Die deutsche chemische Industrie 2030 VCI-Prognos-Studie – Update 2015/2016 Erstellt durch den Verband der Chemischen Industrie e. V. unter Mitarbeit der Prognos AG. Federführung durch den Ausschuss für Wirtschafts- und Marktanalysen. Mitglieder des Ausschusses für Wirtschafts- und Marktanalysen: Dr. Peter Westerheide (BASF SE, Projektleitung), ­Birgitta Schlief (BASF Personal Care and Nutrition GmbH), Dr. Reinhold Maeck (Boehringer Ingelheim GmbH), ­ Dr. Thomas Sunderbrink (BP Refining & Petrochemicals GmbH), Bernhard Forschler (Celanese Europe B. V.), Robert Kolb (Clariant Produkte (Deutschland) GmbH), Christoph Ragginger (Covestro Deutschland AG), Sabine Klages-Büchner (DuPont Deutschland Holding GmbH & Co. KG), Natasa Nikolic (Evonik Industries AG), Dr. Thomas Roick (Lanxess Deutschland GmbH, Ausschussvorsitzender) 2 Inhalt INHALT Executive Summary 4 Einleitung6 Weltwirtschaftliches Umfeld 9 Die globalen Megatrends 9 Wachsende und alternde Weltbevölkerung 9 Globalisierung verliert an Tempo 10 Schnellere Verbreitung von Technologien und Wissen 11 Kein Engpass bei Energie und Rohstoffen bis 2030 12 Umwelt- und Klimaschutz gewinnen weltweit an Bedeutung 14 Staatsverschuldung hemmt Wachstum 15 Weltwirtschaftliche Dynamik lässt allmählich nach 16 Industrialisierung der Schwellenländer hält an 18 Chemische Industrie global 20 Schiefergas führt zur Renaissance der US-Chemie 21 EU-Chemie wächst dank innovativer Spezialchemie und Pharmazeutika 22 Entwicklung in Deutschland bis 2030 24 Binnenwirtschaft gewinnt an Bedeutung 24 Industrie bleibt zentrale Stütze der deutschen Wirtschaft 25 Wachstumschancen für die deutsche Chemie 27 Chemieindustrie bleibt ein attraktiver Arbeitgeber 31 Deutsche Chemie wird immer effizienter 32 Diversifizierung der Rohstoffbasis wird vorangetrieben 34 Forschungsetats werden erhöht 35 Investitionszurückhaltung hält an 37 Fazit39 Projektansatz und Methodik 41 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis 43 3 Executive Summary Executive Summary Die Weltwirtschaft steht vor neuen Herausforderungen. Der Wachstumsmotor China ist ins Stottern geraten. Große Volks­ wirtschaften wie Brasilien und Russland befinden sich in einer Rezession. Nicht zuletzt sieht sich die Europäische Union mit der Bewältigung der Flüchtlingskrise und der Unsicherheit über den Verbleib von Großbritannien in der EU konfrontiert. Die Schuldenkrise in Griechenland ist ebenfalls noch nicht ausgestanden. Zu diesen aktuellen Entwicklungen kommen langfristige Megatrends hinzu, die die Weltwirtschaft beeinflussen. Die Weltbevölkerung wächst. 2030 werden nach Schätzungen der UN 8,5 Milliarden Menschen auf der Welt leben (2013: 7,2 Milli­ arden). Dadurch steigt global die Nachfrage nach Nahrung, Gütern und Dienstleistungen, aber auch das Angebot an Ar­ beitskräften. Das Bevölkerungswachstum entfällt zu 90 Pro­zent auf Afrika und Asien, während es in den Industrieländern sta­ gniert und die Gesellschaften rasch altern. Das g­lobale Be­ völkerungswachstum wirkt sich positiv auf das Wachstum der Weltwirtschaft aus, stellt aber auch einige Regionen vor große Herausforderungen. Ein weiterer Trend und Wachstumstreiber ist die schnellere Verbreitung von Technologie und Wissen. Durch Technologie­ transfer können viele Länder rasch von innovativen ­Technologien profitieren. Künftig wird es keinem Land gelingen, einen technologischen Vorsprung lange Zeit für sich allein bean­ spruchen zu können. Dadurch nimmt der Innovationsdruck zu. Zudem werden Digitalisierung und Vernetzung die Wirt­ schaft in den kommenden Jahren grundlegend verändern. Wie zuvor schon Dampfmaschine, Elektrizität und Computer wird nun durch die Digitalisierung eine neue Phase der in­ dustriellen Revolution ausgelöst (Industrie 4.0). Sie erfasst ganze Wertschöpfungsketten und wird nicht vor den Che­ mieunternehmen haltmachen. Das ermöglicht branchenüber­ greifende Innovationen, die das Potenzial haben, bewährte und erprobte Geschäftsmodelle zu erweitern, aber auch zu ersetzen. Die Grenzen zwischen Industrie und Dienstleis­ tungssektor werden dadurch allmählich verschwimmen – bereits heute ist dies zu beobachten. Anders als von vielen Experten erwartet, wird es im Pro­ gnosezeitraum keinen Engpass bei Energie und Rohstoffen geben. Neue Fördertechnologien (Fracking) und der Wett­ bewerb unter den ölfördernden Staaten haben bereits seit 2014 zu einem Überangebot an Öl und Gas geführt, das einen rapiden Verfall der weltweiten Preise für fossile Energieträ­ ger nach sich zog. Mittelfristig wird der Ölpreis zwar wieder steigen. Im Prognosezeitraum bleibt Rohöl dennoch deutlich günstiger als noch in der Vorgängerstudie angenommen. Die Wettbewerbsfähigkeit der Chemie und das Wachstum Europas werden dadurch insgesamt gestärkt. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen hat der VCI seine Studie „Die deutsche chemische Industrie 2030“ aktualisiert. Ziel ist es, die Zukunft der Branche in einer Welt des Umbruchs mit einem realistischen Szenario zu beschrei­ ben. Die Leitfragen der aktualisierten Zukunftsstudie waren: Wie wird der weltweite Chemiemarkt im Jahr 2030 aussehen? Und wie stellt sich die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland darauf ein? 4 Dynamisches Wachstum der globalen ­Chemienachfrage Die Weltwirtschaft wird in den kommenden Jahren ihre der­ zeitige Schwächephase überwinden. Nach den aktuellen Pro­ jektionen wächst die Weltwirtschaft bis 2030 durchschnittlich um 2,5 Prozent pro Jahr. Das ist in etwa die gleiche Dynamik wie im Zeitraum von 2000 bis 2013 – auch wenn dieser Ver­ gleich wegen der Finanzkrise relativiert werden muss. Allerdings haben sich die Aussichten gegenüber der Vor­ gängerstudie leicht eingetrübt. Die Weltwirtschaft wird weniger stark zulegen als noch in der ersten Studienfassung prognos­ tiziert (+ 3,0 Prozent). Vor allem das langfristige Wachstumspo­ tenzial für China und viele Schwellenländer hat sich nach den neuen Berechnungen abgeschwächt. Auch für die USA geht die aktualisierte Studie nun von niedrigeren BIP-Zuwächsen aus. In den betroffenen Ländern haben sich auch die Wachs­ tumschancen für die Industrie und damit der Bedarf an Ma­ schinen und Chemikalien abgeschwächt. Deutschland kann bis 2030 von der weltwirtschaftlichen Dynamik profitieren. Die gesamte Wirtschaftsleistung (BIP) steigt bis 2030 um 1,3 Prozent pro Jahr. Den mit Abstand größten Wachstumsbeitrag liefert zukünftig der private Konsum. Er löst den Außenhandel als Wachstumsmotor der deutschen Volkswirtschaft ab. Auch die Investitionsschwäche wird allmählich überwunden. Die Industrieproduktion kann mit 1,4 Prozent pro Jahr etwas stärker zulegen als das BIP. Die wesentlichen Wachstumstreiber sind in den einzelnen Regionen unterschiedlich: Während in den Schwellenländern das Bevölkerungswachstum, der Wohlstand und damit auch die Nachfrage nach Alltagsprodukten zunehmen, gewinnen in den Industrieländern Themen wie Energieeffizienz, Umwelt­ schutz und regenerative Energien als Treiber an Bedeutung. Die veränderte Nachfragestruktur führt zu einem kräftigen Wachstum der Industrieproduktion und infolgedessen auch zu einer steigenden Nachfrage nach Chemikalien. Die gute Nachricht der Studie lautet daher: Die Chemie ist ein dynamischer Wachstumsmarkt. Im Prognosezeitraum steigt die globale Chemienachfrage um 3,4 Prozent und damit schneller als die Industrieproduktion (3,2 Prozent) oder die Gesamtwirtschaft (2,5 Prozent). Zukunftschancen für die deutsche Chemie Der weltweite Chemiemarkt ist bis 2030 ein ­d ynamischer Wachstumsmarkt. Er bietet Chancen für die deutsche chemischpharmazeutische Industrie, an die Erfolge der ­Vergangenheit anschließen zu können – sofern die energiepolitischen Rahmenbedingungen in Deutschland und Europa die Wett­ bewerbsfähigkeit der Branche nicht weiter schwächen. Der Wettbewerb nimmt an Intensität zu. Deshalb muss die Branche ihre Produktion in Zukunft noch stärker als bisher auf forschungsintensive Spezialchemikalien und Pharmazeutika ausrichten, um ihren Wettbewerbsvorteil zu halten und aus­ zubauen. Sie wird den technologischen Fortschritt voran­ treiben und auch die Chancen der Digitalisierung nutzen. Die deutsche Chemie kann mit hochwertigen Lösungen für an­ spruchsvolle Kunden im Inland und allen Auslandsmärkten punkten. Sie wird dadurch auch künftig weiter wachsen – in Executive Summary einem Verbund von Pharma, Basis- und Spezialchemie. Nach den neuen Berechnungen wächst die deutsche Chemiepro­ duktion im Prognosezeitraum um 1,5 Prozent pro Jahr. Im Vergleich zur Vorgängerstudie fällt das Wachstum damit leicht niedriger aus. Grund hierfür ist vor allem die schwächere Dynamik auf wichtigen Auslandsmärkten. In der Basischemie hat sich darüber hinaus das Wettbewerbsumfeld stark verändert. Die im internationalen Vergleich hohen Rohstoff- und Energie­ kosten führen dazu, dass die deutsche Basischemie die Welt­ märkte nicht vom Standort Deutschland aus beliefern kann. Der Produktionsverbund, eine der zentralen Stärken der deut­ schen Chemie, bleibt aber erhalten. Der deutsche und euro­ päische Chemiemarkt wird auch zukünftig mit Basischemikalien aus deutscher Produktion beliefert. Rohstoffbasis verändert sich Fossile Rohstoffe – darunter vor allem das Erdölderivat Naphtha – werden bis 2030 der wichtigste Ausgangsstoff für die Branche bleiben. Ihr Anteil an der Rohstoffbasis schwächt sich aber leicht ab. Demgegenüber steigt der Anteil nach­ wachsender Rohstoffe von derzeit 13 auf 18,5 Prozent (2030). Um nachwachsende Rohstoffe stärker als heute in die Produktion zu integrieren, sind erhebliche Forschungsan­ strengungen nötig. Im Zusammenspiel mit anderen Industrien müssen hierzu neue Wertschöpfungsketten aufgebaut ­werden. Diese Entwicklung ist aufwändig und geht nicht so schnell voran wie von vielen erhofft. Gerade in der Basischemie erscheint zum jetzigen Zeitpunkt eine signifikante Substitution der ­fossilen Rohstoffe durch nachwachsende Rohstoffe bis zum Jahr 2030 wenig wahrscheinlich. Die Verfügbarkeit und der Preis von nachwachsenden Rohstoffen bleiben wegen der Nutzungskonkurrenz (Ernährung vs. Rohstoff) auch zukünftig die limitierenden Faktoren. Forschungsausgaben steigen Forschung und Entwicklung sind nicht nur für die Ver­ änderung der Rohstoffbasis nötig. Besonders der globale Wettbewerb erfordert in Zukunft ein insgesamt höheres ­Innovations­tempo. Hinzu kommt der steigende Bedarf an forschungs­intensiven Spezialchemikalien. Daher wird die Branche ihre Forschungsausgaben von 10 Milliarden Intrinsische Stärken und gute Industriepolitik gefragt Die Aktualisierung der 2030-Studie zeigt: Deutschland bleibt auch in Zukunft einer der bedeutendsten Chemiestandorte der Welt. Diese Perspektive muss aber strategisch erarbeitet werden. Die Komponenten einer erfolgversprechenden Strategie für die Branche lauten: Chancen der Globalisierung nutzen, auf Spezialchemikalien und Pharma fokussieren, Innovationsoffensive starten, Ressourceneffizienz erhöhen, Rohstoffbasis diversifizieren und Produktivität steigern. Die zweite Voraussetzung dafür, dass sich die deutsche Chemie auf den globalen Märkten mit ihren Produkten durchsetzen kann, sind die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Zwar sind in Brüssel und Berlin mit der Initiative „Better Regulation“ oder dem Bündnis „Zukunft der Industrie“ durchaus positive Ansätze erkennbar. Aber darüber hinaus hat sich das politische Umfeld für industrielle Produktion kaum verbessert. Insbesondere die Energie- und Klimapolitik bleibt die Euro (2013) auf 16,5 Milliarden Euro im Jahr 2030 erhöhen. Der Anstieg fällt niedriger aus, als in der Vorgängerstudie erwartet worden war. Das liegt an dem insgesamt langsameren Wachstum der Chemieproduktion in Deutschland und an dem steigenden Wettbewerbsdruck auf den Forschungs­s tandort. Andere Regionen und auch die Schwellenländer investieren stark in ihre Chemieforschung. In einigen Kundenbranchen verlagern sich die Produktions- und Forschungs­zentren immer stärker nach Asien. Die deutsche Chemieforschung folgt in Teilen dieser Entwicklung. Investitionszurückhaltung in der Chemie Das langfristige Trendwachstum der Investitionen der deutschen Chemie ist niedrig. Seit 1991 stiegen die Investitionen in Anlagen und Gebäude der Branche um durchschnittlich nur 0,2 Prozent pro Jahr – real gingen die Investitionen sogar um jährlich 1,6 Prozent zurück. Die Gründe sind vielschichtig: In den letzten Jahren hat die chemisch-pharmazeutische ­Industrie zum einen erhebliche Effizienzgewinne verzeichnet, was Produktionswachstum mit weniger Investitionen ermög­ lichte. Zum anderen vollzog sich die zunehmende Spezialisierung von der kapitalintensiven Basischemie zu anderen Sparten, die weniger Sachanlageinvestitionen benötigen. Hauptursache der Investitionszurückhaltung waren aber die im internationalen Vergleich hohen Energie- und Roh­ stoffpreise. Diese sind gerade in der ­energieintensiven Chemie­industrie ein wichtiger Standortfaktor. Die Investitions­ entscheidungen der Unternehmen fielen daher oftmals zugunsten ausländischer Standorte aus. So stiegen die Investi­ tionen im Ausland seit vielen Jahren deutlich dynamischer als die Investitionen im Inland. Seit 2012 investiert die deutsche Chemie sogar überwiegend im Ausland. Grundlegende Änderungen der Energie- und K ­ limapolitik zeichnen sich weder in Berlin noch in Brüssel ab. Insofern werden die Unternehmen in Deutschland auch zukünftig höhere Energie- und Rohstoffkosten schultern müssen als viele Wettbewerber. Häufig wechselnde energiepolitische Vorgaben und unzählige staatliche Eingriffe in den Energie­ markt erzeugen eine anhaltend hohe Planungsunsicherheit in den Unternehmen – und damit Zurückhaltung bei Investitio­ nen. Diese wird sich im Prognosezeitraum fortsetzen. Achillesferse der deutschen Industrie. Denn Energiekosten sind ein wichtiger Faktor im globalen Standortwettbewerb. Die Nachteile des Standorts Deutschland bei den Energie- und Rohstoffkosten im Prognosezeitraum dämpfen die Entwicklungsmöglichkeiten für die deutsche Chemieindustrie. Eine sichere und bezahlbare Energieversorgung ist eine Zukunftsfrage für den Industriestandort. Daher plädiert der VCI für eine grundlegende Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes in der nächsten Legislaturperiode, die Ausbau und Preise wirtschaftlich und kosteneffizient gestaltet. Handlungsbedarf für die Politik besteht auch beim Thema Innovationsfähigkeit. Die VCI-Studie „Innovationen den Weg ebnen“ hat gezeigt, dass es eine Reihe von externen Hemmnissen gibt, die den Weg innovativer Produkte vom Labor zum Markt unnötig erschweren. Hier messbare Fortschritte zu erreichen zahlt sich für Unternehmen und Kunden aus. 5 Einleitung Einleitung Die chemische Industrie1 ist eine Schlüsselindustrie. Sie steht mit einem Großteil ihrer Produkte am Anfang vieler Wert­ schöpfungsketten. Die Branche entwickelt Materialien für winzige Chips, die Smartphones oder Computer zu Höchstleistungen antreiben. Sie erzeugt Baustoffe für Häuser und Gebäude und entwickelt Medikamente. Das Bild moderner Fernseher wäre ohne die von der chemischen Industrie hergestellten Flüssig­ kristalle längst nicht so scharf. Dank der Chemie bringen Windräder und Solaranlagen sauberen Strom, werden Autos und Flugzeuge immer leichter und Sportgeräte wie Skier oder Fahrräder leistungsfähiger und sicherer. Daher gilt: Den Wetter­ bericht über das Smartphone checken, eine Kopfschmerztab­ lette nehmen, in den Urlaub fliegen oder daheim die Bundesliga in HD-Auflösung schauen? Ohne Chemie? Unmöglich! Über 80 Prozent der Erzeugnisse der deutschen Chemie gehen an industrielle Kunden. Die Branche ist damit Ausgangs­ punkt und Innovationsmotor für viele Wertschöpfungsketten im In- und Ausland. Chemieunternehmen arbeiten mit Ma­ schinenbau, Elektroindustrie, Bauwirtschaft und Fahrzeugbau eng zusammen. Diese Partnerschaft führt zu hoher Leistungs­ fähigkeit und Produktqualität. Die Stärke des Industrienetz­ werkes macht Deutschland zu einer führenden Exportnation. In diesem System spielt die Chemie als Lieferant hochwertiger Lösungen eine zentrale Rolle für alle genannten Branchen. Kaum eine andere Industrie bietet ein so großes Produkt­ spektrum. In Deutschland entfällt rund ein Drittel der P ­ roduktion auf Basischemikalien. Hierzu zählen Düngemittel, Industrie­ gase und andere anorganische Grundstoffe ebenso wie Primär­ chemikalien (z.B. Ethylen, Propylen oder Benzol), organische Zwischenprodukte und Standardpolymere. Spezialchemikalien stellen mit knapp 40 Prozent den größten Anteil an der deut­ schen Chemieproduktion. Zur Spezialchemie gehören Farben und Lacke, Pflanzenschutzmittel, Spezialkunststoffe, Additive wie beispielsweise Flammschutzmittel, UV-Schutzlacke und Lebensmittelzusatzstoffe, Klebstoffe, Seifen, Wasch- und Rei­ nigungsmittel sowie Kosmetika. Über ein Viertel der Chemie­ produktion entfällt auf Pharmazeutika für Mensch und Tier. Eine enge Verknüpfung zwischen Pharma, Spezial- und Basi­schemie gibt es nicht nur auf der gemeinsamen Grundlage von Molekülen für Wirk- und Werkstoffe. Sie besteht auch aus ­intensiven Geschäftsbeziehungen der Unternehmen. Ohne die Produkte der Basischemie würden Pharma und Spezialche­ mie in Deutschland schwieriger an Rohstoffe gelangen. An­ dererseits ist die Basischemie auf die anderen Sparten als verlässliche Kunden angewiesen. Die breite Aufstellung der deutschen Chemie, die Chemieparks, in denen Verbund- und Synergieeffekte über Unternehmensgrenzen hinweg intensiv genutzt werden, und nicht zuletzt enge Lieferbeziehungen mit nahezu allen Industriebranchen gehören zu den herausragen­ den Stärken des Chemiestandorts Deutschland. Das Konzept der Chemieparks – eine deutsche Erfindung – steigert zudem die Effizienz der Produktion. Der Standort­ betreiber kümmert sich um zentrale Umweltschutzeinrichtungen und die komplette Infrastruktur für die ansässigen Unternehmen. Sein Service ermöglicht einen Verbund der Produktionsanlagen mit hoher Effizienz für Energie, Roh- und Reststoffe. 6 Als Grundstoffindustrie ist die Chemie energie- und roh­ stoffintensiv. Viele chemische Reaktionen erfordern hohe Temperaturen. Zudem benötigt die Branche viel Strom – nicht nur für elektrolytische Verfahren wie die Chlorproduk­ tion, sondern auch für den Betrieb der Produktionsanlagen. Ein ­Fünftel des Energiebedarfs des verarbeitenden Gewerbes ent­ fällt auf die Chemiebranche. Die chemische Industrie setzt Energie­träger auch als Rohstoff ein. Die Chemie baut größ­ tenteils auf Kohlenstoffverbindungen auf. Wichtigste Roh­ stoffquelle ist in Deutschland das Erdölderivat Rohbenzin (Naphtha). Darüber hinaus kommen Erdgas und nachwach­ sende Rohstoffe aus Biomasse zum Einsatz. Genauso vielfältig wie die Produkte sind die Unternehmen. In der öffentlichen Wahrnehmung dominieren die Weltkonzerne. Von den mehr als 2.000 Chemiebetrieben in Deutschland ist aber die überwiegende Mehrheit mittelständisch geprägt. Über 90 Prozent der Chemieunternehmen haben weniger als 500 Beschäftigte. Insgesamt stellen die rund 1.850 kleinen und mittleren Unternehmen weit über ein Drittel der Arbeits­ plätze in der Branche. Und sie sind erfolgreich mit ihrer Ge­ schäftsstrategie: Der Mittelstand trägt fast ein Drittel zum Gesamtumsatz der Branche bei. Einen derart leistungsstarken Mittelstand in der Chemie gibt es sonst nirgendwo auf der Welt. Mit ihren spezifischen Lösungen für die Kunden – vor allem Fein- und Spezialchemikalien – sind unsere mittelstän­ dischen Unternehmen den Wettbewerbern häufig einen Schritt voraus. Dadurch zählen sie nicht selten zu den globalen Marktführern auf ihrem Arbeitsgebiet. Gemeinsam tragen Großunternehmen und Mittelstand mit ihrem Umsatz und ihren Investitionen maßgeblich zum Wohlstand Deutschlands bei. Die Branche erwirtschaftet als drittgrößte Industrie in Deutschland rund 11 Prozent des deutschen Industrieumsatzes. Die Chemie ist kapitalintensiv. Nahezu 12 Prozent aller Investitionen der Industrie werden in der Chemie getätigt. Darüber hinaus ist die Chemieindustrie ein wichtiger Arbeitgeber. In der Chemie arbeiten rund 463.000 Personen.2 Die herausragende Stellung der deutschen Industrie in der Welt ist nicht zuletzt auf Deutschlands Stärke als For­ schungsstandort zurückzuführen. Durch kontinuierliche ­Produktund Prozessinnovationen konnte sich die deutsche ­Chemie seit mehr als 100 Jahren im internationalen Wettbewerb ­behaupten. Innovationen bleiben auch in Zukunft ein not­ wendiger Differenzierungsfaktor auf dem Weltmarkt. Als Zu­ lieferer für andere Branchen ist die chemische Industrie mit ihren Patenten, neuen Produkten, Verfahren und dem Anwen­ Unter dem Begriff „chemische Industrie“ wird in der vorliegenden Studie immer die gesamte chemisch-pharmazeutische Industrie verstanden. Alle Kennzahlen beziehen sich, falls nicht anders angegeben, auf die Gesamtchemie. 2 In diesem Bericht werden, falls nicht anders angegeben, Kennzahlen des Prognos-Modells verwendet. Die Daten stammen aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR). Die Wertangaben sind real (in Preisen und Wechselkursen von 2010). Dadurch kann es zu Abweichungen einzelner Kennzahlen von der VCI-Berichterstattung kommen. 1 Einleitung dungs-Know-how ein Innovationsmotor mit hohem Multipli­ katoreffekt. Die Chemie (ohne Pharma) steuert jedes fünfte ­Patent mit branchenübergreifender Bedeutung in Deutschland bei. Sie entwickelt und verbessert beständig Materialien und innovative Vor- und Endprodukte. Mit der wachsenden Weltbevölkerung steigt auch der Bedarf an Produkten für klimaschonende Energieerzeugung, mehr Nahrung, sauberes Wasser, Medikamente, Kommunika­ tionsmittel und umweltgerechte Mobilität. Darauf richten die deutschen Chemieunternehmen ihre Geschäftsstrategie und Forschungsprojekte schon seit geraumer Zeit aus. Die che­ misch-pharmazeutische Industrie in Deutschland ist mit ihren Kompetenzen ein zentraler Innovationstreiber, solche globalen Herausforderungen für eine nachhaltige Entwicklung zu be­ wältigen. Gleichzeitig trägt unsere Initiative Chemie3 dazu bei, Nachhaltigkeit als gelebtes Leitbild in der gesamten Branche zu verankern. Wirtschaftlicher Erfolg, ökologische Verantwor­ tung und soziale Gerechtigkeit sind die Säulen, auf denen dieses Selbstverständnis ruht. Deutschland ist – gemessen am Umsatz – nach China, den USA und Japan die viertgrößte (2013) Chemienation der Welt. Chemische Erzeugnisse „Made in Germany“ sind weltweit gefragt. Die deutsche Chemieindustrie ist seit vielen Jahren Exportweltmeister. Die Branche erschließt die globalen Märkte nicht nur über Exporte, sondern auch über Produk­ tionsstätten in den meisten Ländern der Welt.3 Der globale Wettbewerb hat auch in der Chemie enorm Fahrt aufgenommen. In Asien forcieren China, Indien und Korea massiv den Ausbau von Forschung und Wissenschaft. Bereits heute kommen 40 Prozent aller chemischen Erfindun­ gen aus Asien. In den rohstoffreichen Ländern entstehen Jahr für Jahr neue Produktionsanlagen vor allem in der Basische­ mie. Dadurch ergibt sich neue Konkurrenz für die traditionsreiche deutsche Chemie. Deutschland ist heute ein attraktiver und wettbewerbsfä­ higer Chemiestandort. Die Studie „Die Wettbewerbsfähigkeit des Chemiestandorts Deutschland im internationalen Ver­ gleich“4 des Wirtschaftsforschungsinstituts Oxford ­Economics zeigt aber, dass der Chemiestandort Deutschland seit 2008 an Wettbewerbsfähigkeit verloren hat. Das ist beunruhigend, weil dadurch das Wachstum gedämpft wird und Investitions­ entscheidungen zunehmend zugunsten ausländischer Stand­ orte getroffen werden. Und es stellt sich zunehmend die Frage, ob die deutsche Chemie bis 2030 in der Erfolgsspur bleibt. Ebenfalls beunruhigend ist, dass das Wachstum der deut­ schen Chemie in den zurückliegenden Jahren gering war. Nach der Weltwirtschaftskrise des Jahres 2008/2009 hat sich die deutsche Chemie zwar rasch wieder erholt. Aber seit 2011 konnte die Produktion kaum noch ausgeweitet werden. Kann diese Wachstumsschwäche in den kommenden Jahren über­ wunden werden? Und wenn ja, wie? Auch mit diesen Fragen beschäftigt sich die vorliegende Studie. Sie zeigt das langfris­ tige Wachstumspotenzial der Branche in Deutschland auf. Der vorliegende Bericht ist eine Aktualisierung der VCIPrognos-Studie „Die deutsche chemische Industrie 2030“5. Er berücksichtigt die aktuellen Entwicklungen nach 2011 wie bei­ spielsweise die Wachstumsabschwächung der Schwellenlän­ der oder den Preisverfall beim Rohöl. Die Studie bietet eine umfassende und konsistente Langfristprognose für die Welt­ wirtschaft, die Entwicklungen in Deutschland und Europa, den Strukturwandel in der Industrie bis hin zu den Entwicklun­ gen in einzelnen Chemiesparten. Die Prognose zukünftiger Entwicklungen bietet die Möglichkeit, Stärken und Schwä­­ chen der deutschen Chemie aufzudecken und Chancen und Risiken für die Branche zu identifizieren, die sich aus grundle­ genden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Entwicklungen ableiten. Neben den Ergebnissen ist uns das vertiefte Verständnis über Wirkungszusammenhänge wichtig. Die Erstellung eines Zukunftsszenarios ist immer eine „Wenn-dann“-Analyse. In der vorliegenden Studie wurde zunächst nur das Basisszenario aktualisiert. Hierin ist die Kon­ stellation von Faktoren für das Chemiegeschäft unterstellt, die VCI und Mitgliedsunternehmen für die wahrscheinlichste halten. Je nachdem, welche Annahmen man für die Ent­ wicklung der wichtigen Treiber des Chemiegeschäfts trifft, ergeben sich abweichende Szenarien. Bereits das Basisszenario zeigt einen großen Handlungs­ bedarf für die Akteure auf. Denn Unternehmen, Gesellschaft und die Politik gestalten die Zukunft der Chemieindustrie in Deutschland. Die Studie soll hierfür einen Orientierungsrah­ men geben. Unternehmerische Entscheidungen, beispiels­ weise über Forschungsschwerpunkte oder Investitionen, werden auf Grundlage von Erwartungen über die Zukunft ge­ troffen. Eine fundierte Langfristprognose bildet daher den notwendigen Rahmen für die Optimierung der strategischen Ausrichtung der Unternehmen. Gleichwohl geht der Anspruch der Studie über die Branche hinaus: Wir wollen auf Basis der Ergebnisse auch Politik und Gesellschaft zu einem Dialog über die Zukunft Deutschlands einladen. Die heute getroffe­ nen politischen Entscheidungen werden sich auf die gesamte Wirtschaft und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen In­ dustrie auswirken. Vor diesem Hintergrund leistet der VCI mit der aktuellen Studie einen Beitrag, der durch fundierte Argu­ mente und Zahlen zum Dialog über die Zukunft Deutschlands anregt. Die Kennzahlen in dieser Studie beziehen sich – falls nicht anders angegeben – auf die in Deutschland produzierenden Chemieunternehmen. Die ausländischen Töchter deutscher Chemieunternehmen sind nicht eingerechnet. Aussagen zur Wettbewerbsfähigkeit beziehen sich immer auf den Chemie­ standort Deutschland und nicht auf die Unternehmen. 4 „Die Wettbewerbsfähigkeit des Chemiestandorts Deutschland im internationalen Vergleich“, VCI 2014, abrufbar unter https://www.vci.de/vci/downloads-vci/publikation/bericht-zurvci-oxford-economics-studie-wettbewerbsfaehigkeit-chemie­ standort-deutschland.pdf, „Evolution of competitiveness in the German chemical industry: historical trends and future prospects“, Oxford Economics 2014, abrufbar unter https:// www.vci.de/vci/downloads-vci/publikation/vci-oxford-economicsreport-evolution-of-competitiveness-in-german-chemicalindustry.pdf 5 „Die deutsche chemische Industrie 2030“, VCI 2013, abrufbar unter https://www.vci.de/vci/downloads-vci/publikation/langfassung-prognos-studie-30-01-2013.pdf 3 7 8 Weltwirtschaftliches Umfeld Weltwirtschaftliches Umfeld Wie sich die chemische Industrie in Deutschland bis zum Jahr 2030 entwickelt, wird maßgeblich von den weltwirt­ schaftlichen Entwicklungen und den wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen mitbestimmt. Treiber für die Entwick­ lung sind Megatrends, die nicht zwangsläufig ökonomischer Natur sein müssen. Ohne ein Wissen und eine Einschätzung darüber, in welche Richtung sich die zentralen Treiber entwi­ ckeln werden, ist ein Ausblick auf die zukünftigen Entwick­ lungen nicht möglich. Im Folgenden werden daher zunächst die globalen Megatrends aufgezeigt, bevor die daraus resul­ tierende Entwicklung der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft dargestellt wird. Die globalen Megatrends Häufig werden Prognosen durch unwahrscheinliche, aber in ihrer Wirkung extreme Ereignisse wie Naturkatastrophen, kriegerische Auseinandersetzungen oder technologische Sprünge überholt. Dennoch erlauben langfristige Entwick­ lungstendenzen wichtiger ökonomischer Rahmendaten empi­ risch gestützte Aussagen über die Zukunft. Für die Prognose wurden auf Grundlage aktueller Trends, sich abzeichnender Entwicklungen, vorhandener Studien und Expertenwissen An­­ nahmen zu der Entwicklung der zentralen Treiber – Demogra­ fie, Globalisierung, Technologie und Humankapital, Energie und Ressourcen, Umwelt und Klima sowie Staatsfinanzen und Konsolidierung – getroffen. Im Ergebnis zeigen sich sechs Megatrends, die die Entwicklung der Weltwirtschaft in den kommenden Jahren maßgeblich beeinflussen werden. WACHSENDE UND ALTERNDE WELTBEVÖLKERUNG Das globale Bevölkerungswachstum bleibt in den kom­ menden Jahren ein zentraler Wachstumstreiber für die Welt­ wirtschaft. Bis zum Jahr 2030 steigt nach Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) die Weltbevölkerung von 7,2 Milli­ arden in 2013 auf 8,5 Milliarden Menschen. Dies entspricht einem jährlichen Wachstum von 1 Prozent. Entsprechend ­d ynamisch wird die weltweite Nachfrage nach Nahrung, Gütern und Dienstleistungen zulegen. Gleichzeitig wächst auch das globale Arbeitskräfteangebot. Allerdings fällt dieser Zuwachs aufgrund der gleichzeitigen Alterung der Welt­ bevölkerung weniger stark aus. Dynamik und Divergenz prägen die weltweiten demogra­ fischen Entwicklungen im 21. Jahrhundert: Das globale Bevöl­ kerungswachstum bis 2030 beruht beinahe zu 90 Prozent auf der Bevölkerungsentwicklung der Schwellenländer in Afrika und Asien. Besonders dynamisch wächst die Bevölkerung in Indien. Bis 2030 wird die indische Bevölkerung um jährlich 1 Prozent zulegen und damit auf gut 1,5 Milliarden Menschen anwachsen. Demgegenüber schwächt sich das Bevölkerungs­ wachstum in China infolge der Ein-Kind-Politik deutlich ab. Über den gesamten Prognosezeitraum wächst die chinesische Bevölkerung nur noch um 0,3 Prozent pro Jahr. Infolge dieser gegen­läufigen Entwicklungen löst Indien China im kommen­ ABB. 1: WELTBEVÖLKERUNG WÄCHST – LEBENSERWARTUNG STEIGT Bevölkerung im Jahr 2030, in Millionen schnell 53,0 Bevölkerung altert 37,5 19,8 43,7 222,7 121,0 10,1 40,2 1.453,3 9,7 358,8 70,7 79,3 86,8 133,8 144,0 70,7 langsam 65,1 46,9 1.476,3 58,1 -1,0 Bevölkerung schrumpft -0,5 0,0 0,5 Bevölkerungsveränderung 2013–2030 in Prozent pro Jahr 1,0 1,5 Bevölkerung wächst In allen Ländern steigt die Lebenserwartung und damit der Anteil der Personen über 64 Jahre. Die Weltbevölkerung wächst vor allem in den Schwellenländern. In Griechenland, Japan, Russland, Polen, Portugal, Spanien und Deutschland schrumpft die Bevölkerung. Quelle: Vereinte Nationen 2015 9 Weltwirtschaftliches Umfeld den Jahrzehnt als bevölkerungsreichstes Land der Erde ab. Russland bildet unter den Schwellenländern eine Ausnahme. Die russische Bevölkerung schrumpft, so dass 2030 deutlich weniger Menschen in Russland leben werden als noch im Jahr 2013. In den Industrieländern 6 stagniert die Bevölkerungs­ entwicklung nahezu (+ 0,2 Prozent p.a.). Insgesamt wird der Anteil der Menschen, die in Industrieländern leben, von heute 17 Prozent auf 15 Prozent im Jahr 2030 zurückgehen. Inner­ halb der Gruppe der Industrieländer zeigen sich große Un­ terschiede in der Bevölkerungsentwicklung. Vor allem die Vereinigten Staaten, aber auch Australien, die Schweiz oder Norwegen zeichnen sich durch einen deutlichen Bevölke­ rungszuwachs aus. Insbesondere aufgrund der hohen Zu­ wanderungszahlen wächst die Bevölkerung der USA bis 2030 um jährlich 0,7 Prozent. Die Bevölkerung der Europä­ischen Union wird hingegen nur um 0,1 Prozent pro Jahr wachsen können. In Japan schrumpft die Einwohnerzahl sogar über den gesamten Prognosezeitraum. 2030 werden dort 6,3 Millionen Menschen weniger leben als heute. Im Zuge einer zunehmenden Lebenserwartung wird die Weltbevölkerung insgesamt altern. Heute leben rund 840 Millionen Menschen auf der Erde, die älter als 60 Jahre sind. Dies entspricht einem Anteil von knapp 12 Prozent an der gesamten Weltbevölkerung. Bis 2030 wird dieser Anteil auf 16,5 Prozent ansteigen. Damit werden dann 1,4 Milliar­ den Menschen älter als 60 Jahre sein. Nicht nur beim Be­ völkerungswachstum, sondern auch bei der Alterung der Bevölkerung zeigen sich große regionale Unterschiede: Vor allem in den Industrieländern, aber auch in China wird die ­Bevölkerung schnell altern, während in den anderen Entwick­ lungs- und Schwellenländern der Anteil älterer Menschen deutlich langsamer steigt. Unter dem Strich lässt sich festhalten, dass die Bevölke­ rung in Ländern mit hohem Wohlstandsniveau schneller altert und kaum noch wächst, während in den Entwicklungs- und Schwellenländern die Bevölkerung kaum altert und rasant wächst. Die Industrieländer stehen daher vor der Heraus­ forderung, dass das Arbeitskräftepotenzial sinkt und ein Fachkräftemangel droht. Gleichzeitig müssen die sozialen Sicherungssysteme (Alterssicherung, Gesundheitssystem, Pflege) stark zunehmende Lasten bewältigen. In den Ent­ wicklungs- und Schwellenländern hingegen wird es immer schwieriger, die Versorgung der Menschen mit Gütern und Dienstleistungen sicherzustellen. Noch schwieriger ist es, für die wachsende Bevölkerung ausreichend Jobs zu schaffen. Vor diesem Hintergrund wird das Nord-Süd-Gefälle bei den Pro-Kopf-Einkommen weitgehend bestehen bleiben. Das Wohlstandsgefälle, kriegerische Auseinandersetzun­ gen und die unterschiedliche Bevölkerungsdynamik werden in den kommenden Jahren weiterhin Migrationsbewegungen auslösen, deren Richtung und Stärke sich nur schwer prognos­ tizieren lässt. Deutschland konnte in den letzten Jahren seine Attraktivität als Zuwanderungsland steigern, wenngleich ein Teil der hohen Zuwanderung in den vergangenen Jahren auch der sich nun langsam stabilisierenden Wirtschaftskrise im Euroraum geschuldet war. Auch in den Jahren bis 2030 kann der durch die niedrigen Geburtenraten verursachte Bevölke­ rungsrückgang durch Migration abgeschwächt werden. Damit haben sich die Perspektiven gegenüber der Ausgangsstudie 10 deutlich verändert. Die jüngsten bedeutsamen Flüchtlings­ ströme sind allerdings in den Bevölkerungsprognosen noch nicht enthalten. Die Auswirkungen der Flüchtlingskrise auf die Entwicklung in Deutschland konnten daher im Rahmen dieser Studie noch nicht quantifiziert werden. Aus heutiger Sicht ist es aber wenig wahrscheinlich, dass sich im Hinblick auf das Arbeitskräftepotenzial die grundsätzlichen heute erkennbaren Entwicklungstendenzen ändern. Insgesamt wirkt sich die steigende Weltbevölkerung positiv auf das Wachstum der Weltwirtschaft aus. In den Schwel­len­ ländern werden mehr Menschen leben und k­ onsumieren, gleichzeitig aber auch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Die Industrieländer profitieren ihrerseits von dieser Entwicklung, da sie zunehmend mehr in diese Re­gionen ­exportieren und von dort günstigere Vorleistungen importieren können. Gleichzeitig kann die Einwanderung aus den Schwel­ lenländern dem drohenden Fachkräftemangel entgegenwirken. GLOBALISIERUNG VERLIERT AN TEMPO Die Globalisierung war in den beiden zurückliegenden Jahrzehnten einer der stärksten Treiber für eine prosperie­ rende Weltwirtschaft. Die internationale Arbeitsteilung nahm seit Mitte der 90er Jahre rasant zu. Der globale Handel wuchs von 2000 bis 2013 mit durchschnittlich rund 4,5 Prozent pro Jahr deutlich dynamischer als die Weltwirtschaft (2,5 Prozent p.a.). Diese Entwicklung war durch fünf Sonderfaktoren be­ günstigt: die AA Integration Chinas in die Weltwirtschaft, Transformation des ehemaligen Ostblocks, den durch den Industrialisierungsprozess der Schwellenlän­ AA der hervorgerufenen Ressourcenhunger, den durch Rohstoffexporte ausgelösten Reichtum der Roh­ AA stoffländer, den Abbau von Handelsschranken und Kapitalverkehrskon­ AA trollen. die AA Nach der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 hat sich der Welthandel von den Rückschlägen zwar wieder rasch erholt. Seither wuchs er aber nur noch geringfügig schneller als die Weltwirtschaft. Das zeigt sich auch im Chemiegeschäft, denn das Verhältnis aus Weltchemiehandel und Weltchemieumsatz stagniert seit einigen Jahren. Die lokale Produktion gewinnt mit der Industrialisierung der Schwellenländer an Bedeutung, weil sich internationale Lohnpreisdifferenzen weiter angegli­ chen haben. Zudem sinken die Transportkosten kaum noch und für innovative Produkte wird die Nähe zum Kunden zu­ nehmend wichtiger. Die Handelspolitik spielt auch zukünftig eine wichtige Rolle. Allerdings wird der Abbau von Handelshemmnissen und Kapitalverkehrskontrollen im Vergleich zu den vorangegan­ genen Jahrzehnten insgesamt deutlich an Dynamik verlieren. Unter Industrieländern werden in der Studie im Wesentlichen die „advanced economies“ im Sinne der Definition des International Monetary Fund (https://www.imf.org/external/pubs/ft/ weo/2015/02/weodata/groups.htm) verstanden. China zählt hingegen in der Studie zu den Schwellenländern. Weitere Länder in dieser Gruppe sind: Argentinien, Brasilien, Chile, Indien, Mexiko, Russland, Südafrika und die Türkei. 6 Weltwirtschaftliches Umfeld Die Wahrscheinlichkeit einer umfassenden multilateralen Han­ delsliberalisierung und einer substanziellen Weiterentwick­ lung der Welthandelsordnung ist gesunken. Gründe hierfür liegen in einer zunehmend multipolaren Weltwirtschaft ei­ nerseits und der Erweiterung des handelspolitischen Spiel­ feldes um nichtökonomische Dimensionen andererseits. Vor diesem Hintergrund wurde bis 2030 nur eine graduelle Weiterentwicklung des internationalen Handelsregimes un­ terstellt. Diese wird von vier Phänomenen begleitet, die in un­ terschiedlicher Richtung auf den Welthandel wirken: Regionale AA Integrationsbemühungen werden – zum Teil er­ folgreich – zunehmen. Während im asiatisch-pazifischen Raum durch neue Abkommen pragmatisch die Integration vertieft werden wird, droht die EU hier ins Hintertreffen zu geraten, weil die Vorteile einer stärkeren wirtschaftlichen ­Integration im gesellschaftspolitischen Diskurs nicht hinrei­ chend priorisiert werden. Die Abschwächung des Wachstums in den Industrie- und AA einigen Schwellenländern, die Schwäche der multilateralen Institutionen sowie die stärkere Gewichtung ökologischer gegenüber ökonomischen Zielen werden sich in protekti­ onistischen Tendenzen manifestieren. Auch wenn es keine Protektionismus-Spirale wie in den 1930er Jahren geben dürfte, wird sich dies bremsend auf den Freihandel auswir­ ken. Der technologische Wandel insbesondere durch die Digi­ AA talisierung wird dazu führen, dass verstärkt Wissen sowie Daten und Designs an Stelle von Fertigwaren gehandelt und zudem Investitionen an Gewicht gewinnen werden. Die daraus resultierende Verlangsamung der Handelsdynamik wird dabei mehr Komponenten- und Konsumgüterhersteller und weniger Materialtechnologien wie die Chemie betref­ fen. Hier könnte der Handel durch die Digitalisierung sogar zunehmen – so wäre z.B. eine additive Fertigung auf hoch­­ wertige Materialien angewiesen. Aber die genauen Effekte sind noch mit hoher Unsicherheit behaftet. ABB. 2: GLOBALISIERUNG VERLIERT AN SCHWUNG Anteil des weltweiten Handels (Exporte und Importe) am globalen BIP in Prozent, CAGR 2000–2013 und 2013–2030 70 65 +0,8% 60 55 +2,0% 50 45 0 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 Die Globalisierung wird sich fortsetzen. Auch in Zukunft wächst der Handel stärker als die globale Wirtschaftsleistung. Aber die Bedeutung des Welthandels als Wachstumstreiber der Welt­ wirtschaft wird abnehmen. Die AA Weltordnung befindet sich im Umbruch. Es besteht die große Gefahr, dass sich Staaten oder gar Regionen zu­ nehmend in Kriege und Bürgerkriege verwickeln oder sich „failed states“ politisch wie auch wirtschaftlich isolieren und weitgehend abseits vom internationalen Handelssystem stehen. Dies hätte zur Folge, dass die Bedeutung dieser Länder oder Regionen am Welthandel – als Kunden und ­Lieferanten – sinkt. Diese Gefahr ist insbesondere im Nahen Osten und in Teilen Afrikas am größten. Im Vergleich zur multilateralen Handelsliberalisierung AA spielen zwischenstaatliche Handelsabkommen auch zukünf­ tig die größere Rolle (TTIP, CETA, TPP, diverse asiatische Freihandelsabkommen etc.). Derzeit lässt sich das Ergebnis der Verhandlungen zum transatlantischen Freihandelsab­ kommen noch nicht vorhersehen. Der Widerstand gegen einzelne Teilbereiche des Verhandlungspaketes ist groß. Im Rahmen der Studie haben wir unterstellt, dass die Ver­ handlungen erfolgreich abgeschlossen werden. Dadurch werden die Handelsbeziehungen zwischen den USA und der EU belebt und das Wirtschaftswachstum gestärkt. Aller­ dings wird es voraussichtlich im Bereich der regulatorischen Kooperation und des Abbaus nichttarifärer Handelshemm­ nisse nur kleine Fortschritte geben, so dass ökonomische Potenziale ungenutzt bleiben. In der Summe erwarten wir, dass der globale Handel mit Waren und Dienstleistungen weiterhin schneller wachsen wird als die weltweite Wirtschaftsleistung. Im Zeitraum 2013 bis 2030 wachsen die weltweiten Exporte um durchschnittlich 3,6 Prozent pro Jahr. Der Prozess der Globalisierung setzt sich damit fort. Das relative Expansionstempo (Welthandel/WeltBIP) wird jedoch nicht mehr an Größenordnungen anknüpfen, wie sie in den Jahren vor der Finanzkrise üblich waren. Die ­Bedeutung des Welthandels als Wachstumstreiber der Welt­ wirtschaft nimmt ab. SCHNELLERE VERBREITUNG VON TECHNOLOGIEN UND WISSEN Der technologische Fortschritt und die Zunahme des Wissens bleiben wichtige Treiber für die weltwirtschaftliche Entwicklung. Technologische Innovationen diffundieren im Zuge einer zunehmenden weltweiten Arbeitsteilung und der Digitalisierung immer schneller um den gesamten Erdball. Keinem Land wird es gelingen, über eine längere Zeitspanne einen technologischen Vorsprung aufrechtzuerhalten. Innova­ tionen werden so das Wachstum der Weltwirtschaft in vielen Ländern fördern. Der technologische Entwicklungsstand steigt im Progno­ sezeitraum stetig. Die Digitalisierung (u.a. auch Industrie 4.0 genannt) ist einer der mächtigsten Treiber hinter dieser Ent­ wicklung. Ihre Bedeutung nimmt in sämtlichen Lebens- und Wirtschaftsbereichen zu. Auch in der Chemie steht ein umfas­ sender Strukturwandel bevor. Durch die Digitalisierung werden disruptive Innovationen möglich, die das Potenzial haben, bewährte und erprobte Geschäftsmodelle zu erweitern oder aber auch zu ersetzen. Das Wettbewerbsumfeld wird sich aufgrund beschleunigter Innovationszyklen und neuer Wett­ bewerber verschärfen. Letzteres ist bereits heute zu beobachten. Gleichzeitig ermöglichen neue Technologien die Opti­ mierung von Prozessen, die Erschließung neuer Geschäfts­ felder und die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. In der 11 Weltwirtschaftliches Umfeld ABB. 3: SCHWELLENLÄNDER WERDEN INNOVATIVER Anteile der Industrie- und Schwellenländer an den gesamtwirtschaftlichen realen FuE-Ausgaben in Prozent Schwellenländer Industrieländer 70,4% 83,0% 93,3% 29,6% 17,0% 6,7% 2000 2013 2030 Der Innovationswettbewerb der Länder wird an Intensität gewinnen. In Zukunft werden Forschung und Entwicklung nicht mehr nur eine Domäne der Industrieländer sein. Auch die Schwellenländer verstärken ihre FuE-Anstrengungen. schulausbildung sowie über eine betriebliche Ausbildung, die die Qualifizierung von Fachkräften sichert. Im Prognosezeitraum erhöht sich hierzulande die Bildungs­ beteiligung und die Durchlässigkeit des Bildungs­systems nimmt zu. Das bedeutet, der Anteil der ­Hochschulabsolventen und hochqualifizierten Facharbeiter steigt, die Abbrecher­ quote sinkt und die Mitarbeiter werden für lebenslanges Lernen sensibilisiert. Zusätzliches Potenzial wird durch die stärkere Integration von Frauen und älteren Personen in den Arbeitsmarkt generiert. Eine moderate Zuwanderung von Fachkräften wird in den kommenden Jahren die Leistungsfä­ higkeit in Deutschland stärken. Allerdings ist für den Prognosezeitraum auch unterstellt, dass Deutschland seine staatliche Forschungsförderung nicht ausdehnen wird. Die Hightech-Strategie konzentriert sich wei­ terhin auf die Projektförderung, die ohne umfangreiche Auf­ stockung fortgeführt wird. Zusätzliche Anreize für erhöhte FuE-Ausgaben unterbleiben. Eine steuerliche Forschungs­ förderung ist im Prognosezeitraum nicht unterstellt. Unter diesen Annahmen wird der gesamtwirtschaftliche FuE-Anteil am BIP auch 2030 noch bei knapp unter 3 Prozent liegen. KEIN ENGPASS BEI ENERGIE UND ROHSTOFFEN BIS 2030 Chemie ist davon auszugehen, dass insbesondere datenge­ steuerte Produktionsprozesse weiter ausgebaut werden. Die Digitalisierung wird zwar in der Chemie im Prognosezeitraum nicht zu technologischen Sprüngen führen. Vielmehr wird sich durch die stetige Verbreitung in den Unternehmen die Ge­ schwindigkeit technologischer Innovationen erhöhen. Die Folgen sind eine Zunahme der Arbeitsproduktivität und der Ressourceneffizienz sowie Güter und Dienstleistungen mit ­zunehmendem Kundennutzen. Die Beziehung der Chemiein­ dustrie zu ihren Abnehmern wird deutlich enger. Die Grenzen zwischen Produkt und Dienstleistung verschwimmen zuneh­ mend. Im Bereich der Agrochemie sind derartige hybride Angebote bereits Wirklichkeit. Die Industrieländer, allen voran die USA und die Länder der Europäischen Union, bleiben die Innovationsmotoren der Weltwirtschaft. Doch einige Schwellenländer, hier vor allem China, holen kräftig auf. Im Jahr 2000 kamen 93 Prozent der FuE-Aufwendungen aus den Industrieländern. 2013 waren es bereits 10 Prozentpunkte weniger. Am Ende des Progno­ sezeitraums werden schätzungsweise nur noch 70 Prozent der FuE-Aufwendungen von den Industrieländern erbracht werden. Über ein Fünftel der weltweiten Aufwendungen wird dann allein aus China kommen. China liegt damit vor der EU. Während die USA kaum Anteile an den weltweiten FuE-Aus­ gaben verlieren, geht der Anteil der EU – trotz Aufstockung der FuE-Budgets – deutlich zurück. Deutschland ist insgesamt ein guter Innovationsstand­ ort. Im internationalen Standortvergleich belegt Deutsch­ land Platz 5.7 In Zukunft wird das Bildungssystem angesichts der demografischen Entwicklung und der Zuwanderung als Standortfaktor immer wichtiger. Deutschland konnte sein Bildungssystem in den vergangenen Jahren verbessern. Hier besteht aber weiterhin Handlungsbedarf. Deutschland verfügt auch zukünftig über eine gute Hoch- und Fachhoch­ 7 12 „acatech-BDI Innovationsindikator“ 2015. Mit dem Wirtschaftsboom in den Schwellenländern stieg seit 2000 der Verbrauch von Rohstoffen und Energieträgern stetig. Die Lieferanten reagierten nicht im gleichen Umfang mit Produktionserhöhungen. Bis 2008 trieb das den Rohöl­ preis immer höher. Erst im Verlauf der Wirtschaftskrise wurde dieser Aufwärtstrend gestoppt. In der Krise übertraf das Angebot die Nachfrage nach Rohstoffen. Allerdings ließ die baldige Erholung der Konjunktur die Nachfrage und damit den Preis schnell wieder steigen. Während sich die meisten Rohstoffpreise in den Jahren 2011 bis 2013 nahezu konstant entwickelten, brach der Ölpreis Rekorde. Befeuert wurde dies durch die politischen Unruhen im Nahen Osten und Spannun­ gen um das iranische Atomprogramm. ABB. 4: DER ÖLPREIS WIRD NUR MODERAT STEIGEN Ölpreis im Jahresdurchschnitt, in US-Dollar je Barrel (real) 140 120 100 80 60 40 20 0 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 Gründe für den nur moderaten Ölpreisanstieg: Ausweitung des Angebotes (Schieferöl in den USA und Kanada, Wiederaufnahme der iranischen Ölexporte) sowie Steigerung der Energieeffizienz. Quellen: Feri, IEA, VCI Weltwirtschaftliches Umfeld Eine zentrale Annahme der Vorgängerstudie war, dass Energie und Rohstoffe zunehmend knapper und damit teurer werden. Damals lautete die Langfristprognose der Interna­ tionalen Energieagentur (IEA): Der Ölpreis wird bis 2030 auf real 135 US-Dollar pro Barrel steigen. Nominal bedeutete das einen Anstieg auf 240 US-Dollar pro Barrel. Diese Annahme kann vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen an den internationalen Rohstoffbörsen nicht aufrechterhalten werden. Die Hauptursachen des aktuellen Preisverfalls bei Energie und anderen Rohstoffen liegen auf der Angebotsseite. Hohe Rohstoffpreise hatten in Verbindung mit der Erwartung knapper werdender Ressourcen einen Investitionsboom im Bergbau und in der Öl- und Gasindustrie ausgelöst. Zudem ermöglichte der technologische Fortschritt die Erschließung neuer und bisher nicht wirtschaftlich nutzbarer Lagerstätten. Mit Hilfe von Fracking ist mittlerweile nicht nur in den USA die wirtschaftliche Exploration von Schiefergas und Schieferöl möglich. Neue Technologien führen nicht nur zu einer Aus­ weitung des Angebots, sondern auch zu einer Zunahme der verfügbaren Reserven. Vor diesem Hintergrund geht die vor­ liegende Studie nun davon aus, dass Energie und Rohstoffe trotz steigender Nachfrage und geopolitischer Unsicherhei­ ten im Prognosezeitraum ausreichend verfügbar und relativ günstig sein werden. Und dennoch: Der seit Mitte des Jahres 2014 zu beobach­ tende Rohölpreisverfall ist deutlich überzeichnet. Weder die Ölindustrie noch die OPEC-Länder oder Brasilien und Russland können auf Dauer mit Ölpreisen zwischen 30 und 50 US-Dollar je Barrel auskommen. Die Entscheidung der OPEC, ihr Produktionsziel in den Jahren 2014 und 2015 beizubehalten, hat bei den anderen ölfördernden Ländern bereits zu einem Investitionsrückgang bei der Erschließung neuer Öl- und Gas­ quellen geführt. Hinzu kommt, dass innerhalb der OPEC die Fördermengen nur im Iran und im Irak gesteigert werden können. Doch beide Länder haben wegen der instabilen Lage Schwierigkeiten, die notwenigen Investitionen zu mobi­lisieren. ABB. 5: SEIT 2010 PREISUNTERSCHIEDE BEI ERDGAS Preisvergleich Erdgas USA - Europa - Japan, Referenzpreise der Handelspunkte in Euro/MWh 60 Japan (LNG) Europa USA 50 40 30 20 10 0 2000 2005 2010 Der Schiefergasboom sorgte in den USA für niedrige Gaspreise. Japan und Europa müssen hingegen Erdgas teuer importieren. Quellen: Worldbank, VCI 2015 Mittelfristig wird der Ölpreis voraussichtlich wieder steigen. Für den Prognosezeitraum wird basierend auf dem „IEA new policies scenario“ (Stand Sommer 2015) ein Ölpreisanstieg auf 109 US-Dollar (real) je Barrel bis 2030 unterstellt. Inflationiert mit der Preisentwicklung des Bruttoinlandspro­dukts der USA ergibt sich für 2030 ein nominaler Preis von 145 US-Dollar je Barrel. Auch die Nachfrageseite spricht für moderat steigende Ölpreise. Zwar dürfte der weltweite Energie- und Rohstoff­ bedarf in den kommenden Jahren weiter zunehmen. Der Zuwachs wird aber deutlich langsamer ausfallen als im zu­ rückliegenden Jahrzehnt. Der Grund: Die Dynamik der Welt­ wirtschaft schwächt sich zukünftig ab und nicht nur in Europa werden sich vermehrt energie- und rohstoffeffizientere Pro­ duktionsweisen durchsetzen. Zudem wird China, das Land mit dem größten Ressourcenverbrauch, nach der Phase der rasanten Industrialisierung zukünftig verstärkt im Dienstleis­ tungssektor wachsen und seine Produktion ressourcenscho­ nender ausrichten. Die Rohstoffpreise bleiben aber wegen der Investitions­ zyklen im Öl- und Gasgeschäft extrem volatil. Die Ökonomen sprechen von Schweinezyklen: In Zeiten niedriger Preise wird kaum investiert. Ölfelder versiegen und das Angebot sinkt. Das lässt die Preise steigen. Die steigenden Preise wiederum führen zu einer Ausweitung der Investitionen, bis die Preise wegen eines Überangebots wieder sinken. Dann beginnt das Spiel von neuem. Diese Volatilität der Rohstoffpreise wird durch die Finanzmärkte verstärkt. Die daraus resultierende Planungsunsicherheit ist für Industrieunternehmen ein großes Risiko. Im Unterschied zum Ölmarkt werden Gaspreise bis heute stark von regionalen Einflüssen geprägt. Das ist eine Folge der hohen Investitionskosten für große Pipelines und LiquifiedNatural-Gas-(LNG-)Versorgungsketten, die den Gastransport über größere Entfernungen aufwendig und betriebswirtschaft­ lich riskant machen. Das zusätzliche Angebot von Schiefergas sorgt in den USA vermutlich noch bis in die 2030er Jahre für im inter­ nationalen Vergleich niedrige Gaspreise und zunehmende LNG-Exporte. Japan und Südkorea, die weltgrößten LNG-­ Importeure, besitzen dagegen einen geografischen Nachteil und sind mangels eigener Rohstoffe auf verlässliche Gas­ lieferungen zu international relativ hohen Preisen angewiesen. Die europäischen Gaspreise liegen zwischen den hohen Im­ portpreisen Japans und den niedrigen Gaspreisen in den USA. Europa profitiert vom Wettbewerb zwischen russischem und norwegischem Pipelinegas und einem zunehmenden LNG-Angebot. Heute ist in Deutschland das Gas rund dreimal teurer als in den Vereinigten Staaten. Generell ist von einer weiterhin günstigen Versorgungs­ lage im globalen Gasmarkt auszugehen. Künftig werden stei­ gende LNG-Exporte aus Australien und den USA für einen Preisdeckel sorgen. Ein steiler Preisanstieg in Europa ist damit aus heutiger Sicht unwahrscheinlich. Auch auf lange Sicht werden Europa und Asien allerdings nicht das niedrige Preis­ niveau der USA erreichen. Der Strompreis ist ebenfalls regional unterschiedlich. Für Endkunden setzt er sich aus verschiedenen Komponenten zusammen. Neben den Kosten für die Stromerzeugung und -bereitstellung sind auch Abgaben, Umlagen sowie Steuern 13 Weltwirtschaftliches Umfeld große Kostenblöcke. In Deutschland haben die Ener­giewende und der Ausbau der Leitungsnetze die ­Strompreise extrem ver­ teuert. Die deutsche Industrie muss rund 50 Prozent mehr für den Strom bezahlen als Unternehmen in den USA. Auch im europäischen Vergleich belegt der Industriestrompreis in Deutschland einen Spitzenwert. Unternehmen der energie­ intensiven Industrien erhalten daher Ermäßigungen oder Kompensationen für Belastungen, die sie durch Umlagen im Rahmen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und Re­g elungen zu Kraft-Wärme-Kopplung, Stromsteuern und Netzentgelten in besonderem Maße zu tragen haben. Eine ­Reduzierung der Ausnahmeregelungen in Deutschland würde energieintensive Unternehmen aufgrund des starken Ausbaus der erneuerba­ ren Energien und der damit verbunde­nen höheren Gesamt­ kosten, die umgelegt werden, deutlich mehr belasten als in den Vergleichsländern. Bis 2030 werden die Divergenzen bei den Strompreisen erhalten bleiben. Gleichzeitig wird in der Studie unterstellt, dass energieintensive Industrien weiterhin von Ausnahmeregelungen profitieren können. UMWELT- UND KLIMASCHUTZ GEWINNEN WELTWEIT AN BEDEUTUNG Das Wachstum der Weltwirtschaft in der z­ urückliegenden Dekade ging mit zunehmendem Ressourcenverbrauch und steigender Umweltverschmutzung einher. Insbesondere die Emissionen von Treibhausgasen wuchsen in den zurücklie­ genden Jahren rasant. Sie sind hauptverantwortlich für die globale Erwärmung. Der damit einhergehende Klimawan­ del ist bereits heute in Form von häufigen Naturkatastrophen, dem Anstieg des Meeresspiegels und extremen Wetterereig­ nissen spürbar. Der größte Wachstumsbeitrag zur Umwelt­ verschmutzung kam aus den Schwellenländern. Vor allem die rasante Industrialisierung Chinas hat die Treibhausgasemissi­ onen in die Höhe schnellen lassen. Demgegenüber hat sich durch den technologischen Fortschritt und durch eine ambi­ tionierte Klimapolitik in den Industrieländern das Wirtschafts­ wachstum weitgehend von den CO2-Emissionen entkoppelt. ABB. 6: EUROPA BLEIBT VORREITER BEIM KLIMASCHUTZ Entwicklung der energiebedingten CO2-Emissionen nach Regionen, in Gigatonnen 40 35 19,4 30 16,9 25 Rest der Welt China USA EU 28 20 11,2 15 11,4 9,8 3,5 10 6,4 6,0 4,4 3,7 5 0 2000 2005 2010 4,9 2,7 2015 2020 2025 2030 Bis 2030 wird China seine CO2-Emissionen weiter steigern. Das nachlassende Wachstum und das steigende Umweltbewusstsein werden den Anstieg zukünftig aber verlangsamen. Quellen: BP Statistical Review of World Energy; OECD; VCI 14 Im Prognosezeitraum wird der politische und gesell­ schaftliche Stellenwert des Umwelt- und Klimaschutzes weiter steigen – auch über Europas Grenzen hinaus. Bei der UNKlimakonferenz in Paris haben am 12. Dezember 2015 alle 195 Vertragsstaaten einem neuen globalen Abkommen zu­ gestimmt. Das Pariser Abkommen und die begleitenden Ent­ scheidungen bilden ein anspruchsvolles Klimaregime für die Zeit ab 2020 mit universeller Geltung und völkerrechtlichen Pflichten. Erstmals vereinbarten Industrie- und Schwellenlän­ der, dass alle gemeinsam gegen den Klimawandel vorgehen. Die Industriestaaten werden zwar auch zukünftig die Haupt­ verantwortung tragen. Doch nun wurden auch den Entwick­ lungs- und Schwellenländern Pflichten auferlegt. Damit trägt das Abkommen der Tatsache Rechnung, dass vor allem die sehr dynamische wirtschaftliche Entwicklung vieler Schwellen­ länder den Anstieg von CO2-Emissionen beschleunigt hat. Bereits heute ist China für knapp 27 Prozent der globalen ­CO2-Emissionen verantwortlich und damit der weltweit größte Emittent. Obwohl sich global im Bewusstsein die Notwendigkeit von Umwelt- und Klimaschutz durchzusetzen beginnt, bleibt die Asymmetrie bei der Umsetzung bestehen. Außerhalb Europas entscheiden sich die Nationen meist nur dann für Umwelt- und Klimaschutz, wenn er wirtschaftlich vertretbar ist. Das Klimaschutzabkommen sieht daher vor, dass ­Schwellenund Entwicklungsländer von den Industrieländern durch Technologietransfer und finanzielle Hilfen unterstützt werden. Die Industrieländer sollen hierzu ab 2020 jährlich 100 Milliar­ den US-Dollar bereitstellen. Die EU sieht sich weiterhin als Vorreiter beim ­Klimaschutz und hat sich daher weltweit die ehrgeizigsten Klimaschutz­ ziele gesetzt. Wichtige Klimaschutzinstrumente sind in Europa der Emissionshandel, die Energiesteuern und die Förde­ rung erneuerbarer Energien. Diesen Instrumenten ist eines gemeinsam: Sie verteuern den Energieverbrauch. So sollen Anreize zu mehr Energieeffizienz gesetzt werden. Das hat bremsende Effekte auf die europäische Chemie. Hohe und steigende Energiepreise führen in der energieintensiven In­ dustrie zu einer Investitionszurückhaltung und begünstigen den Aufbau von Produktionskapazitäten in Weltregionen mit niedrigeren Energiekosten. Um die Abwanderung industriel­ ler Produktion aus Europa zu verhindern, gibt es Ausnahmen für besonders energieintensive Produktionsanlagen. Für den Prognosezeitraum wird unterstellt, dass die EU und Deutsch­ land an dieser Politik prinzipiell festhalten. Gegenwärtig wird eine Novellierung der Emissionshandelsrichtlinie für den Zeitraum ab 2021 bis 2030 verhandelt. Im Basisszenario ist unterstellt, dass die angestrebte Reform des europäischen Emissionshandels nicht zu signifikanten Kostensteigerungen für Unternehmen führen wird. Für Deutschland wurde darüber hinaus ein Beibehalten des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, der Ausnahmeregelungen und des Atomausstiegs unterstellt. Das zunehmende Bewusstsein der Bürger für Klimaschutz und eine nachhaltige Produktionsweise steigert die Nach­ frage nach umwelt- und klimafreundlicheren Gütern und be­ schleunigt so in einigen Wirtschaftszweigen das Wachstum. Beispielsweise profitiert der Maschinenbau von der hohen Nachfrage nach Windkraftanlagen und die Automobilindus­ trie sieht Marktchancen bei der Elektromobilität. Auch die chemische Industrie kann als Impulsgeber für den Klima- Weltwirtschaftliches Umfeld und Umweltschutz von dieser Entwicklung profitieren. In vielen Anwendungen und Kundenbranchen ist auf ­Grundlage bestehender Trends auch zukünftig von einer steigenden Chemieintensität auszugehen (z.B. Gebäudedämmung, Leichtbaukonzepte, Elektroantriebe in der Automobilindustrie). STAATSVERSCHULDUNG HEMMT WACHSTUM Das Wachstum der vergangenen Jahrzehnte wurde nicht unerheblich durch die Aufnahme privater und staatlicher Schulden finanziert. Angesichts der hohen Verschuldung, vor allem der öffentlichen Haushalte in vielen Industrielän­ dern, wird sich dieser Kurs nicht fortsetzen lassen. Die hoch verschuldeten EU-Länder werden den eingeschlagenen Kurs der Haushaltskonsolidierung prinzipiell beibehalten. Aktuell gibt es zwar wegen der Flüchtlingskrise, der Schuldenkrise (Griechenland), der Diskussion über den Status Großbritan­ niens und des Aufstiegs rechts- und linkspopulistischer EUkritischer Parteien Zweifel am Fortbestand der Europäischen Union. Unsere Projektionen gehen jedoch von der Annahme aus, dass EU und Eurozone in ihrer jetzigen Form bis 2030 bestehen bleiben, es aber keine weitere substanzielle Ver­ tiefung und Erweiterung gibt. Griechenland wird die Auflagen der Kreditgeber umsetzen und in der Eurozone verbleiben. Allerdings wird hierzu im Prognosezeitraum ein Schuldenschnitt erforderlich sein. Deutschland konsolidiert wegen der Schuldenbremse deutlich schneller als viele europäische Nachbarländer. Die Geldpolitik der Zentralbank trägt durch ein niedriges Zins­ niveau erheblich zur Haushaltskonsolidierung bei, denn dies senkt die Zinslast der Schuldner erheblich. Gleichzeitig sorgt die EZB durch den vermehrten Kauf von Staatsanleihen und extrem niedrige Leitzinsen dafür, dass sich die EU-Länder immer wieder neu verschulden können. Modellseitig führen hohe Schuldenstandsquoten zwar zu Risikoaufschlägen auf Staatsanleihen, aber diese bleiben auch für hoch verschul­ dete Euroländer wegen der EZB-Programme und des Ret­ tungsschirms (ESM) insgesamt niedrig. Dies mindert aber ABB. 7: KONSOLIDIERUNGSDRUCK HÄLT AN Schuldenstandsquoten ausgewählter Länder in Prozent des Bruttoinlandsprodukts 289 2000 2013 2030 244 144 128 59 92 87 80 77 105 80 85 58 56 53 39 Deutschland Großbritannien Frankreich 105 98 Italien USA Japan Der Konsolidierungsdruck besteht fort. Die meisten Länder werden versuchen, den eingeschlagenen Kurs der Haushaltskonsolidierung fortzusetzen und ihre Staatsverschuldung zurückzufahren. Dies wird zunächst das Wachstum bremsen. den Zwang zu fiskalischer Konsolidierung und den Reformeifer. Infolgedessen bleibt das Konsolidierungstempo insgesamt niedrig, so dass viele EU-Länder auch 2030 noch Staatsschul­ denstände oberhalb der im Maastricht-Vertrag vorgesehenen Obergrenze von 60 Prozent des BIP aufweisen werden. Auch die USA werden ihre Schuldenstandquote reduzie­ ren, wenngleich mit weniger drastischen Einsparungen als in den europäischen Krisenländern. Ausgabenseitig hat auch die US-Regierung bereits mit der Konsolidierung der Staatsfi­ nanzen begonnen. Und eine weitere Verschärfung des Konso­ lidierungskurses ist wahrscheinlich. Japan ragt durch riesige Staatsschulden aus dem Ländervergleich heraus. Da die Gläu­ biger aber vor allem Inländer sind und die Forderungen in Yen bestehen, ist der Konsolidierungsdruck entsprechend gering. Zudem zahlt der Staat wegen der Nullzinspolitik der japanischen Notenbank kaum Zinsen. Die japanische Regie­ rung versucht daher, zunächst durch expansive Fiskalpoli­ tik die Wirtschaft anzukurbeln. Die Konsolidierung wird in die Zukunft verschoben. Die Studie geht davon aus, dass es Japan erst nach 2030 gelingen wird, die Schuldenstands­ quote zurückzuführen. Während die Industrienationen hoch verschuldet sind, stehen die meisten Schwellenländer vergleichsweise gut da. Die Staatsverschuldung beträgt dort im Schnitt nur 40 Prozent des BIP. Und der Verschuldungsgrad vieler Schwellenländer ist seit der Finanzkrise stabil geblieben. Allerdings täuscht dieser Befund. Zum einen gibt es in vielen Ländern das Phänomen versteckter Staatsschulden. Versteckte Schulden entstehen beispielsweise dann, wenn die Verschuldung von Staatsunternehmen nicht im Staatssektor ausgewiesen wird. Zum anderen ist in vielen Schwellenländern der Privatsektor hoch verschuldet. Sofern sich die Länder in anderen Währun­ gen – vor allem dem US-Dollar – verschuldet haben und die eigenen Währungen zuletzt kräftig abwerteten, werden die aus den Schulden resultierenden Zinszahlungen insbesondere in Verbindung mit der Zinswende der US-Notenbank zuneh­ mend zum Problem. Die Rezession in Brasilien und Russland sowie die Wachs­ tumsabschwächung in China zeigen, dass das Wachstums­ modell der vergangenen Jahrzehnte nicht mehr trägt. Rohstoffreiche Schwellenländer haben in der Vergangen­ heit zwar große Devisenreserven angesammelt, doch diese schrumpfen angesichts der niedrigen Ölpreise und schwäche­ rer Rohstoffnachfrage rasant. Eine Folge davon ist, dass der Investitionsboom der vergangenen Jahre in vielen Schwellen­ ländern jäh beendet wurde. Auch die Schwellenländer sind gezwungen zu konsolidieren, weil der hohe Schuldendienst in Verbindung mit wegbrechenden Deviseneinnahmen aus dem Rohstoffgeschäft das Wachstum dämpft. Es ist allerdings zu erwarten, dass in den betroffenen Ländern die Konsolidie­ rungspläne zeitlich gestreckt werden, um die politische Stabi­ lität aufrechtzuerhalten. Insgesamt hemmt der Konsolidierungszwang bis 2030 das weltwirtschaftliche Wachstum und schränkt die finanz- und wirtschaftspolitischen Spielräume deutlich ein. Langfristig führt die Haushaltskonsolidierung allerdings auf einen nach­ haltigeren Wachstumspfad. 15 Weltwirtschaftliches Umfeld Weltwirtschaftliche Dynamik lässt allmählich nach Die zukünftige Entwicklung der Weltwirtschaft wird auch immer an ihrer bisherigen gemessen. Hierfür sind weniger die von der Finanzkrise beeinflussten Jahre maßgeblich als vielmehr die Dekade zuvor. Diese war geprägt von dem Eintritt des ehemaligen Ostblocks und Chinas in den Welt­ markt sowie einem massiven Anstieg der Vermögenspreise in wichtigen Industrieländern. Diese Einflüsse waren singulä­ rer Art oder wirkten nicht dauerhaft. Im Ergebnis trugen sie, ungeachtet anderer länderspezifischer Besonderheiten, ent­ scheidend zu dem vergleichsweise großen Wachstum in den meisten Ländern in der Dekade vor der Finanz- und Wirt­ schaftskrise bei. Die Finanzkrise 2008/2009 selbst zog dann allerdings er­ hebliche Einbrüche im Weltwirtschaftsgefüge nach sich, von denen sich die meisten Länder dank massiver finanz- und geldpolitischer Stützungsmaßnahmen überraschend schnell erholten. Anschließend begann jedoch eine weltwirtschaft­ liche Schwächephase. An deren Beginn stand die Eurokrise, die in Europa eine erneute Rezession auslöste, von der sich viele Länder nur langsam erholen. Zudem sieht sich die Euro­ päische Union mit der Bewältigung der Flüchtlingskrise und der Unsicherheit über den Verbleib von Großbritannien in der EU konfrontiert. Die Schuldenkrise in Griechenland ist eben­ falls noch nicht ausgestanden. Auch der Wachstumsmotor China geriet ins Stottern. Und Schwellenländer wie Brasilien und Russland rutschten in eine tiefe Rezession. Diese Schwächephase der Weltwirtschaft kann im Pro­ gnosezeitraum überwunden werden. Das Bruttoinlandspro­ dukt der Welt wächst von 2013 bis 2030 im Durchschnitt um 2,5 Prozent pro Jahr und knüpft damit scheinbar nahtlos an die Dynamik vor 2013 an. Von der Jahrtausendwende bis zum Jahr 2013 wuchs die Weltwirtschaft ebenfalls mit 2,5 Prozent pro Jahr. Allerdings war die globale Dynamik zwischen 2000 und 2013 wegen der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 unge­ wöhnlich niedrig. Bis 2008 lag das globale Wachstum noch ABB. 8: SCHWELLENLÄNDER GEWINNEN AN GEWICHT Globales BIP-Wachstum, CAGR 2000–2013 und 2013–2030, Anteile in Prozent bei rund 3 Prozent pro Jahr. Zudem haben sich die Aussichten gegenüber der Vorgängerstudie eingetrübt. Die Weltwirtschaft wird im Prognosezeitraum weniger stark zulegen als noch in der ersten Studienfassung angenommen (+ 3,0 Prozent). Vor allem für die Schwellenländer hat sich das langfristige Wachstumspotenzial nach den neuen Berechnungen abgeschwächt. Sie wachsen im Prognosezeitraum zwar um durchschnittlich 4,5 Prozent pro Jahr. In den Jahren 2000 bis 2013 lag die Dynamik aber noch bei 6,3 Prozent. Dies ist eine Wachstumsabschwächung um fast 2 Prozentpunkte. In den I­ndustrieländern insgesamt wird sich das Wachstum hingegen von 1,5 Prozent (2000–2013) auf 1,7 Prozent (2013 bis 2030) leicht beschleunigen. Da in den Industrieländern die krisenbeding­ten Einbrüche besonders stark waren und die Erholung deut­lich langsamer verlief als im Rest der Welt, ist diese Beschleunigung aber weniger erfreulich, als es auf den ersten Blick scheint. Das zukünftige Wachstum der Industrie­ länder hat sich sowohl im Vergleich zum Zeitraum vor 2008 (+ 2,5 Prozent) als auch im Vergleich zur Vorgängerstudie (+ 2,2 Prozent) abgeschwächt. Unter dem Strich wird sich die Wachstumsdynamik der Industrie- und Schwellenländer im Prognosezeitraum durch die zunehmende Konvergenz des Wohlstandsniveaus beider Gruppen sowie durch das Auslaufen des Investitionsbooms in China annähern. Dennoch bleibt ein Wachstumsgefälle, so dass die Industrieländer weiter an Bedeutung verlieren. EUROPÄISCHE UNION Die europäische Wirtschaft hat die durch die Eurokrise ausgelöste Rezession überwunden. In einigen Ländern wirken sich die Strukturreformen bereits positiv auf das Wachstum aus. Der Rettungsschirm greift und auch bei der Koordinie­ rung der europäischen Fiskal- und Wirtschaftspolitik ist man ein gutes Stück vorangekommen. Rückenwind für die EUWirtschaft kam zuletzt vom schwachen Euro und vom nied­ rigen Ölpreis. Allerdings blieb die Erholung bisher kraftlos. ABB. 9: REFORMEN ZAHLEN SICH AUS BIP-Entwicklung in den europäischen Krisenländern, Index 2007 = 100 130 Industrieländer Schwellenländer Portugal Spanien Griechenland Italien Irland 120 +2,5% +2,5% 110 62,6% 100 90 72,7% 80 82,8% 37,4% 17,2% 2000 60 2013 2030 Während die Schwellenländer, insbesondere China, Weltmarktanteile hinzugewinnen, schrumpft der Anteil der Industrieländer am globalen Bruttoinlandsprodukt. Den USA gelingt es allerdings, ihre Spitzenposition zu verteidigen. 16 70 27,3% 2007 2010 2013 2016 2019 2022 2025 2028 2030 Die Konsolidierungsbemühungen und die Strukturreformen hemmen zwar kurzfristig das Wachstum, zahlen sich aber mittelfristig aus. Nur Griechenland steckt in einer tiefen Krise, die bis Mitte der 2020er Jahre anhält. Weltwirtschaftliches Umfeld Daran wird sich in den kommenden Jahren wohl auch nichts ändern. Das Wachstumstempo der Europäischen Union bleibt im Prognosezeitraum mit 1,6 Prozent pro Jahr hinter dem Wachstum der Vereinigten Staaten (2,1 Prozent pro Jahr) zurück. Damit liegt das Wachstum zwar 0,4 Prozentpunkte über dem Wachstum der vergangenen Dekade (2000 bis 2013). Wegen der Finanz- und Eurokrise hinkt dieser Vergleich jedoch. Vor 2008 war das Wachstum der EU mit rund 2 Pro­zent pro Jahr erheblich höher als im Prognosezeitraum. Neben dem geringen Bevölkerungswachstum und der spür­ baren Alterung wirkt sich zukünftig vor allem die fiskalische Konsolidierung negativ auf das Wachstum aus. Politisch mo­ tivierte Diskussionen um den Fortbestand der EU, wie aktuell der drohende Austritt Großbritanniens aus der EU, bremsen das Wachstum zusätzlich. In der Studie gehen wir aber insge­ samt von einem Fortbestand der Europäischen Union in der jetzigen Form aus. Zwischen den einzelnen Mitgliedsländern wird es im Pro­ gnosezeitraum weiterhin deutliche Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung geben. Die EU 15, die derzeit ge­messen am Bruttoinlandsprodukt für über 92 Prozent der Europäischen Union steht, wird im Prognosezeitraum im Durchschnitt um jährlich 1,5 Prozent wachsen. Am stärksten wachsen Belgien und Schweden. Für Spanien und Portugal haben sich die Perspektiven deutlich aufgehellt. Die Struk­ tur­reformen der vergangenen Jahre zahlen sich aus. Eine Ausnahme bildet Griechenland. Hier wird das Vorkrisenniveau beim Bruttoinlandsprodukt im Prognosezeitraum noch nicht wieder erreicht. In den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern wird sich mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 2,3 Prozent pro Jahr der Angleichungsprozess fortsetzen – allerdings deutlich verlangsamt gegenüber der vorangegangenen Dekade. Im den Jahren 2000 bis 2013 betrug das durch­ schnittliche BIP-Wachstum in der Region noch 3,2 Prozent pro Jahr. Wachstumsspitzenreiter im Prognosezeitraum sind die Slowakei und Polen. Der Anteil der Beitrittsländer an der EU erhöht sich von derzeit 7,6 Prozent auf 8,6 Prozent im Jahr 2030. VEREINIGTE STAATEN Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts wird nach den neuen Berechnungen langfristig etwa 2,1 Prozent pro Jahr betragen. Die Vorgängerstudie war noch von einem Wachstum der US-Wirtschaft von 2,8 Prozent ausgegan­ gen. Die jüngsten Turbulenzen bei den Rohölpreisen haben gezeigt, wie anfällig das auf dem Schiefergasboom beru­ hende Wirtschaftsmodell der US-Ökonomie ist. Trotz der Wachstumsabschwächung wächst die US-Wirtschaft zu­ künftig dynamischer als die EU und die Vereinigten Staaten bleiben bis 2030 die größte Volkswirtschaft der Welt. Dabei profitieren sie von einer positiven Bevölkerungsentwicklung, günstigen Energie- und Rohstoffpreisen und ihrer in vielen Bereichen vorhandenen Technologieführerschaft, beispiels­ weise im so wichtigen Zukunftsmarkt der Informationstechnik. Außerdem verfügen die USA über einen insgesamt großen Wirtschaftsraum, den sie über Handelsabkommen wie TPP (Transpazifische Partnerschaft) oder TTIP (Transatlantisches Freihandelsabkommen) noch vergrößern wollen. Daneben verfolgen die USA auch strategische Interessen. Gerade für den Pazifikraum gilt, dass die Boomregion der Welt nicht allein China überlassen wird. Der US-Dollar bleibt langfristig die Weltleitwährung, er verstärkt sogar seine Position noch. Der Euro wird in einem Wirtschaftsraum emittiert, dessen Wachstumstempo kurz- wie langfristig spürbar unter dem der Vereinigten Staaten liegen wird. Zudem haben die Staatsschuldenkrise in Griechen­land und die dadurch hervorgetretenen Konstruktionsprobleme der Eurozone das Vertrauen in den Euro eingeschränkt. Der chinesische Renminbi wird zwar im asiatischen Raum eine größere Bedeutung erlangen und sich nach Einbeziehung der Währung in den Korb der Sonderziehungsrechte des IWF auch auf globaler Ebene stärker etablieren. Er wird aber nicht den US-Dollar in seiner Rolle als Weltleitwährung ablösen können. Für die internationalen Kapitalströme bleiben die Vereinigten Staaten das deutlich attraktivere Ziel. BRASILIEN Brasilien erreicht im Prognosezeitraum ein Wachstum von 3 Prozent pro Jahr. Dabei geht die Prognose davon aus, dass die aktuellen Probleme mittelfristig gelöst werden. Die jet­ zige Regierung hat zwar durch Sozialprogramme Brasilien gerechter gemacht. Jedoch wurde auch Brasiliens Abhängig­ keit von Rohstoffexporten vertieft und nichts für die internati­ onale Wettbewerbsfähigkeit getan, das heißt, Bildung, Sicher­ heit und Infrastruktur wurden vernachlässigt. Ebenso wurde die Reform des politischen Systems versäumt, das privatwirt­ schaftliche Wahlkampffinanzierung zulässt – Hauptgrund für die zurzeit zu beobachtende ausufernde Korruption. Die Voraussetzungen für ein dynamisches Wachstum sind aber nach wie vor gut. Brasiliens wachsende Bevölkerung und eine größer werdende Mittelschicht fördern den Ausbau von konsumnahen Industrieprodukten und Dienstleistungen. Ein steigendes Wohlstandsniveau führt dabei zu einem Ausbau des privaten Konsums und macht Brasilien zu einem interes­ santen Binnenmarkt. Ebenso besitzt das Land große Rohstoffvorkommen, die es nutzen kann, um seine Bedeutung als Rohstoffexporteur auszubauen. Mittelfristig wird Brasilien seine Attraktivität als Investitionsstandort wiedererlangen und im Prognosezeit­ raum erhalten. CHINA UND INDIEN China steuert mit einem durchschnittlichen Wachstum von 5,6 Prozent pro Jahr mehr als ein Drittel zum gesamten Anstieg des Bruttoinlandprodukts der Welt bis 2030 bei. Auf mittlere und lange Sicht gelingt es China jedoch nicht, das hohe Wachstumstempo der Vergangenheit aufrechtzu­ erhalten. Vor allem die demografischen Probleme, die ihren Ursprung in der Ein-Kind-Politik des Landes haben, werden langfristig das Wirtschaftswachstum dämpfen. Chinas bis­ heriges Wachstumsmodell stößt jedoch nicht allein wegen der alternden Bevölkerung an seine Grenzen. Daneben wird sich das stark exportgetriebene chinesische Wachstum auch infolge von Sättigungstendenzen beim Kapazitätsaufbau, einer sinkenden Nachfragedynamik aus den Industrieländern, abnehmenden Lohnkostenvorteilen, wachsenden Umweltpro­ blemen und einer realen Aufwertung des Renminbi abschwä­ chen. Zudem dürfte auch im Reich der Mitte künftig stärker 17 Weltwirtschaftliches Umfeld ABB. 10: WACHSTUMSMODELL IN CHINA ÄNDERT SICH Verwendungsstruktur des chinesischen Bruttoinlandsprodukts in Prozent 30,6% 51,9% Investitionen Konsum (priv. + staatlich) Außenbeitrag 60,5% 46,4% 1,7% 2000–2013 8,8% 2013–2030 Das chinesische Wachstum wird in Zukunft stärker vom Konsum getragen. Darüber hinaus wird in China zukünftig stärker rentabilitätsgetrieben investiert. Dadurch lässt die Investitionstätigkeit insgesamt nach. Euro in Indien – die Wohlstandsunterschiede zwischen Indus­ trie- und Schwellenländern nehmen in absoluter Betrachtung weiter zu. Die divergierenden Entwicklungen der einzelnen Länder im Prognosezeitraum verändern die ökonomische Landkarte nachhaltig. Die meisten Industrieländer – allen voran die Länder Westeuropas und Japan – verlieren Anteile an die aufstrebenden Schwellenländer. Chinas Anteil am Bruttoinlandsprodukt aller betrachteten Länder steigt von heute 12,4 Prozent auf 20,4 Prozent im Jahr 2030. Indien kann seinen Anteil am welt­ weiten Bruttoinlandsprodukt von 3,3 auf 5 Prozent steigern. Dagegen sinkt der Anteil der Europäischen Union von 28 auf knapp 24 Prozent, auch der deutsche Anteil geht um einen Prozentpunkt auf knapp 5 Prozent zurück. Das Expansions­ tempo der Vereinigten Staaten reicht nicht aus, um dessen Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung zu halten – er sinkt von 26 auf 24,4 Prozent. Industrialisierung der Schwellenländer hält an Die Nachfragestrukturen auf den globalen Märkten werden sich bis 2030 deutlich verändern. In den Schwellen­ ländern wird die Nachfrage überwiegend vom Bevölkerungs­ wachstum und dem zunehmenden Wohlstand getragen. In den Industrieländern verändert sich die Nachfrage durch rentabilitätsgetrieben investiert werden. Dadurch lässt die neue Anforderungen hinsichtlich einer steigenden Energie­ ­Investitionstätigkeit insgesamt nach. Dies hemmt zwar in der effizienz, eines zunehmenden Umweltbewusstseins der Kon­ kurzen bis mittleren Frist das Wachstum. Langfristig tragen sumenten, des Einsatzes regenerativer Energien, aber auch rentabilitätsorientierte Investitionen allerdings dazu bei, den einer alternden Bevölkerung. Die Teilhabe neuer Käufergrup­ Wachstumspfad zu stabilisieren. Darüber hinaus steht ein pen am globalen Konsum und die veränderte Nachfrage­ Wechsel des Wachstumsparadigmas vom Export zu mehr struktur erfordern weiteren Kapazitätsaufbau in der Industrie. Binnennachfrage bevor. Dies hat auch Folgen für die Bedeu­ Die industrielle Wertschöpfung wird bis 2030 über alle 42 tung von konsumorientierten wie industrienahen Dienstleis­ Länder hinweg mit 2,9 Prozent pro Jahr stärker wachsen als tungen in der Volksrepublik. Der Anteil der Dienstleistungen das Bruttoinlandsprodukt, also die gesamte Wertschöpfung am Bruttoinlandsprodukt steigt bis zum Jahr 2030 weiter an. Dazu gilt es, neben dem zeit- und kostenintensiven Aufbau aller Länder. Diese überdurchschnittliche Wachstumsdyna­ mik der Industrie auf aggregierter Ebene erklärt sich fast aus­ sozialer Sicherungssysteme auch die politische Stabilität schließlich aus dem bis 2030 stark zunehmenden Gewicht der aufrechtzuerhalten und den steigenden Ansprüchen einer Schwellenländer, welche aktuell einen vergleichsweise hohen wachsenden Mittelschicht bezüglich politischer Partizipa­ Industrieanteil aufweisen. Auf Ebene der einzelnen Länder tion, allgemeiner Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie Umwelt­bewusstsein gerecht zu werden. Es ist davon auszuge­ überwiegen diejenigen Fälle mit einem sinkenden Anteil der Industrie an der gesamten Wertschöpfung des jeweili­ hen, dass China diese Herausforderungen zu einem Großteil gen Landes. Positive Ausnahmen sind hier vor allem Länder meistern kann und bis 2030 als Konsumentenmarkt an Be­ mit einer stark schrumpfenden Bevölkerung, in denen die deutung gewinnen wird. Im Verlauf des Prognosezeitraums werden die Wachstumsraten des chinesischen Bruttoinlands­ Exporte relativ zur Inlandsnachfrage an Bedeutung gewinnen produkts angesichts dieser Herausforderungen damit jedoch und damit auch die exportorientierten Industriebranchen. Die Weltindustrieproduktion8 wächst bis zum Jahr 2030 merklich niedriger ausfallen. Indiens Wirtschaft wird von 2013 bis 2030 um jährlich um 3,2 Prozent pro Jahr. Spitzenreiter mit Zuwachsraten 5,2 Prozent zunehmen. Zweitweise liegen die indischen Zu­ von knapp über 4 Prozent pro Jahr sind das Textil- und Be­ wachsraten über denen Chinas. Langfristig macht sich in kleidungsgewerbe sowie die Elektroindustrie. Die globale Indien die günstigere Bevölkerungsentwicklung und damit Dynamik dieser Branchen ergibt sich vor allem aus dem das größere Arbeitsangebot bemerkbar. Die allmähliche Ver­ hohen und weiter wachsenden Gewicht Chinas. Der Maschi­ ringerung der Bürokratie, die Verbesserung der Infrastruktur nenbau und die Chemieindustrie folgen mit ebenfalls über­ sowie der Abbau von Handels- und Investitionshemmnissen durchschnittlichen Zuwachsraten auf den Plätzen drei und liefern positive Impulse für das indische Wachstum. vier. Das Wachstum der globalen Chemieproduktion ist Obwohl in China und Indien das Wachstumstempo der neben der hohen Dynamik der Schwellenländer auf eine stei­ Wirtschaft im gesamten Prognosezeitraum mehr als doppelt gende Chemieintensität bei den Abnehmerbranchen zurück­ so hoch wie das der Vereinigten Staaten ist, beträgt das Prozuführen. Kopf-Einkommen 2030 immer noch nur 21 Prozent (China) 8 bzw. 5 Prozent (Indien) in Relation zum US-Niveau. Der Die Wachstumsraten der Produktion liegen u. a. aufgrund absolute Abstand vergrößert sich sogar weiter von heute einer steigenden Vorleistungsquote über denen der Wert34.000 auf 38.000 Euro in China und von 37.000 auf 46.000 schöpfung/Bruttowertschöpfung (BWS). 18 Weltwirtschaftliches Umfeld GUMMI- UND KUNSTSTOFFWAREN ABB. 11: VERLANGSAMUNG IN ALLEN BRANCHEN Globale Entwicklung der realen Produktion der Branchen, CAGR 2013–2030, in Prozent Industrie insg. 6,2 3,2 Textil- und Bekleidungsgewerbe Elektronikindustrie Baugewerbe 7,1 3,6 3,9 3,4 Chemie/Pharma Fahrzeugbau 8,0 4,2 Maschinenbau Gummi- und Kunststoffwaren 8,5 4,3 5,5 3,1 5,6 3,0 2,6 3,9 2000–2013 2013–2030 Die Industrialisierung schreitet voran. Global wächst die Industrie weiterhin schneller als die Gesamtwirtschaft. Die Wachstumsdynamik lässt aber im Zuge der gesamtwirtschaftlichen Ver­langsamung deutlich nach. Die internationale Arbeitsteilung wird weiter zunehmen. Wertschöpfungsketten werden internationaler. Insbeson­ dere in Asien nimmt die Verflechtung zwischen den Volks­ wirtschaften weiter zu. In diesen Ländern wächst die Industrie besonders dynamisch. Viele Nationen haben durch die Wirt­ schaftskrise erkannt, dass ein industrieller Kern essenziel­ ler Bestandteil einer Volkswirtschaft ist. In Nordamerika und Europa gelingt es vor diesem Hintergrund besser als in den vorangegangenen Dekaden, industrielle Aktivitäten zu halten und die Industrie zu revitalisieren. Die Industrieländer werden sich zunehmend auf hochwertige Produkte konzentrieren und die weitere Verschiebung der Wertschöpfung Richtung Asien und Lateinamerika damit verlangsamen. Unter dem Strich hält die Verschiebung der industriellen Wachstumszentren in die Schwellenländer bis 2030 an, jedoch mit deutlich geringerem Tempo als noch in der vergangenen Dekade. TEXTIL- UND BEKLEIDUNGSGEWERBE In der kundennahen Industrie des Textil- und Bekleidungs­ gewerbes wird sich das Wachstum in den kommenden Jahren gegenüber der vergangenen Dekade leicht abschwächen, dennoch bleibt das Wachstum immer noch hoch. Die Pro­ duktion von Textilien wächst mit 4,3 Prozent pro Jahr. Die Textilproduktion wird weltweit überwiegend durch die starke Endkundennachfrage aus den Schwellenländern getrieben. In den Industrieländern geht hingegen der Trend zu umwelt­ freundlicheren Textilprodukten. Die globale Produktionsdynamik ergibt sich vor allem aus der Entwicklung in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Deren Anteil an der weltweiten Textilproduktion steigt von derzeit knapp 72 Prozent auf 84 Prozent im Jahr 2030. Der chi­ nesische Anteil wird 2030 noch bei 66 Prozent liegen, obwohl sich die Textilproduktion allmählich in andere asiatische Länder mit niedrigeren Personalkosten verschiebt. In Indien und der Türkei wächst die Textilindustrie dynamisch. China hingegen ist bestrebt, den großen Binnenmarkt vor allem aus heimischer Produktion zu beliefern. Auch die Produktion von Gummi- und Kunststoffwaren verläuft im Prognosezeitraum mit etwas geringerer Dynamik als noch in der vergangenen Dekade. Die Branche wächst aber im Vergleich mit anderen Branchen immer noch dyna­ misch, wenngleich das Wachstum leicht unter dem Durch­ schnitt der Industrie liegt. Die Produktion der Gummi- und Kunststoffwaren wird bis 2030 um 3,1 Prozent pro Jahr aus­ gedehnt. Die Herstellung von Gummi- und Kunststoffwa­ ren ist stark an die industrielle Gesamtproduktion und damit an ihre Abnehmerindustrien gekoppelt. Die Schwellenländer werden im Jahr 2030 mit einem Anteil an der Weltproduktion von knapp 53 Prozent eine signifikante Rolle spielen. Treiber für die weltweite Produktionsentwicklung ist u.a. der weiter­ hin hohe Nachholbedarf der Schwellenländer im Konsum. Die Verwendung von Gummi- und Kunststoffwaren pro Einwohner liegt in den Schwellenländern noch deutlich unter der Ver­ wendungsquote Europas oder der USA. Selbst in China mit seinem starken Wachstum bleibt die Verwendungsdichte auf einem geringeren Niveau als in Europa. In den Industrielän­ dern setzt sich der Innovations- und Substitutionstrend fort. Ebenso steigt insbesondere in Europa die Nachfrage aus der Bauindustrie aufgrund energetischer Anforderungen. MASCHINENBAU Der Maschinenbau wird bis 2030 weltweit jährlich um 3,6 Prozent pro Jahr zulegen können. Damit liegt die wirt­ schaftliche Dynamik leicht über dem Durchschnitt des verar­ beitenden Gewerbes. Ein Vergleich mit dem Zeitraum 2000 bis 2013 zeigt, dass allerdings auch im Maschinen­b au die konjunkturelle Dynamik insgesamt etwas nachlässt. Getrieben werden die Produktionssteigerungen im Ma­schinenbau primär von einer Ausweitung und Erneuerung der Kapazitäten der Industrieproduktion, auch im Rahmen der weiter fortschreitenden Automatisierung der Produk­ tion. Zudem lässt auch die zunehmende Urbanisierung und der damit einhergehende Ausbau der Infrastruktur (u. a. Wasser- und Abwassersysteme, Pumptechnik und das Straßen- und Schienennetz) die Produktion im Maschinenbau weiter wachsen. In den Industrieländern wird die Nachfrage nach Maschinenbauerzeugnissen unter anderem durch den Ausbau der regenerativen Energieerzeugung getrieben. In der Länderbetrachtung zeigt sich auch im Maschinen­ bau eine ausgeprägte Dynamik der asiatischen Produktion. In Indien und China wächst der Industriezweig dynamisch. In China wird zukünftig ein Großteil des Inlandsbedarfs an Maschinen aus nationaler Produktion beliefert. Der chinesi­ sche Maschinenbau wächst im Prognosezeitraum im Durch­ schnitt um 5,4 Prozent pro Jahr. Damit fällt das Wachstum im Land der Mitte zwar deutlich schwächer aus als in der Vorde­ kade, es liegt aber signifikant über dem globalen Wachstum. Der indische Maschinenbau spielt im globalen Vergleich nicht die Rolle Chinas, kann jedoch ebenfalls ein d ­ ynamisches Wachstum von 5,4 Prozent pro Jahr bis zum Jahr 2030 ­verbuchen. Dann liegt der Anteil Indiens an der globalen Maschinenproduktion bei rund 3 Prozent. China kommt hingegen auf 46 Prozent. Zusammen mit den übrigen Schwel­ lenländern liegt der Anteil bei rund 57 Prozent. In der Euro­ päischen Union wächst der Maschinenbau mit 2,2 Prozent pro Jahr schneller als im Zeitraum 2000 bis 2013. Diese Entwick­ 19 Weltwirtschaftliches Umfeld lung ist allerdings auch durch die Weltwirtschaftskrise in den Jahren 2008/2009 verzerrt, die den Maschinenbau besonders stark getroffen hat. FAHRZEUGBAU Im weltweiten Fahrzeugbau liegt die wirtschaftliche Dynamik im Prognosezeitraum mit 3 Prozent pro Jahr leicht unter dem Industriedurchschnitt. Das Wachstum fällt damit deutlich auch langsamer aus als im Zeitraum 2000 bis 2013, in dem die jährlichen Produktionssteigerungen noch bei 5,6 Prozent lagen. Die Automobilindustrie steht in den nächsten Jahrzehn­ ten vor einem gewaltigen Wandel. Es entstehen neue Märkte. China, Indien und Brasilien sind und werden die Märkte der Zukunft sein. Nicht nur im Konsum, sondern auch in der Pro­ duktion. Und auch Südostasien bietet ein großes Potenzial. Die Verkehrsdichte in diesen Ländern ist deutlich geringer als in den industrialisierten Staaten. Zudem steigt das Einkommen stärker und damit wächst auch die potenzielle Zielgruppe. Im Regionalvergleich zeigt sich, dass die Fahr­ zeugproduktion insbesondere in den Schwellenländern dy­ namisch wächst. Der Fahrzeugbau profitiert dort von der wachsenden Mittelschicht, die zunehmend Autos kauft. In der Folge können diese Länder Weltmarktanteile hinzugewinnen. Dennoch werden auch im Jahr 2030 über 60 Prozent der Weltfahrzeugproduktion in den Industrieländern statt­ finden. Hier steigt die Nachfrage nach Fahrzeugen ebenfalls weiter. Aber die Käufergruppen verändern sich. In der wach­ senden Mittelschicht führt beispielsweise der Wunsch nach Karriere zu einem immer späteren Zeitpunkt der Familienpla­ nung. Dadurch verschiebt sich auch die Anschaffung eines famili­entauglichen Autos immer weiter nach hinten. Vor allem in den Großstädten geht der Trend weg vom Führerschein. Eine ­Lösungsmöglichkeit ist das Carsharing, also das Teilen eines Autos. Dadurch entstehen neue Geschäftsfelder wie ­alternative Mobilitätsangebote, vernetzte Fahrzeuge oder in ABB. 12: CHINAS CHEMIE GEWINNT WEITER ANTEILE Globale Chemie- und Pharmaproduktion in Mrd. Euro, Anteile in Prozent, CAGR 2013–2030 6.480 +3,4% 44,8% 3.667 33,4% 21,0% 5,2% 5,5% 15,9% 19,2% 2013 China USA Deutschland Japan Rest Industrieländer Rest Schwellenländer 17,5% 3,2% 3,8% 12,1% 18,6% 2030 China kann als Folge seiner stark steigenden Nachfrage nach chemischen Erzeugnissen weitere Anteile an der globalen Produktion hinzugewinnen. Der Zugewinn geht dabei überwiegend zu Lasten der Industrieländer. 20 der Zukunft auch das fahrerlose Fahren. Strengere Umweltge­ setze und höhere Sicherheitsanforderungen treiben nicht nur die Kosten nach oben. Gefragt sind Innovationen bei alterna­ tiven Antriebstechnologien und PKWs mit geringerem Ver­ brauch. ELEKTROTECHNIK Dynamisch wächst trotz einer Verlangsamung gegen­ über dem historischen Wachstum die Elektrotechnik mit einer durchschnittlichen jährlichen Steigerungsrate von 4,2 Prozent pro Jahr. Sie kann damit ihren Anteil an der globalen Indus­ trieproduktion weiter ausbauen. Ein wachsender Wohlstand in den Schwellenländern erhöht die Nachfrage nach Konsumelektronik. Zudem schrei­ tet die Verbreitung von Mobilfunk und Internet infolge zuneh­ mender globaler Vernetzung und Nutzung digitaler Medien, wie beispielsweise Social Media, mobiles Internet, CloudComputing, weiter voran. Auch in Autos der Klein- und Mit­ telklasse werden zunehmend Assistenzsysteme verbaut. Die Vernetzung im Automobil nimmt stark zu (Connected Cars, Connected Driving). All dies erhöht die Nachfrage nach Pro­ dukten aus der Elektrotechnik. Stärker noch als in anderen Bereichen führen Perfor­ manceverbesserungen in der Elektrotechnik zu fortlaufen­ den Innovationen, beispielsweise für Displays und Halbleiter, und zur Ablösung etablierter Technologien. Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist der Ersatz der klassischen Fernsehröhre durch LCD-Fernseher, die schon wenige Jahre später durch LED-Fernseher abgelöst wurden. Jetzt steht die OLED-Technologie in den Startlöchern, ist aber aktuell vor­ zugsweise in kleineren Bildschirmen zu finden. Auch zukünftig muss mit ähnlichen – teils disruptiven – Innovationen gerech­ net werden. Besonders dynamisch wächst die Elektrotechnik in den asiatischen Ländern China, Indien, Südkorea. Der Anteil dieser drei Länder an der Weltproduktion liegt im Jahr 2030 bei 54 Prozent. Trotz eines Wachstumsrückgangs im Vergleich zur vergangenen Dekade sind auch die Vereinigten Staaten weiterhin ein wichtiger Standort für die Elektroindustrie. Die US-amerikanische Elektrotechnik wächst im Prognosezeit­ raum immer noch im Durchschnitt um 3,1 Prozent pro Jahr. Ihr Anteil an der weltweiten Produktion sinkt zwar von derzeit 18 auf 15 Prozent, damit bleiben die Vereinigten Staaten aber immer noch nach China der zweitwichtigste Produzent von Elektronikprodukten. Chemische Industrie global Die weltweite Nachfrage nach chemischen Erzeugnissen steigt im Prognosezeitraum weiter an. Gegenüber der Vor­ gängerstudie fällt die Dynamik des Nachfragewachstums al­ lerdings geringer aus. Ursächlich dafür ist das jetzt geringer ausfallende Wachstum der Weltwirtschaft und damit der Kun­ denindustrien. Die Trends, die die Chemienachfrage treiben, gelten jedoch weiterhin: Zum einen steigt die Nachfrage aus den Schwellenländern – vor allem aus Asien. Dort spielen die wachsende Bevölkerung und der zunehmende Wohlstand der Mittelschicht eine treibende Rolle. Zum anderen wächst die Chemienachfrage auch in den Industrieländern. Dort findet weniger ein Volumenwachstum statt als vielmehr eine Nach­ Weltwirtschaftliches Umfeld frageverschiebung zugunsten hochwertiger und hochpreisi­ ger innovativer Chemikalien. Darüber hinaus kann die Chemie davon profitieren, dass die Chemieintensität in den Endpro­ dukten über die Zeit bei vielen Kundenbranchen zunehmen wird. Im Fahrzeugbau werden beispielsweise durch Elektro­ mobilität und Leichtbau künftig mehr Spezialchemikalien benötigt. Im Baugewerbe gewinnen chemische Produkte durch zunehmende Gebäudeisolationen an Bedeutung, während der vermehrte Einsatz von Solarzellen die Chemie­ intensität in der Elektrotechnik hochtreibt. Auch für eine um­ weltfreundliche Stromerzeugung wird Chemie benötigt. Kein Hochleistungs-Windrad könnte ohne Chemieinnovationen funktionieren. Und letztlich benötigt eine wachsende und alternde Weltbevölkerung innovative Medikamente. Dadurch ergeben sich für die Pharmaunternehmen Wachstumschan­ cen. Insgesamt gelingt es der chemischen Industrie damit, ihre Position als wichtiger Vorleistungslieferant zu behaupten und teilweise sogar auszubauen. Dank der guten Nachfrageentwicklung steigt die welt­ weite Chemieproduktion in den Jahren 2013 bis 2030 mit durchschnittlich 3,4 Prozent pro Jahr und damit immer noch dynamischer als die Industrieproduktion insgesamt. Neue Produktionskapazitäten werden auch zukünftig in Regionen mit starkem Nachfragewachstum – insbesondere in weiten Teilen Asiens – aufgebaut. Die Produktion folgt damit zu einem großen Teil der Nachfrage. Sie orientiert sich jedoch auch an der Verfügbarkeit der Rohstoffe. Daher findet in den kommenden Jahren ein starker Kapazitätsaufbau in rohstoff­ reichen Ländern statt – beispielsweise im Nahen Osten, den rohstoffreichen Staaten Lateinamerikas und in den USA. In den USA führte der Shale-Gas-Boom zu einem kräftigen Ka­ pazitätsaufbau, der sich in den kommenden Jahren, wenn­ gleich etwas abgeschwächt, fortsetzt. Insgesamt wird die Chemieproduktion in den Schwellenländern mit einer durch­ schnittlichen Rate von 4,8 Prozent pro Jahr deutlich schneller wachsen als in den Industrieländern (1,9 Prozent pro Jahr). In der Länderstruktur zeigt sich im Prognosezeitraum eine deutliche Verschiebung: China kann als Folge seiner massiv steigenden Nachfrage nach chemischen Erzeugnissen und des damit einhergehenden Ausbaus der eigenen Produkti­ onskapazitäten weitere Anteile an der globalen Produktion hinzugewinnen. Die chinesische Chemieproduktion wächst bis 2030 durchschnittlich um 5,2 Prozent pro Jahr. Bereits heute ist China der größte Chemieproduzent der Welt. Zum Ende des Prognosezeitraums dominiert China das globale Chemiegeschäft mit einem Anteil von knapp 45 Prozent jedoch noch deutlicher. Die anderen Schwellenländer können aufgrund der Dominanz Chinas trotz des historisch hohen Ka­ pazitätsausbaus nur geringe Anteilsgewinne verbuchen. Der Bedeutungszuwachs Chinas geht im Wesentlichen zu Lasten der Industrieländer. Trotz eines Anteilsverlusts bleiben die Vereinigten Staaten und Deutschland auch 2030 bedeu­ tende Chemieproduzenten. Die Vereinigten Staaten profi­ tieren dabei künftig verstärkt von der Shale-Gas-Produktion und einem dynamischen Wachstum der heimischen Kunden. Ihre Chemieproduktion wächst mit 2,3 Prozent pro Jahr und damit dynamischer als der Durchschnitt der Industrieländer. Der Anteilsverlust beläuft sich bis 2030 auf etwas mehr als 3 Prozentpunkte, so dass die Vereinigten Staaten mit einem Anteil an der globalen Chemieproduktion von 17,5 Prozent im Jahr 2030 immer noch der zweitwichtigste Chemieprodu­ zent der Welt bleiben. Japans Chemieindustrie kann im Pro­ gnosezeitraum kaum noch zulegen. Entsprechend verliert das Land deutlich Weltmarktanteile. Im Jahr 2030 ist die japani­ sche Chemieindustrie nur noch der fünftgrößte Produzent von Chemikalien und Pharmazeutika. Indiens Chemieindustrie baut hingegen mit einem Wachstum von 5,4 Prozent kräftig Weltmarktanteile aus und schiebt sich im Jahr 2030 auf Platz drei vor. Deutschland kann seinen vierten Platz halten. Die Globalisierung der chemischen Industrie wird sich in den kommenden Jahren fortsetzen. Der Außenhandel mit chemischen Produkten wird auch in Zukunft einen hohen Stel­ lenwert haben. Trotz des Kapazitätsaufbaus werden viele Schwellenländer ihre stark wachsende Chemienachfrage nicht aus heimischer Produktion decken können. Hier bieten sich Wachstumschancen für die Industrieländer, die dadurch das niedrige Nachfragewachstum im Inland kompensieren können. Insgesamt bleiben die Industrieländer daher ein be­ deutender Produktionsstandort für die Chemie. SCHIEFERGAS FÜHRT ZUR RENAISSANCE DER US-CHEMIE Das reale Produktionsvolumen der US-Chemie steigt von 768 Milliarden Euro in 2013 bis zum Jahr 2030 um 48 Prozent auf 1,1 Billionen Euro. Mit durchschnittlich 2,3 Prozent pro Jahr wächst die Chemieproduktion damit dynamischer als die In­ dustrieproduktion (+ 2 Prozent) oder die Gesamtwirtschaft (+ 2,1 Prozent). Damit wird sich das Wachstum in der US-Che­ mie gegenüber dem Zeitraum 2000 bis 2013 beschleunigen. Durch Shale-Gas wurde ein Investitionsboom ausgelöst, der zwar in der jüngsten Vergangenheit zunächst alte Anlagen substituierte, in Zukunft aber neue, deutlich effizientere und größere Anlagen hervorbringen wird. Anfang der 2020er Jahre wird dieser Aufbau weitgehend abgeschlossen sein und die Zu­ wachsraten bei den Investitionen werden sich normalisieren. Die Verfügbarkeit von günstiger Energie verbessert die Wett­ bewerbsfähigkeit der Chemieindustrie deutlich – gerade in den energieintensiven Grundstoffsparten. Die Produktion in ABB. 13: AUSBAU DER US-BASISCHEMIE US-Chemieproduktion in Mrd. Euro, Anteile in Prozent, CAGR 2013–2030 +2,3% 1.134 18,6% 768 17,3% Basischemie Spezialchemie Pharma 36,2% 36,1% 45,3% 46,6% 2013 2030 Im Zuge des Shale-Gas-Booms baut die US-Chemie die Produktion von chemischen Grundstoffen aus. Günstige Energie verbessert die Wettbewerbsfähigkeit deutlich – ­gerade in den energieintensiven Grundstoffsparten. 21 Weltwirtschaftliches Umfeld ABB. 14: US-CHEMIE WIRD WETTBEWERBSFÄHIGER Außenhandel der US-Chemie- und -Pharmaindustrie in Mrd. Euro, CAGR 2013–2030 +2,5% 195 +2,0% 2013 2030 gnosezeitraum wird die Beschäftigung zwar um 0,3 Prozent pro Jahr sinken, aber damit haben im Jahr 2030 immer noch über 1,1 Millionen Menschen ihren Arbeitsplatz in der USChemie. EU-CHEMIE WÄCHST DANK INNOVATIVER SPEZIALCHEMIE UND PHARMAZEUTIKA In der Europäischen Union steigt – wie in den übrigen I­ndustrieländern auch – insbesondere die Nachfrage nach ­höherwertigen Chemikalien. Neben einem Wachstumseffekt 127 124 durch höherwertige Chemikalien erhöht sich die Chemie­ intensität in einigen Kundenbranchen, so dass in diesen Bereichen auch mengenmäßig mehr nachgefragt wird. Ins­ gesamt steigt die europäische Binnennachfrage jedoch 21 weniger stark als die globale Chemienachfrage. 3 Viele der europäischen Volkswirtschaften sind gut in den Exporte Importe AH-Saldo internationalen Handel integriert und profitieren daher auch vom Nachfragewachstum in den Schwellenländern und den Die US-Chemie produziert nicht nur für den lokalen Markt. USA. Die Chemieexporte in die Länder außerhalb der Euro­ Insbesondere Basischemikalien sind weltweit gefragt. päischen Union (Extra-EU) werden im Prognosezeitraum um Die Exporte von Basisprodukten steigen im Prognosezeit­ mehr als ein Drittel auf real 321 Milliarden Euro im Jahr 2030 raum dynamischer als die übrigen Chemieexporte. steigen. Dies entspricht einer Wachstumsrate von 1,9 Prozent pro Jahr. Im weltweiten Vergleich kann sich die Chemieindustrie in der Basischemie kann im Prognosezeitraum sogar um der Europäische Union mit einem jährlichen Wachstum von 2,7 Prozent pro Jahr ausgeweitet werden. 1,7 Prozent behaupten. Zwar verliert sie in den kommenden Von den günstigen Strompreisen profitiert auch die Jahren mit einem Rückgang von rund 5 Prozentpunkten weiter übrige Industrie. Im Prognosezeitraum kann das verarbei­ Weltmarktanteile. Im Jahr 2030 liegt ihr Anteil dann bei knapp tende Gewerbe mit einer durchschnittlichen Wachstums­ 17 Prozent. Der Rückgang fällt aber nicht so stark aus wie in rate von 2 Prozent pro Jahr zulegen. Besonders dynamisch den Jahren 2000 bis 2013, in denen die Europäische Union wachsen wichtige Abnehmerbranchen der chemischen In­ noch 7,2 Prozentpunkte verloren hatte. dustrie wie der Fahrzeugbau, die Elektrotechnik oder der Wettbewerbsvorteile hat die EU-Chemie durch die länder­ Maschinenbau. Hierdurch steigt die Inlandsnachfrage nach übergreifende Verbundstruktur. Effiziente Verbundstand­orte Chemikalien kräftig. oder regionale Produktionsverbünde in Clustern oder Chemie­ Die US-Chemie produziert aber nicht nur für den lokalen parks helfen, einen Teil des Wettbewerbsnachteils, der durch Markt. Durch die hohe Wettbewerbsfähigkeit steigen die die höheren Energie- und Rohstoffkosten entsteht, zu kom­ Exporte von derzeit real 127 Milliarden Euro auf 195 Milliar­ pensieren. Der Chemieverbund bleibt auch im Prognosezeit­ den Euro im Jahr 2030. Dies entspricht einer Wachstumsrate raum insgesamt erhalten. Die bestehenden Anlagen haben von 2,5 Prozent pro Jahr. Dabei sind insbesondere Basische­ sich mittlerweile weitgehend amortisiert. Die Branche inves­ mikalien weltweit gefragt. Die Exporte von Basisprodukten tiert zwar kontinuierlich in den Erhalt und moderaten Ausbau steigen im Prognosezeitraum mit 3,1 Prozent pro Jahr dyna­ bestehender Anlagen (Debottlenecking). Neue, große und mischer als die übrigen Chemieexporte. Dabei gehen diese effizientere World-Scale-Anlagen werden in dem fortbeste­ Produkte hauptsächlich nach Lateinamerika und nach Asien. henden energiepolitischen Umfeld allerdings nicht gebaut. Durch die robuste Inlandsnachfrage steigen auch die Dies ist im weltweiten Wettbewerb ein Nachteil. Importe. Dabei importieren die Vereinigten Staaten haupt­ In der Spartenbetrachtung zeigt sich, dass insbeson­ sächlich Spezialchemikalien und Pharmazeutika. Das Import­ dere die Basischemie stark an Wettbewerbsfähigkeit einbüßt. volumen chemischer Erzeugnisse steigt mit durchschnittlich Diese Sparte kann im Prognosezeitraum nur um 0,5 Prozent 2 Prozent pro Jahr von heute real 124 Milliarden Euro auf 174 Milliarden Euro im Jahr 2030. Da die Exporte dynamischer pro Jahr wachsen. Hohe Rohstoff- und Energiekosten in Kom­ bination mit starken Wettbewerbern in den USA und im wachsen als die Importe, gelingt es den Vereinigten Staaten bis zum Jahr 2030, den Außenhandelsüberschuss mit Chemi­ Nahen Osten führen mittelfristig dazu, dass das Wachstums­ kalien von derzeit 3 Milliarden Euro auf 21 Milliarden Euro aus­ potenzial gering ist. Die Wettbewerbsfähigkeit dieser Sparte zuweiten. Die größten Zuwächse finden dabei im Bereich der steht auch in Zukunft – bedingt u.a. durch eine sehr ambiti­ onierte Klimapolitik – konstant unter Druck. Für die europä­ Basischemie statt, aber auch die Spezialchemie kann ihren ische Basischemie bedeutet dies, dass die Exportdynamik Überschuss ausweiten. Im Gegensatz dazu vergrößert sich gering ist und der Importdruck steigt. Bis zum Jahr 2030 das Defizit bei Pharmazeutika. können die Basischemieexporte der EU in Länder außerhalb Im Jahr 2013 beschäftigte die chemische Industrie in der Union nur um 0,3 Prozent pro Jahr zulegen. In einigen den Vereinigten Staaten über 1,2 Millionen Menschen. Teilbereichen der Basischemie sind die Exportvolumina sogar Dies entspricht einem Anteil von 0,8 Prozent der gesamt­ rückläufig (Petrochemikalien und Standardpolymere). Demge­ wirtschaftlichen Beschäftigung und 8,3 Prozent der in der genüber steigen die Basischemieimporte von außerhalb der amerikanischen Industrie beschäftigten Personen. Im Pro­ 174 22 Weltwirtschaftliches Umfeld EU mit 1 Prozent pro Jahr deutlich an. Zunehmend drängen Basischemikalien aus dem Nahen Osten und teils auch aus nordamerikanischer Produktion auf den europä­ischen Markt. Der Außenhandelssaldo bleibt im Prognosezeitraum zwar positiv, schmilzt aber deutlich ab. Die europäische Basische­ mie produziert überwiegend für die heimische Produktion. Positiver entwickeln sich hingegen die Spezialchemi­ kalien. Hier geht die Prognose von einem dynamischen Wachstum bis 2030 von 1,9 Prozent pro Jahr aus. Forschungs­ intensivere und höherwertige Spezialchemikalien gewinnen künftig an Bedeutung. Dabei handelt es sich in der Regel um kleinvolumige und innovative Chemikalien und Zubereitun­ gen, die in enger Abstimmung mit den Kundenindustrien ent­ wickelt werden. Innovationen, eine Stärke der europäischen Chemie, sind der Treiber dieser Sparte. Eine hohe Außenhan­ delsdynamik sowie ein deutlich geringerer Importdruck als in der Basischemie ermöglichen steigende Außenhandelsüber­ schüsse und damit eine dynamische Entwicklung der Produk­ tion. Der Außenhandelsüberschuss mit Ländern außerhalb der EU steigt von derzeit 29 Milliarden Euro auf real 40 Milliar­ den Euro im Jahr 2030. Ebenfalls dynamisch wächst das Pharmageschäft – eine weitere Stärke der europäischen Chemie. Eine weltweit wachsende und alternde Bevölkerung führt zu einer steigenden Nachfrage nach pharmazeutischen Produkten. Auch der zunehmende Wohlstand und die wachsende Mittelschicht in den Schwellenländern führen zu steigenden Ausgaben für Medikamente und Life-Science-Produkte. Europäische Pharmazeutika sind weltweit gefragt. Die Extra-EU-Exporte können im Prognosezeitraum dynamisch zulegen (+ 2,4 Prozent pro Jahr). Die Importe – hauptsächlich von Vorprodukten – legen nur um 2 Prozent zu. In der Folge steigt auch der Außenhan­ delsüberschuss bis 2030 um mehr als 60 Prozent. Der Ländervergleich zeigt ein dynamisches Wachstum in den osteuropäischen Staaten der EU. Hier liegen die Wachs­ tumsraten in vielen Ländern über dem EU-Durchschnitt. Über die Jahre haben sich hier teils ernstzunehmende Wettbewer­ ABB. 15: AH-SALDO DER EU-CHEMIE WÄCHST WEITER Außenhandel der EU-Chemie- und -Pharmaindustrie in Mrd. Euro, CAGR 2013–2030 +1,9% ber der „klassischen“ Chemienationen entwickelt. Dennoch schwächt sich das Wachstum gegenüber der Vordekade ab. Nach erfolgreicher Transformation der osteuropäischen Länder kommt der dynamische Kapazitätsaufbau allmählich zum Erliegen. Trotz der Wachstumsunterschiede zwischen den euro­ pä­ischen Ländern zeigt sich die Länderstruktur bis 2030 ver­ gleichsweise konstant. In den Top 5 ändert sich gegenüber dem heutigen Stand nichts. Deutschland wird auch im Jahr 2030 mit einem Anteil von knapp 23 Prozent die europäische Chemieproduktion anführen. Mit Abstand folgen Frankreich, Italien, Irland und Großbritannien. Belgien kann zwei ­Rangplätze hinzugewinnen und landet auf Platz sechs. Spanien und die Niederlande verlieren jeweils einen Platz und erreichen die Plätze sieben bzw. acht. Die EU-Chemie ist und bleibt ein wichtiger Arbeitgeber. In der europäischen Chemieindustrie arbeiteten im Jahr 2013 rund 1,7 Millionen Menschen. Dies entsprach einem Anteil von 5,5 Prozent der in der Industrie tätigen Personen bzw. 0,8 Prozent der gesamtwirtschaftlich Beschäftigten. Die mit Abstand meisten Beschäftigten hatte die deutsche Chemie. Ihr Anteil an der EU-weiten Beschäftigung der Branche lag 2013 bei 27,2 Prozent. Es folgt Großbritannien mit einem Anteil von 12 Prozent und Italien mit 10,4 Prozent. In der E ­ uro­päischen Union wird im Zuge von Produktivitäts­ steigerungen die Beschäftigung im Prognosezeitraum um 0,6 Prozent pro Jahr sinken, so dass im Jahr 2030 etwas mehr als 1,5 Millionen in der europäischen Chemieindustrie arbeiten werden. ABB. 16: TOP 5 DER EU-CHEMIE UNVERÄNDERT Chemie- und Pharmaproduktion in der Europäischen Union in Mrd. Euro, Anteile in Prozent, CAGR 2013–2030 2013 2030 321 +1,7% 1.092 22,5% 815 234 +1,7% 23,3% 10,3% 185 14,1% 139 136 96 11,0% 9,3% 8,8% 33,5% Extra-EU-Exporte Extra-EU-Importe 13,8% AH-Saldo Die europäischen Chemiestandorte sind gut in den internationalen Handel integriert und profitieren daher auch vom globalen Nachfragewachstum. In der Basischemie nimmt der Importdruck hingegen deutlich zu. 2013 9,9% Deutschland Frankreich Italien Irland Großbritannien Restliche EU 28 8,6% 34,9% 2030 Deutschland wird auch im Jahr 2030 noch der wichtigste Chemieproduzent in der Europäischen Union sein. Da andere Länder aber dynamischer wachsen, verliert Deutschland leicht an Anteilen. 23 Entwicklung in Deutschland bis 2030 Entwicklung in Deutschland bis 2030 Dekade. Demgegenüber gewinnt die Binnenwirtschaft an ­Bedeutung. Das zukünftige Wachstum beruht vor allem auf einer Steigerung des privaten Konsums sowie einer leichten Ausweitung der Investitionstätigkeit. Der Außenhandelsüberschuss nimmt zwar noch weiter zu, aber die Zeiten mit zweistelligen Wachstumsraten sind vorbei. Bei den Exporten wirkt sich vor allem die nachlassende Wachstumsdynamik in den Schwellenländern negativ aus. Weder das moderate Wachstum in Europa noch die Nach­ frageentwicklung in den USA können dies kompensieren. Die Importe steigen mit der gleichen Dynamik wie die Exporte, so dass vom Außenbeitrag nur geringe Wachstumsbeiträge zu erwarten sind. Der Beitrag des Staatskonsums zum Wachstum des Brut­ toinlandsprodukts ist zukünftig ebenfalls niedrig. Hierbei wurden strukturelle Änderungen im Staatshaushalt unter­ stellt. Wegen der guten Lage am Arbeitsmarkt können kon­ sumtive Ausgaben des Staates teilweise zur Finanzierung der Binnenwirtschaft gewinnt an Bedeutung maroden Infrastruktur genutzt werden. Wegen der Haushalts­ Nach den neuen Projektionen wird die deutsche Wirt­ konsolidierung und der Schuldenbremse sinkt die Schulden­ schaft bis 2030 um durchschnittlich 1,3 Prozent pro Jahr standsquote Deutschlands von heute rund 75 Prozent auf wachsen. Im Vergleich zu den vorangegangenen 13 Jahren 55 Prozent im Jahr 2030. Der fiskalpolitische Spielraum bleibt wird sich das Wachstum sogar um 0,2 Prozentpunkte be­ daher weiterhin begrenzt. schleunigen. Dennoch bleibt die Dynamik im Vergleich zu Die Investitionen gewinnen für das Wachstum an Bedeu­ den Entwicklungen vor der Weltwirtschaftskrise und im Ver­ tung. Allerdings auf sehr niedrigem Niveau. Von 2000 bis 2013 gleich zu der Wachstumsdynamik anderer europäischer sind die Ausrüstungsinvestitionen in Deutschland kaum ge­ ­Volkswirtschaften niedrig. Deutschland ist zukünftig weit wachsen. In dieser Zeit hat sich ein erheblicher Investitions­ davon entfernt, Wachstumslokomotive in Europa zu sein. stau insbesondere bei der Verkehrsinfrastruktur ergeben, der Ein Blick auf die Nachfragekomponenten des Brutto­ sich zukünftig allmählich auflöst. Dennoch setzt sich die Invesinlandsprodukts zeigt, dass sich das Wachstumsmodell der titionsschwäche fort. Die Investitionen steigen bis 2030 nur deutschen Volkswirtschaft grundlegend ändert: Während Deutschland vor 2013 fast die Hälfte seines Wachstums seinen leicht dynamischer als in der vergangenen Dekade. Und der Anteil der Investitionen am BIP sinkt von heute knapp 20 ProExporterfolgen verdankte, wächst der Außenbeitrag im Pro­ ­zent auf rund 18 Prozent (2030). gnosezeitraum deutlich langsamer. Auch der ­Staatskonsum Die weiterhin unzureichenden Rahmenbedingungen und trägt weniger zum Wachstum bei als in der vergangenen die globalen Wachstumsperspektiven bremsen die private In­ vestitionstätigkeit. Einige private Investitionen nehmen aber dennoch zu – beispielsweise im Wohnungsbau. Bis 2030 ABB. 17: WENIGER IMPULSE AUS DEM AUSLAND fehlen deutschlandweit neue Wohnungen. Ausnahmen sind BIP-Wachstum in Deutschland in Prozent pro Jahr, Wachstumsbeiträge der Komponenten in Prozent ländliche Umgebungen. Der Grund: Die Nachfrage nach Sin­ 1,3 glewohnungen und der Zuzug in die Großstädte halten weiter Staatlicher Konsum 12,5% an. Die staatlichen Investitionen bleiben schwach. Die Initia­ Privater Konsum tiven für mehr Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur der 1,0 Investitionen Bundesregierung wirken nur kurzfristig. Die sinkende Bevöl­ Außenbeitrag 18,7% kerungszahl dämpft gegen Ende des Prognosezeitraums die 58,2% staatlichen Infrastrukturinvestitionen wieder. Dennoch über­ 33,1% trifft der Wert der Investitionen im Durchschnitt den Wert der Abschreibungen. Insgesamt wächst damit der Kapitalstock in 3,9% Deutschland. 14,0% Wachstumstreiber Nr. 1 wird zukünftig der private Konsum 44,4% sein. Auf ihn entfallen zukünftig fast 60 Prozent des deutschen 15,3% Wirtschaftswachstums. Die günstige Entwicklung des privaten 2000–2013 2013–2030 Konsums stützt sich auf niedrige Zinsen, das Entsparen der ­alternden Bevölkerung, tendenziell steigende Reallöhne und eine Stärkung der Kaufkraft durch niedrige Ölpreise. Die Kon­ In Deutschland wird die Binnenwirtschaft an Bedeutung gewinnen. Der private Konsum wird zur wichtigsten Säule für sumquote wird dadurch insgesamt steigen. Die Generation das gesamtwirtschaftliche Wachstum. Auch die Investitionen der Babyboomer wird verstärkt ihre Geldanlagen auflösen. gewinnen trotz schwacher Dynamik an Bedeutung hinzu. Für die meisten zukünftigen Rentner wird es eine Notwen­ Die langfristige Entwicklung Deutschlands wird wesentlich durch den demografischen Wandel, das weltwirtschaftliche Umfeld, die Rohstoff- und Energiekosten sowie durch die in­ ternationale Wettbewerbsfähigkeit bestimmt. Da die Euro­ päische Union der wichtigste Handelspartner bleibt, ist das Fortkommen der deutschen Wirtschaft eng mit der Entwick­ lung der Nachbarländer und der Europäischen Union ver­ knüpft. Die Unsicherheit bezüglich der Zukunft von EU und Gemeinschaftswährung ist wegen der Schuldenkrise in ­Griechenland und des Referendums in Großbritannien über einen Verbleib in der EU groß. Zudem gefährdet die Flücht­­ lingskrise wegen der Grenzkontrollen das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes. Die im Folgenden be­ schriebenen Entwicklungen in Deutschland setzen einen Erhalt der Europäischen Union, den Fortbestand des Euro und einen funk­tionierenden Binnenmarkt voraus. 24 Entwicklung in Deutschland bis 2030 digkeit sein, ans Ersparte zu gehen. Denn angesichts der Alterung der Gesellschaft wird die schrumpfende Leistungs­ fähigkeit der gesetzlichen Rente immer stärker durch private Vorsorge ausgeglichen werden müssen. Hinzu kommt, dass ältere Menschen mehr Geld für die Freizeitaktivitäten oder für die Pflege ausgeben. Der private Konsum profitiert aber auch noch von einer weiteren Folge der demografischen Entwick­ lung: Das Arbeitskräfteangebot in Deutschland sinkt und lässt so die Reallöhne tendenziell steigen. Die Arbeitslosenquote erreicht 2030 einen Wert von unter 4 Prozent. Die Entgelt­ erhöhungen lagen in den vergangenen Jahren über der Infla­ tion. Dieser Trend wird sich im Prognosezeitraum fortsetzen. Der demografische Wandel wirkt sich aber auch brem­send auf die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft aus. Denn der deutschen Wirtschaft droht eine Arbeitskräftelücke. Ein erheblicher Teil der heutigen Arbeitnehmer wird bis 2030 in den Ruhestand gehen und die Zahl der neu in den Arbeits­ markt eintretenden Arbeitnehmer fällt deutlich geringer aus. Die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter sinkt von 53,1 Millionen auf 49,3 Millionen. Dies ist ein Rückgang von 0,4 Prozent pro Jahr. Dem dadurch entstehenden Arbeits­ kräftemangel wird annahmegemäß durch entsprechende Maßnahmen wie beispielsweise die Erhöhung der Erwerbs­ beteiligung von Frauen, eine Stärkung des Bildungsangebo­ tes und vor allem eine arbeitsmarktbezogene substanzielle Netto-Zuwanderung entgegengewirkt. Die aktuelle Flücht­ lingskrise ist in die Prognosen noch nicht eingerechnet, da derzeit völlig unklar ist, in welchem Umfang die Migranten in den Arbeitsmarkt ­integriert werden können. Auch ist nicht absehbar, inwieweit die zunehmende Digitalisierung sich auf die Quantität der nachgefragten menschlichen Arbeitszeit auswirken wird. Unter diesen Annahmen sinkt die Zahl der Erwerbstätigen bis 2030 nur um 0,2 Prozent pro Jahr. Das entspricht einem Rückgang von 1,2 Millionen Personen. Das gesamtwirtschaft­ liche Arbeitsvolumen geht nur leicht zurück, da insbesondere für die aktuellen Teilzeitstellen steigende Arbeitszeiten un­ terstellt sind. Es ist und bleibt aber eine zentrale Aufgabe der Politik, die hierfür notwendigen Rahmenbedingungen etwa für die Kinderbetreuung bereitzustellen und in dieser Hinsicht kontraproduktiven Steueranreizen entgegenzuwirken. Die ge­ samtwirtschaftlich niedrigere Erwerbstätigenzahl wird in der Industrie dazu führen, dass der Personalbedarf nicht mehr überall gedeckt werden kann. Aber auch im Dienstleistungs­ bereich wird es Personalengpässe geben, z. B. bei der Erzie­ hung oder in Pflegeberufen. Polizei und Bundeswehr können schon heute nicht alle offenen Stellen besetzen. Zudem werden sich die Anforderungen an die Arbeits­ kräfte verändern. Die Arbeitswelt wandelt sich dabei nicht nur für neu einzustellende Arbeitskräfte, sondern vor allem auch für die bereits heute im Berufsleben stehenden Mitar­ beiter. Insbesondere durch die Digitalisierung und Vernet­ zung der Wirtschaft, durch neue Geschäftsmodelle und durch den technologischen Fortschritt werden neue Jobs mit verän­ dertem Anforderungsprofil geschaffen, während gleichzeitig an anderer Stelle herkömmliche Arbeitsplätze verloren gehen. Der Wandel erfordert daher von Unternehmen und Mitarbei­ tern hohe Flexibilität und Veränderungsbereitschaft. Ohne die notwendigen Veränderungen am Arbeitsmarkt und bei der Ausbildung droht ein qualifikatorischer „Mismatch“, der den Arbeitskräftemangel verstärkt. Auch die Bedeutung von Umschulungen steigt. Die Alterung der Gesellschaft führt aber nicht nur zu einer Arbeitskräftelücke, sondern lässt auch die Lohnzusatz­ kosten real steigen. Denn im Jahr 2030 kommen auf einen Rentner zwei Erwerbstätige. Heute sind es dagegen noch 2,5 Arbeitskräfte. Zudem ist durch die Alterung der Bevölkerung von steigenden Ausgaben der Kranken- und Pflegeversiche­ rungen auszugehen. In diesem Umfeld haben insbesondere die Sozialpartner eine hohe Verantwortung für die Beschäf­ tigungsentwicklung und die Wettbewerbsfähigkeit. In den Prognosen wurde unterstellt, dass die Lohnstückkosten der deutschen Industrie weitgehend stabil bleiben. Das bedeutet, dass die Löhne nicht stärker steigen als die Produktivität. Industrie bleibt zentrale Stütze der deutschen Wirtschaft Dass Deutschland vergleichsweise positive langfristige Wachstumsperspektiven hat, ist vor allem auf den starken in­ dustriellen Kern zurückzuführen. Hierzulande liegt der Indus­ trieanteil am BIP mit mehr als 23 Prozent fast doppelt so hoch wie in den USA, in Frankreich oder Großbritannien. Zudem sind in Deutschland nahezu alle Branchen mit Unternehmen ver­ treten, die zur internationalen Spitze gehören. Industriepro­ dukte „Made in Germany“ genießen wegen hoher Qualität weltweit Anerkennung. Deutschland ist ein beliebter Standort für die Industrieproduktion, der auch ausländische Unterneh­ men anlockt. Die deutsche Industrie hat sich in vielen Wachstumsbe­ reichen wie Energie- und Ressourceneffizienz, Mobilität und Logistik, Klimaschutz und Umwelt sowie Gesundheit sehr stark positioniert. Entscheidend für den Erfolg der deutschen Industrie sind neben der Offenheit der Volkswirtschaft ihre hohe Innovations- und Forschungstätigkeit sowie die starke industrielle Vernetzung. Damit konnten die deutschen Indus­ trieunternehmen bisher in einem zunehmend wettbewerbsin­ tensiven Umfeld erfolgreich bestehen. ABB. 18: DEUTSCHLAND – ZUKUNFT DURCH INDUSTRIE Anteile der Industrie an der Bruttowertschöpfung wichtiger Länder in Prozent 24 Deutschland Japan Italien USA Frankreich Großbritannien 22 20 18 16 14 12 10 0 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 Deutschlands Stärke ist seine industrielle Basis. Die Industrie kann ihren hohen Anteil an der gesamten Bruttowertschöpfung halten. Damit geht Deutschland auch in Zukunft einen anderen Weg als viele Industrieländer. 25 Entwicklung in Deutschland bis 2030 Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung blieb in den vergan­g­enen Jahren nahezu stabil bei rund 23 Prozent. Dies ist deutlich mehr als in anderen Industrieländern wie beispielsweise Frankreich, Großbritannien oder den Vereinigten Staaten. In diesen Ländern liegt der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung zwischen 10 und 12 Prozent und damit bereits heute deutlich niedriger als in Deutschland. Auch im Prognosezeitraum bleibt in Deutschland der Anteil der Industrie an der gesamten Wertschöpfung bis 2030 mit fast 23 Prozent konstant. Damit bleibt auch die Bedeu­ tung der Industrie für das Wirtschaftswachstum in Deutsch­ land hoch. Bedeutend größere Anteilsverluste verzeichnen die Industriebranchen beispielsweise in Frankreich, den USA und Großbritannien, wenngleich die Verluste dort nicht mehr so hoch ausfallen wie in der Vergangenheit. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an den Erwerbs­ tätigen in der Gesamtwirtschaft nahm dagegen in der V ­ er­gangenheit ab. Heute liegt er bei rund 18 Prozent. Im Prognosezeitraum setzt sich dieser Trend moderat fort. Der Anteil an den Gesamterwerbstätigen in Deutschland sinkt auf etwas unter 16 Prozent. Die Kapitalintensität der Produktion wird zunehmen und rechnerisch für Produktivitätsfortschritte sorgen. Eine dominante Rolle spielt das verarbeitende Gewerbe im Außenhandel. Zwar nahm der Anteil der Dienstleistungen am gesamten Handelsvolumen in den vergangenen Jahren spürbar zu. Gleichwohl dominiert nach wie vor der Güter­ handel. Bei den Exporten liegt der Anteil des verarbeitenden Gewerbes bei fast 80 Prozent, bei den Importen bei nahezu 70 Prozent. Bedingt durch den Rückgang des ­Arbeitskräftepotenzials und des zunehmenden Wettbewerbs werden Unternehmen vermehrt in produktivitätssteigernde Prozesse und ­Technologien sowie in die Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeiter investie­ ren. Dies zeigt sich in der prognostizierten verstärkten Nach­ frage nach hochqualifizierten Arbeitskräften der Branchen ABB. 19: LEITBRANCHEN SIND TEMPOMACHER Industrieproduktion in Deutschland, CAGR 2013–2030, Anteile in Prozent +1,4% Leitbranchen Restliche Industrie 66,9% 62,5% 37,5% 33,1% 2013 2030 Wachstumstreiber der deutschen Industrie sind ihre Leitbranchen – der Fahrzeugbau, die Elektroindustrie, der Maschinenbau, die Chemie- und Pharmaindustrie und die Kunststoffverarbeiter. Die Bedeutung dieser Branchen wird sich erhöhen. 26 und dem hohen Anteil des verarbeitenden Gewerbes an den Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FuE). Die langfristigen demografischen, klimatischen und tech­ nologischen Trends führen zu einer dynamischen Entwicklung innerhalb der Bereiche Energie- und Ressourceneffizienz, Mo­ bilität und Logistik, Klimaschutz und Umwelt. In Deutschland können davon besonders der Maschinenbau, der Kraftwagen­ bau, die Elektroindustrie, die chemisch-pharmazeutische In­ dustrie und die Kunststoffverarbeiter profitieren. Diese Leitbranchen sind die Treiber der Industrieproduk­ tion in Deutschland. Es zeichnet sie eine hohe i­nternationale Wettbewerbsfähigkeit aus. Sie können einen Anstieg ihrer Produktion um 1,9 Prozent pro Jahr bis 2030 verbuchen, während die Industrie insgesamt um 1,4 Prozent wächst. Ins­ gesamt bleibt das Wachstum der Industrie damit etwas höher als das Wachstum der Gesamtwirtschaft. Am dynamischsten entwickelt sich die Elektroindustrie, gefolgt vom Fahrzeug- und Maschinenbau. Die Elektroindus­ trie profitiert von einer rapide wachsenden Nachfrage nach hochwertigen elektronischen Produkten insbesondere aus China sowie von zunehmend neuen Anwendungsmöglich­ keiten von computergesteuerter Technik, unter anderem im Zuge der Digitalisierung. Der Fahrzeugbau wird neben seiner Innovationskraft auch durch die Produktion von Fahrzeugen für den Schienenverkehr gestützt. Hier steigt die globale Nachfrage durch eine zunehmende Bedeutung umweltver­ träglicher Transportmöglichkeiten und aufgrund einer dyna­ mischen Entwicklung des grenzüberschreitenden Handels. Für die innovationsstarke Pharmabranche verbessert sich aufgrund der zunehmenden Alterung der deutschen und der globalen Bevölkerung die Absatzposition. Wettbewerbsdruck kommt dabei allerdings unter anderem von Generika-Herstel­ lern sowie aus Ländern mit geringeren Produktionskosten. Die chemische Industrie und der Maschinenbau können sich aufgrund ihrer Innovationskraft sowie des hohen Produktspe­ zialisierungsgrades auch in Zukunft in einem zunehmend wettbewerbsintensiven Umfeld behaupten. Insbesondere die Elektroindustrie und der Fahrzeugbau steigern bis 2030 ihren Anteil an der Wertschöpfung im ver­ arbeitenden Gewerbe. Im Kraftwagenbau setzt sich damit eine Entwicklung fort, die bereits vor 2013 zu beobachten war. Der Wertschöpfungsanteil im Maschinenbau nimmt bis 2030 ebenfalls zu. Die Anteile in der Chemieindustrie und bei den Kunststoffverarbeitern bleiben dagegen konstant. Insgesamt ist der Fahrzeugbau auch in Zukunft die wichtigste Branche der deutschen Industrie, gemessen am Beitrag zur Brutto­ wertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe, gefolgt vom ­Maschinenbau und der Elektroindustrie. Die Chemie folgt auf Rang vier. Die Zunahme der Wertschöpfung wird trotz eines Rück­ gangs der Erwerbstätigen generiert. So ist die Zahl der Er­ werbstätigen in allen Branchen im Jahr 2030 geringer als 2013. Damit setzt sich ein Trend der Vergangenheit fort. Wachstumschancen für die deutsche Chemie Wachstumschancen für die deutsche Chemie Das reale Produktionsvolumen der deutschen Chemie steigt von 190 Milliarden Euro im Jahr 2013 bis zum Jahr 2030 um 30 Prozent auf 246 Milliarden Euro. Mit durchschnittlich 1,5 Prozent pro Jahr wächst die Chemieproduktion damit etwas ­dynamischer als die Industrie oder die Gesamtwirtschaft. Das Wachstum wird sich aber im Vergleich zur historischen Entwicklung leicht abschwächen. Von 2000 bis 2013 stieg die deutsche Chemieproduktion noch um 1,8 Prozent pro Jahr. Auch mit dem globalen Chemiewachstum kann die deutsche Chemie im Prognosezeitraum nicht Schritt halten, denn weltweit wird die Chemieproduktion bis 2030 um 3,4 Prozent pro Jahr zulegen. Trotz eines Anteilsverlusts von 1,4 Prozentpunk­ ten bleibt Deutschland der viertgrößte Chemieproduzent der Welt. Die deutsche Chemie ist mit ihrer starken Pharmasparte, der innovativen Spezialchemie und den hocheffizienten Pro­ duktionsanlagen der Grundstoffchemie international wett­ bewerbsfähig. Zu den Stärken zählen vor allem die hohe Innovationskraft, die Verbundproduktion, die Chemieparks und das starke deutsche Industrienetzwerk. Aktuell ist die Bundesrepublik Exportweltmeister im Chemikalienhandel und eines der wenigen Länder mit einem Außenhandelsüberschuss im Chemiesektor. Dieser betrug im Jahr 2013 real 51 Milliarden Euro. Damit trug die Branche in erheblichem Umfang zum gesamten deutschen Außenhandelsüberschuss bei. Die Chemie ist eine der Kernbranchen der deutschen In­ dustrie und sichert im Verbund mit anderen industriellen Leitbranchen Wachstum und Wohlstand der deutschen Volks­ wirtschaft. Deutschland wird auch zukünftig vom hohen Wachstum der globalen Chemiemärkte profitieren. Die Chemieexporte Deutschlands steigen bis zum Jahr 2030 um 1,7 Prozent pro Jahr. Das Exportwachstum fällt aber wegen der globalen Wachstumsabschwächung schwächer aus als in der Vorgän­ gerstudie. Im Inland wächst die Nachfrage nach chemischen Erzeugnissen mit 1,5 Prozent pro Jahr etwas langsamer als die Ausfuhren. Dies hat zur Folge, dass die Exportabhängig­ keit im Prognosezeitraum steigt. Wurden im Jahr 2013 noch 82 Prozent der Gesamtproduktion exportiert, so sind es zum Ende des Prognosezeitraums bereits 84 Prozent. Neben der Exportquote steigt auch das absolute Exportvolumen um 51 Milliarden Euro auf knapp 207 Milliarden Euro im Jahr 2030. Die Zahlen belegen aber auch, dass der Chemiestand­ ort Deutschland Probleme mit der Wettbewerbsfähigkeit hat. Bereits in der Vergangenheit waren die deutschen Chemie­ ausfuhren weniger stark gestiegen als die Exporte anderer Länder. Die Folge war ein Anteilsverlust Deutschlands an den Weltchemieexporten, der vor allem auf eine sinkende At­ traktivität Deutschlands für die Chemieproduktion zurück­ zuführen war. Hierfür waren vor allem die im internationalen Vergleich hohen Rohstoff- und Energiekosten verantwort­ lich. In Zukunft wird sich hieran voraussichtlich nichts Grund­ legendes ändern. Daher wächst der deutsche Chemieexport auch zukünftig langsamer als die Weltchemieexporte, so dass Deutschland trotz der Exporterfolge bis 2030 weiter ChemieWelthandelsanteile verlieren wird. Es besteht also weiterhin industriepolitischer Handlungsbedarf. Das zeigt auch ein Blick auf die Chemieimporte. Vor allem in den Schwellenländern sind neue Wettbewerber hinzuge­ kommen und die wieder erstarkte US-Chemie macht sich bereit, verstärkt auf den europäischen Markt zu drängen. Der Importdruck auf Deutschland nimmt daher bis 2030 zu. So steigt das Importvolumen chemischer Erzeugnisse im Prognosezeitraum von 105 Milliarden Euro auf etwas mehr als 138 Milliarden Euro. Dies entspricht einem Zuwachs von 1,7 Prozent pro Jahr. Import- und Exportdynamik halten sich damit die Waage. Der Anteil der Importe an der Inlandsver­ sorgung steigt. Die Importquote erhöht sich von 75 Prozent im Jahr 2013 auf 78 Prozent in 2030. Trotz steigender Konkurrenz kann sich die deutsche Chemie auch in Zukunft auf den globalen Chemiemärkten behaupten. Die Handelsbilanz Deutschlands mit chemischen Produkten bleibt im Prognosezeitraum positiv. Der Außen­ handelsüberschuss kann sogar noch leicht ausgebaut werden. Er steigt bis 2030 um 34 Prozent auf gut 68 Milliarden Euro. Dies ist aber vor allem dem Pharmageschäft zu verdanken, während bei Basischemikalien der Außenhandelssaldo bis 2030 ins Minus rutscht. Zu den wichtigsten Abnehmern deutscher Chemiepro­ dukte im Ausland gehören heute vor allem europäische Länder und die USA. Bis 2030 steigen die deutschen Exporte nach China kräftig, so dass die Volksrepublik zukünftig hinter der EU und den USA drittwichtigster Abnehmer für deutsche Chemieprodukte sein wird. Zwar wird China zukünftig einen immer größeren Teil seines Chemiebedarfs aus heimischer Produktion decken. Die im internationalen Vergleich hohen Wachstumsraten der chinesischen Wirtschaft eröffnen deut­ schen Chemieexporteuren dennoch Wachstumschancen – vor allem für Pharmazeutika und Spezialchemikalien. Allerdings bleibt die Exportstruktur auch in Zukunft stark auf Europa fokussiert. Im Jahr 2030 gehen knapp 57 Prozent der deutschen ABB. 20: CHEMIE WÄCHST ÜBERDURCHSCHNITTLICH Durchschnittliche jährliche Wachstumsraten von BIP, Industrieund Chemieproduktion in Prozent 1,7 1,8 1,4 1,3 1,0 2000–2013 1,5 BIP Industrie Chemie/Pharma 2013–2030 Das Wachstum in der deutschen Chemieindustrie wird bis 2030 zwar schwächer ausfallen als in der Vergangenheit. Aber die Wachstumsraten werden immer noch über dem Industriedurch­ schnitt und über dem BIP-Wachstum liegen. 27 Wachstumschancen für die deutsche Chemie Chemieausfuhren in die Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Der Bedeutungszuwachs des Außenhandels ist nicht die einzige Veränderung in der Verwendungsstruktur der deut­ schen Chemieproduktion. Auch bei der Struktur der Inlands­ verwendung findet ein Wandel statt. Während der Anteil der Investitionen an der inländischen Verwendung nahezu unver­ ändert bleibt, nimmt die Bedeutung des privaten Konsums im Zuge der demografischen Entwicklung zu. 2013 kam ein Fünftel der Inlandsnachfrage nach chemischen Erzeugnissen von privaten Haushalten. Bis 2030 steigt dieser Anteil auf ein Viertel. Rund 70 Prozent davon entfallen auf Pharmazeutika. Auch die Bedeutung des staatlichen Konsums wird zulegen. Der Anteil steigt wegen der wachsenden Nachfrage nach Pharmazeutika im Gesundheitswesen um einen Prozentpunkt auf 10 Prozent. Durch die starke Verflechtung innerhalb der deutschen Industrie und durch eine steigende Chemieintensität in vielen Kundenbranchen wird die Nachfrage der Industrie nach che­ mischen Produkten zwar insgesamt zulegen und die inländi­ sche Nachfrage bleibt mit deutlichem Abstand die wichtigste Verwendung der deutschen Chemieproduktion. Allerdings wird der Anteil von derzeit 53 Prozent auf 50 Prozent sinken. Dieser leichte Bedeutungsverlust ist auf das schwache Wachstum einiger chemieintensiver Branchen wie beispiels­ weise der Metallerzeugung und -bearbeitung, aber auch der Papierherstellung zurückzuführen. Hinzu kommt, dass auch bei den Verkäufen an industrielle Kunden die ausländische Konkurrenz zunimmt. Die Verflechtung innerhalb der chemischen Industrie nimmt durch den zunehmenden Importdruck bei Basische­ mikalien ebenfalls leicht ab. Dennoch wird die Inlandsnach­ frage der Branche auch zukünftig primär aus der chemischen Industrie selbst stammen. Die Integration der Chemiesparten untereinander ist dabei als eine deutsche Besonderheit und als zentraler Wettbewerbsvorteil zu begreifen. Deutschland bleibt bis 2030 eines der wenigen Länder, die sowohl eine ABB. 21: FOKUS AUF SPEZIALCHEMIE UND PHARMA Reale Produktionswerte der deutschen Chemieindustrie in Mrd. Euro, Anteile der Sparten in Prozent, CAGR 2013–2030 +1,5% 190 starke Basischemie als auch eine große Spezialchemie haben. Dies ermöglicht eine enge Abstimmung und Zusammenar­ beit der Chemiesparten untereinander. Begünstigt wird diese Entwicklung durch Chemieparks und Verbundstandorte, in denen unterschiedliche Unternehmen bzw. Betriebe koope­ rieren und Verbundeffekte nutzen können. Neben der Chemie selbst fragen auch die Kunststoffver­ arbeitung sowie der Fahrzeugbau chemische Erzeugnisse in großem Umfang nach. Mit steigendem Elektronikanteil und dem vermehrten Einsatz von Polymeren im Fahrzeugbau gewinnen chemische Erzeugnisse hier an Bedeutung. Höhere Chemieintensitäten zeigen sich allerdings nicht nur im Fahr­ zeugbau, sondern unter anderem auch im Baugewerbe und in der Elektrotechnik. So spielt die chemische Industrie im Baugewerbe durch zunehmende Gebäudeisolierung eine immer wichtigere Rolle, während der vermehrte Einsatz von Brennstoff- und Solarzellen die Chemieintensität in der Elek­ trotechnik hochtreibt. Darüber hinaus lassen neue Anwen­ dungsgebiete im Bereich des Klima- und Umweltschutzes neue Nachfrage entstehen. Die Erhöhung des Anteils erneu­ erbarer Energien an der Stromversorgung in Deutschland ist nur durch den Einsatz hochwertiger chemischer Produkte bei der Herstellung von Windkraftanlagen und Photovoltaikmo­ dulen möglich. Die deutsche chemische Industrie produziert chemische Erzeugnisse auf ganz unterschiedlichen Stufen der Wertschöpfungskette. Sowohl Basischemikalien als auch Spezial­chemikalien und Pharmazeutika werden in ­Deutschland her­­ge­stellt. Knapp 34 Prozent der chemischen Gesamt­pro­ duktion entfallen auf Basischemikalien. Die Spe­zial­chemikalien weisen mit 39 Prozent einen etwas höheren Anteil auf. Phar­ mazeutika haben mit 27 Prozent den geringsten Anteil. Die Wachstumspotenziale für die einzelnen Chemiespar­ ten sind unterschiedlich. Die größte Dynamik weist zukünftig das Pharmageschäft auf. Aber auch den Herstellern von in­ novativen Spezialchemikalien bieten sich im In- und Ausland gute Wachstumschancen. Demgegenüber hat die Basis­ ABB. 22: PHARMAZEUTIKA SIND WELTWEIT GEFRAGT Handel mit pharmazeutischen Erzeugnissen aus Deutschland in Mrd. Euro, CAGR 2013–2030 246 31,5% +2,3% Pharma Spezialchemie Basischemie 2013 2030 88 26,9% +1,8% 60 53 40,9% 39,3% 39 35 21 33,8% 27,6% 2013 2030 In der Chemieindustrie wird es zu Verschiebungen in der Produktionsstruktur kommen. Die Basischemie wird an Bedeutung verlieren. Die Anteile von Spezialchemikalien und Pharmazeutika am Produktionswert werden zunehmen. 28 Exporte Importe AH-Saldo Der Markt für Pharmazeutika wächst weltweit dynamisch. Durch ihre Innovationsstärke kann die deutsche Pharmaindus­ trie davon profitieren. Ihre Produkte sind weltweit gefragt. Der Außenhandelssaldo steigt. Wachstumschancen für die deutsche Chemie chemie trotz hocheffizienter Anlagen ein Problem mit den Energie- und Rohstoffkosten, die den Importdruck steigen lassen. Sie kann daher im Prognosezeitraum ihre Produktion nur noch leicht ausweiten. Vor diesem Hintergrund nimmt die Bedeutung von Spezialchemikalien und Pharmazeutika an der deutschen Chemieproduktion im Prognosezeitraum zu. Die Basischemie verliert dagegen Anteile. Die deutsche che­ mische Industrie wird trotz dieser Spezialisierung auch 2030 noch diversifiziert und auf sämtlichen Fertigungsstufen ver­ treten sein. PHARMA Das größte Wachstumspotenzial der Branche wird im Pharmabereich liegen. Die stark alternde Bevölkerung in den Industrieländern und die wachsende und ebenfalls alternde Bevölkerung in den Schwellenländern werden die weltweite Nachfrage nach pharmazeutischen Erzeugnissen zur Bekämp­ fung etwa von Alzheimer und Arthritis kräftig steigen lassen. Der veränderte Lebensstil und die zunehmende Urbanisie­ rung der Schwellenländer begünstigen zudem die Verbrei­ tung von Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck und Adipositas. Krebs und Herzerkrankungen werden auch in den Schwellenländern die signifikanten Todesursachen werden. Hinzu kommt insbesondere in den Industrienationen ein steigendes Gesundheitsbewusstsein breiterer Bevölke­ rungsschichten. Das lässt beispielsweise die Nachfrage nach Nahrungsergänzungsmitteln und Pflegemitteln steigen. Der zunehmende Wohlstand und die wachsende Mittel­ schicht in den Schwellenländern führen weltweit zu steigen­ den Ausgaben im Gesundheitswesen. Die Regierungen sehen sich mit steigenden Kosten konfrontiert. Die Bemühungen von staatlicher Seite, im Gesundheitswesen Kosten zu sparen, werden daher weiter zunehmen. Das setzt die Hersteller von pharmazeutischen Produkten unter Druck. Auf der anderen Seite werden Regierungen, Krankenkassen und andere Kos­ tenträger die Verbraucher verstärkt zu mehr Prävention ABB. 23: SPEZIALCHEMIE WÄCHST DYNAMISCH Reale Produktionswerte von Spezialchemikalien in Deutschland in Mrd. Euro, Anteile in Prozent, CAGR 2013–2030 +1,8% 100,5 30,7% 74,5 Extra-EU-Exporte EU-Exporte Inlandsnachfrage 30,0% 47,7% 47,5% 22,5% 21,6% 2013 2030 Die Produktion von Spezialchemikalien wird bis zum Jahr 2030 überdurchschnittlich wachsen. Dabei bleibt die Nachfrage aus dem Inland und aus Europa für die Branche von hoher Bedeutung. Noch dynamischer wachsen die Extra-EU-Exporte. anhalten. Dort entstehen neue Geschäftsfelder für die LifeScience-Branche. Die deutsche Pharmaindustrie kann aufgrund ihrer starken Innovationsorientierung und ihrer hohen Wettbe­ werbsfähigkeit von dieser Entwicklung profitieren. Pharma­ zeutika erzielten im Jahr 2013 ein Produktionsvolumen von 51 Milliarden Euro. Im Prognosezeitraum wird die deutsche Pharmaproduktion mit durchschnittlich 2,5 Prozent pro Jahr dynamischer wachsen als die Branche insgesamt. Bis zum Ende des Prognosezeitraums steigt das Produktionsvolumen auf nahezu 78 Milliarden Euro. Damit ist 2030 die Bedeutung der Pharmazeutika größer als jene der Basischemie. Deutsche Pharmaprodukte sind dabei weltweit gefragt. Die Exporte steigen mit einem jährlichen Wachstum von 2,3 Prozent kräftig. Die Inlandsnachfrage steigt auch dyna­ misch um 2 Prozent pro Jahr. Die Importe nehmen dagegen etwas schwächer zu. Damit verringert sich in der Pharmain­ dustrie der Importdruck und der Außenhandelssaldo steigt deutlich. SPEZIALCHEMIE Forschungsintensive und höherwertige Spezialchemika­ lien gewinnen zukünftig Produktionsanteile hinzu. Zur Spe­ zialchemie zählen Spezialkunststoffe (z.B. Polycarbonat oder Chemiefasern), Konsumchemikalien (Wasch-, Reinigungs- und Körperpflegemittel), Farben und Lacke sowie Pflanzenschutz­ mittel. Das größte Teilsegment bildet aber die Gruppe der „anderen Spezialitäten“. Dabei handelt es sich um kleinvolu­ mige, innovative Chemikalien und Zubereitungen, die speziell für industrielle Kunden entwickelt werden. Innovationen sind daher der wesentliche Treiber in der Spezialchemie. Der Wis­ sensvorsprung der deutschen chemischen Industrie sichert die Wettbewerbsposition bei den Spezialchemikalien. Eine hohe Außenhandelsdynamik sowie geringerer Importdruck als bei den Basischemikalien ermöglichen hohe Außenhan­ delsüberschüsse und eine dynamische Entwicklung der Pro­ duktionsvolumina. Neben den Großunternehmen, die Spezialchemikalien überwiegend im Produktionsverbund mit Basischemikalien herstellen, findet man in der Spezialchemie viele mittelstän­ dische Unternehmen. Sie können besonders flexibel auf sich verändernde Kundenwünsche reagieren. Im Chemiemittel­ stand gibt es viele „hidden champions“, die in ihrem spezifi­ schen Marktsegment Weltmarktführer sind. Der Mittelstand ist auf eine Versorgung mit qualitativ hochwertigen Grund­ chemikalien angewiesen und er bezieht seine Vorprodukte bevorzugt von deutschen und europäischen Lieferanten. Die deutsche Spezialchemie erzielte im Jahr 2013 ein Produktionsvolumen von 74,5 Milliarden Euro. Im Prognose­ zeitraum wird sie mit durchschnittlich 1,8 Prozent pro Jahr ­d ynamischer wachsen als die Chemie insgesamt. Bis zum Ende des Prognosezeitraums steigt das Produktionsvolumen auf 100 Milliarden Euro. Im Prognosezeitraum werden die deutschen Exporte von Spezialchemikalien um durchschnittlich 1,8 Prozent pro Jahr zunehmen, denn Spezialchemikalien „Made in Germany“ sind weltweit gefragt. Viele Spezialchemikalien wurden auf die Be­ dürfnisse der deutschen Industrie optimiert. Die industriel­ len Kunden profitierten von hochwertigen und innovativen Chemikalien, mit denen sie ihrerseits qualitativ hochwertige 29 Wachstumschancen für die deutsche Chemie Energie- und Rohstoffkosten. Gas und Industriestrom sind in Nordamerika und im Nahen Osten erheblich günstiger als in ABB. 24: HOHER IMPORTDRUCK IN DER BASISCHEMIE Europa. Dieser Produktionskostenvorteil hat in den rohstoff­ Handel mit Basischemikalien aus Deutschland in Mrd. Euro, CAGR 2013–2030 reichen Ländern nicht nur in der Öl- und Gaswirtschaft einen Investitionsboom ausgelöst, sondern auch zu einem kräfti­ +0,3% +1,6% gen Ausbau der Produktionskapazitäten für energieintensive 2013 40,6 Basis­chemikalien geführt. Die dortige Produktion übersteigt 40,3 2030 38,3 die Inlandsnachfrage und drängt auf die Weltmärkte. Für die 31,0 deutsche Basischemie bedeutet das eine geringere Export­ dynamik, zunehmenden Importdruck und insgesamt niedrige­ res Wachstum. Eine ambitionierte Energie- und Klimapolitik, die versucht, durch die Verteuerung von Energie die Industrie 7,3 zu Effizienzsteigerungen zu zwingen, verschärft das Problem für die deutsche und europäische Basischemie. Um diesen -0,3 Nachteil auszugleichen, sehen viele energiepolitische InstruImporte Exporte AH-Saldo mente Ausnahmen für die im internationalen Wettbewerb stehende energieintensive Industrie vor. Dadurch ist es in der Die Basischemie in Deutschland gerät zunehmend unter Druck. Vergang­enheit gelungen, eine Schrumpfung der Basischemie Die Importe nehmen zu, während die Exporte stagnieren. in Deutschland zu verhindern. Für die Prognose haben wir un­ Der Außenhandelssaldo kehrt sich ins Negative. Die deutsche terstellt, dass diese Industriepolitik auch in Zukunft Bestand Basischemie produziert überwiegend für den lokalen Markt. haben wird. Daher kommt es auch bis 2030 nicht zu einer Ab­ wanderung der Basischemie. Im Jahr 2013 hatten die Basischemikalien insgesamt ein Produkte herstellten. Dieser Innovationsverbund führt dazu, Produktionsvolumen von 64 Milliarden Euro. Gegen Ende des dass viele industrielle Kunden deutscher Spezialchemieher­ Prognosezeitraums wird sich das Produktionsvolumen um steller ihren Lieferanten auch dann die Treue halten, wenn 6 Prozent auf 68 Milliarden Euro erhöht haben. Dies entspricht sie selbst im Ausland produzieren. Die deutsche Spezialche­ einem durchschnittlichen jährlichen Zuwachs von 0,3 Prozent. mie kann daher von der Globalisierung deutscher Industrie­ Damit wächst die Basischemie nicht nur deutlich langsamer unternehmen profitieren. Allerdings setzt dies voraus, dass die Kunden ihre Produkte auch zukünftig in Deutschland und als die deutsche Chemie insgesamt, sondern auch deutlich verhaltener als die globale Basischemie. ­gemeinsam mit den Chemielieferanten entwickeln werden. Im internationalen Vergleich sind hohe Rohstoff- und Auch die Inlandsnachfrage entwickelt sich mit einem Energiekosten dafür verantwortlich, dass die deutsche Ba­ durchschnittlichen Wachstum von 1,6 Prozent pro Jahr dy­ sischemie kaum von der weltwirtschaftlichen Dynamik pro­ namisch. Im Inland profitieren deutsche Produzenten vom engen Industrieverbund in Deutschland, der die Nähe zu den fitieren kann. Wegen der zunehmenden Konkurrenz aus rohstoffreichen Ländern wächst das Exportgeschäft kaum. Kunden und damit auch den Absatz sicherstellt. Die Importe steigen mit 1,6 Prozent pro Jahr genauso wie die Inlandsnach­ Bis zum Jahr 2030 steigen die deutschen Basischemieexporte lediglich um 0,3 Prozent pro Jahr. Gleichzeitig nimmt der Im­ frage. Der Importdruck auf die Spezialchemie bleibt damit relativ gering. Der Außenhandelsüberschuss wächst um über portdruck zu. Die deutschen Basischemieimporte steigen bis 2030 um jährlich 1,6 Prozent auf fast 41 Milliarden Euro. Die 45 Prozent auf 33 Milliarden Euro. Folgen dieser gegenläufigen Entwicklung lassen sich in der Außenhandelsbilanz ablesen. Aus dem deutschen Außenhan­ BASISCHEMIE Die deutsche Basischemie ist bei weitem keine homogene delsüberschuss mit Basischemikalien in Höhe von 7 Milliarden Gruppe. Sie beinhaltet die anorganischen Grundstoffe, Petro­ Euro wird bis 2030 ein Defizit von 300 Millionen Euro. chemikalien, organische Zwischenprodukte, Standardpoly­ Der künftige Bedarf an Basischemikalien in Deutschland mere und Düngemittel. Organische Zwischenprodukte sind folgt dem erwarteten Wachstum der hier ansässigen Abnehdas mit Abstand bedeutendste Segment innerhalb der merbranchen. Und das ist im internationalen Vergleich gering. deutschen Basischemie. Auf diese Sparte entfallen rund Die inländische Nachfrage nach Basischemikalien wird bis 45 Prozent der Basischemieproduktion. Basischemikalien 2030 nur um 1,1 Prozent pro Jahr zulegen. In den europä­ werden in einem engen Produktionsverbund, der sich oftmals ischen Nachbarländern ist die Dynamik kaum höher. Die über mehrere Unternehmen erstreckt, hergestellt. Daher pro­ deutsche Basischemie wird hauptsächlich für den deutschen fitiert die Basischemie besonders von den Chemieparks und und europäischen Chemieverbund produzieren. der Einbindung in Verbundunternehmen sowie von der räum­ Die Basischemie in Deutschland spielt für weiterver­ lichen Nähe zu anderen Chemieunternehmen bzw. Chemiearbeitende Chemie- und Industriezweige aber eine große betrieben. Die aus der Verbundproduktion resultierende Rolle. Sie versorgt eine große Bandbreite an Branchen mit hohe Ressourceneffizienz ist die zentrale Stärke der deut­ den für ihre Produktion notwendigen Grundstoffen – und schen Basischemie. zwar in räumlicher Nähe zur Weiterverarbeitung. Eine Sub­ Im Gegensatz zur Spezialchemie ist in der Basischemie stitution der Basischemieproduktion in Deutschland oder das Wachstumspotenzial in Deutschland bis 2030 aber gering. Europa durch außereuropäische Importe ist zum heutigen Das liegt vor allem an den im internationalen Vergleich hohen Zeitpunkt nur schwer vorstellbar. Denn die entscheidenden 30 Wachstumschancen für die deutsche Chemie Wertschöpfungsschritte in der Basischemie erfolgen in inte­ grierter Produktion. Dies hängt auch damit zusammen, dass viele Produkte der Basischemie (Ammoniak, Olefine) gasför­ mig sind und sich damit schwer oder nur teuer transportie­ ren lassen. Einzelne Produktionsstufen und Prozesse lassen sich nicht aus dem Produktionsverbund herauslösen, ohne der gesamten Chemie zu schaden. Das lässt sich am Beispiel ­Polyvinylchlorid (PVC) verdeutlichen. PVC ist ein Standardpolymer, das u.a. durch seine Ver­ wendung in Fußbodenbelägen oder Fensterprofilen bekannt ist. Für die Produktion benötigt man Ethylen und Chlor. Ethylen ist eine Petrochemikalie, die im Steamcracker herge­ stellt wird. Chlor ist ein anorganischer Grundstoff, der elek­­­t­rolytisch aus Kochsalz hergestellt wird. Beide Komponenten sind hochreaktiv und gasförmig. Sie lassen sich daher nur schlecht über große Strecken transportieren. Aus Chlor und Ethylen entsteht zunächst Vinylchlorid, ein organisches Zwi­ schenprodukt, welches anschließend polymerisiert wird. Um PVC zu verwenden, werden weitere ­Spezialchemikalien benötigt, z.B. Stabilisatoren oder Farbpigmente. Wenn nun der Strompreis so hoch ist, dass sich die Chlorproduktion nicht mehr lohnt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch kein PVC mehr hergestellt werden. Das beeinträchtigt auch die Geschäfte der Hersteller von Stabilisatoren oder Farb­ pigmenten. Wahrscheinlich würden sogar PVC-Bodenbe­ läge nicht mehr im Inland hergestellt, sondern importiert. Die Wertschöpfungskette erstreckt sich damit bis in die Kunden­ branchen hinein. Im Gegensatz dazu sind sowohl der Rohstoff Öl (Naphtha) als auch viele Endprodukte der chemischen Industrie (Flüs­ sigkeiten bzw. Polymergranulate) leicht und kostengünstig zu transportieren. Da in Zukunft eher mit steigenden Transport­ kosten zu rechnen ist, dürften sich die Clusterungstendenzen sowohl im Markt als auch am Bohrloch verstärken. Es ist darüber hinaus eine Besonderheit der Chemiepro­ duktion, dass Produkte der Spezialchemie nicht „neben“ den in großen Mengen hergestellten Basischemikalien produziert werden, sondern bei der Herstellung untrennbar mit ihnen verbunden sind, da sie aus ihnen hervorgehen. Es gibt also keinen Gegensatz zwischen innovativen Spezialitäten einer­ seits und seit Jahrzehnten weitgehend unveränderten Stan­ dardprodukten andererseits – vielmehr erhöht der Trend in Richtung höherwertiger Produkte/Stoffe auch den Bedarf an Basischemikalien und ermöglicht überdies eine ausreichende Auslastung der Produktionsanlagen. Chemieindustrie bleibt ein attraktiver Arbeitgeber Mit 463.400 Arbeitnehmern in 2013 ist die chemische I­ndustrie einer der größten und attraktivsten Arbeitgeber in Deutschland. Die Branche stellt gut bezahlte und zukunfts­ sichere Arbeitsplätze mit guten Arbeitsbedingungen zur Ver­ fügung. Im Vergleich zu anderen Industriebranchen zahlt die Che­ mieindustrie überdurchschnittlich hohe Entgelte. Das Ent­ geltniveau der Branche liegt knapp 25 Prozent über dem Industriedurchschnitt. Besonders Fachkräfte aus dem natur­ wissenschaftlich-technischen Bereich sind das Kapital der Branche. Die Fachkräftesicherung hat für die Chemie tradi­ tionell einen hohen Stellenwert. Daher wird systematisch in die Aus- und Weiterbildung des Nachwuchses investiert. So sichert und erhöht die Chemie fortwährend die Qualifikati­ onsstandards ihrer Arbeitsplätze. Dies beinhaltet auch die ­ finanzielle Unterstützung der naturwissenschaftlichen Bildung, die bereits seit den 1950er Jahren vom Fonds der Chemi­ schen Industrie an Schulen und Hochschulen gefördert wird. Zudem bilden die Unternehmen ihre zukünftigen Fach­ kräfte selbst aus. Insgesamt werden rund 20.000 junge Menschen in der Chemie- und Pharmaindustrie ausgebildet. Bei einer dreijährigen Ausbildungsdauer sind dies rund 6.500 neue Auszubildende pro Jahr. Die im 2014 neu gefassten ­Tarifvertrag „Zukunft durch Ausbildung und Berufseinstieg“ zwischen dem BAVC9 und der IG BCE10 vereinbarte hohe Anzahl der Ausbildungsstellen wurde in den vergangenen Jahren regelmäßig überschritten. Nach erfolgreichem Ausbil­ dungsabschluss werden über 90 Prozent der Ausgebildeten übernommen. Damit bietet die Branche auch nach der dualen Ausbildung ihren Absolventen und Absolventinnen sehr gute Beschäftigungsperspektiven. Insgesamt sind in den vergangenen 25 Jahren die Belegschaftszahlen jedoch auch in der chemischen Industrie rückläufig gewesen. Anfang der 1990er Jahre erfolgte ein ­Arbeitsplatzabbau zum einen aufgrund von Werksschlie­ ßungen in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung. Ein anderer Grund waren Auslagerungen von beschäftigungsin­ tensiven Bereichen aus den Kernunternehmen (Outsourcing von Kantinen, Entsorgung, Reinigung, Logistik, IT-Dienst­ leistungen etc.), die damit statistisch nun anderen Branchen zugerechnet werden. Der rückläufige Trend bei der Beschäf­ tigung konnte im Anschluss seit 2000 tendenziell gestoppt werden. Im Jahr 2009 war noch einmal krisenbedingt ein Be­ schäftigungsrückgang zu verzeichnen, der in der Chemie aber schwächer ausfiel als im Industriedurchschnitt. Durch den Be­ schäftigungsaufbau in den folgenden Jahren konnte dieser Rückgang vollständig ausgeglichen werden. Der Beschäfti­ gungsstand ist heute höher als vor der Krise. Seit 2009 hat die Branche trotz wirtschaftlicher Flaute über 30.000 neue Stellen geschaffen, um u. a. einem drohenden Fachkräftemangel vor­ zubeugen. Dieser Beschäftigungsaufbau wird sich im Prognosezeit­ raum nicht fortsetzen. Durch den technologischen Fortschritt und effizientere Strukturen, die vereinzelte Auslagerung von weiteren Unternehmensteilen, aber auch das Fortschreiten der digitalen Vernetzung wird die Zahl der Arbeitskräfte in der Branche bis 2030 um durchschnittlich 0,8 Prozent jährlich moderat zurückgehen. Mit knapp 401.000 Beschäftigten gehört die Chemieindustrie aber immer noch zu den wichti­ gen Arbeitgebern in Deutschland. Differenziert nach Basis- und Spezialchemikalien sowie Pharmazeutika zeigt sich, dass der Beschäftigungsabbau nicht gleichmäßig auf die drei Bereiche verteilt ist. Der größte Teil des Arbeitsplatzrückgangs entfällt auf die Basischemie. Dies kann in erster Linie dem schwachen Wachstum zugeschrieben werden. Wettbewerbsnachteile bei den Energie- und Roh­ stoffkosten dämpfen das Wachstumspotenzial der Basische­ mie. Die Produktion kann daher bis 2030 kaum ausgeweitet werden. Durch Stilllegungen einzelner Produktionsanlagen, 9 Bundesarbeitgeberverband Chemie e. V. (BAVC). Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE). 10 31 Wachstumschancen für die deutsche Chemie das „Up-Scaling“ von Bestandsanlagen sowie technologi­ schen Fortschritt steigt zudem die Produktivität in dieser Sparte. Auch in der Spezialchemie und in der Pharmaindus­ trie steigt die Produktivität bis 2030. Hier machen sich u. a. auch die Digitalisierung und Vernetzung bemerkbar. Zudem setzt sich die Auslagerung betrieblicher Prozesse in Dienst­ leistungsunternehmen fort. Da diese beiden Sparten aber im Prognosezeitraum ein kräftiges Produktionsplus verzeichnen können, sinken die Belegschaftszahlen hier kaum. Künftig werden auf eine offene Stelle in der Chemie weniger qualifizierte Bewerber kommen. Davon sind weniger die großen Chemieunternehmen in der Nähe der Ballungs­ zentren betroffen als vielmehr der Mittelstand in der Fläche. Fachkräfteengpässe drohen zudem weniger bei den Hoch­ schulabsolventen. Zwar steigt wegen der zunehmenden Spezialisierung der Branche und der damit verbundenen Erhöhung der Forschungsintensität der Bedarf an Akademi­ kern in der Chemie. Da die Studienanfängerzahlen gerade in den naturwissenschaftlichen Fächern aber vielversprechend sind, wird es in der Chemie voraussichtlich nicht zu einem um­ fangreichen Mangel an Chemikern und anderen Naturwis­ senschaftlern kommen. Anders sieht es allerdings bei den Ingenieuren aus. Dort ist ein Engpass wahrscheinlich. Die deutsche Chemie benötigt zukünftig vermehrt nicht­ akademische Nachwuchsfachkräfte. Hierzu zählen insbeson­ dere Produktionsberufe (z. B. Chemikant) sowie Berufe im gewerblich-technischen Bereich (z. B. Industrie- und Anlagen­ mechaniker, Elektroniker, Mechatroniker). Derzeit beginnen jährlich rund 6.500 junge Menschen ihre betriebliche Ausbil­ dung in der deutschen Chemie. Dabei benötigt die Chemie gut ausgebildete Auszubildende. Allerdings stellen die Un­ ternehmen heute fest, dass bei vielen Bewerbern die Qualifi­ kation nicht ausreicht. Den Prognosen haben wir unterstellt, dass das deutsche Schulsystem die Bewerber zukünftig aus­ reichend qualifiziert. Dies gilt insbesondere für die sogenann­ ten MINT-Fächer, die für die Industrie besonders wichtig sind. ABB. 25: ENERGIEEFFIZIENZ STEIGT WEITER Energieverbrauch der chemischen Industrie nach Sparten, Anteile in Prozent Deutsche Chemie wird immer effizienter Die Chemie ist energieintensiv. Viele chemische Prozesse benötigen hohe Temperaturen. Beispielsweise findet das so­ genannte „Steamcracken“, ein Prozess am Anfang vieler che­ mischer Wertschöpfungsketten, bei Temperaturen von bis zu 800 Grad Celsius statt. In diesen Anlagen werden aus Roh­ benzin wichtige Primärchemikalien wie Ethylen, Propylen oder Benzol hergestellt. Chemische Prozesse benötigen auch Strom. Elektrolytische Verfahren wie beispielsweise die ChlorAlkali-Elektrolyse, bei der Kochsalz mit Hilfe von Strom zu Chlor und Natronlauge umgewandelt wird, erfordern große Strommengen. Die Energie ist hier integraler Bestandteil der Produktion und der Bedarf chemisch-physikalisch determi­ niert. Oftmals sind die Produkte dieser chemischen Verfah­ ren energiereicher als die eingesetzten Ausgangsstoffe. Viele Chemikalien speichern einen erheblichen Teil der ihnen bei der Synthese zugeführten Energie. Die Chemie braucht darüber hinaus Energie als Betriebs­ mittel für die Beleuchtung, den Betrieb von elektrischen Anlagen und Sicherheitssystemen, zum Kühlen, zum Heizen etc. In der Basischemie sind diese Energiekosten anteilsmäßig deutlich geringer als die Kosten für Energie, die direkt in che­ mischen Prozessen verwendet werden. Anders in der Spezial­ chemie und in der Pharmaindustrie. Hier fallen hauptsächlich Energiekosten für den Betrieb der Produktionsanlagen an. Bei den chemischen Verfahren selbst ist die benötigte Energie vergleichsweise fix. Der Verbrauch von Energie ist mit hohen Kosten verbun­ den. In den 10 Jahren vor 2013 stieg der Anteil der Energie­ kosten an der Bruttowertschöpfung von rund 11 Prozent auf nahezu 15 Prozent. Geschuldet ist dies den steigenden Ener­ giepreisen. Diese belegen im internationalen Vergleich eine Spitzenposition. Industriestrom ist in Deutschland rund 50 Prozent und Gas rund 200 Prozent teurer als in den Ver­ einigten Staaten. Die deutsche Chemie kann derart große Nachteile bei den Energiekosten durch effizientere Produk­ tionsverfahren nur zum Teil ausgleichen. Daher liegen die ABB. 26: KEINE EFFIZIENZSPRÜNGE Energieverbrauch der deutschen Chemieindustrie seit 1990, Index 1990 = 100, CAGR 2013–2030 -0,1% 67,5% 66,9% Basischemie Spezialchemie Pharma 200 Produktionswert (real) Absoluter Energieverbrauch Spezifischer Energieverbrauch +1,5% 160 120 – 0,1% 80 –1,5% 28,7% 28,8% 3,8% 4,2% 2013 2030 Effizienzgewinne lassen sich vor allem in der Spezialchemie realisieren. Trotz Produktionswachstum steigt der Energieverbrauch in dieser Sparte nicht. In der Basischemie lassen sich hingegen kaum Effizienzpotenziale heben. 32 40 0 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 Grundlegende Änderungen der Energie- und Klimapolitik zeichnen sich nicht ab. Die daraus resultierende schwache Investitionsdynamik hemmt die Realisierung von Effizienzsprüngen. Quellen: Statistisches Bundesamt; VCI Wachstumschancen für die deutsche Chemie Energiestückkosten der deutschen Chemie- und Pharma­in­ dustrie rund 30 Prozent über denen der US-Konkurrenz. Die Auswirkungen lassen sich in der Investitionsstatistik ablesen. Während die Branche in den USA derzeit einen Investitions­ boom erlebt, stagnieren hierzulande seit mehr als 20 Jahren die Investitionen in Chemieanlagen. Stattdessen investieren deutsche Chemieunternehmen lieber im Ausland. Die hohe Energieeffizienz der deutschen Chemie hat viele Gründe. Ein wichtiger Baustein ist das Verbundsystem. Das Konzept der Chemieparks bzw. der Verbundunterneh­ men – eine deutsche Erfindung – steigert die Effizienz der Produktion. Der Standortbetreiber kümmert sich um zentrale Umweltschutzeinrichtungen und die komplette Infrastruk­ tur für die ansässigen Unternehmen bzw. Betriebe. Dies er­ möglicht einen Verbund der Produktionsanlagen mit hoher Effizienz für Energie, Roh- und Reststoffe. Zur Ressourcenef­ fizienz und zur Klimaschonung trägt zudem die Stromeigen­ erzeugung durch Kraft-Wärme-Kopplung bei. So wird auch eine optimale Versorgung der Industriestandorte nach ihren Wärme- und Strombedürfnissen sichergestellt. Trotz hoher Effizienz sind und bleiben hohe Energiekos­ ten eine Bedrohung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Chemie. Davon ist nicht nur die energieintensive Basischemie betroffen. Weit über 50 Prozent der produzierten Güter liefert die Chemie im Inland an Unternehmen ihrer eigenen Branche. So wirken sich Energiepreise über die Wertschöpfungskette hindurch auch auf Unternehmen in der Spezialchemie oder der pharmazeutischen Industrie aus. Neben den Energie­ kosten für den Betrieb ihrer Produktionsanlagen verteuern hohe Strom- und Gaspreise die eingesetzten Vorprodukte aus der Basischemie. Zudem verschlechtern hohe Energie­ kosten die Wettbewerbsbedingungen wichtiger heimischer Kundenindustrien und verringern zusätzlich die Kaufkraft der Endverbraucher. Die Absatzmöglichkeiten auf dem Heimat­ markt werden dadurch für alle Chemie- und Pharmaunter­ nehmen beschränkt. Insgesamt benötigt die deutsche Chemieindustrie derzeit jährlich rund 53,5 Terrawattstunden Strom, 80,4 Terra­ wattstunden Gas und 63,4 Terrawattstunden andere Energie­ träger wie Kohle und Mineralölprodukte. Bis 2030 werden Gas und Strom die wichtigsten Energieträger bleiben. Die regio­ nalen Preisunterschiede werden daher auch zukünftig einen großen Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit der jeweiligen Chemienation haben. Beim Gas wird die Preisschere etwas zugehen – Deutsch­ land bleibt aber am oberen Rand. Auch der Strom wird in Deutschland teuer bleiben. Erneuerbare Energien wie Windkrafterzeugung und die Solarenergie drücken an den Strombörsen zwar tendenziell die Preise, weil die zusätz­ lich erzeugte Kilowattstunde nichts kostet. Trotzdem wird der Strompreis steigen. Preisrisiken entstehen vor allem durch den teuren Ausbau der Stromnetze, der auf die Preise umgelegt wird, und für das Überführen von Braunkohlekraft­ werken in die Kraftwerksreserve. Die Chemie in Deutschland wird somit – selbst unter der Annahme, dass die Entlastungs­ regelungen beim EEG, der Stromsteuer und dem Emissi­ onshandel für die energieintensive Industrie in Deutschland erhalten bleiben – mit Energiepreisen über dem internatio­ nalen Durchschnitt zu rechnen haben. Die Kosten werden steigen, obwohl der Energieverbrauch der Chemie bis zum Jahr 2030 nicht mehr wachsen wird. Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die etwa 1993/1994 begann. Seitdem – abgesehen von leichten Schwankungen – stagniert der absolute Energieverbrauch der Branche. Vor allem das schwache Produktionswachstum der Basischemie führt zukünftig zu dem stagnierenden Energieverbrauch. Die Energieeffizienz, d.h. das Verhältnis von Produktion zu Ener­ gieverbrauch, verbessert sich in der Basischemie nur leicht. Große Effizienzverbesserungen sind auch nicht zu erwarten. Ein Großteil des Energieverbrauchs ist in diesen Chemie­ sparten nicht variabel. Brauchen chemische Verfahren bei­ spielsweise bestimmte Temperaturen, wird auch technischer Fortschritt dies nicht ändern können. Die dafür notwendige Energie wird die Basischemie immer benötigen. In der Spezialchemie ist zukünftig hingegen eine Ver­ besserung der Energieeffizienz mit 1,8 Prozent pro Jahr zu beobachten. Anders als in der Basischemie brauchen die chemischen Prozesse dieser Sparte eine weniger große fixe Menge an Energie. Anteilig ist die Summe der Energiekos­ ten, die durch Heizen, Kühlen etc. anfällt, deutlich größer. Hier sind noch Effizienzpotenziale zu heben. Das führt dazu, dass der absolute Energieverbrauch ebenfalls nicht weiter wächst, und dies, obwohl die Produktion in der Spezialchemie deutlich dynamischer wächst als in der Basischemie. Trotz der zunehmenden Fokussierung der Branche auf die Spezialche­ mie im Prognosezeitraum wird 2030 immer noch weniger als ein Drittel der Energie in der Spezialchemie verbraucht. Für den Prognosezeitraum ist nicht mit einem Richtungs­ wechsel in der deutschen oder europäischen Energiepolitik zu rechnen. Die Politik wird weiterhin auf eine Verteuerung von Energie setzen, um damit Anreize zur Steigerung der Energieeffizienz zu geben. Durch ehrgeizige Zielvorgaben wird der Druck auf die Energiekosten sogar noch zunehmen. Das hat zwei Effekte. Zum einem werden die Chemieun­ ternehmen ihre Anstrengungen weiter intensivieren, ihre bestehenden Anlagen zu optimieren, denn die Ausnahme­ regelungen betreffen nur einen kleinen Teil der Unternehmen. Das führt zu einer beständigen, aber nur moderaten Steige­ rung der Energieeffizienz. Auf der anderen Seite führt diese Energiepolitik zu einer Verschlechterung der Standortbedin­ gungen in Deutschland. Für die Chemie wird Deutschland als Produktionsstandort weniger attraktiv, so dass Investitionen verstärkt im Ausland getätigt werden. Die daraus erwachsende schwache Investitionsdynamik im Inland – vor allem in der Basischemie – wirkt sich hemmend auf die Entwicklung der Energieeffizienz aus. Wirkliche Ver­ besserungen der Energieeffizienz sind nur mit Neuanlagen zu realisieren. Dies zeigt ein Blick zurück: Die letzten sprung­ haften Effizienzsteigerungen sah man in Deutschland in den Jahren 1990 bis 1993/94. Damals wurden die Chemieanla­ gen in den Gebieten der ehemaligen DDR durch Anlagen der neusten Technologie ersetzt. Gegenwärtig kann man Vergleichbares in den USA beobachten. Der SchiefergasBoom und eine Politik der Investitionsanreize führen zum Bau moderner Anlagen. Die niedrigen Energiekosten in den USA lassen klimafreundliche, energieeffiziente und wettbewerbs­ fähige Großanlagen entstehen. 33 Wachstumschancen für die deutsche Chemie ABB. 27: MEHR NACHWACHSENDE ROHSTOFFE Ressourcenverbrauch in der organischen Chemie in Mio. Tonnen, Anteile in Prozent 20,1 19,4 13,0% 18,5% 87,0% 2013 Nachwachsende Rohstoffe Fossile Rohstoffe 81,5% 2030 Der Anteil nachwachsender Rohstoffe nimmt bis 2030 zu. Hierfür sind erhebliche Forschungsanstrengungen nötig. In der Basischemie wird der Einsatz durch die Verfügbarkeit und den Preis limitiert. Diversifizierung der Rohstoffbasis wird vorangetrieben Als Grundstoffindustrie ist die Chemie auch rohstoffinten­ siv. Unter dem Begriff „Rohstoff“ werden im Rahmen dieser Studie nur die Stoffe zusammengefasst, die die Chemie von anderen Wirtschaftszweigen bezieht. Chemikalien, die in der Chemie weiterverarbeitet werden, zählen nicht dazu. Da Deutschland kaum über eigene Rohstoffquellen verfügt, müssen Rohstoffe überwiegend zu Weltmarktpreisen impor­ tiert werden. Die für die Branche wesentlichen Rohstoffe sind im Prognosezeitraum ausreichend vorhanden. Daher ist auch in Importländern wie Deutschland die Rohstoffversorgung gesichert. Allerdings werden die Rohstoffpreise in Zukunft wieder steigen. Man unterscheidet in der Chemie drei Rohstoffgruppen: mineralische, fossile und nachwachsende Rohstoffe. Minerali­ sche Rohstoffe finden hauptsächlich in der Chemiesparte An­ organika Verwendung. Wichtige mineralische Rohstoffe sind beispielsweise Kaliumsalze und Phosphate, die für die Dün­ gemittelproduktion eingesetzt werden, oder Natriumchlorid (Kochsalz), aus dem die Branche die wichtigen anorganischen Grundstoffe Chlor und Natronlauge herstellt. Fossile Rohstoffe eröffnen nach entsprechender Um­ wandlung in chemische Grundbausteine eine Vielzahl von Synthesemöglichkeiten. Das Erdölderivat Naphtha ist der wichtigste fossile Rohstoff der Branche. Kohle, Schweröle oder Erdgas werden in Deutschland derzeit nur in geringem Maße eingesetzt. Fossile Rohstoffe werden hauptsächlich in der Petrochemie benötigt. Die daraus gewonnenen Grund­ bausteine werden anschließend zu organischen Zwischenpro­ dukten oder zu Polymeren weiterverarbeitet. Nachwachsende Rohstoffe werden aus pflanzlicher oder tierischer Biomasse gewonnen. Dies sind hauptsäch­ lich Stärke, Cellulose, Zucker, Öle und Fette sowie pharma­ zeutische Wirkstoffe. Nachwachsende Rohstoffe sind in der chemischen Industrie seit langem etabliert. Sie werden in 34 der Herstellung von Kunststoffen, Fasern, Waschmitteln, Kosmetika, Farben und Lacken, Druckfarben, Klebstoffen, Baustoffen, Hydraulikölen und Schmiermitteln bis hin zu Arz­ neimitteln eingesetzt. Damit liegt ihr Einsatzgebiet haupt­ sächlich im Bereich der Spezialchemie. Rohstoffe sind in der Chemie grundsätzlich austausch­ bar. Die Höhe des Verbrauchs ist hingegen nur minimal be­ einflussbar. Man kann die chemische Produktion nicht von der Rohstoffbasis entkoppeln. So wird die Diversifizierung der Rohstoffbasis zum zentralen Element der Rohstoffstrategie der chemischen Industrie. Dieser Trend wird auch nicht durch weniger stark steigende Ölpreise gebremst. Über Effizienzgewinne lassen sich kaum noch Kostenein­ sparungen realisieren. Aus wirtschaftlichen Gründen verarbei­ ten die Unternehmen ihre Rohstoffe längst hocheffizient: Seit Jahrzehnten haben die Unternehmen ihre Prozesse optimiert und – wo möglich – in Verbundstrukturen integriert. Abfälle werden so weit wie möglich vermieden oder verwertet. Hier lassen sich wenige bis keine Synergieeffekte mehr heben. Und doch gelingt es der Chemie bis zum Jahr 2030, ihren Ressourceneinsatz total um fast 0,7 Millionen Tonnen zu senken. Allerdings ist diese Reduktion nur zu einem kleinen Teil auf eine rohstoffeffizientere Produktion ­zurückzuführen. Vielmehr liegt es an der schwächeren Wachstumsdynamik der Basischemie, die deutlich mehr Rohstoffe benötigt als die Spezialchemie. In der Spezialchemie fallen heute nur etwa 7,5 Prozent aller Rohstoffe an. Natürlich brauchen auch Unter­ nehmen in dieser Sparte Produktionsinput. Die Spezialchemie greift für ihre Produktion zum Großteil auf Vorprodukte, also auf Chemikalien aus der Basischemie, zurück. Diese Chemi­ kalien werden nicht als Rohstoff erfasst. Über die Wertschöp­ fungskette gelangen die Rohstoffe aber natürlich indirekt auch in die Produkte der Spezialchemie. Um die Rohstoffbasis zu verbreitern, bieten sich in der organischen Chemie nachwachsende Rohstoffe an. Diese werden heute schon dort eingesetzt, wo dies technische und wirtschaftliche Vorteile bringt. Daher basieren gegenwär­ tig rund 13 Prozent der Rohstoffbasis auf nachwachsenden Rohstoffen. Die Chemie wird diesen Anteil auf 18,5 Prozent steigern können. Ein Großteil dieser Rohstoffe wird in der Spe­zial­chemie verwendet werden. Zur Erschließung neuer Anwendungsfelder nachwachsen­ der Rohstoffe wird die Chemie erhebliche Anstrengungen in Forschung und Entwicklung unternehmen müssen. Bei neu­ artigen Anwendungen und Produkten müssen nicht nur neue Märkte erschlossen, sondern im Zusammenspiel mit verschie­ denen Akteuren ganz neue Wertschöpfungsketten aufgebaut werden. In der Vergangenheit wurden diese Herausforder­un­ gen häufig unterschätzt, was dazu führte, dass sich die Ent­ wicklung in vielen Bereichen nicht so dynamisch gezeigt hat wie erhofft. Allerdings wird die organische Chemie in der Breite weiter auf fossiler Basis produziert. In der Basischemie erscheint eine signifikante Substitution der fossilen Rohstoffe durch nachwachsende Rohstoffe zum jetzigen Zeitpunkt als nicht wahrscheinlich. Die Verfügbarkeit und der Preis von nach­ wachsenden Rohstoffen werden hier zum limitierenden Faktor. 2030 werden immer noch 81,5 Prozent der organi­ schen Chemie aus fossilen Rohstoffen produziert. Wachstumschancen für die deutsche Chemie Damit bleibt für die Basischemie die Preisrelation zwischen Erdöl und Erdgas ein zentrales Element beim Thema wett­ bewerbsfähige Rohstoffpreise. Denn während die organi­ sche Chemie in Deutschland ölbasiert ist – momentan bauen nur 11 Prozent der organischen Chemie auf Erdgas auf –, ist die Produktion beispielsweise in den USA vor allem gasba­ siert. Der abgeschwächte Preisanstieg des Erdöls wirkt sich in Zukunft zwar positiv auf die Wettbewerbsfähigkeit der Basis­ chemie in Deutschland aus. Für das Gas in den USA wird aber ebenfalls mit nur einer moderaten Preissteigerung gerechnet. Hinzu kommt eine zunehmende Volatilität beider Preise. Die deutsche Chemie wird ihre fossile Basis weiter diversifizieren, um die Schwankungen der Preisrelationen besser abfangen zu können. Da der vermehrte Einsatz von Kohle unter Umwelt­ gesichtspunkten weder von der Öffentlichkeit noch von der Chemieindustrie gewünscht ist, wird bis zum Jahr 2030 die Bedeutung von Erdgas zunehmen. Forschungsetats werden erhöht Die Chemieindustrie zählt zu den besonders innovations­ starken Branchen der deutschen Wirtschaft. Im Fahrzeug­ bau und in der Elektroindustrie wird zwar mehr in Forschung und Entwicklung investiert. Aber von keiner anderen Branche gehen so viele Innovationsimpulse aus wie von der Chemie. Die Ideen und das Anwendungs-Know-how der Chemieunter­ nehmen sind in den nachgelagerten Wertschöpfungsketten oftmals der Ausgangspunkt für weitere Innovationen. Damit sind die Innovationen der Branche oft ein Garant für den Erfolg der weiterverarbeitenden Industrien. Die Branche gab 2013 rund 9,5 Milliarden Euro für For­ schung und Entwicklung aus (real in Preisen von 2010). Rund 60 Prozent der Ausgaben werden von den Pharmaproduzen­ ten getätigt. Fast 26 Prozent entfallen auf die Spezialchemie und 14 Prozent auf die Basischemie. Die Forschungsintensität, also der Anteil der Forschungs- und Entwicklungsausga­ ben am Produktionswert, liegt in der Branche bei knapp 5 Prozent. Besonders forschungsintensiv mit über 11 Prozent ist die Pharmasparte. In den übrigen Chemiesparten liegt die Forschungsintensität derzeit bei 2,7 Prozent – wobei die For­ schungsintensität in der Spezialchemie stärker ausgeprägt ist als in der Basischemie. In der Basischemie konzentrieren sich die Forschungsbemühungen auf Prozessinnovationen. Differenziert nach einzelnen Chemiesparten zeigt sich eine besonders hohe Forschungsintensität bei den Schäd­ lingsbekämpfungs- und Pflanzenschutzmitteln, gefolgt mit einigem Abstand von den Konsumchemikalien sowie den anderen Spezialitäten. Während in der Pharmaindustrie bei den Forschungsintensitäten in den vergangenen 10 Jahren ein leichter Rückgang zu beobachten war, blieb die Intensität in der Chemie nahezu konstant. Im internationalen Vergleich ist Deutschland der viert­ größte Forschungsstandort für Chemie- und Pharmaprodukte – nach den USA, China und Japan. Bezüglich der Forschungs­ intensität bewegt sich die Branche im internationalen Vergleich im vorderen Mittelfeld. Die Chemie (ohne Pharma) belegt im internationalen Vergleich sogar einen Spitzenplatz. Mit ihren FuE-Ausgaben, ihrer Innovationskraft und den im Länderver­ gleich guten Standortbedingungen für Innovationen hat die deutsche Chemie- und Pharmaindustrie eine gute Ausgangs­ position für die zukünftigen Herausforderungen. ABB. 28: FORSCHUNGSETATS WERDEN AUFGESTOCKT Reale Forschungsausgaben der deutschen Chemieindustrie (interne und externe Ausgaben) in Mrd. Euro, CAGR 2013–2030 +2,0% 13,2 Basischemie Spezialchemie Pharma 10,0% 24,4% 9,5 14,0% 25,5% 65,6% 60,4% 2013 2030 Die Chemieindustrie wird ihre Innovationsorientierung weiter ausbauen. Die Forschungsetats steigen in der Spezialchemie und in der Pharmaindustrie aufgrund der guten Wachstums­ perspektiven dieser Sparten kräftig. Der Wettbewerbsdruck auf den Forschungsstandort Deutschland wird sich erhöhen. Der internationale Innovati­ onswettlauf verschärft sich. Konkurrenz kommt dabei nicht nur aus den Industrieländern, sondern auch die Schwellen­ länder investieren massiv in Forschung und Entwicklung. In einigen Kundenbranchen verlagern sich die Produktions- und Forschungszentren nach Asien. Die Chemieforschung folgt bereits in Teilen dieser Entwicklung. In Deutschland behin­ dern darüber hinaus noch Regulierungen wie beispielsweise aufwändige Zulassungsverfahren und die REACH-Anforde­ rungen den Innovationsprozess in der Chemieindustrie, wie ABB. 29: FORSCHUNGSINTENSITÄT STEIGT LEICHT Forschungsintensität der deutschen Chemieindustrie, Forschungsausgaben in Prozent des Produktionswertes 11,2% 11,2% 2013 2030 5,0% 5,4% 3,2% 3,2% 2,7% 2,7% 2,1% 1,9% Basischemie Spezialchemie Pharma Gesamt Chemie ohne Pharma Dank der verstärkten FuE-Anstrengungen können die FuE-Intensitäten in den Sparten konstant gehalten werden. Aufgrund des höheren Pharmagewichts in 2030 steigt für die Branche insgesamt die FuE-Intensität. 35 Wachstumschancen für die deutsche Chemie eine aktuelle Studie11 belegt. Auch im Steuerrecht wären mehr Anreize nötig, um Innovationen zu fördern. Insbeson­ dere fehlt Deutschland auch weiterhin eine steuerliche For­ schungsförderung. Und der Kapitalmarkt ist für Start-ups nur unzureichend ausgebildet. Neben der Politik sind aber auch die Unternehmen gefragt. Laut oben genannter Studie werden auch die Unternehmen ihre Innovationsstrategien anpassen müssen, um interne Hemmnisse abzubauen. Insbe­ sondere sind die Unternehmen aufgefordert, Freiräume für die Forscher zu schaffen, mehr Mut und Geduld aufzubrin­ gen, Neues auszuprobieren – aber auch in der Vermarktung schneller, kundenorientierter und flexibler zu werden. Angesichts der globalen Herausforderung eines stärker werdenden Wettbewerbs wird die deutsche Chemieindustrie den eingeschlagenen Weg der Innovationsorientierung beibehalten. Die Forschungsetats der deutschen Chemie werden bis 2030 um real 3,7 Milliarden Euro aufgestockt werden. Dies entspricht einem jährlichen Zuwachs von 2 Prozent. Dabei wird eine stärkere Fokussierung auf Spezialchemikalien und Pharmazeutika erfolgen – denn hier liegen die Wachstumspo­ tenziale für die Branche. In der Basischemie bleiben die Auf­ wendungen konstant. In nominalen Größen bedeutet dies einen Anstieg der FuE-Ausgaben der Branche um 3 Prozent pro Jahr von heute 10,5 Milliarden Euro auf 16,5 Milliarden Euro in 2030. Zudem werden die Unternehmen ihre Anstren­ gungen erhöhen, die internen Hemmnisse im Bereich For­ schung und Entwicklung abzubauen. Im Prognosezeitraum werden die Forschungsaufwen­ dungen in der Spezialchemie und bei den Pharmazeutika zwar steigen. Die Intensitäten in den Sparten bleiben aber bestenfalls konstant. Innovationshemmnisse im Inland, die moderaten Wachstumsaussichten in Europa ebenso wie die Wachstumsprognosen der außereuropäischen Länder bremsen höhere Investitionen in Forschung und Entwicklung am Standort Deutschland. In der Basischemie sind aufgrund der schwachen Produktionsperformance und der geringe­ ren Innovationsorientierung die Intensitäten sogar rückläufig. ABB. 30: CHINA UND ANDERE SCHWELLENLÄNDER WERDEN IMMER INNOVATIVER Anteile an der globalen Chemie-/Pharmaforschung in Prozent China EU Deutschland USA Japan Restliche Welt 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 Der Wettbewerbsdruck auf den Chemie-Forschungsstandort Deutschland wird sich erhöhen. Die Schwellenländer intensivieren ihre Forschungsanstrengungen. Deutschland kann seine Position als viertgrößter Forschungsstandort aber halten. 36 ABB. 31: INVESTITIONSZURÜCKHALTUNG HÄLT AN Reale Investitionen der deutschen Chemie- und Pharmaindustrie in Mrd. Euro Investitionen historisch Investitionen laut Prognose Trend der historischen Investitionen Trend der Prognose 8 7,5 7 6,5 6 5,5 5 4,5 4 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 Der langfristige Trend bei den Investitionen in der Chemie­ industrie ist rückläufig. Bis 2030 werden die Investitionen nicht ausgeweitet. Es fehlen Wachstumsimpulse und Planungssicherheit durch verlässliche Rahmenbedingungen. Diese Entwicklung unterstreicht und beschleunigt die Spezia­ lisierung in der deutschen Chemie. Die Forschungsintensität der gesamten Branche erhöht sich bis zum Ende des Prognosezeitraums im Jahr 2030 von 5,0 auf 5,4 Prozent. Grund hierfür ist der veränderte Produk­ tionsmix in 2030 mit einem höheren Anteil der Pharmazeu­ tika. Ohne die Pharmasparte bleibt die Intensität konstant bei 2,7 Prozent. Durch die zusätzlichen Investitionen in FuE kann Deutsch­ land seinen Spitzenplatz unter den führenden Chemiefor­ schungsnationen in Zukunft halten – wenngleich die Anteile an den weltweiten FuE-Ausgaben weiter zurückgehen. Im Jahr 2013 wurden 6,7 Prozent der globalen internen FuE-Aus­ gaben der Chemie- und Pharmaindustrie von Deutschland erbracht. In 2030 sinkt der Anteil auf 6,4 Prozent. Damit bleibt Deutschland aber weiterhin der viertgrößte Forschungs­ standort für Chemie- und Pharmaprodukte. Anteilsgewinner sind die Schwellenländer – insbesondere China setzt seinen eingeschlagenen Weg des FuE-Aufbaus fort. China hat bereits in den zurückliegenden Jahren Anteile an der globalen Chemieforschung gewonnen. Noch im Jahr 2000 lag der chinesische Anteil bei 1,6 Prozent. Heute sind es bereits 10 Prozent. 2030 werden es 15 Prozent sein. Dieser Anteilszuwachs geht hauptsächlich zu Lasten Japans. Europa und die USA müssen deutlich geringere Verluste hinnehmen. Die Vereinigten Staaten bauen ihre Technologieführerschaft in vielen Bereichen weiter aus. Insbesondere profitieren sie von der Digitalisierung. Europa verdankt seinen geringen An­ teilsverlust den starken Pharmaausgaben. Betrachtet man nur die Chemie ohne Pharma, muss Europa stärkere Anteilsver­ luste hinnehmen als die USA. Die starke Dynamik im globalen Innovationswettbewerb macht deutlich, wie wichtig gute Rahmenbedingungen für den Forschungsstandort Deutschland sind. Innovationshemm­ „Innovationen den Weg ebnen“, Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Unternehmensberatung Santiago, VCI, 2015. 11 Wachstumschancen für die deutsche Chemie ABB. 32: WENIGER INVESTITIONEN DER BASISCHEMIE Reale Investitionen der deutschen Chemieindustrie in Mrd. Euro, Anteile in Prozent, CAGR 2013–2030 6,7 ABB. 33: ENDE DES INVESTITIONSBOOMS DER CHEMIE Anteile an den weltweiten Investitionen der Chemie- und Pharmaindustrie in Mrd. Euro, Anteile in Prozent, CAGR 2013–2030 +0,7% -0,5% 6,2 23% 27% 24% Pharma Spezialchemie Basischemie +5,1% 9,3% 3,4% 10,9% 4,7% 7,4% 2,8% 10,5% 3,6% 36,2% 28% 7,4% 34,6% 25,7% 53% 45% 17,8% 8,6% 6,3% 37,2% Deutschland EU ohne D USA Japan China Restliche Welt 39,6% 34,1% 2013 2030 Die realen Investitionen der deutschen Chemieindustrie werden bis 2030 um jährlich 0,5 Prozent sinken. In der Basischemie gehen die Investitionen zurück, während sie in den anderen Sparten leicht zunehmen. 2000 2013 2030 Weltweit ändert sich die Investitionsdynamik. In der vergangenen Dekade konnte in der Chemie ein globaler Investitionsboom beobachtet werden. Ursächlich war insbesondere die Investitionsdynamik in China. Dies wird sich nicht fortsetzen. als die Investitionen im Inland und liegen seit 2012 auch über den Inlandsinvestitionen. Hauptmotive für Auslandsinvesti­ tionen sind die Erschließung der Märkte und die Nähe zu den Kunden. Allerdings spielen – insbesondere in Nordamerika – zunehmend auch Kostenmotive eine Rolle. Im Prognosezeitraum wird sich die schwache Investiti­ onsdynamik der Vergangenheit fortsetzen. Die Investitionen gehen um 0,5 Prozent pro Jahr zurück. Denn die Ursachen für die Investitionszurückhaltung bestehen fort. In der Basische­ mie gehen die Investitionen im Prognosezeitraum deutlich zurück (real um – 1,3 Prozent pro Jahr). Ursache ist zum einen die geringe Nachfrage, die nur zu einem Produktionswachs­ Investitionszurückhaltung hält an tum in der Basischemie von real 0,3 Prozent pro Jahr führt. Die Chemieindustrie ist kapitalintensiv. Mit ihren Investi­ Hinzu kommt eine erhebliche Planungsunsicherheit. Im tionen erhöht die Branche ihr zukünftiges Produktionspoten­ Zuge der Energiewende werden insbesondere für die Ba­ zial und sichert ihre Wettbewerbsfähigkeit. Das langfristige sischemie wichtige Ausnahmeregelungen immer wieder in Trendwachstum der Investitionen der deutschen Chemie im Frage gestellt. Gerade für die langen Investitionszyklen in Inland ist allerdings seit längerem niedrig. Seit 1991 stiegen dieser Sparte ist dies investitionshemmend. So werden ver­ die Investitionen in Anlagen und Gebäude der Branche um durchschnittlich nur 0,2 Prozent pro Jahr – real gingen die In­ altete Anlagen zwar im Zeitverlauf ersetzt, aber es werden keine neuen zusätzlichen Kapazitäten aufgebaut. Darüber vestitionen sogar um jährlich 1,6 Prozent zurück. hinaus werden einige Anlagen stillgelegt. Auch die Digita­ Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen führte lisierung wird in der Chemie aus heutiger Sicht voraussicht­ der technologische Fortschritt dazu, dass eine Ausdehnung der Produktion mit weniger Produktivkapital möglich ist. Zum lich nicht zu einem Investitionsboom führen. Denn weder die Nachfragesituation noch die Rahmenbedingungen lassen anderen zeichnet sich in der Branche auch eine zunehmende Spezialisierung ab. Die anlagenintensive Basischemie verliert dies zu. Im Rahmen der geplanten Investitionen wird der Di­ gitalisierung des Produktionsprozesses Rechnung getragen gegenüber der Spezialchemie an Bedeutung. Hauptursa­ werden. Damit erhöht sich insgesamt die Effizienz der Inves­ che hierfür ist das energiepolitische Umfeld in Deutschland. Dementsprechend sanken die Investitionen der Basischemie, titionen. Aufgrund des höheren Wachstums werden die Investiti­ während die übrigen Chemiesparten und auch die Pharma­industrie ihre Investitionen zwar durchaus ausdehnen konnten, onen in der Spezialchemie steigen (real um 0,2 Prozent pro aber tendenziell weniger Sachanlageinvestitionen benötigen. Jahr). Da die Spezialchemie weniger anlagenintensiv ist, wird das Produktionsplus mit nahezu konstanten Sachanlagein­ Die Hauptursache für die Investitionszurückhaltung war vestitionen zu erreichen sein. Die Investitionen im Pharma­ aber das geringe Marktwachstum. Der europäische Absatz­ bereich werden mit einem Plus von real 0,5 Prozent pro Jahr markt ist in den vergangenen Jahren schwächer gewachsen am stärksten zulegen können. Grund hierfür sind die guten als andere Absatzmärkte. Investitionsentscheidungen fielen oftmals zugunsten anderer Standorte aus. So stiegen die Aus­ Wachstumspotenziale. Der Strukturwandel in der Branche landsinvestitionen in der Vergangenheit deutlich dynamischer wird durch die Investitionsentscheidungen beschleunigt. nisse gilt es dringend abzubauen. Grundlagen für Innovatio­ nen in der Chemie sind neben Wissenschaft und Forschung vor allem hochqualifiziertes Personal. Dabei wird sich durch die Digitalisierung und durch den verstärkten Bedarf im Bereich der Spezialchemie und der Pharmazeutika nicht nur das Anfor­ derungsprofil an die Mitarbeiter bei Forschung und Entwick­ lung ändern, sondern auch die qualitativen Anforderungen für die Ausbildung und für die sonstigen akademischen Mitarbei­ ter werden steigen. Das Vorhandensein spezifischer Kenntnisse wird im Wettbewerbsprozess immer bedeutender. 37 Wachstumschancen für die deutsche Chemie Während die schwache Investitionsentwicklung in Deutschland eine Fortsetzung des Trends der Vergangenheit ist, ist die nun ebenfalls schwache Investitionsdynamik bei den globalen Investitionen eine Abkehr von der Entwicklung der vergangenen Jahre. Denn mit Beginn des neuen Jahrtausends waren die weltweiten Investitionen in der chemischen Industrie kräftig gewachsen – insbesondere im Bereich Chemieanlagen. An­ getrieben wurde das Wachstum vor allem durch die hohe Investitionsdynamik in China. Die dort stattfindende Indus­ trialisierung mit der besonderen Fokussierung auf die Che­ mieindustrie ließ die Investitionen förmlich explodieren. Auch in anderen Schwellenländern – vor allem im Nahen Osten – stiegen die Investitionen kräftig. Dagegen war die Investitionsdynamik in den Industrie­ ländern verhalten. Die Wachstumsaussichten insbesondere in Europa waren deutlich schlechter als in den Schwellenlän­ dern, so dass Investitionsentscheidungen oft zugunsten der Schwellenländer getroffen wurden. In vielen Industrieländern fand ein Wandel von der Basischemie zur Spezialchemie mit deutlich geringerer Investitionsneigung für Sachanlagen statt. Die Vereinigten Staaten erlebten sogar Anfang der 2000er Jahre eine De-Industrialisierung, bei der auch die Chemie­ industrie Anteile an der Wertschöpfung verloren hat. Während in den USA der Schiefergasboom eine Trend­ wende brachte, setzte sich in den übrigen Industrieländern die schwache Investitionstätigkeit auch in der jüngsten Ver­ gangenheit fort. Im Prognosezeitraum nimmt nun die Investitionsdyna­ mik in allen Ländern weltweit ab. Die globalen Investitio­ nen in der Chemie- und Pharmaindustrie nehmen nur noch 38 um 0,7 Prozent pro Jahr zu. Weiterhin besteht ein Unter­ schied zwischen der Dynamik in den Schwellenländern und in den Industrieländern. Aber der Unterschied zwischen den Wachstumsraten fällt nur noch gering aus, so steigen die In­ vestitionen beispielsweise in China nur noch um jährlich knapp 1 Prozent, in den USA um 0,5 Prozent und in der Euro­ päischen Union sinken sie um 0,7 Prozent. Damit spiegelt sich im Prognosezeitraum die schwache Investitionsdynamik der deutschen Chemie auch weltweit wider. In den Schwellenländern macht sich die insgesamt nied­rigere Wachstumsdynamik bemerkbar. Das Nachfragewachs­ tum schwächt sich ab. Teilweise sind erhebliche Überkapa­ zitäten vorhanden. Auch in den Schwellenländern gewinnen Spezialchemikalien und Pharmazeutika an Bedeutung, wodurch sich die Investitionsneigung insgesamt verringert. In den Industrieländern setzt sich der Strukturwandel fort. Die Basischemie verliert in vielen Ländern an Bedeutung. Durch die Überkapazitäten in den Schwellenländern steigt der Importdruck. Das nachlassende Nachfragewachstum aus den Schwellenländern kann nicht durch Wachstum aus den ­Industrieländern kompensiert werden. Ein zusätzlicher Kapa­ zitätsaufbau ist damit nicht erforderlich. Die Digitalisierung findet im Zuge der regulären Investitionen statt, führt aber nicht zu einem sprunghaften Anstieg der Investitionen. In den USA läuft der Schiefergaseffekt allmählich aus. Danach nor­ malisiert sich das Investitionsgeschehen. Die starke Verschie­ bung der Investitionsanteile setzt sich daher nicht fort. Fazit Fazit Die deutsche Chemieindustrie hatte sich rasch von den Rück­ schlägen der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 erholt. Zu Beginn des Jahres 2011 lag die Produktion wieder auf dem Vorkrisenniveau und die Branche blickte mit Zuversicht in die Zukunft. Dann kam ein erneuter Rückschlag. Wegen der Eu­ rokrise rutschte Europa in die Rezession. Deutschland selbst stand zwar noch vergleichsweise gut da, doch die europä­ ische Industrieproduktion war rückläufig. Damit brach auf dem Heimatmarkt der deutschen Chemie die Chemienach­ frage weg und die Unternehmen drosselten die Produktion. Im Jahr 2014 war die Schwächephase überwunden, weil sich nun die europäische Wirtschaft erholte. Aber bereits 2015 geriet die Weltwirtschaft erneut in schwieriges Fahrwasser. Diesmal kamen die Hiobsbotschaften aus den Schwellenlän­ dern. Brasilien und Russland rutschten in eine tiefe Rezession, die sich auch auf die Nachbarländer auswirkte. Und in China schwächte sich das Wirtschaftswachstum erheblich ab. Unter dem Strich ist die deutsche Chemieproduktion seit 2011 kaum gewachsen. Die gute Nachricht dieser Studie lautet: Die deutsche Chemieindustrie kann bis 2030 an die Erfolge der Vergangen­ heit anknüpfen. Das Chemiegeschäft ist global gesehen ein dynamischer Wachstumsmarkt, der auch den deutschen Che­ mieunternehmen gute Entwicklungschancen bietet. Im Pro­ gnosezeitraum steigt die globale Chemienachfrage um 3,4 Prozent pro Jahr und damit schneller als die Industrieproduk­ tion (3,2 Prozent) oder das globale BIP (2,5 Prozent). Das reale Produktionsvolumen der deutschen Chemie steigt von 190 Milliarden Euro im Jahr 2013 bis 2030 um 30 Prozent auf 246 Milliarden Euro. Mit durchschnittlich 1,5 Prozent pro Jahr wächst die Chemieproduktion damit etwas dynamischer als die Industrie oder die Gesamtwirtschaft. Mit dem globalen Chemiewachstum kann die deutsche Chemie im Prognosezeitraum zwar nicht ganz Schritt halten, doch die Wachstumsunterschiede zu den wichtigsten Chemienatio­ nen haben sich gegenüber der Vorgängerstudie verringert. Deutschland verliert daher weniger stark Weltmarktanteile und bleibt auch in Zukunft einer der bedeutendsten Chemie­ produzenten der Welt. Zu den Stärken der deutschen Chemie zählen vor allem der starke Industrieverbund mit der daraus resultierenden Ressourceneffizienz und die hohe Innovationskraft nicht nur der eigenen Branche, sondern der deutschen Wirtschaft ins­ gesamt mit ihren starken Leitbranchen. Den Unternehmen der chemischen Industrie ist aber bewusst, dass ihnen der Erfolg nicht in den Schoß fallen wird. Im Gegenteil: Der inter­ nationale Wettbewerb wird an Intensität zunehmen. Die Un­ ternehmen setzen dabei auf die bekannten Strategien: Chancen AA der Globalisierung nutzen: Die Wachstumszent­ ren der Chemienachfrage liegen in den Schwellenländern Asiens. Die Globalisierungsstrategie beinhaltet neben dem Exportgeschäft auch den Ausbau von Produktionskapazitä­ ten im Ausland. Fokussierung auf Spezialchemikalien und Pharma: Basis­ AA chemikalien werden in Zukunft überwiegend für den Eigen­ bedarf in Europa produziert. Demgegenüber kann die Branche bei Spezialchemikalien und Pharmazeutika im Inund Ausland punkten. Innovationsoffensive starten: Zukunftschancen bieten sich AA der deutschen Chemie vor allem durch Produkt- und Pro­ zessinnovationen, aber auch durch neue Geschäftsmodelle. Die Branche weitet die Forschungsetats kräftig aus. Die Un­ ternehmen arbeiten daran, interne Innovationshemmnisse abzubauen und innovative Produkte schneller auf den Markt zu bringen. Dabei beziehen sie zunehmend auch disruptive Technologien ein, die bisher oftmals vernachlässigt wurden. Ressourceneffizienz erhöhen: Als rohstoff- und energiein­ AA tensive Branche ist die Chemie schon allein aus wirtschaft­ lichen Überlegungen heraus bestrebt, ressourcenschonend zu produzieren. Darüber hinaus fühlen sich die Unterneh­ men der Nachhaltigkeit verpflichtet, so dass sie kontinuier­ lich ihre Ressourceneffizienz erhöhen. Allerdings müssen sich die dazu notwendigen Investitionen im internationalen Wettbewerb rechnen. Investitionen erfordern zudem ver­ lässliche politische Rahmenbedingungen, die gerade in der Energie- und Klimapolitik derzeit nicht gegeben sind. Be­ sonders die Energiewende, aber auch der Emissionshandel führen zu Planungsunsicherheit. Rohstoffbasis diversifizieren: Die Rohstoffbasis wird weiter AA optimiert. Die Branche setzt zukünftig mehr Biomasse als Rohstoff ein. Allerdings kann die Grundstoffchemie im Pro­ gnosezeitraum nicht auf fossile Rohstoffe verzichten. Einer Ausweitung der nachwachsenden Rohstoffe stehen hier be­ grenzte Anbauflächen und im Vergleich zu fossilen Rohstof­ fen hohe Preise entgegen. Trotz großer Anstrengungen ist hier der technologische Durchbruch noch nicht gelungen. Produktivität erhöhen: Die Branche wird den technologi­ AA schen Fortschritt vorantreiben und auch die Chancen der Digitalisierung nutzen. Bei aller Zuversicht darf aber nicht übersehen werden, dass die in der Studie quantifizierten Entwicklungspfade auf Annahmen beruhen, bei denen auch deutlich andere Entwick­ lungen eintreten können: Beispielsweise sind die Fortsetzung der Europäischen Integration und die Stabilität der Wirt­ schafts- und Währungsgemeinschaft keineswegs gesichert. Und ob die deutsche Industrie die Chancen der Digitalisie­ rung und Vernetzung (Industrie 4.0) erfolgreich meistert, ist ebenfalls nicht sicher. Es kann also auch anders kommen. Die aufgezeigten Ent­ wicklungen können sowohl durch exogene Schocks als auch durch wirtschaftspolitische Weichenstellung beeinflusst werden. Um dieses zu verdeutlichen, hatte die Vorgänger­ studie mit Hilfe von alternativen Szenarien aufgezeigt, dass es für die deutsche Gesamtwirtschaft, die Industrie und die Chemie nur dann eine erfolgreiche Zukunft geben wird, wenn zum einen die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen in Berlin und Brüssel dies ermöglichen und zum anderen die Weltwirtschaft insgesamt auf Wachstumskurs bleibt. Nach den aktuellen Einschätzungen haben beide Vor­ aussetzungen zukünftig noch Gültigkeit. Zwar haben sich die Wachstumsperspektiven insbesondere für die Schwellenlän­ der, aber auch für viele Industrieländer eingetrübt. Als Kon­ 39 Fazit sequenz hieraus wird das globale Chemiewachstum bis 2030 mit 3,4 Prozent pro Jahr deutlich niedriger ausfallen als in der alten Basisprognose (+ 4,5 Prozent). Mit dieser Wachstumsabschwächung kann die deutsche Chemie insgesamt aber gut leben. Zwar hat sich auch hierzu­ lande das Tempo verlangsamt, aber längst nicht so stark wie in der Weltwirtschaft insgesamt. Die Folge: Zukünftig verliert die deutsche Chemie weniger stark Weltmarkt- und Welt­ handelsanteile als noch zu Beginn dieses Jahrtausends. Der deutsche Anteil an der globalen Chemieproduktion sinkt nach den neuen Berechnungen bis 2030 auf 3,8 Prozent. Die Vorgängerstudie war noch von einem Rückgang auf 3 Prozent ausgegangen. Das globale Chemiegeschäft war in den zurückliegenden Jahren durch neue Fördertechnologien im Öl- und Gasge­ schäft und durch das chinesische Wirtschaftswunder gravie­ renden Umwälzungen ausgesetzt. Das verdeutlicht ein Blick auf das globale Investitionsgeschehen in der Chemieindus­ trie: In den zurückliegenden 13 Jahren gab es in der Che­ miebranche weltweit gesehen einen Investitionsboom. Die realen Investitionen stiegen um 5,1 Prozent pro Jahr. Neue Anlagen entstanden in den rohstoffreichen Ländern und in den aufstrebenden Schwellenländern – allen voran in China. Der Anteil Chinas an den globalen Chemieinvestitionen stieg von 6,3 Prozent im Jahr 2000 auf 34,6 Prozent im Jahr 2013. Bei einer sich insgesamt abschwächenden weltwirtschaftli­ chen Dynamik und angesichts des großen Kapazitätszuwach­ ses in China, den USA oder dem Nahen Osten wird sich nicht nur das Wachstum der globalen Chemieinvestitionen ver­ langsamen, sondern auch die Wachstumsraten werden sich stärker angleichen. Damit gibt es im Prognosezeitraum nur noch geringe Anteilsverschiebungen. Die zweite Bedingung der Vorgängerstudie für eine er­ folgreiche Zukunft der deutschen Chemieindustrie lautete: Die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen in Berlin und Brüssel müssen stimmen. Auch hier ist die neue Prognose zu­ versichtlich. Denn im Zuge der Weltwirtschaftskrise wurde deutlich, dass eine starke Industrie für Wachstum und Wohl­ stand in Deutschland unverzichtbar ist. In Berlin und Brüssel wurden aus dieser Erkenntnis erste industriepolitische Kon­ sequenzen gezogen. Positive Ansätze sind erkennbar – bei­ spielsweise durch das Bündnis „Zukunft der Industrie“ oder die Initiative „Better Regulation“. Bisher haben sich die wirtschaftspolitischen Rahmenbe­ dingungen für die industrielle Produktion allerdings kaum verbessert. Hier ist noch Überzeugungsarbeit zu leisten. Ins­ besondere die Energie- und Klimapolitik bleibt die Achilles­ ferse der deutschen Industrie. Denn Energiekosten sind ein wichtiger Faktor im globalen Standortwettbewerb. Häufig wechselnde energiepolitische Vorgaben und unzählige staat­ liche Eingriffe in den Energiemarkt erzeugen eine anhal­ tend hohe Planungsunsicherheit in den Unternehmen – und damit Zurückhaltung bei Investitionen. Laufen die Kosten für die Energiewende aus dem Ruder, wächst in der Chemie als energieintensiver Branche das Risiko, dass interne Wert­ schöpfungsketten reißen. Damit käme es auch zu gravieren­ den Einschnitten im gesamten Industrienetzwerk. Eine solche Entwicklung erwarten wir derzeit nicht, denn die Studie geht davon aus, dass die Energie- und Klimapolitik auch zukünf­ tig Rücksicht auf die im Wettbewerb stehenden energieinten­ 40 siven Unternehmen nimmt. Zudem wird die Schere bei den Energiekosten zwischen Deutschland und der Konkurrenz in den USA voraussichtlich nicht weiter aufgehen. Dennoch bleiben die erheblichen Nachteile des Stand­ orts Deutschland bei den Energie- und Rohstoffkosten im Prognosezeitraum bestehen. Und dies dämpft die Ent­ wicklungsmöglichkeiten für die deutsche Chemieindustrie. Das hat das Wirtschaftsforschungsinstitut Oxford Econo­ mics im Auftrag des VCI nachgewiesen (siehe Seite 7). Seit 2008 hat sich die Wettbewerbsfähigkeit des Chemiestand­ orts Deutschland verschlechtert. Und hierfür waren vor allem wachsende Nachteile bei den Rohstoff- und Energiekosten verantwortlich: Die Kombination aus niedrigen Gaspreisen in den USA oder dem Nahen Osten bei gleichzeitigen Ölpreisen um 100 US-Dollar je Barrel und einer zunehmend den Indus­ triestrom verteuernden Energiewende führte besonders in der deutschen Grundstoffchemie zu Einbußen im Exportge­ schäft und zu einem zunehmenden Importdruck. Zwar hat der jüngste Rohölpreisverfall den Wettbewerbs­ nachteil der deutschen Grundstoffchemie erheblich gemin­ dert. Doch in Zukunft muss wieder mit steigenden Ölpreisen gerechnet werden. Im Prognosezeitraum bleiben die Energieund Rohstoffkostennachteile der deutschen Chemie im Ver­ gleich zur Konkurrenz in Nordamerika und dem Nahen Osten weitgehend bestehen. Gegenüber China, dem weltgröß­ ten Chemieproduzenten, hat die deutsche Chemie hingegen auch zukünftig keinen Wettbewerbsnachteil bei den Energieund Rohstoffkosten. Um in der Erfolgsspur zu bleiben, besteht für Unter­ nehmen und Politik jedoch weiterhin Handlungsbedarf. Die Studie „Innovationen den Weg ebnen“ hat gezeigt, dass die Unternehmen ihre Innovationskraft steigern müssen (siehe Seite 35). Das heißt zum Beispiel: interne Hemmnisse für Inno­ vationsprozesse ausräumen und die Innovationskultur verbes­ sern. Dabei benötigen die Unternehmen die Unterstützung der Politik. Denn es gibt eine Reihe von externen Hemmnis­ sen, die den Weg innovativer Produkte vom Labor zum Markt unnötig erschweren. Die aktuellen Projektionen haben bereits eine Verbesserung der industriepolitischen und innovations­ politischen Rahmenbedingungen unterstellt. Hier muss die Politik noch liefern, damit die gezeigten Entwicklungspfade realisiert werden können. Dann gilt: Eine nachhaltige Entwicklung der globalen Wirtschaft ist auf mehr Chemieprodukte angewiesen. Die deutsche Branche kann mit hochwertigen Lösungen für an­ spruchsvolle Kunden im Inland und auf allen Auslandsmärkten punkten. Sie wird dadurch auch künftig weiter wachsen – in einem Verbund von Pharma, Basis- und Spezialchemie. Es lohnt sich also, in die deutschen Chemieunternehmen zu investieren. Projektansatz und Methodik Projektansatz und Methodik (Internationale Energieagentur) oder auf Einschätzungen von Experten aus der Chemieindustrie. VIEW setzt sich aus einzelnen Ländermodellen zusammen, die wechselseitig über ihre außenwirtschaftlichen Variablen in­ teragieren. Die im Modell enthaltenen Länder lassen sich grob in zwei Gruppen unterteilen: Die Modelle für die 32 führen­ den Industrieländer (EU 24, Norwegen, Schweiz, Kanada, USA, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland) sind struktu­ rell gleich aufgebaut. Sie umfassen ca. 330 makroökonomische Variablen sowie eine Vielzahl außenwirtschaftlicher Parame­ ter (Importnachfrage anderer Länder, Preis- und Lohnrelati­ onen, Wechselkurse etc.). Die Modelle der Schwellenländer sind ähnlich strukturiert, weisen aber aufgrund der schlechte­ ren Datenlage einen geringeren Detaillierungsgrad auf. Die Entwicklung der Wirtschaftsbereiche wird in auf dynamischen Input-Output-Tabellen basierenden Submodulen der Länder­ modelle bestimmt. In einer erweiterten Version des Modells zum einen mit Hilfe eines Top-down-Ansatzes (PrognosAA können auch die Handelsströme zwischen den Ländern nach Modell „VIEW“), der sich der chemischen Industrie von 27 Gütergruppen differenziert dargestellt werden. oben nähert und die Makroperspektive repräsentiert. Aus­ Die zugrunde liegende Modellphilosophie entzieht sich gehend von den globalen Megatrends ermöglicht diese Herangehensweise eine detaillierte Prognose der Weltwirt­ hinsichtlich der verschiedenen ökonomischen Schulen einer eindeutigen Kategorisierung. Zusammengefasst stellen sich schaft von der Gesamtwirtschaft bis hin zu den Entwicklun­ gen in einzelnen Industriebranchen. Dieses Vorgehen wird die entscheidenden funktionalen Zusammenhänge wie folgt dar: Die Entwicklung des aktuellen Outputs eines Landes der starken internationalen Verflechtung der chemischen In­ wird durch die Ausgabenentscheidungen der vier Sektoren dustrie gerecht. – private Haushalte, Unternehmen, Staat und übrige Welt – zum anderen mit Hilfe eines Bottom-up-Ansatzes (VCIAA getrieben und durch die (kurzfristig) gegebenen Produkti­ Prognos-Branchenmodell „Chemie“). Von den einzelnen onskapazitäten begrenzt. Liegt der tatsächliche Output über Produktgruppen ausgehend ermöglicht diese Mikro­ dem Niveau, das mit der trendmäßigen Normalauslastung perspektive, divergierende Entwicklungen innerhalb der der Produktionskapazitäten zu realisieren ist, beschleunigt Chemie und Veränderungen der Wettbewerbsfähigkeit sich das Wachstum des Lohn- und Preisniveaus und erhöht der Chemiestandorte in der Prognose zu berücksichti­ damit auch das Zinsniveau. Dies führt zu einer Dämpfung gen. Darüber hinaus liefert das Branchenmodell „Chemie“ der realen Verwendung und einer Rückkehr des tatsächli­ neben der Prognose von Produktion und Handelsströmen chen Outputs auf sein Trendniveau. Da die kurzfristig gege­ auch Entwicklungen für andere Branchenindikatoren wie benen Produktionskapazitäten das Resultat vorangegangener Beschäftigung, Forschungsetats, Investitionen oder Ener­ Ausgaben – genauer Investitionsentscheidungen – darstel­ gieverbrauch. len, beeinflussen sich der aktuelle Output und der Trendout­ put in der mittleren Frist wechselseitig. So wird beispielsweise Das Prognos-Makromodell VIEW eine länger anhaltende Schwächephase in den Modellen auch Die Prognos AG verfügt mit VIEW über ein globales das Trendwachstum einer Volkswirtschaft dämpfen: Bedingt Prognose- und Simulationsmodell, welches detailliert und konsistent die zukünftige Entwicklung der Weltwirtschaft dar­ durch unterlassene Investitionen ist der Kapitalstock kleiner, älter und damit auch weniger produktiv, zudem erhöht sich stellt. Interaktionen und Rückkopplungen zwischen den ein­ mit der steigenden Arbeitslosigkeit auch deren strukturelle zelnen Ländern werden in dem Modell explizit erfasst und Komponente. Die Geld- und Fiskalpolitik eines Landes wird modelliert. Seine analytische Aussagekraft geht daher weit auf der Basis der Taylor-Regel bzw. einer exogenen Vorgabe über die isolierter Ländermodelle mit exogen gegebenen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen hinaus. In der aktu­ für die Sollgröße der Schuldenstandsquote endogen in den ellen Version umfasst VIEW die 42 bedeutendsten Länder der Ländermodellen bestimmt. Das VIEW-Modell wurde gegenüber der in der Vorgän­ Welt und damit über 90 Prozent der globalen Wirtschaftsleis­ gerstudie verwendeten Version von Prognos weiterentwickelt. tung. Dabei ergaben sich im Wesentlichen folgende Verbesserun­ Ausgehend von zentralen exogen gesetzten Annahmen gen: wie etwa der Demografie, der zukünftigen Entwicklung des internationalen Ölpreises oder der Konsolidierungsvorgaben AAIntegration eines Proxys für das langfristige Wachstums­ für die staatlichen Haushalte werden mit VIEW Prognosen für potenzial eines Landes, um die langfristigen Auswirkungen die Weltwirtschaft und die einzelnen Länder erstellt. Diese der Finanzkrise 2008/2009 auf das Potenzialwachstum der Annahmen beruhen entweder auf Prognosen anderer Insti­ Volkswirtschaften zu berücksichtigen; tutionen wie beispielsweise der Vereinten Nationen, der IEA Die vorliegende Studie entstand in enger Kooperation des Wirtschaftsforschungsinstituts Prognos mit dem Verband der Chemischen Industrie (VCI). Die Studie wurde weitgehend im Jahr 2015 erstellt. Das Basisjahr für die Prognose ist 2013. Dies entspricht dem aktuellen Stand der amtlichen Statistik zur Zeit der Modellberechnungen. Ziel des Projektes war die Aktualisierung der Langfrist­ prognosen für die deutsche Chemieindustrie bis zum Jahr 2030. Auf der Grundlage der umfassenden und detaillier­ ten Prognose- und Simulationsmodelle der Prognos AG und der Expertise aus VCI-Mitgliedsunternehmen, Landes- und Fachverbänden sowie europäischen Chemieverbänden ist es gelungen, ein detailliertes Zukunftsbild der chemischen Industrie zu zeichnen. Wie schon bei der Vorgängerstudie haben wir uns der Prognose auf zwei Wegen genähert: 41 Projektansatz und Methodik Berücksichtigung AA der institutionellen Rahmenbedingungen mit Hilfe von Regulierungsindizes; Berücksichtigung der Auswirkungen von FuE-Ausgaben auf AA die Exportperformance; stärkere Differenzierung bei den Staatsfinanzen bzw. bei AA der Fiskalpolitik; Berücksichtigung der Auswirkungen von Veränderungen AA der Einkommensverteilung auf die Konsumdynamik. VCI-Prognos-Branchenmodell „Chemie“ Aufbauend auf den Ergebnissen des Makromodells wurden im Rahmen des sogenannten Bottom-up-Prozesses die Entwicklungen der Chemieindustrie in Deutschland, den USA sowie der Europäischen Union detailliert untersucht. Für die Analyse wurde die Chemie in 11 Produktgruppen eingeteilt, die für den vorliegenden Bericht wiederum zu drei Chemiesegmenten (Basischemie, Spezialchemie und Pharma) zusammengefasst wurden. Die Analyse erfolgte aber auf Ebene der Produktgruppen. Für jede Produktgruppe waren Produktion, Exportstruktur, Importe und die inländische Nachfrage bekannt. Darüber hinaus wurden weitere Kennzah­ len wie Forschungsintensität, Energieverbrauch oder Rohstoff­ einsatz, falls nicht in der amtlichen Statistik vorhanden, mit Hilfe von Branchenexperten abgeschätzt. Das Modell ermöglicht eine Vorhersage der Produktions­ entwicklung einzelner Produktgruppen in Abhängigkeit von der Wachstumsdynamik der Kundenbranchen im In- und Aus­ land. Die Dynamik der Chemiemärkte floss als Ergebnis des Makromodells in das Branchenmodell ein. Das Branchenmo­ dell wiederum erlaubt nun zusätzlich die Berücksichtigung von Veränderungen der Standortqualität für einzelne Pro­ duktgruppen. Beispielsweise wirken sich Energiekostennach­ teile in der energieintensiven Basischemie stärker aus als in der Spezialchemie. Verschlechterungen der Standortqua­ lität wurden im Modell als zunehmender Importdruck und geringere Exportdynamik (z. B. „carbon leakage“) model­ liert. Dieser Ansatz trägt der Tatsache Rechnung, dass sich für unterschiedliche Produktgruppen das Wettbewerbsumfeld unterschiedlich entwickeln kann. Mit Hilfe des Makromodells wurde zunächst die inlän­ dische Nachfrage einzelner Produktgruppen aus dem Wachstum der wichtigsten Kundenindustrien abgeleitet. Anschließend wurde für jede Produktgruppe die Exportnach­ frage aus der spezifischen Exportstruktur der Produktgruppe berechnet. Dabei flossen auch die Veränderungen der Wett­ bewerbsfähigkeit in die Berechnungen ein. Für Deutschland wurde zusätzlich zwischen der Nachfrage aus der Europäi­ schen Union und dem restlichen Ausland differenziert. Die Gründe für diese Aufteilung sind: Unterschiede AA Unterschiede AA bei den Transportkosten; in der Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Zielmärkten; unterschiedliche AA Bedeutung der Zielmärkte für die einzel­ nen Produktgruppen. Ein weiterer wichtiger Faktor für die Ableitung der Pro­ duktion sind die Chemieimporte. Sie wurden für jede Pro­ duktgruppe aus der Entwicklung von Inlandsnachfrage und dem zukünftigen Importdruck berechnet. So fließt die Wett­ 42 bewerbsfähigkeit einzelner Chemiesparten auch auf der Im­ portseite ein. Durch die Zusammenführung von Inlandsnachfrage, Che­ mieimporten und Auslandsnachfrage (Exporte) konnte so für jede Produktgruppe das Wachstum der Produktion berech­ net werden. Die Produktionsentwicklung in den einzelnen Pro­ duktgruppen war die Basis für die Herleitung weiterer In­ dikatoren. Neben der Beschäftigung, dem Energie- und Rohstoffverbrauch wurden die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sowie die Sachanlageinvestitionen abgeleitet. Annahmen über Effizienzsteigerungen (Produktivität, Energieund Rohstoffeffizienz, Verbesserungen in den FuE-Prozessen etc.) standen im Vordergrund der Berechnungen. Beide Ansätze – also Top-down- und Bottom-up-Ansatz – wurden mit Branchenexperten plausibilisiert und in einem letzten Schritt miteinander verknüpft. Die modellgestützte gesamtwirtschaftliche Prognose wurde so mit branchenspezi­ fischen und produktgruppenspezifischen Entwicklungen der Chemieindustrie ergänzt. Im Ergebnis weicht diese Prognose leicht von der Prognos-Basisprognose – veröffentlicht als „Prognos Weltreport“ – ab. TAB. 1: PRODUKTGRUPPEN DER CHEMISCHEN INDUSTRIE Basischemikalien Anorganische Grundstoffe und Industriegase Primärchemikalien Organische Zwischenprodukte Standardpolymere Düngemittel Spezialchemikalien Engineering Polymers Konsumchemikalien Farben und Lacke Schädlingsbekämpfungs- und Pflanzenschutzmittel Andere Spezialitäten Pharmazeutika (inkl. Tiergesundheit) Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1 Bevölkerung, Bevölkerungswachstum und Alterung in ausgewählten Ländern 9 Abbildung 2 Anteil des weltweiten Handels (Exporte und Importe) am globalen BIP in Prozent, 2013–2030 11 Abbildung 3 Anteile der Industrie- und Schwellenländer an den gesamtwirtschaftlichen realen FuE-Ausgaben in Prozent 12 Abbildung 4 Ölpreis im Jahresdurchschnitt, in US-Dollar je Barrel (real) 12 Abbildung 5 Preisvergleich Erdgas USA - Europa - Japan, Referenzpreise der Handelspunkte in Euro/MWh 13 Abbildung 6 Entwicklung der energiebedingten CO2-Emissionen nach Regionen, in Gigatonnen 14 Abbildung 7 Schuldenstandsquoten ausgewählter Länder in Prozent des Bruttoinlandsprodukts 15 Abbildung 8 Globales BIP-Wachstum, 2013–2030 16 Abbildung 9 BIP-Entwicklung in den europäischen Krisenländern 16 Abbildung 10 Verwendungsstruktur des chinesischen Bruttoinlandsprodukts 18 Abbildung 11 Globale Entwicklung der realen Produktion der Branchen 19 Abbildung 12 Globale Chemie- und Pharmaproduktion, 2013–2030 20 Abbildung 13 US-Chemieproduktion in Mrd. Euro, 2013–2030 21 Abbildung 14 Außenhandel der US-Chemie- und -Pharmaindustrie, 2013–2030 22 Abbildung 15 Außenhandel der EU-Chemie- und -Pharmaindustrie, 2013–2030 23 Abbildung 16 Chemie- und Pharmaproduktion in der Europäischen Union, 2013–2030 23 Abbildung 17 BIP-Wachstum in Deutschland in Prozent pro Jahr, Wachstumsbeiträge der Komponenten 24 Abbildung 18 Anteile der Industrie an der Bruttowertschöpfung wichtiger Länder 25 Abbildung 19 Industrieproduktion in Deutschland, 2013–2030 26 Abbildung 20 Durchschnittliche jährliche Wachstumsraten von BIP, Industrie- und Chemieproduktion 27 Abbildung 21 Reale Produktionswerte der deutschen Chemieindustrie, Anteile der Sparten, 2013–2030 28 Abbildung 22 Handel mit pharmazeutischen Erzeugnissen aus Deutschland, 2013-2030 28 Abbildung 23 Reale Produktionswerte von Spezialchemikalien in Deutschland, 2013–2030 29 Abbildung 24 Handel mit Basischemikalien aus Deutschland, 2013–2030 30 Abbildung 25 Energieverbrauch der chemischen Industrie nach Sparten 32 Abbildung 26 Energieverbrauch der deutschen Chemieindustrie seit 1990 32 43 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 27 Ressourcenverbrauch in der organischen Chemie in Tonnen, 2013 und 2030 34 Abbildung 28 Reale Forschungsausgaben der deutschen Chemieindustrie, 2013–2030 35 Abbildung 29 Forschungsintensität der deutschen Chemieindustrie 35 Abbildung 30 Anteile an der globalen Chemie-/Pharmaforschung 36 Abbildung 31 Reale Investitionen der deutschen Chemie- und Pharmaindustrie 36 Abbildung 32 Reale Investitionen der deutschen Chemieindustrie, 2013–2030 37 Abbildung 33 Anteile an den weltweiten Investitionen der Chemie- und Pharmaindustrie, 2013–2030 37 TABELLENVERZEICHNIS Tabelle 1 44 Produktgruppen der chemischen Industrie 42 Verband der Chemischen Industrie e. V. (VCI) Mainzer Landstraße 55 60329 Frankfurt am Main Telefon: +49 69 2556-0 Telefax: +49 69 2556-1471 E-Mail: [email protected] Internet: www.vci.de Stand: April 2016 Auflage: 1.500 Quellen: Prognos AG und Verband der Chemischen Industrie e. V., wenn nicht anders angegeben Gedruckt auf Papier aus nachhaltiger Waldwirtschaft. Getragen von: Wirtschaftsverband VCI, Gewerkschaft IG BCE und Arbeitgeberverband BAVC