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Vortrag „Am Vorabend der Reformation“
Manfred Heim, LMU, Bayerische Kirchengeschichte
19. November 2015
Augsburg
Dem ganzen Spätmittelalter, dem 14. und 15. Jahrhundert, hat es an
einzelnen hervorragenden Männern und Frauen in der Kirche nicht
gefehlt. Und dennoch empfanden viele ernste Christenmenschen, daß
der Zustand der Kirche in allen Rängen unbefriedigend sei. Nach dem
Scheitern Bonifaz’ VIII. gerieten die (französischen) Päpste weithin
unter den Einfluß der französischen Krone; von 1309 bis 1377
residierten sie in Avignon an der unteren Rhône ("Avignoner Exil",
auch "Babylonische Gefangenschaft" genannt). Ihre universale
Stellung nahm darüber schweren Schaden. Das kunstvoll ausgebaute
Stellenbesetzungs- und Finanzsystem (Papstfinanz) steigerte die
Verdrossenheit über die ständig wachsenden finanziellen Forderungen
der Kurie, begleitet von häufigen Strafdrohungen, in der ganzen
Christenheit. Das Papsttum verlor weiter an religiösem Gehalt, an
geistlichem Ansehen und an politischem Gewicht gegenüber den
erstarkenden Nationalstaaten, deren Herrscher überall mit Erfolg den
Ausbau von Landeskirchen betrieben. Der Kampf der AvignonPäpste, besonders Johannes’ XXII. (1316-1334) und Clemens’ VI.
(1342-1352), gegen Kaiser Ludwig IV. den Bayern (1314-1347)
bewies, wie bedenklich die päpstliche Autorität gesunken war. Auch
Teile der franziskanischen Minoriten stellten sich gegen die Päpste.
Der Ruf nach einer “Reform der Kirche an Haupt und Gliedern” kam
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nicht mehr zum Verstummen und wurde mit jedem Jahrzehnt
drängender. Jetzt erhob sich radikale, grundsätzliche Kritik am
Papsttum selbst, so - gewiß unterschiedlich - bei Marsilius von Padua,
Wilhelm von Ockam, John Wyclif und Jan Hus. In seiner Kaiser
Ludwig IV. dem Bayern gewidmeten, 1324 fertiggestellten
Streitschrift "Defensor pacis" (Verteidiger des Friedens) vertritt
Marsilius von Padua die Thesen von der Kirche als der Gemeinschaft
aller Gläubigen, von der Heiligen Schrift als alleiniger Glaubensquelle
und vom Vorrang (Superiorität) des allgemeinen Konzils gegenüber
dem Papst; er leugnet zugleich den göttlichen Ursprung der
Hierarchie, besonders des Papsttums. Dies stellte ihn in schärfsten
Gegensatz zur katholischen Glaubenslehre und brachte ihm die
Exkommunikation ein. Papst Johannes XXII. verurteilte 1325 fünf
Sätze der wohl radikalsten kirchenpolitischen Streitschrift des
Mittelalters, aus der Wilhelm von Ockham schöpfte und in der sich
bereits die Lehren Wyclifs, Hus' und Luthers ankündigten. Der
englische Theologe und Kirchenreformer John Wyclif (Wiclif, um
1320–1384) und in seiner geistigen Gefolgschaft der tschechische
Priester Jan (Johannes) Hus (um 1369/70-1415), Rektor der
Universität Prag, betonten die alleinige Geltung der Autorität der
Heiligen Schrift mit allen Konsequenzen für Theologie und
Kirchenbrauch. Die Lehre Wyclifs (Wyclifismus) enthielt neben einer
rigoristischen Armutsforderung und der Ablehnung der kirchlichen
Hierarchie vor allem eine radikale Kritik an der
Transsubstantiationslehre (die Verwandlung der Substanz, nicht im
chemischen, sondern im metaphysischen Sinn, von Brot und Wein in
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Leib und Blut Christi bei der Feier der Eucharistie; auf dem IV.
Laterankonzil 1215 von Papst Innozenz III. zum Dogma erhoben). Die
Konsekration (lateinisch = Weihe) bewirke demnach lediglich die
Heiligung von Wein und Brot, die nicht nur hinsichtlich der
Akzidentien, sondern auch substanzhaft Wein und Brot blieben.
Wyclifs Kritik wurzelte in seiner Haltung im Universalienstreit: in den
seit dem 12. Jahrhundert ausgefochtenen Streitigkeiten über das
Verhältnis der Allgemeinbegriffe (universalia) zu den Dingen (realia)
vertrat er einen extremen Realismus, wonach das Allgemeine, nicht
die Einzeldinge, das Wirkliche sei, dem ein höherer Seins- und
Realitätsgrad innewohne (universalia sunt realia ante rem). Durch
seine extremen Theorien verlor Wyclif die ihm anfänglich
entgegengebrachten Sympathien. Nach verschiedenen kirchlichen
Verurteilungen wurden zuletzt 1415 auf dem Konzil von Konstanz
(1414-1418) 45 Schlußfolgerungen seiner Lehre verworfen, auf die
wiederum Jan Hus zurückgriff. Im nämlichen Jahr, 1415, wurde der
Vorreformator Hus auf dem Konzil von Konstanz als Ketzer zum Tod
auf dem Scheiterhaufen verurteilt und verbrannt, nachdem er dort die
Aufgabe seiner auf dem Wyclifismus beruhenden Lehre und seine
Kritik an Papsttum, kirchlicher Korruption und den mißbräuchlichen
Ablaßhandel verweigert hatte. In der Folge seiner Verbrennung
entstanden tschechisch-frühnationale und (kirchen-) revolutionäre
(Aufstands-) Bewegungen in Böhmen: der Hussitismus. Die beiden
nach ihrer jeweiligen Lehre unterschiedenen Richtungen der Hussiten
bestanden in den gemäßigten Calixtinern und den radikalsektiererischen Taboriten. Hus' Feuertod führte zum Aufstand der
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Hussiten gegen König Sigismund, den man neben dem Papst als
Schuldigen betrachtete; die Revolte entwickelte sich zu den
Hussitenkriegen der Jahre 1419 bis 1436. (Die herausragende
Bedeutung des Reformers Jan Hus ist zumal in den letzten Jahren
allgemein gewürdigt worden. So hat auch Johannes Paul II. auf einem
internationalen Kongreß Mitte Dezember 1999 im Vatikan "tiefes
Bedauern" über den "grausamen Tod" des Jan Hus geäußert. Der
große Beitrag Hus' zur europäischen Geschichte sei das "Prinzip der
persönlichen Verantwortung" gewesen [Nachweis: Herder
Korrespondenz 54, 2000, 106].)
Das “Exil” in Avignon hatte das Ansehen des Papsttums so
geschwächt, daß seine tiefste Erniedrigung anbrach, das Große
Abendländische Schisma, die Spaltung im Papsttum (1378-1417).
Diese Spaltung an der Spitze war nicht von weltlichen Mächten
aufgezwungen, wie häufig durch Gegenpäpste der Vergangenheit,
sondern wurde von höchsten kirchlichen Kreisen herbeigeführt und
durch vier Jahrzehnte aufrecht erhalten. Die schwierige Frage, ob nach
1378 der Papst in Rom oder der in Avignon die kanonische
Legitimität besaß, konnten weder die Zeitgenossen befriedigend
beantworten, noch kann dies der Kirchenhistoriker. Der Notstand der
Kirche war offenkundig. Jetzt erstarkte die schon bei früheren
Theologen und Kanonisten grundgelegte, in altkirchlichem Denken
wurzelnde Theorie, daß das Allgemeine Konzil als Repräsentation der
gesamten Kirche über dem Papst stehe und diesen notfalls richten und
absetzen könne. Das Konzil von Pisa (1409), berufen von Kardinälen
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beider Gruppen (“Obedienzen”), setzte beide “Päpste” bzw.
Papstprätendenten ab und wählte mit Alexander V. (1409-1410) einen
neuen Papst. Obwohl die beiden Abgesetzten sich nicht fügten,
bedeutete Pisa bereits einen Schritt zur Einheit. Von mehreren
vorgeschlagenen Wegen, die Einheit wiederzugewinnen, führte
schließlich der “Weg der Synode” (via synodi), der “königliche Weg
der alten Kirche”, zum Ziel.
Das Allgemeine Konzil von Konstanz (1414-1418) hatte sich mit drei
Hauptaufgaben zu befassen: Wiedergewinnung der Einheit im
Papsttum (causa unionis), Urteil über die abweichenden
Glaubenslehren des John Wyclif und Jan Hus (causa fidei),
Kirchenreform (causa reformationis). Das Konzil wurde mit
tatkräftiger Unterstützung des deutschen Königs und späteren Kaisers
Sigismund (1410-1437) veranstaltet und durchgeführt. Die ganze
abendländische Kirche war auf dieser prächtigen
Kirchenversammlung repräsentativ vertreten. Im offenkundigen
Notstand der Kirche - keiner der drei “Päpste” war zweifelsfrei legitim
- verkündete die Versammlung die Superiorität des Konzils (Dekret
“Haec sancta”, 1415). Die “Päpste” der Pisaner (Johannes XXIII.) und
der Avignon-Obedienz (Benedikt XIII.) wurden abgesetzt, der
römische (Gregor XII.) erklärte seinen Verzicht. Durch das
Konzilsdekret “Frequens” (1417) sollte die regelmäßige Abhaltung
Ökumenischer Konzilien zur festen Einrichtung und vor allem die
Durchführung der Reform gewährleistet werden. Als Häresie
eingestufte Lehren des Wyclif und Hus wurden verurteilt, Jan Hus,
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wie bereits dargelegt, als Ketzer verbrannt, weil er den Widerruf
verweigerte. Am 11. November 1417 wurde Martin V. (1417-1431)
zum Papst gewählt. Damit besaß die Kirche nach Jahrzehnten
schwerer Verstörung wieder ein allgemein anerkanntes Oberhaupt.
Reste der Spaltung verloren bald alle Bedeutung. Die Frage der
Kirchenreform wurde durch Konkordate mit einzelnen Nationen
allerdings nur unzureichend angegangen.
In den langen konziliaristischen Kämpfen wurde offenkundig, daß die
tiefste Krise der spätmittelalterlichen Kirche eine Krise der
Kirchenverfassung war. Die Wahl Martins V. bedeutete den
Wendepunkt in dieser Bewegung. Zielbewußt arbeiteten die Päpste
der Folgezeit daran, ihre Machtstellung, die sie vor Ausbruch der
Spaltung innehatten, zurückzugewinnen. Vor allem durch das
Ungeschick Eugens IV. (1431-1447) kam es auf dem Konzil von
Basel (seit 1431) erneut zur konziliaristischen Krise und zur Spaltung
der Versammlung (1437). Während sich die Basler Restsynode in
zunehmenden Radikalismus hineinsteigerte und Felix V. als
Gegenpapst erhob, beschloß die vom Papst nach Ferrara-Florenz
verlegte Versammlung die Union mit den Griechen unter deutlicher
Betonung des päpstlichen Primates. Diese Union war infolge
schwerster Not des untergehenden Byzantinischen Reiches erzwungen
und konnte nicht mehr wirksam werden.
Am 29. Mai 1453 wurde Konstantinopel nach langer Belagerung vom
osmanischen Sultan Mehmed II. erobert. Der ritterliche letzte Kaiser
des Ostens, Konstantin XI. Palaiologos, fand dabei kämpfend den
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Tod. Zu Tausenden wurden die unglücklichen Griechen ohne
Rücksicht auf Alter, Stand oder Geschlecht erschlagen, geschändet,
ausgeraubt, als Sklaven verkauft. Die Nachricht vom Fall der
christlichen Kaiserstadt löste im Westen zunächst Entsetzen aus. Ein
Krakauer Domherr schrieb: “Eines der beiden Augen der Christenheit
wurde ausgerissen, eine ihrer beiden Hände wurde abgeschlagen.”
Und am anderen Ende der christlichen Welt, in den Bergen Georgiens,
klagte eine Stimme, daß sich an jenem unseligen Tag die Sonne
verfinstert habe - eine deutliche Anspielung auf die Trauer der Natur
beim Kreuzestod Christi. Weit verbreitet war der Glaube, daß in der
Person Mehmeds II. der Antichrist erschienen und die Endzeit
angebrochen sei. Päpstliche Bemühungen um einen gemeinsamen
Kreuzzug fanden nur ein schwaches Echo. Das zersplitterte
Abendland war für ein gemeinsames militärisches Unternehmen nicht
mehr zu gewinnen. Bald fand man sich im Westen mit den neuen
Tatsachen ab.
Mit dem hochgebildeten Papst Nikolaus V. (1447-1455), unter dem
der bis heute letzte Gegenpapst Felix V. im April 1449 abdankte,
begann die enge Verbindung des Papsttums mit den geistig-kulturellen
Bewegungen des Humanismus und der Renaissance, die bis weit ins
16. Jahrhundert dauerte. Nikolaus V. und seinen Nachfolgern ging es
darum, Papsttum und Kirche als führende Kulturmacht zu neuem
Ansehen zu bringen. Nach den Erfahrungen in Konstanz und Basel
suchten die Päpste Allgemeine Konzilien fortan zu verhindertn oder
auf unbedeutende Veranstaltungen auszuweichen. Damit wurde aber
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die wichtigste Instanz zur notwendigen Erneuerung der Kirche
preisgegeben. Die großartige Förderung der Künste und
Wissenschaften in Rom konnte über den religiösen Gewichtsverlust
um die Cathedra Petri nicht hinwegtäuschen. Ungeachtet vieler
religiöser Einzelmaßnahmen schien der geistliche Charakter des
Papsttums unter den “Renaissancepäpsten” des späten 15. und frühen
16. Jahrhunderts zeitweilig stark verdunkelt, vor allem unter Sixtus
IV. (1471-1484), Innocenz VIII. (1484-1492), Alexander VI. (14921503) und dem kriegerischen Julius II. (1503-1513), der den
Kirchenstaat als neue wirtschaftliche Machtgrundlage sicherte.
Das reiche geistig-religiöse Leben des Spätmittelalters wurde häufig
unter dem Eindruck der Reformation des 16. Jahrhunderts zu wenig
gewürdigt und meist abgewertet. Es fehlte dieser Epoche keineswegs
an hervorragenden Männern und Frauen. Erinnert sei nur an die
geistesmächtigen Frauen Birgitta von Schweden († 1373), die
Gründerin des Erlöserordens (Birgittenorden), und an Katharina von
Siena († 1380), an Meister Eckhart († 1328) aus dem
Dominikanerorden, den kühnsten Vertreter der spekulativen deutschen
Mystik, an seine Schüler Johannes Tauler († 1361) und Heinrich
Seuse († 1366), an den flämischen Mystiker Johannes Ruysbroeck (†
1381), an den hochgebildeten, reformeifrigen Kardinal Nikolaus von
Kues († 1464) und seinen gelehrten zeitweiligen Begleiter auf den
Visitationsreisen Dionysius den Kartäuser († 1471). Aber in den
Klöstern und Orden war trotz einzelner Reformbewegungen weithin
Stagnation und auch Niedergang eingetreten. Vor Pauschalurteilen
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wird man sich hüten müssen. Aber Tatsachen sind unbestreitbar. Einst
geistlich und kulturell glänzende Benediktinerabteien, wie die
Reichenau, St. Gallen, Fulda und Kempten, waren jetzt zu
Versorgungsanstalten des Adels abgesunken, ähnlich zahlreiche
Chorherren- und Kanonissenstifte. Klöster der Prämonstratenser und
Zisterzienser waren reich geworden an Besitz und oft arm im
geistlichen Leben. Die Bettelorden spalteten sich unter schweren
Streitigkeiten fast ausnahmslos in eine strengere und eine mildere
Observanz. Außer einigen kleinen, meist regional begrenzten neuen
Gemeinschaften gab es nur wenige Ordensneugründungen, die aber
weit hinter den Aufbrüchen des Hochmittelalters zurückblieben.
Die Brüder (und Schwestern) vom gemeinsamen Leben, genannt auch
Fraterherren, entfalteten seit dem 14. Jahrhundert, besonders in den
Niederlanden und in niederdeutschen Städten, eine religiöse
Erneuerung. Sie pflegten eine “neue Frömmigkeit” (Devotio
moderna), die auf scholastische Spekulationen verzichtete und
Christusnachfolge in innerlicher Frömmigkeit anstrebte, mystischer
Erfahrung nahe. Neben der betrachtenden Lesung der Heiligen Schrift
und der geistlichen Versenkung in das Leiden Christi trat christliche
Hilfe in Erziehung, Krankenpflege und Armenfürsorge bei den
Fraterherren deutlich hervor. Die vor allem von den Fraterherren und
der Windesheimer Reformkongregation der Augustiner-Chorherren
getragene Devotio moderna sammelte beste Kräfte in sich und gewann
Einfluß in allen Ländern. Das edelste, bis heute dauernde Zeugnis
dieser Spiritualität, dieser christlichen Lebensweisheit, wurde das
Büchlein der “Nachfolge Christi” (De imitatione Christi), das dem
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Augustiner-Chorherren Thomas von Kempen († 1471) zugeschrieben
wird.
Es ist außerordentlich schwer, in wenigen Sätzen den großen
Reichtum, die bunte Vielfalt und die kaum überschaubare Fülle des
religiösen Lebens im Spätmittelalter anschaulich, noch weniger
verständlich zu machen, die religiöse "Vollsaftigkeit" jener Zeit, die
im Anschluß an das 1919 erschienene bahnbrechende,
programmatische Werk des niederländischen Historikers Johan
Huizinga (1872-1945) auch "Herbst des Mittelalters" (Herfstij der
middeleeuwen) genannt wird. Der Reichtum religiöser Kunst der
Spätgotik kann heute noch einen Zugang zum Verständnis jener
Epoche vermitteln: Kirchenbauten in Städten und auf dem Land, ihre
kostbare Ausstattung mit Tafelbildern und Schreinaltären,
Stundenbücher von erlesener Schönheit und vieles mehr. Aber hinter
dieser reich blühenden Frömmigkeit stand dennoch die Angst vor dem
richtenden und strafenden Gott, die Angst vor den geradezu
unausweichlichen Qualen der Läuterung im Fegfeuer und vor der
Hölle. Die zahlreich überlieferten Predigten des Spätmittelalters sind
voll dieser Ängste: Sie bilden den ernsten, oft erdrückenden Rahmen
aller Frömmigkeit des 15. Jahrhunderts, das auch das Jahrhundert des
wie ein Virus schon lange schlummernden, nunmehr epidemieartig
ausbrechenden Aber- und Teufelsglaubens - des Hexenwahns - war,
der systematisch ausgestaltet wurde durch die Bulle "Summis
desiderantes" von 1484 und den "Hexenhammer" von 1487. Und kein
Humanismus und keine Reformation widerstanden diesem Irrsinn.
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Wie keine andere Zeit prägte dieses 15. Jahrhundert mit solcher
Eindringlichkeit den Menschen unaufhörlich den Todesgedanken, den
Ruf des "Memento mori", und die Vorstellung von der
Vergänglichkeit und dem Ende aller irdischen Macht, Pracht und
Herrlichkeit, aller Eitelkeit der Welt (lateinisch vanitas) ein: Wo sind
sie alle geblieben, die früher die Welt mit ihrer Herrlichkeit erfüllten?
Als weitere Motive traten hinzu die schaudernde Betrachtung der
Verwesung alles dessen, was einmal menschliche Schönheit
ausgemacht hatte, und der Totentanz: der Tod, der die Menschen aus
jedem Stand, aus jedem Lebensalter heraus mit sich zerrt.
Todesallegorien (Sensenmann, Schütze) und Totentanz-Darstellungen
haben im ganzen Spätmittelalter weite Verbreitung gefunden. Über
der ganzen Frömmigkeit, über dem überquellenden künstlerischen
Reichtum dieser Spätzeit, über allen Sicherungsbemühungen mit
Seelenmessen und Ablässen für Lebende und Verstorbene steht
letztlich die bange Frage, die dann ein ernster Augustinermönch am
Ende so ausspricht: Wie kann der sündige Mensch vor Gott bestehen?
Mit den Worten Martin Luthers: "Wie kriege ich einen gnädigen
Gott?"
Das Mittelalter verstand Reformation als Wiederherstellung der
ursprünglichen Form, aber nicht ausschließlich bezogen auf die
Erneuerung der Kirche. Die seit langem geforderte, immer wieder
versuchte umfassende Kirchenreform kam im ausgehenden Mittelalter
nicht zustande. So brachte das 16. Jahrhundert die religiöse
Revolution in der abendländischen Kirche. In diesem Jahrhundert
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nannten sich Glaubensneuerung und katholische
Erneuerungsbewegung “Reformation”. Seit Leopold Ranke versteht
die Geschichtswissenschaft unter Reformation gewöhnlich die
evangelische Bewegung des 16. Jahrhunderts, die von Deutschland
ausging und in verschiedenen Ausprägungen ganz Europa erfaßte oder
doch berührte. Aus ihr gingen nicht nur protestantisches Christentum
(Protestantismus), neue Bekenntnisse und Kirchen hervor, sie
unterwarf die alte (katholische) Kirche auch einer tiefgreifenden
Veränderung.
War allen Reformatoren gemeinsam zunächst die Absicht, die
Reinheit des Urchristentums im Geist der Heiligen Schrift
wiederherzustellen, wurde die Reformation der leidenschaftlichste
Kampf der gesamten Kirchengeschichte um die wahre Gestalt des
Christentums. Sie war wesentlich das Werk Martin Luthers (14831546), eines Priestermönchs aus dem Orden der Augustiner-Eremiten,
der im Spätjahr 1517 mit seinen Thesen hervorgetreten ist und sich
dabei gegen die skandalösen Praktiken des Ablaß-Handels
(Geldablaß) wandte, die im Zusammenhang mit dem Neubau der
Peterskirche in Rom geübt wurden. Die rasche Ausbreitung und
Festigung der reformatorischen Bewegung waren aber nur möglich,
weil sich im Spätmittelalter, vor dem Hintergrund von Renaissance
und Humanismus die religiösen, geistesgeschichtlichen und auch
politischen Voraussetzungen dafür herausgebildet hatten. Der Ruf
nach "Reform der Kirche an Haupt und Gliedern" verstummte nicht
mehr, nachdem die "Reform"-Konzilien des 15. Jahrhunderts (Pisa
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1409, Konstanz 1414-1418, Pavia-Siena 1423/24, Basel-FerraraFlorenz 1431-1443) letztlich wirkungslos geblieben waren. Hinter den
äußerlich blühenden Frömmigkeitsformen im vielfarbenen "Herbst des
Mittelalters" verbarg sich ein tiefes Unbehagen an den vielfach
verweltlichten und materialistisch-pekuniär orientierten
innerkirchlichen Zuständen (auch innerhalb der Römischen Kurie), ein
echtes Bedürfnis nach religiöser Erneuerung, das sich nunmehr
verstärkt bemerkbar machte und besonders im Jahrzehnt von 1520 bis
1530 sich mit aller Macht Bahn brach. Im Heiligen Römischen Reich
brachte der Augsburger Religionsfriede von 1555 die reichsrechtliche
Gleichstellung der (lutherischen) Augsburger Konfession (Confessio
Augustana) mit der alten katholischen Kirche; die reformierte Kirche
Calvins erlangte erst im Westfälischen Frieden (1648) als drittes
Bekenntnis reichsrechtliche Anerkennung; "Täufer" und "Schwärmer"
blieben dagegen ausgeschlossen. Aus der Reformation gingen drei
große Konfessionskirchen hervor: die evangelisch-lutherischen
Kirchen, die reformierten Kirchen Calvins (mit Einschluß Zwinglis)
und die Anglikanische Kirche. Die Reaktion der katholischen Kirche
zeigte sich nach Jahrzehnten schwerer Erschütterung in der Festlegung
wichtiger Glaubenslehren auf dem Konzil von Trient (1545-1563), in
der Katholischen Reform und Gegenreformation.
Schon in der Hochscholastik waren neben der zentralen Idee der
“Ordnung” (ordo) andere geistige Motive emporgekommen, die das
kunstvolle Gedankengebäude unterhöhlten. Im kühnen Vorstoß der
Franziskanertheologie gegen den nach Thomas von Aquin benannten
13
Thomismus der Dominikaner wurde die Wissenschaft, immer noch
kirchlich stark eingebunden, zur Beschäftigung mit den Dingen dieser
Welt hingelenkt, vom Allgemeinen zum Individuellen geführt und an
die Quellen, die Natur, die Erfahrung und den Willen verwiesen.
Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham trugen erheblich zur
Auflösung des mittelalterlichen Ordo-Gedankens bei, wurden aber
gleichzeitig die Bahnbrecher des Freiheitsgedankens der Neuzeit. Der
gegen die thomistische via antiqua (wörtlich “der alte Weg”)
vordringende Nominalismus (via moderna - “der neue Weg”), wonach
die Allgemeinbegriffe bloße Worte oder Namen (nomina) seien,
denen kein wirkliches Sein entspreche (universalia sunt nomina post
rem), trug bereits die Anzeichen des modernen naturalistischen
Denkens in sich. Er betonte - ausgehend von seinem irrationalen,
voluntaristischen Gottesbegriff - die Kontingenz der bestehenden
Heilsordnung und stellte das Christentum letztlich auf einen
kirchlichen Positivismus, der leicht zerbrechen konnte. Im schon
genannten “Defensor pacis” des Marsilius von Padua (1324)
spiegelten sich bereits, der Zeit weit vorauseilend, die großen
Umwälzungen der abendländischen Neuzeit.
Renaissance und Humanismus zogen im Geist der Antike aus zur
“Entdeckung der Welt und des Menschen”. Mit ihnen begann eine
neue Zeit, die betont auf das Diesseits gerichtet war und sich jeder
klerikalen Bevormundung widersetzte. Die seit der Mitte des 15.
Jahrhunderts aufstrebende Buchdruckerkunst machte die Bibel, die
Werke der Kirchenväter und der heidnischen Antike breiteren Kreisen
zugänglich, förderte die Bildung und schärfte mit dem historischen
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Denken auch den kräftig erwachten Sinn für Kritik, gerade auch am
historisch gewordenen Kirchentum und seinen Einrichtungen. Der
ältere Humanismus stand im ganzen treu zur Kirche. Er betrachtete
aber in steigendem Maße die eifrig studierte Heilige Schrift als
höchste oder auch alleinige Grundlage und Norm einer
Kirchenreform. Die Junghumanisten wandten sich im Reuchlin-Streit
(seit 1510; es ging um die Lektüre außerbiblischer hebräischer
Schriften) offen gegen die Träger der alten Bildung, wobei auch starke
nationale Töne angeschlagen wurden, zum Beispiel bei Ulrich von
Hutten († 1523).
Politisch waren Papsttum und Kirche keineswegs mehr die führende
Macht. Vor allem in Westeuropa (Frankreich, England, Spanien), aber
auch in Skandinavien entstanden selbstbewußte Nationalstaaten mit
starker Königsgewalt. In Deutschland stiegen die Territorialgewalten
empor, seit die alte Geltung des Kaisertums mit den Staufern im 13.
Jahrhundert versunken war. Könige, Fürsten und auch Reichsstädte
betrieben erfolgreich den Ausbau von Landeskirchen. Überall drang
die Hoheit der weltlichen Gewalt über die kirchlichen Einrichtungen
ihres Bereiches vor. Die Reformation konnte hierin Vorhandenes
weiter- und zu Ende führen.
Die wirtschaftlich-soziale Entwicklung wurde in Deutschland jetzt
vom wohlhabenden, geistig regsamen Bürgertum der Städte getragen,
das später am Sieg der Reformation hervorragenden Anteil gewann.
Die aufstrebende Laienwelt richtete ihr Augenmerk auf die Werte
weltlichen Kulturschaffens und verlangte nach angemessener
15
Teilnahme am Geistesleben. Unter Umgehung des noch bestehenden
kirchlichen Zinsverbotes entwickelte sich in den Städten die
Geldwirtschaft zum Geldgeschäft und zur Monopolwirtschaft des
Frühkapitalismus (Fugger, Welser, Medici und andere). Dagegen
verarmten die Bauern und der niedere Adel, die noch der alten
Naturalwirtschaft verhaftet blieben. Die wachsende Unzufriedenheit
dieser Schichten zeigte sich in oft schwärmerischen Unruhen bis zum
offenen Aufruhr. Luthers Worte “An den christlichen Adel deutscher
Nation” oder “Von der Freiheit eines Christenmenschen” (1520)
wurden in diesen sozial gedrückten Schichten als Fanfarenstöße zur
gewaltsamen Befreiung ausgelegt; es kam zur Revolte der Ritterschaft
unter Franz von Sickingen und zu den Bauernkriegen der zwanziger
Jahre. Andererseits sah die Laienwelt vielfach mißgünstig auf die
reich gewordene Kirche, auf die Wirtschaftsmacht vieler Klöster und
die “unzeitgemäßen” Privilegien der Kirche mit ihrem Anspruch auf
Steuerfreiheit und eigene Gerichtsbarkeit, ihrem Bildungsmonopol,
den Taxen für kirchliche Verrichtungen, Geldablässen, Sammlungen
der Bettelorden, die man - um nur diese zu nennen - als Ausbeutung
der Laien empfand.
Das vielfach politisch und finanziell engagierte Papsttum hatte im
Spätmittelalter fortschreitend an religiöser Überzeugungskraft
verloren. Die notwendige religiöse Erneuerung kam nicht zustande.
Im Klerus bestand häufig eine tiefe Kluft zwischen den meist adeligen
hohen Klerikern und dem viel zu zahlreichen, wenig gebildeten und
wirtschaftlich schlecht versorgten niederen Klerus, der in besonderer
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Weise die Sätze Luthers als Befreiung von drückenden Zwängen
empfand. An der Wende zum 16. Jahrhundert häuften sich Klagen
über kirchliches Ungenügen. Auch wenn Verallgemeinerungen nicht
gerechtfertigt sind, bleibt die Feststellung, daß die alte Kirche für die
schwere Krise nicht gerüstet war, die seit dem Hervortreten Martin
Luthers im Spätjahr 1517 zutage trat.
Ohne Berücksichtigung der kurz genannten allgemeinen Hintergründe
bliebe die rasche Ausbreitung der Reformation in Deutschland und
über weite Teile Europas hin unverständlich.
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