Somatische Mutationen Somatische Mutationen – Gen und Chromosomendefekte bei sporadischen Tumoren Christa Fonatsch, Wien Ein Zusammenhang zwischen geneti schen Veränderungen und Krebs wur de bereits zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von Theodor Boveri ver mutet. Er hat im Jahre 1914 in seiner bahnbrechenden Publikation „Zur Frage der Entstehung maligner Tumo ren“ ein Konzept entworfen, wonach ein Gleichgewicht der auf den Chro mosomen lokalisierten Vererbung seinheiten die Voraussetzung für die Normalfunktion von Zellen und Orga nismen sei, und eine Störung dieses Gleichgewichtes, z. B. durch Chro mosomenveränderungen, zur Tumor entstehung führen könne. Der Beweis für die Richtigkeit von Boveris theore tischen Überlegungen zur Entstehung von Tumoren beim Menschen gelang erst Jahrzehnte später: Von Nowell und Hungerford wurde 1960 zum er sten Mal eine spezifische Chromoso menanomalie in Verbindung mit ei nem menschlichen Tumor nachgewie sen – das PhiladelphiaChromosom bei der chronisch myeloischen Leukä mie (CML). Dass Chromosomenanomalien bei der Entwicklung maligner Tumoren eine Rolle spielen, schien nun festzu stehen – doch war zu diesem Zeit punkt unklar, ob es eine fundamenta le oder eher eine untergeordnete Rol le sei. Dafür, dass Chromosomenan omalien bzw. Genveränderungen ei nen wesentlichen Faktor in der Tu morbildung darstellen, sprechen zwei Basisbeobachtungen: 1) Eine erhöhte Tumorhäufigkeit ist bei Mutageninduzierter und ange borener Chromosomeninstabilität, 98 medgen 14 (2002) die zu Chromosomenbrüchen und umbauten führt, und bei manchen konstitutionellen Chromosomenan omalien anzutreffen. 2) In der Mehrzahl maligner Tumoren lassen sich Chromosomenanoma lien, bzw. Genmutationen, auch verluste und amplifikationen, nachweisen. Die Assoziation zwischen erworbenen (somatischen) Genom und Chromo somenmutationen und Krebs wurde seit der Entdeckung des Philadelphia Chromosoms akribisch untersucht und erbrachte in den darauffolgenden Jahren eine Fülle an Daten, die die Wichtigkeit des cytogenetischen Be fundes für die Diagnose, Prognose und Therapieplanung vor allem von Leukämien und Lymphomen, aber auch zunehmend von soliden Tumo ren untermauerte. Parallel dazu und auf den cytogenetischen Daten auf bauend, wurde in intensiven moleku largenetischen Analysen untersucht, welche Gene von den strukturellen Chromosomenanomalien in welcher Form in Mitleidenschaft gezogen wer den und andererseits, ob und welche Genveränderungen, unabhängig von im Mikroskop nachweisbaren cytoge netischen Abweichungen, in Tumoren auftreten. Als eine der ersten spezifischen mo lekularen Umlagerungen in Verbin dung mit einer etablierten Transloka tion wurde das Rearrangement des c MYCOnkogens (in 8q24 lokalisiert) mit dem Immunglobulinschwerketten Gen (14q32) bei malignen Lympho men, speziell beim Burkitt’sLym phom, durch DallaFavera und Kolle gen (1982) beschrieben. Zwei Jahre später folgte die Aufklärung des mo lekulargenetischen Hintergrundes der PhiladelphiaTranslokation durch Identifizierung der Fusion der Gene ABL (9q34) und BCR (22q11) (Groffen et al., 1984). Neben den zahlreichen Genen, die aufgrund ihrer Involvie rung in strukturelle Chromosomenum bauten isoliert und charakterisiert werden konnten, wurde eine Fülle von Genen, unabhängig von Karyotyp Veränderungen, identifiziert. Zwei große Gruppen von Genen, die Protoonkogene, deren Aktivierung das Krebswachstum begünstigt und die Tumorsuppressorgene, deren Ausfall zur Tumorentstehung beiträgt, sind zu unterscheiden. Zumeist han delt es sich um Gene, die Transkrip tionsfaktoren, Zellzyklen, Signaltrans duktionsproteine, ApoptoseInhibito ren, Wachstumsfaktoren und ihre Re zeptoren bzw. deren Regulatoren ko dieren. Dazu kommen Gene für die postreplikative „mismatch“Repara tur, deren Defekt MikrosatellitenIn stabilität bewirkt, Zelladhäsions und Zellkommunikationsgene, sowie Ge ne, die die Telomeraseaktivität steu ern. Neuerdings wird zunehmend ein epigenetisches Phänomen, nämlich die aberrante PromotorMethylierung von Tumorsuppressorgenen, die zur funktionellen Inaktivierung dieser Gene führt, als tumorigener Mecha nismus beobachtet. Der Themenschwerpunkt „Somati sche Mutationen – Gen und Chromo Obwohl die Erforschung von somati schen Mutationen bisher eher ein Randgebiet in der Humangenetik dar stellte, etablieren sich zunehmend tu morgenetisch orientierte Arbeitsgrup pen in humangenetischen Institutio nen. Die unabdingbar intensive Ko operation zwischen Klinikern und Hu mangenetikern wird in den verschie denen Aufsätzen, die diesen Themen schwerpunkt bilden, deutlich. Zudem wird in einigen Beiträgen, z. B. über Pankreas, Schilddrüsen, Darm, Prostatakarzinome und Wilm’s Tumor, darauf verwiesen, dass ein gewisser Prozentsatz dieser Tumoren auch auf einer genetischen Disposition beru hen kann, und dass die Gene, die in mutierter Form über die Keimbahn weitergegeben werden und zur Tu morerkrankung führen können, diesel Somatische Mutationen somendefekte bei sporadischen Tu moren“ präsentiert beispielhaft an hä matopoietischen Tumoren, wie mye loischen und lymphatischen Leukä mien und malignen Lymphomen, an embryonalen bzw. kindlichen Tumo ren, an benignen soliden Tumoren und verschiedenen epitheloidalen und mesenchymalen Tumoren unter schiedlicher Organsysteme Befunde, die die Bedeutung von molekularge netischen und cytogenetischen Ana lysen für Diagnose und Prognose von Krebserkrankungen unterstreichen sollen. Darüber hinaus werden für verschiedene Tumortypen Therapie ansätze präsentiert, die z.B. auf den neuen genetischen Erkenntnissen ba sieren. Besonderes Gewicht wird auch auf die Ätiologie bestimmter Krebserkrankungen gelegt, bei denen der Zusammenhang mit der Bela stung mit bestimmten chemischen (Alkohol, Zigarettenrauchen), biologi schen (Hepatitis B und CViren, Afla toxine), und physikalischen Agentien (ionisierende Strahlen), gesichert ist. ben sind, die in sporadischen Tumo ren ebenfalls Alterationen erfahren. Hier ist erkennbar, dass konstitutio nelle und somatische genetische Ver änderungen durchaus verwandt sind, und ihre Untersuchung somit auch in das Interessensfeld der Humangene tik gehört. Daher ist eine der Intentionen dieses Themenschwerpunktes, durch Prä sentation klinisch und wissenschaft lich relevanter, aktueller molekularge netischer und cytogenetischer Daten das Interesse an der Erforschung ge netischer Hintergründe der Entste hung und Ausbreitung von Tumoren zu stimulieren. Literatur Boveri T (1914) Zur Frage der Entstehung malig ner Tumoren. Gustav Fischer, Jena. DallaFavera R, Bregni M, Erikson J, Patterson D. Gallo RC, Croce CM (1982) Human cmyc onc gene is located on the region of chromoso me 8 that is translocated in Burkitt lymphoma cells. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 79: 78247828. Groffen J, Stephenson JR, Heisterkamp N, de Klein A, Bartram CR, Grosveld G (1984) Philadel phia chromosomal breakpoints are clustered wit hin a limited region, bcr, on chromosome 22. Cell 36: 9399. Nowell PC, Hungerford DA (1960) A minute chro mosome in human granulocytic leukemia. Scien ce 132: 1497. Anzeige IMGM übernehmen aus medgen 12002 S. 17 medgen 14 (2002) 99