Molekularbiologie von Tumor 1.d Neue Theorien Ordnung der Unordnung Nach der Entdeckung von Rous hat man die Tumorbildung als Vireninfektion angenommen. Die Ergebnisse von Bishop und Varmus haben die Aufmerksamkeit darauf gesteuert, dass die Verursacher der Tumoren die eigenen Gene der Zelle sein können. Das herrschende Paradigma der letzten Jahrzehnten war, dass zwei wichtige Voraussetzungen für die Bildung eines Tumors erfüllt werden müssen: defekte Funktion oder Abwesenheit von beiden Allelen eines Tumorsuppressorgens, beziehungsweise die Überexpression oder dominant negative Mutation der Onkogene. Darauufolgend, 4-10 Mutationen in anderen wichtigen Krebsgenen kann eine maligne Transformation verursachen. Dieses sogenannte Mutantes Gen-Paradigma war für lange Jahre im Kreis der Krebsforscher allgemein akzeptiert. Ergebnisse, die mit der Verwendung der neuen Technologien erreicht worden sind, befragen aber die allgemeine Gültigkeit – und sogar die Korrektheit – von diesem Paradigma. Unerklärte Phänomene (1) Mehrere Studien haben gezeigt, dass in vielen menschlichen Tumoren nur ein kleiner Anteil der Zellen ist für das Wachstum des Tumors verantwortlich und auf Metastase fähig ist. Diese Krebsstammzellen (cancer stem cells; CSC), wenn sie wirklich existieren, würden der „Mutanten Gen Theorie” widersprechen. (2) In der Wirklichkeit, die Mehrheit der Tumoren ist keine Masse von homogenen Zellen. Im Gegenteil, die unterschiedlichen Zellen eines Tumors zeigen eine fassungslose Variabilität. Mit der Verwendung von neuen Sequenzierungstechniken haben im Jahre 2006 Vogelstein und seine Mitarbeiter 13000 Gene aus 11 Brustkrebs- und 11 Dickdarmkrebsproben untersucht, und sie haben bekommen, dass beinahe 9% der Gene trugen nicht-erbliche (also neue) Mutationen. (3) Noch überraschender war das Ergebnis, dass die Mehrheit der mutanten Gene war von Tumor auf Tumor unterschiedlich, und das war nicht nur im Fall der Proben aus unterschiedlichen Patienten wahr, sondern auch im Fall von Proben aus demselben Tumor. Es gab kein Gen, welches in mehr als 5% der Tumoren vorhanden war. (4) Eine weitere Seltsamkeit des Vogelstein-Experiments war, dass gegenüber der Erwartungen, mehrere untersuchte Onkogene (c-fos und c-erbB3) weniger aktiv waren, wie in den benachbarten, normalen Geweben. Hingegen, in einigen Dickdarmtumoren war das Rb Tumorsuppressorgen hyperaktiv und nicht funktionsunfähig. (5) In anderen Experimenten erwies auch die Zweitrefferhypothese der Tumorsuppressorgene nicht wahr. Das gegebene Gen musste nicht in zwei Kopien mutiert werden, die reduzierte Aktivität des Gens in den heterozygotischen Individien war schon genügend für die Tumorentstehung (Haplo-Insuffizienz). Also bei der Tumorentstehung die Anwesenheit oder komplette Abwesenheit eines Tumorsuppressorgens anzunehmen ist eine übertriebene Vereinfachung: was zählt, ist die Dose! Der Dosenunterschied kann durch Verlust oder Überzahl von einem Chromosom oder Chromosomsegment, oder auch durch epigenetische Veränderungen verursacht werden, nicht nur durch Mutationen in der Gensequenz. (6) Eine typische Krebszelle ist nicht nur aneuploid (ein Chromosom mehr oder weniger enthaltend), sondern auch instabil, daher die Nachkommezellen ändern sich genetisch schnell während der Teilungen. Früher wurde die Aneuploidie und die massive Instabilität als irgendeiner Nebenprodukt der Krebsentstehung betrachtet, und nicht als Voraussetzung. (7) Die Onkogen/Tumorsuppressorgen Hypothese (= mutantes Gen Paradigma) ist auch dabei durchgefallen, dass es erfolglos versucht hat, die wenigen Gene zu identifizieren, welche in allen Tumortypen vorkommen. Die folgenden neuen Theorien versuchen die obengenannten Unvollständigkeiten zu erklären. FOLIE 38 (1) Theorie der erhöhten Mutationsrate Die geringe Mutationsrate von etwa 10-10 Mutationen pro Base pro Zellteilung reicht nicht aus, die beobachtete Anreicherung von Mutationen in Tumorzellen zu erklären. Im Lauf eines Lebens finden einfach nicht genügend Mitosen statt, eine für die Tumorentstehung kritische Zahl von Mutationen hervorzubringen. Das Modell der erhöhten Mutationstrate von Lawrence A. Loeb (1974) sieht daher vor, dass sich durch eine primäre Mutation in einem DNA-Reparaturgen die Mutationsrate in einer somatischen Zelle stark erhöht. Diese Zelle zeigt dann einen Mutatorphänotyp (eine 100- bis 1000fach erhöhte Mutationsrate). Als eine Folge der erhöhten Mutationsrate können weitere Gene (zB. Tumorsuppressorgene, Protoonkogene) mutieren, die für die Manifestation des Tumors vorteilhaft sind. Im Jahre 2006 konnte Loeb seine Theorie testen: er hat die Mutationsrate von einem nicht-kodierenden Abschnitt des p53-Gens im Fall von normalen und malignen menschlichen Zellen untersucht. Im Fall der Krebszellen war die Mutationsrate bei 65475 Mutationen pro 100 Millionen Nukleotiden, im Fall der normalen Zellen war es nur bei 4 oder weniger. FOLIE 39 (2) Die Theorie der frühen Instabilität von Vogelstein und Lengauer sagt aus, dass die Instabilität des Genoms ein gemeinsames verbindendes pathogenetisches Merkmal maligner Tumoren Extraanforderung Boldogkői Zsolt© 1 Molekularbiologie von Tumor 1.d ist. Allen malignen Tumoren des Menschen gemeinsam, den erblichen wie den sporadischen, ist eine erhöhte genomische Instabilität, deren Ursache wahrscheinlich in einem kleinen Teil der Tumoren in Funktionsdefekten der bislang bekannten „Caretaker“ Gene gelegen ist. In einem größeren Teil der Tumoren resultiert die für Tumorentwicklung und -progression charakteristische Instabilität auf Genaktivitäten, die bislang noch unbekannt sind oder in diesem Zusammenhang noch nicht gesehen oder verstanden werden. Hier hat der Vergleich von HNPCC (human non polyposis colon cancer) und Tumoren im Rahmen familiärer Adenomatosis coli (FAC) entscheidende Hinweise erbracht: während Tumorzellinien der HNPCC-Tumoren meist einen diploiden oder pseudodiploiden Karyotyp besitzen, zeigen die Tumoren der FAC hochaberrante aneuploide Karyotypen. In den DNA-Messungen repräsentieren sich also qualitative Unterschiede der Entstehungsweise und Dynamik der genomischen Instabilität, die auch bei sporadischen Tumoren wiedergefunden werden. Neueste Untersuchungen zeigen, daß für die komplexen Genom-Alterationen wahrscheinlich Gene verantwortlich sind, die in die dynamische und strukturelle Regulation des Zellkerns sowie der Chromosomenassoziation und der Chromosomensegregation eingreifen. FOLIE 40 (3) Die Aneuploidie-Krebs-Hypothese von Peter Duesberg geht davon aus, dass es durch Umwelttoxine zur fehlerhaften Zellteilung kommt, wodurch aneuploide Zellen, d. h. Zellen mit abnormalen Chromosomensätzen entstehen (eine normale Zelle verfügt über einen diploiden Chromosomensatz). Kommt es nun beispielsweise zu einer Vermehrung bestimmter Chromosomenabschnitte, dann steht nun ein Vielfaches bestimmter Gene bereit, die zum Beispiel durch Überexpression bestimmter Proteine zu einer Entgleisung von Enzymsystemen führen können, welche die Synthese und Reparatur der DNA regulieren. Experimentell konnte nachgewiesen werden, dass die genetische Instabilität von Krebszellen proportional zum Grad der Aneuploidie ist. Rein spekulativ ist hingegen die Behauptung, durch Umwelttoxine komme es zur Aneuploidiebildung. FOLIE 41 (4) Tumorstammzellenhypothese Durch Mutationen im genetischen Programm normaler Stammzellen können Tumorstammzellen entstehen, die ebenfalls zur Selbsterneuerung in der Lage sind. Die in Stammzellen eines Tumors verankerten Eigenschaften haben erhebliche klinische Bedeutung. Eine Therapie, der es zwar gelingt, die Hauptmasse der malignen Zellen zu zerstören, nicht aber die vergleichsweise kleine Zahl von Tumorstammzellen zu eliminieren, wird nicht erfolgreich sein können. Es ist zu erwarten, dass Einblicke in das fehlgesteuerte Programm der Tumorstammzellen die Entwicklung gezielter therapeutischer Intervention ermöglicht. FOLIE 42 (5) Die Theorie der deszendenten Zelle (The Cell of Origin Theory) ist mit der Krebsstammzellentheorie insofern ähnlich, dass beide annehmen, dass der Krebs von Stammzellen erhalten werden kann. Nach der Theorie der deszendenten Zellen dient aber nicht die Ausgangszelle als Krebsstammzelle, sondern es entsteht aus der Ausgangszelle während der Fortpflanzung durch epigenetische Mutationen. FOLIE 43 Unterschied zwischen Tumoren Aus demselben Zelltyp können unterschiedliche Tumorarten entstehen. Anhand der Theorie der genetischen Mutation besteht die Ursache in den unterschiedlichen Mutationen im derselben Zelltyp, wobei anhand der Theorie der deszendenten Zelle, die Verschiedenheit der Tumoren ist die Folge von Mutationen in unterschiedlich differenzierten Zellen. Mit anderen Worten, nicht der Typ der Mutation, sondern die Differenzierungsstufe der gegebenen Zelle bestimmt, was für einen Phänotyp das Tumor zeigen wird. Nicht alle der obengenannten Theorien schliesst die anderen Theorien aus, es ist möglich, dass nicht nur eine Theorie wahr ist, sondern die weiteren Theorien können auch richtige Aussagen enthalten. FOLIE 44 Microarray (Mikrochip-Technologie) In den Tumoren werden einige Gene häufig verändert (es hängt vom Tumortyp ab, welche diese Gene sind), daneben werden aber auch eine Reihe von anderen Genen mutiert, welche in allen Tumoren unterschiedlich sind. In bestimmten Fällen werden die Hauptgene nicht mutiert. FOLIE 45 Driver und passenger Mutationen Mutationen, die an der Tumorentstehung teilnehmen, nennen wir „Driver” Mutationen, dagegen sind die „Passenger” Mutationen nur Nebenprodukte der Tumorigenese. Extraanforderung Boldogkői Zsolt© 2 Molekularbiologie von Tumor 1.d Parasitische Tumorzellen FOLIE 46 Krebs ist keine Infektionskrankheit (obwohl infektiöse Agenten wie Viren zur Krebsentwicklung beitragen können). Dieses Paradigm scheint aber im Fall des sogenannten StickerSarkoms nicht wahr zu sei. Das Sticker-Sarkom ist ein ansteckender Tumor der äußeren Geschlechtsorgane der Hunde. Die Übertragung kann durch den Deckakt, durch direkten Kontakt oder durch Lecken an den betroffenen Stellen von Tier zu Tier erfolgen. Nach der Infektion, Tumoren wachsen im neuen Wirt und nehmen eine blumenkohlartige Form an (können über 5 cm groß werden). Während einer Zeit lang wurde als Ursache der Tumorbildung auch ein Virus angenommen. Heute wissen wir schon aber, dass in diesem Fall die Tumorzellen selbst von Hund auf Hund übertragen werden können, und sie haben sich auf diesem Weg seit Hunderten von Jahren verbreitet. 3 Extraanforderung Boldogkői Zsolt©