
Coleys Sarkompatienten hatte nach der Behandlung noch
mindestens zehn Jahre gelebt; unter heutigen Patienten sind
es nicht einmal 40 Prozent. Auch bei Betroffenen mit Nierenund Eierstockkrebs verbesserte Coley die 10-Jahres-Über­
lebensraten.
Trotzdem geriet sein immuntherapeutischer Ansatz bald
aus dem Blick der Mediziner. Um die Mitte des 20. Jahrhun­
derts herum entwickelten sich stattdessen Strahlen- und
Chemotherapie zu den gängigen Behandlungen bei Krebs.
Das hatte gute Gründe: Während sich die modernen Ver­
fahren relativ leicht standardisieren lassen, musste Coley sei­
ne Methode noch sorgfältig auf jeden einzelnen Patienten
abstimmen. Zudem schien die Bakterienkur bei anderen
­Krebsarten nicht so gut zu wirken wie bei Sarkomen. Es war
unbekannt, auf welchem Mechanismus die Therapie basier­
te, und obendrein scheiterten mehrere Ärzte daran, Coleys
klinische Erfolge zu reproduzieren.
Vielleicht erleben wir aber schon bald eine Renaissance
seines Therapieansatzes. Denn heute verstehen die Forscher
viel besser als damals, wie das Immunsystem funktioniert.
Auch der Zusammenhang zwischen Infektionen und Tumor­
rückbildungen ist gründlicher untersucht, ebenso wie einige
Details von Coleys Arbeiten, die früher unbeachtet blieben.
WWW.SPEK TRUM .DE
Während seines langjährigen Wirkens als Arzt arbeitete
Coley mit zahlreichen Bakteriologen zusammen, woraus
mehr als 20 verschiedene Versionen seines Bakterienprä­
parats hervorgingen. »Einer Bakteriologin namens Martha
Tracy gelang die Herstellung jener Variante, mit der die größ­
ten klinischen Erfolge erzielt wurden«, schildert Stephen
Hoption Cann von MBVax. Um daran anzuknüpfen, ver­
suchen die MBVax-Forscher, das Präparat mit modernen La­
bortechniken nachzubilden. Ihre Version des Medikaments
besteht aus abgetöteten Bakterien der Sorte Streptococcus
pyogenes, die bereits Coley verwendet hatte, sowie Serratia
marcescens, leuchtend roten, stäbchenförmigen Bakterien,
die einen Farbstoff namens Prodigiosin mit immunstimulie­
renden Eigenschaften enthalten (siehe Bilder S. 73).
Bisher hat MBVax noch keine kontrollierten Studien mit
dem Präparat durchgeführt. Dennoch erhielten zwischen
2007 und 2012 etwa 70 Patienten mit fortgeschrittenen
Krebserkrankungen die Mixtur. Die Betroffenen litten an
Melanomen, Lymphomen oder bösartigen Tumoren in der
Prostata, der Brust oder den Eierstöcken. Nach Angaben des
Unternehmens schrumpften die Geschwulste bei etwa 70
Prozent der Patienten und verschwanden bei 20 Prozent voll­
ständig.
Andere Teams forschen über ähnliche Bakterienpräpa­
rate. 2012 testeten deutsche Wissenschaftler eine Mischung
aus wärmebehandelten Streptococcus pyogenes und Serratia
marcescens in einer klinischen Phase-I-Studie mit zwölf
Krebspatienten. Sie verzeichneten bei den Betroffenen eine
vermehrte Ausschüttung von Zytokinen – Botenstoffen, wel­
che die Immunreaktion verstärken. Bei einem Patienten bil­
dete sich der Tumor sogar zurück, obwohl die Studie gar
nicht auf dieses Ziel hin ausgelegt gewesen war.
Doch sprechen offenbar nicht alle Patienten auf die The­
rapie an. Die Gründe dafür möchten die Wissenschaftler bei
MBVax als Nächstes herausfinden. Bevor sie eine klinische
Studie durchführen können, um diese Frage zu beantworten,
muss das Unternehmen allerdings erst einmal eine mehrere
Millionen Dollar teure Produktionsanlage errichten, die
amerikanischen und europäischen Vorgaben für die Medika­
mentenherstellung genügt.
AUF EINEN BLICK
SPIEL MIT DEN KEIMEN
1
Vor gut 100 Jahren entwickelte der Arzt William Coley am New
York Cancer Hospital eine Krebstherapie, die aus heutiger
Sicht ungewöhnlich anmutet: Er behandelte seine Patienten mit
Bakterienpräparaten.
2
Coley erzielte damit beachtliche Erfolge, so konnte er etwa
jeden vierten Sarkompatienten heilen. In mancher Hinsicht war
sein Behandlungsansatz heutigen Krebstherapien überlegen.
3
Forscher versuchen derzeit, Coleys Bakterienkur nachzuahmen
und weiterzuentwickeln – und melden erste Erfolge dabei.
Zudem klären sie den Wirkmechanismus immer weiter auf.
71
Zahlreiche weitere Hürden stehen einer Rückkehr von
Coleys Immuntherapie im Weg. »Es ist sehr schwierig, von
den zuständigen Behörden die Zulassung für einen Bakte­
rienextrakt zu erhalten«, erläutert Uwe Hobohm, Biologe
und Bioinformatiker an der Technischen Hochschule Mittel­
hessen in Gießen, der sich ebenfalls dafür einsetzt, Coleys
Therapieverfahren neu zu beleben. Die Zulassungsbehörden
bevorzugen Einzelsubstanzen mit definiertem Wirkmecha­
nismus an Stelle von Bakterienpräparaten mit vielfältigen
aktiven und inaktiven Molekülen sowie einer großen mög­
lichen Bandbreite an Mechanismen.
Hobohm hält es daher für besser, die Wirkungen der Bak­
teriengemische erst genau aufzuklären und dann Medika­
mente zu entwickeln, die wie Coleys Präparate bakterielle
Wirkstoffe enthalten, jedoch in gereinigter und standardi­
sierter Form, um ihre Zulassung zu erleichtern. Er vermutet,
dass der klinische Erfolg von Coleys Bakterienkur auf eine
bestimmte Gruppe von Molekülen zurückzuführen ist, näm­
lich jene, die sich an »pattern-recognition receptors« (PRR,
zu Deutsch: Mustererkennungsrezeptoren) heften. Bakteri­
en produzieren eine Vielzahl solcher PRR-Liganden, darunter
Lipopolysaccharide, bestimmte Proteine und DNA. Diese
Moleküle aktivieren die so genannten dendritischen Zellen,
welche die frühen Phasen einer Immunreaktion einleiten,
indem sie anderen Zellen der Körperabwehr Bestandteile
von Krankheitserregern präsentieren.
Früher vermuteten viele Forscher, das Immunsystem
greife Tumoren häufig deshalb nicht an, weil es sie nicht als
fremd erkenne. Doch Hobohm hält dies nur für die halbe
Wahrheit. Eine dendritische Zelle, postuliert er, müsse erst
auf einen PRR-Liganden treffen, bevor sie andere Immun­
zellen (vor allem T-Lymphozyten) voll aktivieren könne. Da
jedoch Krebszellen keine PRR-Liganden erzeugen, gelinge es
den dendritischen Zellen nicht, eine wirksame Immunreak­
72 tion gegen den Tumor in Gang zu setzen. »Zwar attackiert die
Körperabwehr den Tumor für gewöhnlich, doch meist zu
schwach«, meint Hobohm. »Den dendritischen Zellen feh­
len einfach PRR-Liganden, um die Abwehrmaschinerie hin­
reichend anzukurbeln.«
Dauerbombardement mit
bakteriellen Substanzen
Hobohm prüfte diese Hypothese, indem er Mäusen mit
künstlich erzeugten Tumoren eine Mischung kommerziell
erhältlicher PRR-Liganden aus Bakterien spritzte. Zuvor hat­
ten andere Forscher in ähnlichen Experimenten nur einzel­
ne PRR-Liganden verabreicht oder, falls sie mehrere Ligan­
den kombinierten, nur wenige Dosen der Mixtur gegeben.
Coley dagegen gab die Bakterienpräparate über mehrere
­Wochen und teils über Monate hinweg, und zwar mindes­
tens ein- bis zweimal wöchentlich. In Anlehnung an Coleys
Methoden spritzte Hobohm über einen Zeitraum von drei
Wochen hinweg insgesamt zehnmal eine Mischung aus drei
verschiedenen PRR-Liganden. Hinterher waren vier von fünf
Mäusen tumorfrei.
Eine der in der Studie verwendeten Substanzen, MistelLektin, nutzen europäische Mediziner schon länger zur un­
terstützenden Therapie von Krebserkrankungen. Erst vor
Kurzem stellte sich heraus, dass es sich um einen PRR-Ligan­
den handelt. Laut Hobohm ähnelt die Struktur des Moleküls
verblüffend der eines Giftstoffs, den das Bakterium Shigella
dysenteriae erzeugt. Vermutlich löst Mistel-Lektin also –
ebenso wie das bakterielle Gift – eine Immunreaktion aus.
Auch der Wirkstoff Imiquimod, den Ärzte gegen einen be­
stimmten Hautkrebstyp, das Basaliom, einsetzen, dürfte ein
PRR-Ligand sein. Hobohm vermutet, die Wirksamkeit beider
Substanzen ließe sich durch kombiniertes Verabreichen zu­
sammen mit anderen PRR-Liganden steigern.
Therapien auf der Basis von PRR-Liganden erzeugen aller­
dings häufig Fieber bei den Behandelten, ganz ähnlich wie
die Bakterien, aus denen die Stoffe ursprünglich stammen.
Da Fieber in der Regel eine Infektion anzeigt, gilt es in Stu­
dien zur Medikamentenentwicklung als unerwünschte
Nebenwirkung. Tatsächlich starben einige von Coleys
­Patienten an Infektionen, als der Arzt anfänglich noch
­lebende Bakterien einsetzte. Andererseits überlebten
­solche Patienten, die nach dem Verabreichen seiner Prä­
parate hohes Fieber entwickelt hatten, insgesamt länger
als jene, bei denen keine oder nur eine geringe Temperatur­
erhöhung zu verzeichnen gewesen war.
Laut unveröffentlichten Daten erkranken Empfänger
des MBVax-Präparats seltener an Infek­
tionen als andere Krebspatienten,
und zwar trotz therapiebedingten
Fiebers. Demzufolge scheint das
Präparat nicht zu schaden. Doch
die Vorbehalte gegenüber erhöh­
ter Körpertemperatur erschwe­
ren es manchen Wissenschaftlern,
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
BRUDERSOHN / CC-BY-SA-3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE)
CDC / MELISSA BROWER
Bakterielle Infektionen mit Streptococcus pyogenes (links) und
Serratia marcescens (rechts, eine Kolonie auf Agar-Nährboden)
können Tumorerkrankungen zurückdrängen.
Geldmittel für ihre Studien zu erhalten, wie Stephen Hop­
tion Cann erläuternd hinzufügt.
Andere Forscher stellen in Frage, ob Fieber für den Hei­
lungserfolg notwendig ist. »Brauchen wir die Temperatur­
erhöhung wirklich, oder ist sie nur eine Begleiterscheinung
der Therapie?«, fragt Simon Sutcliffe von der Firma Qu Biolo­
gics in Vancouver, Kanada. Sein Unternehmen verfolgt einen
anderen, ebenfalls von Coley inspirierten Ansatz und erzielt
damit bereits viel versprechende Behandlungserfolge bei
Krebspatienten im fortgeschrittenen Erkrankungsstadium –
ohne Fieber zu verursachen.
Für jedes Organ der richtige Keim
Hal Gunn, der Gründer und Direktor von Qu Biologics, ent­
deckte in Coleys Daten einen Zusammenhang, der anderen
zuvor entgangen war. Coleys Therapie wirkte immer dann
am besten, wenn die Tumoren in denjenigen Geweben sa­
ßen, die am anfälligsten gegenüber dem Bakterium Streptococcus pyogenes sind. Jede krankheitserregende Mikrobe in­
fiziert nämlich bevorzugt bestimmte Organe oder Körper­
regionen. »In mir keimte der Verdacht, die Wirkung der
Bakterienkur könne auf einer gewebespezifischen Immun­
reaktion beruhen«, erinnert sich Gunn. Qu Biologics hat seit­
dem eine Reihe von Immuntherapeutika entwickelt, und
zwar jeweils aus Bakterienspezies mit einer bestimmten Or­
ganpräferenz: Escherichia coli für den Darm, Klebsiella pneumoniae für die Lunge und so weiter. Gunn bezeichnet sie als
»site-specific immunomodulators« (SSI; deutsch: ortsspezi­
fische Immunmodulatoren).
Gunn und seine Kollegen vermuten, dass die SSI das Im­
munsystem auf die Bekämpfung von Krebszellen einstellen,
WWW.SPEK TRUM .DE
indem sie am Ort des Tumors eine Infektion nachahmen.
Insbesondere beeinflussten SSI-Moleküle wohl die Aktivität
von Makrophagen: Immunzellen, die sich an frühen Phasen
der Abwehrreaktion beteiligen. Die SSI, so Gunn, program­
mieren Makrophagen derart um, dass diese verstärkt dazu
übergehen, abnorme Zellen zu zerstören.
Mehr als 250 Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren
wurden bereits mit SSI-Präparaten von Qu Biologics behan­
delt. Zwar liegt bisher keine randomisierte Vergleichsstudie
vor, doch eine unabhängige Auswertung der Daten ergab,
dass die SSI-Therapie die mediane Überlebenszeit von Patien­
tinnen mit fortgeschrittenem Brustkrebs um 20 Monate ver­
längert hatte. Bei anderen Tumoren in einem späten Stadi­
um betrug der Vorteil rund zwölf Monate. Qu Biologics plant
für 2014 eine klinische Studie mit Lungenkrebspatienten.
Die Befürworter von Coleys Therapieansatz halten die
Zeit für gekommen, die historischen Therapieerfolge end­
lich mit handfesten Untersuchungen zu belegen. »Nur kli­
nische Studien können beweisen, dass diese Form der Im­
muntherapie den Krebspatienten tatsächlich nützt«, sagt
Stephen Hoption Cann. »Und erst dann werden Therapien
nach Coleys Vorbild auf dauerhaftes Interesse stoßen.« Ÿ
DI E AUTORI N
Sarah DeWeerdt ist Wissenschaftsjourna­listin in
Seattle, Washington, USA.
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1286305
© Nature Publishing Group
www.nature.com
Nature 504, S. S4 – S5
73
INTERVIEW: THIERRY BOON
1991 entdeckten Forscher um Thierry Boon die erste
Struktur an der Oberfläche von Krebszellen, die von
Immunzellen erkannt wird – ein Durchbruch, der die
molekulare Grundlage für die Krebsimpfung schuf. Die
Arbeiten von Boon und seinem Team trugen maßgeblich dazu bei, die Rolle des Immunsystems bei Tumor­
erkrankungen aufzuklären. Wir fragten ihn, wie es zu
dieser Entdeckung kam, was man daraus über Tumor­
erkrankungen lernen kann und wohin seiner Meinung
nach die Krebsimmuntherapie steuern muss.
Professor Boon, Sie haben das erste Tumorantigen
entdeckt – also die erste molekulare Struktur auf Krebszellen, die von der Körperabwehr als fremd erkannt und attackiert wird. War das der Durchbruch Ihrer Karriere?
Boon: Die Wende war für mich eigentlich schon 20 Jahre
früher gekommen, als ich im Labor von François Jacob am
Institut Pasteur in Paris arbeitete. Ich forschte damals über
die Embryonalentwicklung von Mäusen, denen wir Zellen
aus sehr speziellen Tumoren einsetzten, nämlich aus Tera­
tokarzinomen. Das sind embryonale Tumoren, die pluripo­
tente Stammzellen enthalten und sich daher in die unter­
schiedlichsten Körpergewebe ausdifferenzieren können.
Dabei entstehen zum Beispiel Geschwülste, die Zähne oder
Haare enthalten. Ich versuchte, die Tumorzellen so zu ver­
ändern, dass sie sich nicht mehr ausdifferenzieren. So woll­
te ich Gene finden, die maßgeblich an der Embryonalent­
wicklung mitwirken.
Wie kam da die Immunologie ins Spiel?
Boon: Durch einen Zufall. Wir hatten ein merkwürdiges
Phänomen beobachtet: Wenn wir die Tumorzellen mit ei­
ner Substanz behandelten, die viele Mutationen im Erbgut
verursacht, bildeten sie zwar nach wie vor Tumoren im Kör­
per der Mäuse. Doch in einigen Fällen wucherten die Ge­
schwülste nach zwei Wochen nicht mehr weiter und fingen
stattdessen an, sich zurückzubilden. Das Immunsystem der
Tiere war also dazu übergegangen, sie zu bekämpfen. Mich
machte das stutzig, und ich setzte den Tieren, die die mu­
tierten Tumorzellen abgestoßen hatten, auch Zellen aus
dem originalen tödlichen Tumor ein.
74 LUDWIG INSTITUTE FOR CANCER RESEARCH (LICR) BRÜSSEL
»Eine Kettenreaktion,
die den Tumor zerstört«
Thierry Boon ist Genetiker und war
bis 2011 Direktor am Ludwig Institute for
Cancer Research in Brüssel. Seit 2009
ist er Mitglied der National Academy of
Science (NAS) in den USA.
Mit welchem Ergebnis?
Boon: Einige Wochen, nachdem ich die Tumorzellen in die
Mäuse verpflanzt hatte, untersuchte ich die Tiere. Und fand
keinen Tumor! Da spürte ich, dass ich auf etwas Wichtiges
gestoßen war. Offenbar hatte die erfolgreiche Auseinander­
setzung mit den veränderten Tumorzellen dazu geführt,
dass die Körperabwehr der Mäuse jetzt auch den originalen
Tumor abwehren konnte. Es war, als ob ihr Immunsystem
nun etwas sehen konnte, was es vorher ignoriert hatte ...
... nämlich ein Antigen auf den entarteten Zellen.
Boon: Das wussten wir damals nicht. Es sollte noch mehre­
re Jahre dauern, bis wir es herausfanden. Zusammen mit
dem Immunologen und Zellbiologen Jean-Charles Cerottini
in Lausanne testeten wir, wie Mauslymphozyten auf Pro­
teinbruchstücke reagieren, die Krebszellen auf ihrer Außen­
seite tragen. Es stellte sich heraus: Einige mutierte Tumor­
varianten, die von den Mäusen abgestoßen worden waren,
hatten stark veränderte Proteinbruchstücke auf ihrer Ober­
fläche. Das war offenbar der Grund gewesen, warum das Im­
munsystem sie als fremd eingestuft und angegriffen hatte.
Der originale Tumor dagegen präsentierte Bruchstücke aus
normalen Proteinen, allerdings aus solchen, die üblicher­
weise nur in Keimzellen vorkommen. Die Auseinanderset­
zung mit den mutierten Tumorzellen hatte die Körperab­
wehr quasi darauf gestoßen, dass mit den Zellen des Origi­
naltumors etwas nicht stimmte.
Funktioniert das auch beim Menschen?
Boon: Ende der 1980er Jahre begannen wir, an menschli­
chen Tumorzellen zu forschen. Alexander Knuth aus Mainz
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
hatte mich kontaktiert wegen einer Patientin, die unheilbar
am metastasierten Melanom erkrankt war. Es war ihm ge­
lungen, ihre Tumorzellen zu kultivieren, und er kam mit ih­
nen im Gepäck zu uns nach Brüssel. Wir veränderten die Zel­
len genau so, wie wir es bei der Maus gemacht hatten, und
Knuth verabreichte sie der Patientin zurück. Und obwohl
die Frau eigentlich nicht mehr auf Besserung hoffen durfte,
passierte etwas Erstaunliches: Zunächst wuchsen ihre Meta­
stasen weiter, dann aber begannen sie sich zurückzubilden
und verschwanden schließlich, bis die Patientin völlig aus­
heilte und nach Hause geschickt werden konnte.
Das Immunsystem der Patientin hatte also den Krebs
angegriffen. Konnten Sie herausfinden, wogegen der Angriff gerichtet war?
Boon: 1991 entdeckten wir auf den originalen – also unver­
änderten – Krebszellen der Patientin das Proteinbruch­
stück Mage-1. Die Abkürzung steht für »Melanoma Antige­
ne 1«. Wie bei der Maus stammt es aus einem normalen
Protein, das aber üblicherweise nur Keimzellen produzie­
ren. Sein Vorhandensein auf den Tumorzellen hatte das Im­
munsystem der Patientin nach unserem Eingriff offenbar
dazu bewogen, die Zellen als fremd einzustufen. Wir hatten
die Idee, mit diesem und anderen kleinen Proteinbruchstü­
cken Patienten zu impfen, um ihre Lymphozyten zu einem
Angriff auf den Tumor anzustacheln. Vielleicht, so dachten
wir, ließe sich damit der Umweg vermeiden, die Tumorzel­
len zu entnehmen, künstlich zu verändern und wieder in
den Körper der Patienten zurückzubringen.
Hatten Sie Erfolg?
Boon: Die ersten Versuche verliefen erstaunlich gut. Bei
drei oder vier geimpften Patienten bildeten sich die Tumo­
ren stark zurück. Allerdings ließ der Erfolg mit der Zeit
nach: Je mehr Patienten wir behandelten, desto kleiner
wurde der Anteil, der von dem Eingriff profitierte. Heute
führt die therapeutische Impfung bei etwa einem von zwölf
Patienten zu einer spürbaren Besserung.
Wie ist diese kleine Zahl zu erklären?
Boon: Anfangs dachten wir, bei den Patienten, die nicht hin­
reichend auf die Impfung ansprechen, klappe die Immuni­
sierung nicht – die Impfung schalte also gewissermaßen zu
wenig Abwehrzellen scharf, um den Tumor zurückzudrän­
gen. Vor einigen Jahren jedoch, als neue Beobachtungsergeb­
nisse vorlagen, haben wir unsere Meinung revidiert; die Sa­
che ist offenbar deutlich komplizierter. Umfassende Immun­
reaktionen gegen den Tumor sind vielfach schon vor der
Impfung nachweisbar – allerdings laufen sie ins Leere, als
würde der Körper sie hemmen. Eine erfolgreiche Krebsimp­
fung führt dazu, dass die Lymphozyten nun nicht mehr ins
Leere stoßen, sondern effektiv gegen den Tumor vorgehen.
Wie wir jedoch überrascht feststellten, werden die dabei wirk­
samen Lymphozyten nicht direkt durch die Impfung produ­
ziert. Vielmehr richten sie sich gegen andere Antigene als das
geimpfte.
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Haben Sie eine Ahnung, warum?
Boon: Wir glauben, dass die meisten Krebspatienten spon­
tan eine Immunreaktion gegen ihren Tumor entwickeln.
Doch der Tumor bildet eine Umgebung um sich herum, die
die Immunantwort unterdrückt. Wir nennen diesen Effekt
Immunsuppression, und er ist je nach Patient mehr oder
weniger stark ausgeprägt. Eine erfolgreiche Krebsimpfung
führt vermutlich dazu, dass wenigstens ein paar aktivierte
Lymphozyten an den Ort des Tumors gelangen und diesen
stark genug angreifen, damit bestimmte Signalmoleküle, so
genannte Zytokine, ausgeschüttet werden. Diese Moleküle
heben die Immunsuppression lokal auf. Das wiederum gibt
anderen Lymphozyten, die bis jetzt nicht wirken konnten,
freie Bahn, den Tumor anzugreifen. Es setzt eine Ketten­
reaktion ein, die, wenn sie stark genug wird, bis zur Zerstö­
rung des Tumors führen kann. Die Herausforderung bei ei­
ner Krebsimpfung besteht also unserer Meinung nach nicht
darin, massenweise aktive Lymphozyten zu produzieren,
die ein ganz bestimmtes Antigen erkennen. Vielmehr reicht
es, wenn einige wenige Immunzellen die Schutzumgebung
des Tumors durchbrechen – und so einen Funken erzeugen,
der einen globalen, viel massiveren Angriff in Gang setzt.
Die Wahl des Impfantigens ist also nicht so wichtig?
Boon: Sie ist wahrscheinlich nicht das K.-o.-Kriterium, inso­
fern dass andere Lymphozyten als jene, die durch die Imp­
fung aktiviert werden, den größten Teil der Arbeit leisten.
Der entscheidende Punkt scheint zu sein, die suppressive
Umgebung des Tumors zumindest punktuell zu durchbre­
chen, um den initialen Funken überhaupt zu ermöglichen.
Deshalb befürworten wir Krebsimpfungen, die nicht nur
auf einen einzigen Impfstoff setzen, sondern noch andere
Maßnahmen einbeziehen – zum Beispiel eine lokale Verab­
reichung von Zytokinen, um die Immunhemmung am Ort
des Tumors zu reduzieren oder gar auszuschalten.
Wie sieht Ihrer Meinung nach die Krebsimmuntherapie der Zukunft aus?
Boon: Die Zeit ist gekommen, die Arbeitsweise des Immun­
systems nachzuahmen. Bei einer viralen oder bakteriellen
Infektion beschränkt sich unsere Körperabwehr keineswegs
auf einen einzigen Mechanismus. Um uns vor schädlichen
Mikroorganismen zu retten, die uns in wenigen Tagen um­
bringen können, verfolgt unser Immunsystem Dutzende
oder Hunderte von Strategien gleichzeitig. Das Ganze ist
eine Art heuristisches Verfahren nach dem Prinzip Versuch
und Irrtum, wobei unser Körper sich ständig anpasst – und
in den meisten Fällen triumphiert. Auch in der Onkologie
wird es keinen Königsweg geben, den Krebs zu besiegen. Wir
werden unterschiedliche Komponenten des Immunsystems
gleichzeitig beeinflussen müssen, um Tumorerkrankungen
erfolgreich zurückzudrängen. Ÿ
Das Gespräch führte Emmanuelle Vaniet, promovierte Biologin
und Wissenschaftsjournalistin in Darmstadt.
75
IMMUNTHERAPIE V
Liveschaltung zum Tumor
Die Schlacht zwischen Immunsystem und Krebszellen verläuft oft anders, als
Experimente mit Zellkulturen vermuten lassen. Mit raffinierten Mikroskopen
verfolgen die ersten Forscher nun direkt im Körper, wie ihre Therapien wirken.
Von Katherine Bourzac
A
uf seinem Computerbildschirm bewegt sich
Mark Headley durch eine Landschaft aus Lungen­
zellen einer Maus. Das Tier lebt, es atmet. Eine
Steuerungssoftware korrigiert fortwährend die
Einstellungen des Mikroskops und hält die Bilder trotz der
raschen Bewegungen des Körpers scharf. Headley ist Immu­
nologe an der University of California in San Francisco
(UCSF). Er erklärt die Strukturen auf dem Monitor: Rundliche
schwarze Bereiche sind luftgefüllte Lungenbläschen, Struk­
turproteine erscheinen als blau leuchtende Fäden in den Zel­
len, dank fluoreszierender Farbstoffe. Gruppen von Blut­
plättchen, ebenfalls farbmarkiert, formen rötliche röhrenar­
tige Gebilde in den Gefäßen. So weit, so normal.
Dann schiebt sich plötzlich wie ein Monster ein unförmi­
ger neongrüner Klumpen ins Bild: eine Krebszelle. Die Krea­
tur streckt sich. »Offenbar versucht die Zelle, das Blutgefäß
zu verlassen«, erläutert der Leiter von Headleys Arbeitsgrup­
pe, Matthew Krummel. Grüne Fragmente lösen sich. Krum­
mels Team kann noch nicht erklären, was hier gerade ge­
schieht – vielleicht stirbt die Krebszelle ab oder sendet Signa­
le an das Immunsystem. Oder sie tut etwas völlig anderes.
Krummel und andere Immunologen machen Filme sol­
cher Vorgänge, um besser zu begreifen, wie das Immunsys­
tem auf Krebszellen reagiert. Das anhand der üblichen Ein­
zelbilder verstehen zu wollen, wäre wie der Versuche, die
Fußballregeln aus einem Schnappschuss von Spielern auf
AUF EINEN BLICK
EINSICHT AN ORT UND STELLE
1
Der Weg zu besseren Krebstherapien beginnt meist in der Petrischale, wo Forscher Tumorzellen mit neuen Wirkstoffen oder
Immunzellen konfrontieren.
2
Mitunter verhalten sich Krebszellen und die Bestandteile des
Immunsystems im Körper jedoch völlig anders als erwartet,
und die Therapien scheitern.
3
Moderne Techniken gestatten Immunologen Beobachtungen
im Organismus und ermöglichen neue Erkenntnisse und Therapieansätze.
76 dem Rasen abzuleiten, bemerkt Thorsten Mempel vom Mas­
sachusetts General Hospital in Boston. Indem sie Zellen und
Moleküle mit bewegten Bildern darstellen, beginnen die For­
scher, ihr Zusammenspiel zu verstehen. Sie sehen nicht nur,
wie stark ein Tumor wächst oder schrumpft, sondern alles,
was dazu führte. »Wenn wir die Spielregeln verstehen«, er­
klärt Mempel, »können wir den Verlauf der Partie zu unseren
Gunsten beeinflussen.«
Heilen ohne Augenbinde
Therapien, die Tumoren mit der Hilfe von Immunzellen be­
kämpfen sollten, gab es bereits, bevor Krummel und andere
Forscher die Videomikroskopie einsetzen konnten. Die Im­
munologen konnten jedoch nicht verfolgen, ob die Zellen im
Körper des Patienten tatsächlich taten, was sie sollten. »Oft
enttäuschen Immuntherapien, weil ihre Entwickler im Grun­
de blind waren«, sagt Christopher Contag, Immunologe an
der Stanford University im kalifornischen Palo Alto.
Im Lauf der letzten rund zehn Jahre gelang es den For­
schern, diese Augenbinde allmählich abzulegen. Inzwischen
beobachten sie mit raffinierten mikroskopischen Techniken
an lebenden Tieren, wie Immuntherapien auf Tumorzellen
wirken. Dabei erkannten sie, dass Experimente mit Zellkul­
turen, die oft den ersten Schritt bei der Entwicklung solcher
Behand­lungen darstellen, äußerst irreführend sein können.
Vieles, was Zellen in der Petrischale bewerkstelligen, funktio­
niert im Organismus nicht. »Wenn wir unsere Vorstellungen
vom Verlauf einer Krankheit unter dem Mikroskop überprü­
fen, stoßen wir stets auf Unerwartetes«, berichtet Contag.
Eine der ersten ernüchternden Erkenntnisse war, dass sich
Immunzellen im Körper viel Zeit nehmen. In der Petrischale
tötet eine so genannte zytotoxische T-Zelle eine Krebszelle
binnen weniger Minuten. Im Körper einer Maus hingegen
sieht das ganz anders aus, wie Philippe Bousso, Immunologe
am Institut Pasteur in Paris, feststellte. Dort benötigt eine TZelle durchschnittlich sechs Stunden.
Bousso war einer der ersten Forscher, die solche Prozesse
in lebenden Tieren mit der so genannten MultiphotonenFluoreszenzmikroskopie beobachteten. Damit sehen Wis­
senschaftler bis zu 400 Mikrometer unter die Hautoberflä­
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
che. Sie verwenden hierfür Infrarotlicht, das deutlich weiter
als das sichtbare Licht konventioneller Mikroskope in das Ge­
webe eindringen kann. Diese 400 Mikrometer reichen aus,
um in lebenden Mäusen Tumoren der Brustdrüse, der Pros­
tata und der Haut zu erkennen.
Die Multiphotonenmikroskopie ermöglichte Bousso völ­
lig neue Einblicke in die Vorgänge beim so genannten adop­
tiven Zelltransfer (siehe den Beitrag ab S. 62). Bei dieser The­
rapie entnehmen Biologen körpereigene T-Zellen, trainieren
sie für Angriffe auf Krebszellen, vermehren sie und injizieren
sie schließlich wieder den Erkrankten. Die Therapie wirkt oft
aber nicht so gut wie erhofft. Boussos Beobachtungen zufol­
ge könnte es daran ­liegen, dass die T-Zellen wesentlich lang­
samer arbeiten als erwartet und solide Tumoren immerhin
aus einer riesigen Zahl von Krebszellen bestehen. Für eine ef­
fektive Therapie müsste die Dosis an T-Zellen also möglicher­
MATTHEW KRUMMEL & JOHN ENGELHARDT, UCSF; MIT FRDL. GEN. VON MATTHEW KRUMMEL
Zwei verschiedene Typen von Immunzellen – hier grün und violett eingefärbt – sammeln sich in
der Umgebung und an den Oberflächen von Krebs­zellen (rot). Diese Mikroskopaufnahme ist ein
Standbild aus einem Video. Mit solchen Bildern beobachten Forscher in hoher zeitlicher und räum­
licher Auflösung, wie das Immunsystem auf Tumoren reagiert.
WWW.SPEK TRUM .DE
77
78 Fluoreszenzmikroskopie
Tumorzelle
Superresolutionsmikroskopie
Immunzelle
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE BECKERS
weise viel größer sein. Anhand von Zellkulturen können
Krebsforscher das therapeutische Potenzial eines neuen An­
satzes also kaum einschätzen, solange er sich nicht auch
in Tierversuchen bewährt. »Was im Organismus passiert, ist
schwer vorherzusagen«, kommentiert Bousso.
Überhaupt neigen Immunzellen im Körper offenbar eher
zum Trödeln. Krummel untersuchte etwa T-Zellen, die sich
in der Umgebung von Brustdrüsentumoren bei Mäusen auf­
hielten. Die T-Zellen interagierten dort zwar mit anderen Ab­
wehrzellen, so genannten dendritischen Zellen, drangen je­
doch nicht wie erwartet in den Tumor ein.
Angesichts solcher Wechselwirkungen wollen manche
Forscher inzwischen mehr als nur die Bewegung einzelner
Zellen betrachten. Sie brauchen detailliertere Einblicke auf
subzellulärer und molekularer Ebene.
Dieser Wunsch nach noch mehr Details bedeutet große
technische Herausforderungen. So gibt es nur wenige unter­
schiedliche Fluoreszenzfarbstoffe, wodurch es schwierig ist,
verschiedene Strukturen gleichzeitig abzubilden. Noch vor
einigen Jahren waren gerade einmal vier Markierungen
gleichzeitig möglich. Um das zu ändern, baute Krummels
Team an der UCSF sein eigenes Mikroskop. Es verfügt über
zwei Infrarotlaser mit einem Stückpreis von 150 000 US-Dol­
lar. Die Wissenschaftler regen damit zwei Fluoreszenzfarb­
stoffe an, die auf unterschiedliche Wellenlängen ansprechen.
Die Marker emittieren dann zwar Licht ähnlicher Farben.
Dennoch gelingt es den Forschern, die Signale zu unterschei­
den, indem sie die Laser abwechselnd feuern lassen und die
Zellen zugleich mit hoher Bild­rate beobachten. Mit dieser
Methode kann das Team insgesamt sechs verschiedene Fluo­
reszenzmarkierungen simultan sichtbar machen.
Während Krummel also auf rasche Bildwiederholung
setzt, gewinnen andere Forscher Erkenntnisse aus Aufnah­
men mit besonders hoher Auflösung. Die so genannte Super­
resolutionsmikroskopie ermöglicht es ihnen, einzelne Pro­
teinmoleküle auf der Oberfläche und im Innern einer Zelle
darzustellen. Die enorme Leistungsfähigkeit dieser Technik
scheint den physikalischen Gesetzen der Optik zu widerspre­
chen. Konventionelle Linsensysteme können nämlich Licht
nicht besser fokussieren als auf einen Punkt vom Durchmes­
ser der halben Wellenlänge. Neue Techniken durchbrechen
diese »Beugungsgrenze« jedoch und stellen noch kleinere
Strukturen dar.
Daniel Davis aus Großbritannien nutzte als einer der Ers­
ten die Möglichkeiten der Superresolutionsmikroskopie für
die Immunologie. Er baute ein Gerät, das mit zwei Lasern
­arbeitet. Einen davon nutzt er, um die Fluoreszenzmarker
anzuregen, mit dem anderen überlagert er den ersten Strahl
mit einer ringförmigen Beleuchtungszone und verhindert,
dass die Farbstoffe in dieser Region ansprechen (siehe Illus­
tration rechte Seite). Ein herkömmliches Konfokalmikroskop
erreicht Auflösungen um 200 Nanometer. Davis’ Mikroskop
engt den Durchmesser des anregenden Laserpunkts auf nur
10 bis 20 Nanometer ein. Damit kann sein Team nun einzelne
Proteinmoleküle sichtbar machen.
Links: Ein Laser (blau) regt fluoreszenzmarkierte Proteine zum
Leuchten an. Rechts: Engt ein zweiter, ringförmiger Strahl (rot)
dessen Wirkungsbereich ein, werden einzelne Moleküle sichtbar.
Dank dieser enormen Auflösung beobachtete Davis, wie
natürliche Killerzellen (NK-Zellen) ihre Ziele angreifen. NKZellen sind Teil des angeborenen Immunsystems, jener un­
spezifischen Abwehrphalanx gegen Krebszellen und Krank­
heitserreger. Sie vernichten Zellen mit abnormen Merkma­
len und tragen so dazu bei, dass Krebserkrankungen bei
vielen Menschen gar nicht erst entstehen. Die NK-Zellen ver­
abreichen ihren Zielzellen membranumhüllte »Granula«
voller todbringender Proteine. Da das Innere der NK-Zellen
jedoch ein dichtes Geflecht aus Strukturproteinen enthält,
fragte sich Davis, wie es den Zellen eigentlich gelingt, diese
Giftpakete zur Oberfläche zu bringen und auszuschleusen.
Tiefe Einsichten – bis auf die Molekülebene
Mit seinem Mikroskop konnte Davis schließlich dabei zu­
sehen. Unmittelbar unter der Zellmembran, im Bereich der
»immunologischen Synapse«, die eine Brücke zwischen Kil­
ler- und Zielzelle bildet, öffnen die Strukturproteine eine
Passage. Durch sie kann das Granulum die Killerzelle verlas­
sen. Das ist zunächst eine recht allgemeine biologische Er­
kenntnis, doch Davis hofft, dass sich mit dieser Methode
auch neue Angriffspunkte für Tumortherapien finden lassen.
Und die Möglichkeiten sind noch lange nicht ausgeschöpft:
»Wir wollen sehen, wo genau sich jedes einzelne Oberflächen­
protein auf einer Zelle aufhält.« Dies sei der Schlüssel zum
Verständnis der Entscheidungen, die auf zellulärer Ebene
fallen­ und letztlich den Verlauf der Erkrankung bestimmen.
Immunzellen müssen eine immense, oft widersprüchliche
Signalvielfalt interpretieren, bevor sie eine Entscheidung
über Leben und Tod eines ihrer Ziele treffen. Von den mo­
lekularen Details dieser Vorgänge hängen nach Davis’ Auf­
fassung letztlich die individuellen Unterschiede ab – ob je­
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
mand beispielsweise überhaupt an Krebs erkrankt und wie
er auf eine Therapie anspricht.
Die Techniken, um Zellen im lebenden Organismus zu un­
tersuchen, stehen noch am Anfang ihrer Entwicklung. Der
mögliche Nutzen ist groß. Das Immunsystem derart akri­
bisch zu überwachen, könnte Therapieforschern helfen, auf
dem richtigen Weg zu bleiben, meint Christopher Contag aus
Stanford. Seine Arbeitsgruppe hat im Lauf der letzten zehn
Jahre auf diese Weise eine Therapie entwickelt und kürzlich
einen Antrag gestellt, eine Studie an Tumorpatienten durch­
führen zu dürfen.
Contags Team setzt nicht auf Immunzellen, die bestimm­
te Proteinstrukturen auf Tumoren erkennen, sondern ver­
wendet natürliche Killer-T-Zellen (NKT-Zellen), nicht zu ver­
wechseln mit den NK-Zellen in Davis’ Studie. Es belädt sie mit
Viren, die Tumoren abtöten. NKT-Zellen, so Contag, sind Ex­
perten im Aufspüren von Krebszellen, brauchen jedoch sehr
lange, um sie zu bekämpfen. Die Viren hingegen sind allein
zwar kaum in der Lage, Tumoren zu finden – Contag bezeich­
net sie als »ziemlich dumme Partikel«. Doch wenn die NKTZellen sie zum Ort des Tumors bringen, vermehren sich die
Viren dort millionenfach und verleihen den Abwehrzellen so
eine enorme Vernichtungskraft. Den Tumorspürhunden sol­
che Killerviren mitzugeben, das klingt nach einem raffinier­
ten Plan. Viele Forscher nahmen ihn jedoch erst dann ernst,
als Contag ihn im Tierexperiment umsetzte und sein Gelin­
gen mit hochauflösenden Mikroskopen dokumentierte.
Das geringe Interesse an dieser Strategie war plausibel, da
noch bis vor Kurzem zu wenig über das Verhalten von NKTZellen bekannt war. Im schnellen Kreislaufsystem der Maus,
so nahmen viele Wissenschaftler an, würden NKT-Zellen ei­
nen Tumor schon nach zwei Stunden erreichen – viel zu früh,
um bereits etwas gegen den Krebs auszurichten. Denn bis ein
tumortötender Virus in einer NKT-Zelle ausgereift und an­
griffsbereit ist, dauert es zwei ganze Tage. In der Zwischen­
zeit kann einiges schiefgehen, zum Beispiel könnten andere
Reize aus der Umgebung des Tumors die NKT-Zellen wieder
von ihrer Arbeit abbringen.
Mit ihren Mikroskopaufnahmen zerstreuten die Forscher
diese Bedenken. Das Timing, mit dem die Viren in der Maus
freigesetzt wurden, erwies sich als geradezu ideal. Aus noch
unbekannten Gründen sammelten sich die meisten virus­
tragenden Zellen erst 48 Stunden nach der Injektion am Tu­
mor an und nicht wie vermutet bereits nach zwei Stunden.
Contags Videoaufnahmen zeigten, wie sich alle Tumorzellen
praktisch gleichzeitig mit grün fluoreszierenden Viren füll­
ten. Deren exponentielles Wachstum ließ den Tumor auf­
leuchten – und nach kurzer Zeit wie einen undichten Ballon
kollabieren. Allmählich verbesserten die Viren sogar die Im­
munabwehr der Mäuse und verhinderten ein Wiederauf­
flammen der Krebserkrankung.
Ähnliche Effekte hofft Contag bei seiner geplanten Studie
bei Patientinnen mit fortgeschrittenem Eierstockkrebs zu se­
hen. Bestenfalls würde sich nicht nur – wie sonst so oft – der
Tumor vorübergehend zurückbilden, bevor es letztlich doch
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zum Wiederauftreten kommt, sondern es gäbe eine Heilung
mit anhaltender Immunität. Er vermutet, dass während der
Immunreaktion auf die Virusinfektion Gedächtniszellen
entstehen, die es dem Immunsystem ermöglichen, erneut
auftretende Tumornester frühzeitig zu erkennen und zu ver­
nichten. Bei seinen Mäusen gab es kaum Rückfälle. Contag
hofft, dass dies bei den Patientinnen ebenso sein wird.
Contags Forschergruppe entwickelt inzwischen auch ein
implantierbares Mikroskop, um Tumoren tief im Körperin­
neren beobachten zu können. Das Team testet ein solches
Gerät bereits an Tieren. Es empfängt und sendet Lichtstrah­
len durch ein Kabel mit Licht leitenden Fasern, die in den
Körper hineinführen. Zwar ist die Auflösung nur halb so gut
wie bei einem konventionellen Mikroskop. Dafür müssen die
Mäuse nicht mehr betäubt, aufgeschnitten und auf einem
Objektträger fixiert werden. Zudem können die Forscher die
Prozesse im Körperinneren viel länger dokumentieren.
Contag möchte diese Möglichkeiten jetzt auch in der kli­
nischen Forschung nutzen. Im Moment stellt er eine Version
seines Mikroskops her, die ohne Eingriff auskommt. Das Ge­
rät sieht aus wie ein Laserpointer mit Kabelanschluss. Der
Arzt könnte es beispielsweise auf die Haut des Patienten hal­
ten und die Zellen untersuchen, die durch oberflächennahe
Gefäße strömen. So ließen sich im Blutkreislauf zirkulieren­
de Tumorzellen nachweisen, die ein Indiz für einen Rückfall
oder die Bildung von Metastasen sind.
Detaillierte Livebilder aus dem Körper ermöglichen Im­
munologen allmählich, die Spielregeln der Körperabwehr ge­
gen Tumoren zu verstehen und raffiniertere Therapieansät­
ze zu entwickeln. Im Kampf gegen Krebserkrankungen könn­
ten diese neuen Einsichten einen entscheidenden Zeitvorteil
bringen. Ÿ
DI E AUTORI N
Katherine Bourzac ist Wissenschaftsjournalistin
und lebt in San Francisco, Kalifornien.
QUELLEN
Breart, B. et al.: Two-Photon Imaging of Intratumoral CD8+
T Cell Cytotoxic Activity during Adoptive T Cell Therapy in Mice.
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Pageon, S. V. et al.: Superresolution Microscopy Reveals NanometerScale Reorganization of Inhibitory Natural Killer Cell Receptors upon
Activation of NKG2D. In: Science Signaling 6, S. ra62, 2013
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Nature 504, S. S10 – S12
79
IMMUNTHERAPIE VI
Am Ort des Geschehens
Impfstoffimplantate, die das Immunsystem gezielt gegen Tumorzellen
stimulieren, zeigen bei Tests an Menschen und Tieren erstaunliche
­Wirkung – ein viel versprechender Weg in der Krebstherapie, der biologisches und materialwissenschaftliches Wissen vereint.
Von Elie Dolgin
A
us einer hydraulischen Presse in seinem Labor
fällt eine kleine weiße Scheibe in die Hand von Ed
Doherty. Das tablettengroße Implantat könnte die
Therapie von Krebserkrankungen revolutionieren: Es lockt Immunzellen an und stimuliert sie dann, gezielt
Krebszellen im Körper eines bestimmten Patienten anzugreifen. Seine Fertigung ist so einfach, dass eine neue Ära der
personalisierten Krebsmedizin bevorstehen könnte. »Die
Geräte zur Herstellung der Implantate lassen sich ohne Probleme an jedem Krankenhaus im Land bereitstellen«, erläutert der Biomaterialforscher vom Wyss Institute for Biologically Inspired Engineering der Harvard University in Boston,
Massachusetts.
Jedes der Implantate enthält Zellwachstumsfaktoren,
DNA und Fragmente von gefriergetrockneten Zellen aus dem
Tumor des Patienten. Diese Substanzen sind in eine Matrix
eingebettet, die sich im Körper im Verlauf von etwa sechs
Monaten auflöst. Da der experimentelle Impfstoff keine lebenden Zellen enthält, können die Forscher mehrere Implantate in einem einzigen Produktionsprozess herstellen. Dagegen müssen bei anderen Krebsimpfstoffen, die auf den jeweiligen Patienten zugeschnitten sind, lebende Immunzellen
für jede Behandlungsrunde separat aufbereitet werden, in
­tagelanger Laborarbeit. Ein Beispiel ist Sipuleucel-T, die vom
AUF EINEN BLICK
UNTER DIE HAUT
1
Immuntherapien gegen Krebs haben häufig nicht den
gewünschten Effekt: Die Vakzine bleiben nur kurze Zeit im
Körper des Patienten aktiv und richten sich auch gegen
gesunde Zellen. Impfimplantate könnten Abhilfe schaffen.
2
Pflanzt man sie unter die Haut, locken sie Immunzellen an und
programmieren sie gezielt auf den Kampf gegen Krebs.
Der Vorteil: Ihre Wirkung hält länger an und ist auf die erkrankten
Organe beschränkt.
3
Während die Wirksubstanzen bislang auf den jeweiligen
Patienten zugeschnitten sind, suchen die Forscher auch nach
Wegen, die Implantate zu standardisieren, um sie in großem
Maßstab produzieren zu können.
80 Biotechnologieunternehmen Dendreon aus Seattle, Wash­
ington, unter dem Handelsnamen Provenge vermarktet
wird. Bevor die Zellen im Körper eine Immunreaktion gegen
den Krebs stimulieren können, müssen ausreichend viele davon in einem aufwändigen Verfahren hergestellt werden. Das
von Doherty und seinen Kollegen entwickelte implantierbare Vakzin nutzt den Patienten selbst als Fabrik für die Zellen.
Die Tablette in Dohertys Hand ist für einen Test an Mäusen
vorgesehen. Ein paar Straßen weiter aber, am Dana-Farber/
Brigham and Women’s Cancer Center, fabrizieren Kollegen
von Doherty ähnliche Vakzinimplantate, die bereits zur experimentellen Behandlung von Menschen dienen. In der bislang
einzigen klinischen Studie dieser Art werden sie an Patienten
erprobt, die an einem fortgeschrittenen malignen Melanom
erkrankt sind. Glenn Dranoff, Tumorimmunologe am DanaFarber Cancer Center und Mitentwickler das WDVAX genannten Vakzins, findet es faszinierend, Materialwissenschaften
und neue Erkenntnisse aus der Immunologie von Tumor­
erkrankungen miteinander zu kombinieren: »Das ist eines
der aufregendsten Projekte in meiner Forscherlaufbahn!«
Gemeinsam mit Biologen entwickeln Materialwissenschaftler auch zahlreiche andere Vehikel, die Immuntherapeutika gegen Krebs in den Körper bringen – von Nano­
partikeln bis zu injizierbaren Gelen. Ihre Ansätze sollen die
bisherigen grundlegenden Probleme lösen, etwa dass die Immunreaktionen nicht nur Tumorzellen erfassen, die Behandlungen gefährliche Nebenwirkungen haben und die Vakzine
nur kurze Zeit im Körper des Patienten aktiv bleiben. Dank
neuer Trägermaterialien lassen sich Immuntherapeutika
nun gezielt in bestimmte Organe befördern und führen zumindest im Tierversuch zu kontrollierteren und länger anhaltenden Antitumorreaktionen. »Derzeit geht es vor allem
darum, diese Systeme so weiterzuentwickeln, dass sie verschiedene Arten immunmodulatorischer Agenzien verlässlich an ihren Wirkort transportieren«, erklärt Tarek Fahmy,
Ingenieur für biomedizinische Technik an der Yale Univer­
sity in New Haven, Connecticut.
Die erfolgversprechendsten Daten zu biotechnischen Immuntherapien stammen bislang noch aus Experimenten
mit Mäusen. WDVAX wirkte derart überzeugend, dass die sich
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
nun anschließende klinische Studie große Aufmerksamkeit
auf sich zieht. »Die vorliegenden biologischen und tierexperimentellen Ergebnisse rechtfertigen es absolut, jetzt weiterzumachen«, sagt der Onkologe Stephen Hodi vom Dana-Farber Cancer Center, der die Studie leitet, »und die Sicherheit
und Wirksamkeit des Ansatzes bei Menschen zu ermitteln.«
Die seit August 2013 laufende und auf zwei Jahre angelegte
Phase-I-Studie wird 25 Patienten mit metastasiertem Melanom umfassen. Jeder von ihnen soll über einen Zeitraum von
mehreren Monaten je vier Vakzinimplantate erhalten.
Die Idee zu WDVAX stammt von Dranoff und dem Harvard-Bioingenieur David Mooney. Im Inneren des Implantats, so der Grundgedanke, sollen Immunzellen auf die Zer-
störung von Tumorzellen programmiert werden. Dazu enthält es eine Matrix aus resorbierbarem Kunststoff, beladen
mit einer Mischung aus den gleichen drei Komponenten, die
auch Doherty benutzt: gefriergetrocknete Tumorproteine,
ein Wachstumsfaktor und DNA-Moleküle. Alles gemeinsam
wird unter Hochdruck aufgeschäumt, bis ein stark poröses
Material entsteht. Das fertige Implantat fühle sich an »wie
ein ausgestanztes Stückchen Küchenschwamm«, sagt Doherty, in das Immunzellen einwandern können, sobald man es
unter die Haut pflanzt.
Nachdem sich WDVAX bei Mäusen als wirksam erwiesen
hat, muss das Vakzin nun zeigen, dass es am Menschen sicher angewendet werden kann. Die Forscher erwarten keine
WYSS INSTITUTE, HARVARD UNIVERSITY
Dieses tablettengroße Impf­
implantat enthält unter
anderem Wachstumsfaktoren
und DNA aus dem Tumor
des Patienten. Pflanzt man es
unter die Haut, wandern
Immunzellen in das poröse
Material ein und werden dort
gezielt auf den Kampf gegen
den Krebs programmiert.
WWW.SPEK TRUM .DE
81
PRAVEEN R. ARANY, NATIONAL INSTITUTES OF HEALTH ET AL.
großen Probleme. Für sich genommen sind alle vier Bestandteile »bekanntermaßen ungefährlich«, sagt Mooney, »selbst
noch in viel größeren Mengen, als wir sie in WDVAX einsetzen«. Die Kunststoffmatrix besteht aus Polylactid-co-glykolid, einem üblichen Grundstoff für resorbierbares chirurgisches Nahtmaterial. Der Wachstumsfaktor GM-CSF (Granulozyten-Makrophagen-Kolonie-stimulierender Faktor) kommt
unter der Bezeichnung Sargramostim (Handelsname: Leu­
kine) bereits bei Tumorpatienten zum Einsatz, deren Leukozytenbildung er stimuliert. Seine Aufgabe bei WDVAX ist es,
dendritische Zellen des Immunsystems in das poröse Innere
des Implantats zu locken. Die synthetischen DNA-Moleküle
schließlich – so genannte CpG-Oligonukleotide, die als immunstimulierende Hilfsstoffe bereits in großen klinischen
Studien geprüft wurden – täuschen eine bakterielle Infek­
tion vor und regen so die eingewanderten Zellen an.
Die einzige neuartige Komponente ist der Extrakt aus
zerkleinertem Melanomgewebe des Patienten. Die dendri­
tischen Zellen machen die darin enthaltenen Antigene für
andere Bestandteile des Immunsystems »sichtbar«, wodurch
diese lernen, die Tumorzellen als fremd zu erkennen und zu
bekämpfen. Da der Extrakt aus patienteneigenem Gewebe
stammt, lässt er sich nach Mooneys Auffassung ohne Risiko
verabreichen.
Gemeinsam mit einem vom damaligen Harvard-Doktoranden Omar Ali geleiteten Team konnten Mooney und
­Dranoff 2009 an Mäusen nachweisen, dass dendritische Zellen, die durch das Vakzinimplantat aktiviert worden waren,
in Lymphknoten in der Umgebung der Tumoren einwanderten. Dort brachten sie T-Zellen dazu, ihre zerstörerischen
Kräfte auf Krebszellen zu richten, worauf sich der Tumor
­zurückbildete. Das zielgerichtete Verfahren vermeidet die
­Nebenwirkungen unspezifischer Therapien und hat sich bei
In poröse Materialien wie dieses (mikroskopische Aufnahme)
können Zellen eindringen. Impfimplantate, die Zellen des
­Immunsystems modifizieren, besitzen eine ähnliche Struktur.
82 Mäusen mit aggressiven Melanomen als hochwirksam erwiesen. Ohne Therapie sterben die Tiere binnen etwa drei
Wochen. Neun von zehn Mäusen jedoch, die vor der Injek­
tion von Melanomzellen Vakzinimplantate bekommen hatten, überlebten mindestens drei Monate lang. Gute Erfolge
erzielten die Forscher auch bei Tieren, die erst dann zwei Implantate erhielten, wenn sich schon Tumoren gebildet hatten. Der Tumorimmunologe Willem Overwijk, der am MD
Anderson Cancer Center in Houston, Texas, an der Entwicklung von Melanomvakzinen arbeitet, zeigt sich von den Ergebnissen beeindruckt. »Die immunologischen Daten sind
überzeugend und die Antitumoreffekte ziemlich ausgeprägt«, sagt er. »Dieser Therapieansatz hat meines Erachtens
echte Chancen.«
Synergien beim Zurückdrängen der Tumoren
Die Forscher kombinierten ihr Vakzin auch mit Antikörpern
gegen die Proteine CTLA-4 (cytotoxic T lymphocyte antigen4) und PD-1 (programmed death-1). Beide Rezeptoren hemmen die Immunreaktion, weshalb ihnen derzeit das Interesse der pharmazeutischen Industrie gilt. Bei Mäusen verlangsamte ein einzelnes Vakzinimplantat das Wachstum bereits
bestehender Melanome, brachte den Krebs jedoch nicht zum
Verschwinden. Die Antikörper gegen CTLA-4 oder PD-1 brachten für sich genommen ebenfalls wenig Besserung. Hingegen eliminierte die Kombination von Implantat und Antikörper bei etwa der Hälfte der behandelten Tiere die Geschwülste komplett. »Möglicherweise gibt es in diesem Fall
gewisse Synergien beim Zurückdrängen der Tumoren«, sagt
Mooney.
Andere Forscher entwickeln statt Implantaten injizierbare
Impfstoffe, die entweder im Tumor selbst oder in den nahe
gelegenen Lymphknoten Immunzellen aufspüren. Darrell
­Irvine, Bioingenieur am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, will mit seinem Verfahren Tumor und
Lymphknoten gleichzeitig ins Visier nehmen. Wie die
­WDVAX-Entwickler verfolgt auch er das Ziel, dass dabei nur
Tumorzellen erfasst werden, gesunde Zellen jedoch verschont
bleiben. Sein Team konzentriert sich auf zwei Signalproteine,
die T-Zell-Antworten gegen vielerlei Arten von Tumoren stimulieren, möglicherweise aber auch schwere Entzündungsreaktionen hervorrufen, die für die Mäuse tödlich sein könnten. Die Forscher fixierten sie auf kunststoffumhüllten Fetttröpfchen von etwa 200 Nanometer Durchmesser, die sie direkt in Melanome von Mäusen injizierten. Im Tumorgewebe
und in den Lymphknoten blieben sie dann gewissermaßen
gefangen. Bei etwa zwei Dritteln der mit den Nanopartikeln
behandelten Tiere bildeten sich die Tumoren vollständig zurück, und zwar ohne Anzeichen einer Entzündungsreaktion.
»Wir lösen eine starke Immunreaktion gegen die Tumoren
aus«, erläutert Irvine, »und vermeiden toxische Effekte, weil
sich die Wirkstoffe nicht im Körper verteilen können.«
Fahmy und seine Kollegen von der Yale University stellen
noch kleinere und ebenfalls wirkstoffbeladene Nanopartikel
her, die sowohl das adaptive als auch das angeborene ImmunSPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
NEPHRON / CC-BY-SA-3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE)
Die mikroskopische Aufnahme
einer eingefärbten Gewebe­
probe belegt die Erkrankung
eines Patienten an einem
B-Zell-Lymphom. Forscher
testen derzeit Vakzingele an
Mäusen mit dieser Form von
Blutkrebs.
WWW.SPEK TRUM .DE
bor untersuchte er Mäuse mit B-Zell-Lymphomen, einer Art
von Blutkrebs. Injizierte er ihnen ein mit immunaktivierenden Komponenten beladenes Gel, verstärkte es die gegen Tumoren gerichtete Aktivität von T-Zellen.
Für Mooney liegt genau darin die Schönheit vieler Immuntherapien, die auf materialwissenschaftlichen Erkenntnissen basieren: Tumorbiologen erscheine die Herstellung
der neuen Werkzeuge vielleicht komplex, wenn sie mit den
Technologien noch nicht vertraut seien – Ärzten jedoch bereite ihre praktische Anwendung keinerlei Schwierigkeiten.
»Sie ist«, sagt Mooney, »verblüffend einfach.« Ÿ
DER AUTOR
Elie Dolgin ist leitender Nachrichtenredakteur
bei »Nature Medicine« in Cambridge, Massachusetts.
DON ERHARDT
system stimulieren. Bringt man sie in den Körper ein, bleiben
sie in Blutkapillaren rund um Tumoren stecken und entladen
dort ihre Fracht. Die Bioingenieure Melody Swartz und Jeffrey
Hubbell von der Eidgenössischen Technischen Hochschule
Lausanne wiederum verankern CpG-Moleküle an der Oberfläche winziger Partikel von nur 30 Nanometer Durchmesser.
Nach Injektion in die Haut von Mäusen sammeln sich diese
in den Lymphknoten, wo die CpG-Moleküle als Immun­
adjuvans wirken, also die körpereigene Immunabwehr gegen
Tumorzellen verstärken. »Sie aktivieren T-Zellen, die mit
dem Lymphstrom hereingespült werden«, erklärt Swartz.
Nachdem WDVAX das Stadium der klinischen Prüfung erreicht hat, ist Mooney wieder ins Labor zurückgekehrt, um
weitere Anwendungen für implantierbare Vakzine zu untersuchen. Zusammen mit der Firma InCytu aus Lincoln, Rhode
Island, arbeitet Mooneys Team an einer Immuntherapie gegen maligne Gliome, eine Form aggressiver Hirntumoren. Ein
Vakzinimplantat mit Gliom-Antigenen, implantiert in den
Schädel erkrankter Mäuse, führt zu einer Rückbildung der Tumoren. Um die Wirksamkeit ihrer Strategie auch gegen Brustkrebs zu untersuchen, erhielten Mooney und Dranoff zudem
Forschungsmittel. Statt Tumorextrakten werden sie dabei
möglicherweise ein einzelnes Antigen wie HER2 (human epidermal growth factor receptor 2) verwenden. Die Wirkung des
Vakzinimplantats würde sich dann zwar nicht spezifisch gegen den individuellen Tumor der jeweiligen Patientin richten, ließe sich dafür aber standardisieren und im großen
Maßstab produzieren. »Wir untersuchen das Potenzial unserer Technologie jetzt auf viel breiterer Basis«, sagt Mooney.
Bei allen Vakzinimplantaten, die Mooney bisher entwickelt hat, bedarf es eines kleinen chirurgischen Eingriffs. Er
sucht daher nach Möglichkeiten, die Impfstoffe auf weniger
belastende Weise zu verabreichen. Beispielsweise lassen sich
in einem Gel suspendierte, mikroporöse Partikel unter die
Haut spritzen, wo sie verklumpen und ein Depot von Immunstimulanzien bilden. Krishnendu Roy, Ingenieur für biomedizinische Technik am Georgia Institute of Technology in
Atlanta, bestätigt: »Im Vergleich zu Implantaten ließen sich
solche Gele einfacher verabreichen.« In seinem eigenen La-
QUELLEN
Ali, O. A. et al.: Infection-Mimicking Materials to Program Dendritic
Cells in Situ. In: Nature Materials 8, S. 151 – 158, 2009
Kwong, B. et al.: Localized Immunotherapy via Liposome-Anchored
Anti-CD137 + IL-2 Prevents Lethal Toxicity and Elicits Local and Sys­te­mic Anti-Tumor Immunity. In: Cancer Research 73, S. 1547 – 1558, 2013
Park, J. et al.: Combination Delivery of TGF-b Inhibitor and IL-2 by
Nanoscale Liposomal Polymeric Gels Enhances Tumour Immunotherapy. In: Nature Materials 11, S. 895 – 905, 2012
Thomas, S. N. et al.: Targeting the Tumor-Draining Lymph Node
with Adjuvanted Nanoparticles Reshapes the Anti-Tumor Immune
Response. In: Biomaterials 35, S. 814 – 824, 2014
WEBLI N KS
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Nature 504, S. S16 – S17
83
IMMUNTHERAPIE VII
Impfen gegen Krebs
Im Sommer 2010 wurde der weltweit erste therapeutische
­Krebs­impfstoff in den USA zugelassen. Der Vakzine
gegen Prostatakarzinome könnten bald andere folgen.
Von Eric von Hofe
O
peration, Chemotherapie, Bestrahlung – das wa­
ren bisher die drei Hauptwaffen gegen Krebs. De­
ren oft schwere Nebenwirkungen lassen sich dank
des inzwischen immer gezielteren und besser auf
den einzelnen Patienten abgestimmten Vorgehens begren­
zen, bei gleichzeitig größerem Therapieerfolg. Es gibt zudem
heute schon einige Medikamente, die recht spezifisch die
entarteten Zellen angreifen und nicht zu den Chemothe­
rapeutika im engeren Sinn zählen: etwa Herceptin (Trastu­
zumab), das insbesondere bei einer bestimmten Form von
Brustkrebs eingesetzt wird; oder Glivec (Gleevec / Imatinib),
womit Ärzte unter anderem eine Leukämieart bekämpfen.
Überlebte vor 30 Jahren die Hälfte der Patienten mit invasiv
wachsenden Tumoren länger als fünf Jahre, so sind es heute
immerhin zwei Drittel. Allerdings haben viele von ihnen
noch immer keine normale Lebenserwartung.
Seit Langem schon überlegen Forscher, dass sich die Aus­
sichten von Krebskranken deutlich verbessern würden, wenn
es gelänge, ihr Immunsystem gezielt anzustacheln – als zu­
sätzliche Maßnahme neben den bewährten Behandlungen,
die außerdem selbst keine schweren Nebenwirkungen haben
dürfte. Doch die Studien der letzten Jahrzehnte enttäuschten
meist. Vorübergehend hatten Mediziner beispielsweise gro­
ße Hoffnung auf das Immunmolekül Interferon gesetzt. Es
sollte die körpereigene Abwehr anregen und damit helfen,
viele oder sogar alle Krebserkrankungen zu besiegen. Diese
hohe Erwartung schwand in den 1980er Jahren bald wieder.
Interferon hat zwar in der Krebstherapie inzwischen seinen
festen Platz – aber es ist kein Allheilmittel. Auch in den letz­
ten zehn Jahren gab es zahlreiche klinische Studien zu den
unterschiedlichsten Ansätzen, einen bestehenden Krebs
durch – therapeutisches – Impfen zu behandeln. Keiner da­
von überzeugte.
Die eine Wunderwaffe haben Forscher zwar immer noch
nicht gefunden. Aber die Phase des blinden Vortastens und
vergeblichen Probierens könnte bald überwunden sein. Im
Sommer 2010 ließ die US-Behörde FDA (Food and Drug Ad­
ministration) den weltweit ersten therapeutischen Krebs­
impfstoff für fortgeschrittene Prostatakarzinome zu: Pro­
venge (Sipuleucel-T). Zwar heilt auch dieses Medikament
nicht. Doch einige hundert schwer krebskranke Männer, die
84 es zusammen mit einer üblichen Chemotherapie erhielten,
gewannen dadurch immerhin ein paar zusätzliche Lebens­
monate.
Die Wende kam, als Forscher einige Grundannahmen zur
Immunabwehr von Krebszellen einerseits und zu deren Ge­
genmanövern andererseits überprüften. Die Ergebnisse die­
ser Arbeiten bewerten die Experten inzwischen vorsichtig
optimistisch. Mit dem neuen Wissen könnte es nun doch
endlich gelingen, sehr spezifisch wirksame immunverstär­
kende Therapien zu entwickeln, die sich routinemäßig zu­
sammen mit den klassischen Behandlungsmethoden einset­
zen lassen. Und die Nebenwirkungen sollten höchstens den
Symptomen eines heftigen grippalen Infekts ähneln.
Die meisten herkömmlichen Impfungen werden vorbeu­
gend verabreicht. Sie zielen darauf ab, Infektionskrankheiten
und deren mitunter verheerende Langzeiteffekte von vorn­
herein zu unterbinden – wie die bleibenden Schäden einer
Kinderlähmung, Hirndefekte durch Masern oder Leberkrebs
infolge einer Hepatitis-B-Infektion. Eine so genannte thera­
peutische Impfung indessen richtet sich gegen eine schon
bestehende Erkrankung. Im Fall von Krebs wäre das Ziel, das
Immunsystem darauf zu trainieren, die unerwünschten Zel­
len überall im Körper zu erkennen und anschließend zu zer­
stören, und das selbst noch Jahre später.
Bei vielen vorbeugenden Impfungen bildet unser Im­
munsystem schlicht Antikörper gegen den Erreger. Gewöhn­
lich genügt das, um die betreffende Infektionskrankheit zu
verhindern. Die Antikörper lagern sich dann beispielsweise
an Grippeviren an, und diese können sich nun nicht weiter
vermehren. Um Krebszellen abzutöten, reichen Antikörper­
reaktionen jedoch gewöhnlich nicht aus. Vielmehr muss das
Immunsystem dazu seine T-Zellen – T-Lymphozyten – rekru­
tieren. Bei diesen weißen Blutkörperchen unterscheiden die
Forscher unter anderem zwei Haupttypen: CD4- und CD8Zellen, so benannt nach bestimmten Rezeptorproteinen
außen­ auf den T-Zellen. Gerade CD8-Lymphozyten können
Ein T-Lymphozyt (eine Klasse von Immunzellen, gelb)
attackiert eine Krebszelle. Er erkennt sie an bestimmten
Molekülen – Antigenen – auf ihrer Oberfläche.
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
Krebszellen effektiv und direkt vernichten – vorausgesetzt,
sie sind dafür geschult, solche Zellen als entartet zu erkennen
(siehe Kasten S. 88).
Frühe Versuche mit Bakteriengiften
Allerdings entstand der Wunsch, Krebs mit Impfung zu be­
kämpfen, lange bevor solche Feinheiten entdeckt wurden.
Als »Vater der Krebsimmuntherapie« gilt der amerikanische
Arzt William B. Coley (1862 – 1936). Schon Ende des 19. Jahr­
hunderts, als noch keine Rede von irgendwelchen T-Zellen
war, verabreichte er Krebspatienten Bakterientoxine. Denn
er hörte von Kranken, deren bösartige Wucherungen nach
e­ iner schweren bakteriellen Infektion offenbar verschwan­
den. Das versuchte er mit Impfreaktionen nachzuahmen.
Coley verwendete ein Präparat von zwei lebensgefährlichen
und deswegen abgetöteten Erregern. Davon bekamen die Pa­
tienten sehr hohes Fieber. Sie erhielten täglich eine höhere
Dosis des Toxingemischs injiziert, denn der Forscher vermu­
tete, die Fieberattacken könnten die darniederliegende Im­
munabwehr der Kranken reaktivieren und dazu bringen,
auch die Krebsgeschwülste als unerwünscht zu erkennen
und zu bekämpfen. Bei einem beachtlichen Teil der Patien­
ten zeitigte diese drastische Behandlung tatsächlich sehr gu­
ten Erfolg. Coleys Ansicht, die Impfung mit den Bakterien­
AG. FOCUS / EYE OF SCIENCE / MECKES & OTTAWA
WWW.SPEK TRUM .DE
85
AUF EINEN BLICK
GEZIELT DIE KÖRPERABWEHR EINSPANNEN
1
Dank Verbesserungen der konventionellen Krebsbehandlung –
mit Operation, Chemotherapie und Bestrahlung – sind die
Überlebensaussichten von Krebspatienten in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen. Dennoch haben viele der erfolgreich
Behandelten noch immer keine normale Lebenserwartung.
2
Deswegen möchten Mediziner nun das Immunsystem gezielt
mit in die Therapie einbeziehen. Neben Immunstimulanzien
untersuchen sie zu dem Zweck auch therapeutische Impfstoffe.
3
Nach manchen Fehlschlägen in den letzten zehn Jahren scheint
sich nun die Wende anzubahnen. Der erste Impfstoff zur
Behandlung von Prostatakrebs wurde in Amerika zugelassen, und
eine neue Generation von therapeutischen Krebsvakzinen wird
erprobt.
86 Langer Weg zum Erfolg
Seit mehr als 100 Jahren versuchen Forscher, das Immunsystem gegen Krebs anzustacheln.
1890er Jahre
William B. Coley injiziert Krebspatienten einen Extrakt aus abgetöteten
Bakterien.
BERLINER ILLUSTRIERTE ZEITUNG, 1910 / PUBLIC DOMAIN
toxinen hätte den Heilungsprozess ausgelöst, war wohl
durchaus berechtigt.
Doch es gab auch Widerstand gegen die Methode seitens
der Fachkollegen. Andere Behandlungsmöglichkeiten kamen
auf, etwa Anfang des 20. Jahrhunderts die Bestrahlung. Als
Chemotherapien in den 1950er Jahren immer konsistentere
Therapieergebnisse erzielten, verloren Mediziner vollends das
Interesse an Coleys Ansatz. Überhaupt geriet die Idee, Krebs
durch Impfen zu bekämpfen, völlig in den Hintergrund.
Wissenschaftliche Studien zur Bedeutung des Immunsys­
tems bei Krebs gab es jedoch weiterhin. Mit solchen For­
schungen erkannten Mediziner nun auch, dass der deutsche
Arzt Paul Ehrlich (1854 – 1915) wohl 1909 mit seiner These
Recht gehabt hatte, wonach die Abwehr normalerweise stän­
dig darüber wacht, ob irgendwo im Körper Krebszellen auf­
treten. Diese Vorstellung bekam in den 1980er Jahren zusätz­
lichen Rückhalt, als klar wurde, wie oft bei Zellen im Körper
potenziell gefährliche Spontanmutationen auftreten. Dem­
nach müsste Krebs eigentlich sehr viel häufiger vorkommen,
als es tatsächlich der Fall ist.
Nach den Beobachtungen bleibt das Immunsystem tat­
sächlich auch dann nicht untätig, wenn ihm einmal ein Tu­
mor durchschlüpft. Nur kann es später oftmals nicht mehr
genug erreichen. Pathologen sagen manchmal, Tumoren sei­
en »Wunden, die nicht heilen« – wissen sie doch schon lange,
dass Krebsgeschwülste oft mit Immunzellen durchsetzt sind.
Weitere Untersuchungen ergaben aber auch, dass, je größer
ein Tumor wird, er umso mehr Substanzen freisetzt, mit de­
nen er die Aktivität von T-Lymphozyten regelrecht unter­
drückt. Könnten Krebsimpfungen an dieser Stelle ansetzen?
Wie ließen sich die Kräfteverhältnisse so beeinflussen, dass
T-Zellen doch noch die Oberhand gewinnen?
Im Jahr 2002 rückte eine Lösung näher. Damals erkannte
ein Forscherteam um Steven Rosenberg am amerikanischen
National Cancer Institute in Bethesda (Maryland): Höchst be­
deutsam für die Krebsabwehr sind neben den CD8- auch die
CD4-Lymphozyten. Sie fungieren gleichsam als Generäle des
Immunsystems und erteilen der Fußtruppe, die das Töten
1975
Gezielte Herstellung
monoklonaler Antikörper;
das liefert hochspezifische
Immunwaffen.
1909
Paul Ehrlich (Bild) vertritt die
These, das Immunsystem könne
Tumorwachstum unterdrücken.
übernimmt, genaue An­
griffsbefehle – in diesem
Fall den CD8-Zellen (siehe
Kasten S. 88).
Das Team um Rosenberg gewann T-Lymphozyten von 13
Patienten, die an einem Melanom (schwarzen Hautkrebs) lit­
ten und schon Metastasen hatten. Diese Immunzellen wur­
den in Kulturgefäßen so aktiviert, dass sie zugegebene Mela­
nomzellen erkannten und abtöteten. Anschließend ver­
mehrten die Forscher die aktivierten T-Zellen massiv und
verabreichten sie wieder den Patienten. Solche Verfahren, ei­
gene Immunzellen außerhalb des Körpers scharf zu machen,
zu vermehren und dann dem Kranken zurückzugeben, be­
zeichnen Forscher als adoptive Immuntherapie (siehe hierzu
den Artikel von Rosenberg in Spektrum der Wissenschaft
7/1990, S. 56, und den Beitrag ab S. 62). Bei einer Krebsimp­
fung hingegen würde das Immunsystem die besonderen Ab­
wehrzellen selbst im Körper herstellen.
Vorangegangene Behandlungsversuche von Melanom­
patienten im Sinn einer adoptiven Immuntherapie allein
mit CD8-Lymphozyten waren wirkungslos geblieben. Erst
als das Rosenbergteam auch noch CD4-Zellen hinzufügte,
gab es bessere, teils eindrucksvolle Resultate. Die Tumoren
von 6 der 13 Patienten schrumpften erheblich. Zwei von ih­
nen bildeten über ein Dreivierteljahr nach Behandlungs­
ende noch immer wirksame krebsspezifische Abwehrzel­
len. Auf die Prozedur selbst reagierten die Kranken meist
vorübergehend mit grippeähnlichen Symptomen. Vier der
so Behandelten zeigten allerdings zudem eine komplexe
Autoimmunreaktion mit teilweisem Verlust der Hautpig­
mentierung.
Weil diese Versuche bewiesen, dass eine gezielte Krebs­
behandlung mittels T-Zellen möglich sein sollte, fanden
An­sätze zu Immuntherapien gegen die fatale Krankheit un­
ter Medizinern endlich mehr Akzeptanz. Jedoch erforderte
das beschriebene Vorgehen von Rosenbergs Gruppe eine Rie­
SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
1980
Mit Bakterien, in die
das Gen für Interferon eingeschleust
wurde, lässt sich
das immunstimulierende Protein unbegrenzt produzieren.
GENENTECH INC.
AG. FOCUS / EYE OF SCIENCE / MECKES & OTTAWA
1997
USA: Zulassung
des ersten
monoklonalen
Antikörpers
gegen Krebs –
Rituximab
(Rituxan) beim
Non-HodgkinLymphom
1986
USA: Zulassung von Interferon für Haarzell­
leukämie als erstem nachweislich wirksamem
Krebsimmuntherapeutikum
1998
USA: Zulassung des monoklonalen Antikörpers Trastuzumab für
metastasierenden Brustkrebs
senanzahl an manipulierten Lymphozyten: pro Patient über
70 Milliarden CD8- und CD4-Zellen, was einigen hundert
Milli­litern Zellsuspension entspricht.
Deswegen suchten die Forscher nun nach einfacheren
Verfahren, die trotzdem ebenso gute Ergebnisse erzielen. Sie
wollten Immunzellen direkt im Körper dazu bringen, die ge­
wünschten Eigenschaften zu entwickeln und sich stark zu
vermehren – eben das, was nach einer erfolgreichen Imp­
fung geschieht.
Suche nach geeigneten Tumorantigenen
Wir Forscher bei der Firma Antigen Express freuten uns
über Rosenbergs Befund, wonach ein Krebsimpfstoff zu­
gleich CD4- und CD8-Lymphozyten aktivieren muss. Auf
Grund eigener Tierversuche hatten wir dies schon vermutet
und die Zukunftspläne unseres Unternehmens wesentlich
danach ausgerichtet.
Für die Entwicklung eines Krebsimpfstoffs sind von vorn­
herein drei Aspekte entscheidend. Zum einen kommt es
­darauf an, auf welches molekulare Element – Antigen ge­
nannt – des Tumors man das Immunsystem überhaupt an­
setzen möchte. Auch muss man erarbeiten, wie man dem
Immunsystem die Vakzine am besten darbietet, damit es gut
darauf anspricht. Ebenso ist es wichtig zu wissen, für welche
Krebspatienten der Impfstoff in Frage kommt, und auch, in
welchem Krankheitsstadium man ihn effektiv einsetzt.
Mitarbeiter von Firmen, die sich mit solchen Entwick­
lungen befassen, haben in den letzten Jahren viele Proteine
und auch Peptide, also kürzere Proteinfragmente, von Tu­
moren auf ihre Eignung als Impfstoffantigene hin unter­
sucht. Von Vorteil ist in dem Zusammenhang, dass dieselben
genetischen Veränderungen, die Krebszellen ungehemmt
wachsen lassen, sie auch dazu bringen, bestimmte Proteine
wesentlich mehr zu bilden als gesunde Zellen. Rund zehn
Unternehmen, darunter unseres, arbeiten bereits an ver­
schiedenen Peptiden.
WWW.SPEK TRUM .DE
2002
Nachweis, dass eine Krebstherapie mittels T-Zellen
möglich ist und sowohl
CD8- als auch CD4-Zellen
erfordert (Foto: T-Zellen
attackieren eine Krebszelle, rot)
2010
USA: Zulassung von Provenge
für fortgeschrittenen Prostatakrebs als erstem Impfstoff
gegen einen bestehenden Krebs
Man könnte für den gleichen Zweck auch DNA-Stücke mit
Krebsgenen verwenden oder selbst ganze Krebszellen, die
durch Bestrahlung ungefährlich gemacht wurden. Aber Pep­
tide bieten sich unter anderem deshalb an, weil sie recht
klein, kostengünstig zu produzieren und insbesondere leicht
manipulierbar sind. Mit ihnen kann man daher relativ ein­
fach Impfstoffe entwerfen und in größerer Menge herstellen.
Ein weiterer Vorteil: Ein und dieselbe Vakzine müsste sich für
verschiedene Krebs­arten eignen. Denn soweit bisher unter­
sucht, scheinen die gleichen Peptide immer wieder vorzu­
kommen. Eine zellbasierte Immuntherapie würde dagegen
individuell angepasste Präparate erfordern. Nicht zuletzt
verursachen sämtliche bisher getesteten Peptidimpfstoffe
vergleichsweise geringe Nebenwirkungen, wie vorüberge­
hende Reizungen an der Injektionsstelle oder mitunter Fie­
ber und andere grippeähnliche Symptome.
Vor zehn Jahren hatten Wissenschaftler von Antigen Ex­
press ein Peptid umgebaut, das zuvor schon in einem experi­
mentellen Impfstoff gegen Brustkrebs verwendet worden
war. Es stammte aus dem HER2-Protein, dem Angriffsziel des
eingangs erwähnten Trastuzumab – eines monoklonalen
Antikörpers, mit dem bestimmte Formen von Brustkrebs be­
handelt werden. Als sie dieses Peptid um nur vier Aminosäu­
ren verlängerten, steigerte das seine Stimulationskraft für
CD4- und CD8-Lymphozyten enorm, die HER2 produzieren­
de Brustkrebszellen angreifen. Dies war das oben erwähnte
Ergebnis, auf das unsere Firma setzte. Uns bestärken jetzt
auch kürzlich veröffentlichte vorläufige Befunde anderer
Forscher, die unseren Impfstoff mit zwei anderen Peptidvak­
zinen verglichen, welche nur auf CD8-Zellen abzielen.
Die einzelnen Unternehmen verfolgen unterschiedliche
Ansätze. Dendreon etwa, der Hersteller des vorne genannten,
inzwischen auch in der Europäischen Union zugelassenen
Impfstoffs Provenge gegen Prostatakrebs, sowie einige weite­
re Firmen manipulieren die dendritischen Immunzellen: die
wichtigsten »Wachhunde« des Immunsystems (siehe den
87
Drei Impfstrategien
Das Immunsystem erkennt Krebszellen nicht ohne Weiteres als
fremd oder gefährlich. T-Zellen – bestimmte Immunzellen – von
Patienten lassen sich aber im Labor hierzu veranlassen, dann vermehren und zurückübertragen. Noch praktischer wäre ein therapeutischer Impfstoff, bei dem dies im Körper selbst geschieht.
Medizinforscher entwickeln hierzu drei verschiedene Ansätze.
Die natürliche Immunreaktion auf Krebszellen
Dendritische Immunzellen verschlingen Tumorzellen und präsentieren Bestandteile (Antigene) davon CD4- und CD8-Zellen.
CD4-Zellen setzen nun Zytokine frei, welche CD8-Zellen
aktivieren helfen. Diese attackieren dann Zellen mit dem
betreffenden Antigen, also Krebszellen. Nur ist diese Reaktion
oft nicht stark genug, um einen ganzen Tumor zu vernichten.
Krebszelle
krebsspezifisches
Antigen
➊
unreife
dendritische
Zelle
Ganzzellimpfstoff
CD4-Zelle
reife
dendritische
Zelle
Zytokine
aktivierte
CD8-Zelle
CD8-Zelle
Komplette Tumorzellen
➌
Dem Patienten werden Krebszellen
entnommen. In diese schleust
man Gene ein, die dem Immun­
system deren Erkennung erleichtern. Vor der Rückgabe werden
die Zellen mittels Bestrahlung abgetötet. Sie bieten der Immun­
abwehr zahlreiche Zielstruk­turen.
Tumor
Dendritische Zellen
Dendritische Zellen des
Patienten werden im Labor
mit Tumorantigenen versetzt. Auf diese Weise wird
auch der kürzlich in den
USA zugelassene Impfstoff
gegen Prostatakrebs hergestellt.
➋
Peptidimpfstoff
Das Immunsystem erkennt krebsspezifische Antigene, die etwas
verändert wurden, teilweise viel
besser. Solche Fragmente oder
Peptide sind leicht im Labor herstellbar und für viele Patienten
geeignet.
Impfstoff
mit manipulierten
dendritischen Zellen
88 SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
AXS BIOMEDICAL ANIMATION STUDIO
Peptide
Kasten links, rechts oben). Dendritische Zellen finden sich im
gesamten Körper, doch vor allem dort, wo Kontakt mit der
Außenwelt besteht, also besonders in der Haut und in der
Schleimhaut des Verdauungstrakts. Diese Wächterzellen ge­
hören zu den ersten, die T-Lymphozyten alarmieren.
Der Trick bei dem Prostataimpfstoff ist, dendritische Zel­
len im Labor mit Antigenen von Krebszellen zu beladen und
sie dem Kranken zuzuführen – was die T-Zellen in Gang brin­
gen soll. Dazu muss man allerdings einigen Aufwand betrei­
ben. Immunzellen nehmen nur von genetisch gleichen Part­
nern Befehle entgegen. Deswegen werden dem Patienten
dendritische Zellen entnommen, mit dem krebsspezifischen
Protein versehen und ihm wieder injiziert. Eine vollständige
Behandlung kostet derzeit fast 100 000 Dollar. Zu den Neben­
wirkungen gehören Schüttelfrost, Fieber und Kopfschmer­
zen, seltener auch ein Schlaganfall. Die US-Behörde ließ den
Impfstoff zu, weil in einer Kurzzeitstudie damit behandelte
Männer mit fortgeschrittenem Prostatakrebs im Durch­
schnitt mindestens vier Monate länger lebten als solche
ohne diese Behandlung.
Zeitverzögerte Reaktion auf Immuntherapie
Für Krebsimpfstoffe scheint eine neue Zeit angebrochen –
nicht nur wegen Provenge, denn auch eine Reihe anderer viel
versprechender Impfpräparate ist derzeit in klinischen Tests.
Je weiter wir auf dem Feld vordringen, desto deutlicher wird
aber auch, dass an eine Immuntherapie andere zeitliche
Maßstäbe anzulegen sind als an eine Chemotherapie oder
Bestrahlung. Ob eine konventionelle Behandlung anschlägt
oder nicht, pflegt sich in ein paar Wochen herauszustellen.
Ist der Tumor dann nicht kleiner geworden, so hat die Maß­
nahme vermutlich nichts gebracht. Mit Krebsimpfungen ist
das verschiedenen klinischen Studien zufolge anders. Offen­
bar kann es da bis zu einem Jahr dauern, bis das Immunsys­
tem das Tumorwachstum in den Griff bekommt.
Das überrascht nicht wirklich. Die Abwehr benötigt eine
Menge Überredung, damit sie gegen Krebszellen vorgeht,
denn diese gleichen immunologisch normalen Körperzellen
allzu sehr. Viren oder Bakterien zu attackieren, also wirkliche
Fremdlinge, fällt ihr sehr viel leichter. Diese Toleranz für Kör­
pereigenes dürfte das größte Hindernis sein, das die Forscher
bei Krebsimpfstoffen überwinden müssen. Nicht selten
scheinen Tumoren nach dem Impfen zunächst sogar noch
weiterzuwachsen. Doch wie Gewebeproben zeigten, kann die
Zunahme auf eingewanderte Immunzellen zurückgehen,
welche die Gesamtmasse der Geschwulst vergrößern.
Sollte das Immunsystem auch weiterhin so schleppend auf
die Impfreize ansprechen, wie es bisher der Fall zu sein scheint,
würde daraus für Behandlungsstrategien in näherer Zukunft
zweierlei folgen: Zum einen hätten Patienten mit frühen
Krebsstadien vermutlich die besseren Chancen – solange
nämlich die Tumoren nicht so groß sind, dass sie bereits das
Immunsystem hemmen. Diesem Personenkreis bleibt auch
genügend Zeit, eine Immunantwort abzuwarten. Zum ande­
ren müssten sich Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung
WWW.SPEK TRUM .DE
vor der Impfung zuerst konventionellen Behandlungen unter­
ziehen, die den Tumor zunächst verkleinern. Denn große, län­
ger bestehende Geschwülste vermögen das Immunsystem
nun einmal besser zu schwächen und sogar zu unterlaufen als
kleine, jüngere. Weil sie viel mehr Zellen enthalten, geben sie
nicht nur mehr immunsupprimierende Substanzen ab, son­
dern auch eine größere Palette davon. Im Spätstadium der Er­
krankung kann selbst ein gesundes Immunsystem der Tu­
mormasse wohl einfach nicht mehr Herr werden.
Auch wenn sicherlich noch einige Hürden bestehen, wis­
sen wir nun: Das Immunsystem lässt sich bei einer Krebsthe­
rapie erfolgreich einbeziehen. Diese Erkenntnis gab vielen
Krebsforschern aus wissenschaftlichen Institutionen und
der Industrie, die auf dem Gebiet arbeiten und allzu oft Rück­
schläge einstecken mussten, neue Zuversicht. Sogar manche
Ergebnisse früherer klinischer Studien, die bisher als ge­
scheitert galten, werden jetzt neu auf übersehene Anzeichen
von Immunreaktionen hin analysiert. Ein solcher Verdacht
besteht etwa im Fall der potenziellen Prostatakrebsvakzine
Prostvac. Dieser Impfstoff verfehlte damals das gesetzte Ziel,
das Tumorwachstum aufzuhalten, und die kleine Firma, die
ihn entwickelte, gab auf. Später stellte sich jedoch heraus,
dass die Behandlung den Kranken mehr Lebenszeit schenkte.
Glücklicherweise hatte sich ein anderes Unternehmen die
Rechte an Prostvac gesichert und befasst sich nun damit.
Wer in einem Pharmabetrieb auf diesem Feld forscht,
lernt bald, keine zu schnellen Versprechen abzugeben. Den­
noch – immer mehr von uns sehen die therapeutische Krebs­
impfung als zukünftiges Standbein neben den drei klassi­
schen Verfahren Operation, Chemotherapie und Bestrah­
lung. Für einige der häufigsten Krebsarten könnte sie in
absehbarer Zeit Wirklichkeit werden. Ÿ
DER AUTOR
Eric von Hofe ist Präsident der Firma Antigen
Express mit Sitz in Worcester, Massachusetts.
Seine wissenschaftliche Arbeit widmete er der
biotechnologischen Entwicklung neuer Krebstherapeutika.
QUELLEN
Perez, S. et al.: A New Era in Anticancer Peptide Vaccines. In: Cancer
116, S. 2071 – 2080, 2010; www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/20187092
Vergati, M. et al.: Strategies for Cancer Vaccine Development.
In: Journal of Biomedicine and Biotechnology 2010; www.hindawi.
com/journals/jbb/2010/596432
LITERATURTIPP
Neue Strategien gegen Krebs. Spektrum der Wissenschaft,
Dossier 3/2009
Ausgewählte Artikel von »Spektrum der Wissenschaft« zum Thema
Krebs
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1139700
89
Vorschau Spezial Biologie · Medizin · Hirnforschung 2/2015
ab 17. 4. 2015 im Handel
CENTERS FOR DISEASE CONTROL AND PREVENTION (CDC)
Seuchen – Geißel der Menschheit
Verheerendes Ebolafieber
Der jüngste Ebola-Ausbruch in Westafrika mit vielen tausend Opfern
schreckte die Welt auf. Die Erkrankung verläuft in bis zu 90 Prozent der Fälle
tödlich und lässt sich wie die meisten Virusinfektionen nicht ursächlich
behandeln. Immerhin hat die fieberhafte Suche nach einem Impfstoff einige
viel versprechende Kandidaten erbracht.
Rückkehr der Pocken?
ARMY MEDICINE, RANDAL J. SCHOEPP / CC-BY-2.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/2.0/LEGALCODE)
NATIONAL INSTITUTE OF ALLERGY AND INFECTIOUS DISEASES (NIAID)
Weil die Blattern als ausgerottet gelten,
wurden die flächendeckenden Impfungen dagegen eingestellt. Doch damit
ging auch die Immunität gegen die Erreger der nah verwandten Affen- und
Kuhpocken verloren, mit denen sich daher immer mehr Menschen anstecken.
Vormarsch der Tuberkulose
Mehr als eine Million Menschen stirbt
jedes Jahr an der Schwindsucht. Etwa
ein Drittel der Weltbevölkerung ist
latent infiziert. Die Tuberkelbakterien
werden immer aggressiver und ver­
breiten sich besonders in Regionen mit
schlechten Lebensbedingungen.
Neue Waffen gegen Malaria
Zutritt für HIV verboten
Die vergessenen Seuchen
Die Tropenkrankheit, unter der
300 bis 500 Millionen Menschen
leiden, fordert jährlich fast eine
Million Opfer. Bei der Entwicklung
von Impfstoffen gegen Malaria
gab es immer wieder herbe Rückschläge. Neue Hoffnung weckt
nun eine Vakzine, die sich bereits
im fortgeschrittenen Stadium der
klinischen Prüfung befindet.
Aids ist noch immer unheilbar
und mit über drei Millionen Neuinfektionen im Jahr eine der gefährlichsten Epidemien. Immerhin
lassen sich die Symptome mit
Medikamenten inzwischen lange
unterdrücken. Durch eine Gen­
therapie wollen Mediziner jetzt
das Immunsystem von Betroffenen gegen das HI-Virus wappnen.
Chagas-Krankheit, Leishmaniose
und Schlafkrankheit sind in den
Tropen weit verbreitet. Dennoch
wurden sie von Pharmafirmen
und staatlichen Gesundheitssystemen lange so gut wie ignoriert.
Nun will eine von mehreren Organisationen gestartete internationale Initiative die Entwicklung von
Wirkstoffen anstoßen.
90 SPEZIAL BIOLOGIE – MEDIZIN – HIRNFORSCHUNG 1/2015
spe z i a l
Biologie · Medizin · Hirnforschung
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