1914: Ursachen und Folgen von Hans Fenske Über die Ursachen des Ersten Weltkriegs, der zehn Millionen Menschenleben forderte und die Landkarte Europas gründlich umgestaltete, wird seit nun fast 100 Jahren diskutiert. Für die Siegermächte war die Antwort eindeutig. Nach ihrer Ansicht war der Krieg den Alliierten von Deutschland und seinen Verbündeten aufgezwungen worden. Das stellte Art. 231 des Versailler Vertrags fest und verpflichtete das Deutsche Reich zur Anerkennung dessen, aber dazu war keine Reichsregierung bereit, weil das der historischen Wahrheit widersprochen hätte. Der französische Publizist und zeitweilige Diplomat Alcide Ebray, ein Experte für außenpolitische Fragen, kam 1925 zu einem klaren Befund. Das Schuldbekenntnis nach Art. 231 hielt er für wertlos. Der eigentliche Urheber des Kriegs war für ihn das Zarenreich. Deutschland bescheinigte er, in der Julikrise 1914 in Wien und St. Petersburg versöhnlich gewirkt zu haben. Seine Kriegserklärung an Frankreich, das unbeugsam auf russischer Seite stand, war ein präventiver Akt, um Frankreich nicht die Wahl des Zeitpunkts zu überlassen. Zu ähnlichen Ergebnissen in der Kriegsschuldfrage kamen etwa gleichzeitig auch Forscher aus neutralen Staaten. Danach trugen die Entente-Mächte einen sehr viel größeren Anteil an der Verantwortung für den Krieg als Deutschland und Österreich-Ungarn. In der Führung des Zarenreiches war das Streben nach einer deutlichen Vermehrung des politischen Gewichts sehr ausgeprägt, auch mittels eines großen Krieges. Ein ganz anderes Bild zeichnete 1961 der Hamburger Historiker Fritz Fischer in seinem Buch „Griff nach der Weltmacht“. Er schrieb Deutschland den größten Anteil an der Kriegsschuld zu. In späteren Veröffentlichungen malte er das Bild weiter aus. Er fand eine sehr große positive Resonanz. Allerdings übersah er, daß man die Formulierung von Kriegszielen durch die verschiedenen privaten Interessenten nicht für amtliche Politik nehmen darf. Reichskanzler Bethmann Hollweg und seine Nachfolger Michaelis und Hertling verfolgten keine weitgreifenden Kriegsziele und suchten wiederholt nach Wegen zu einem Verständigungsfrieden. Nachdem der amerikanische Präsident Wilson im Dezember 1916 den Krieg führenden seine Vermittlung angeboten hatte, ließ Bethmann Hollweg in Washington erklären, es gehe Deutschland um eine Grenze, die Deutschland und Polen vor Rußland sichere, um einen wirtschaftlichen und finanziellen Ausgleich zwischen den Kriegsgegnern, um die Wiederherstellung des normalen Handelsverkehrs und um den Ersatz der Schäden, die deutsche Unternehmen und Privatpersonen durch den Krieg im Ausland erlitten hatten. Belgien sollte unter Garantien für Deutschland wiederhergestellt werden, die deutschfranzösische Grenze mit geringen Korrekturen für beide Seiten unverändert bleiben. Das waren maßvolle Ziele. Ganz anders die Gegenseite. Sie war zu keinem Zeitpunkt zur Verständigung bereit und erstrebte Ziele, die einen vollen Sieg bedingten. An Wilsons Vermittlungsangebot hatte sie demzufolge kein Interesse. Die Alliierten teilten ihm mit, es sei derzeit unmöglich, einen Frieden nach ihren Vorstellungen zu schließen. Sie wollten Wiederherstellung Belgiens, Serbiens und Montenegros, Rückgabe Elsaß-Lothringens an Frankreich, Unterstellung aller polnisch besiedelten Gebiete unter russische Herrschaft und die Zerschlagung der Vielvölkerstaaten Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich. Ihre Ziele gegenüber Deutschland ließen sie weitgehend verhüllt. Die gleichberechtigte Teilnahme der Mittelmächte an den Friedensverhandlungen lehnten sie ab. Nach der bolschewistischen Revolution im November 1917 erbat und erhielt Rußland schnell einen Waffenstillstand. Die Friedensverhandlungen begannen im Dezember in Brest-Litowsk. Dabei saßen beide Seiten gleichberechtigt am Verhandlungstisch. Über viele Fragen einigte man sich, strittig blieb, wie das von Lenin proklamierte Selbstbestimmungsrecht von den nichtrussischen Völkern im Westen Rußlands wahrgenommen werden sollte. So beschloß man in Petrograd, ohne Vertrag aus dem Krieg herauszugehen. Das verstanden die Mittelmächte zutreffend als Kündigung des Waffenstillstandes und nahmen den Vormarsch wieder auf. Nun fand sich die Sowjetregierung Anfang März 1918 zur Unterzeichnung des ihr vorgelegten Vertrags bereit. Im Herbst 1918 waren die Kräfte der Mittelmächte erschöpft. Das Deutsche Reich hätte den Kampf zwar noch eine Weile fortsetzen können, aber es war nicht damit zu rechnen, ihm noch eine günstige Wendung geben zu können: Die USA, im April 1917 auf der Seite der Alliierten in den Krieg eingetreten, hatten inzwischen eine sehr starke Streitmacht auf den westlichen Kriegsschauplatz gebracht. So bat der eben ernannte Reichskanzler Prinz Max von Baden Wilson um die sofortige Herbeiführung eines Waffenstillstands und um die Anbahnung von Friedensverhandlungen auf der Grundlage der von Wilson im Januar 1918 verkündeten Vierzehn Punkte. Dieser Bitte wurde erst nach fünf Wochen entsprochen, weil die Alliierten zuvor noch ihre militärische Position verbessern wollten. Der dem Reich am 11. November auferlegte Waffenstillstand machte ihm die Wiederaufnahme des Kampfes unmöglich. Die wochenlange Verzögerung hatte – am 9. November – den Sturz der Monarchie zur Folge; für die deutsche Innenpolitik der nächsten Jahre war das eine schwere Hypothek. Österreich-Ungarn fiel in diesen fünf Wochen auseinander. Mit der Verschleppung der Waffenstillstände hatten sich die Alliierten die Möglichkeit zu Friedensschlüssen ganz nach ihrem Belieben verschafft. Sie handelten die Verträge 1919 in Paris allein unter sich aus, ein in der neueren Völkerrechtsgeschichte fast einmaliger Vorgang. Dem Deutschen Reich wurde am 7. Mai nur eine schriftliche Stellungnahme zugestanden. Auf die deutschen Gegenvorschläge ließen sich die Alliierten kaum ein. Sie verbanden ihre Antwort am 16 Juni mit der Forderung, binnen fünf Tagen die Bereitschaft zur Unterzeichnung auszusprechen, andernfalls sei der Waffenstillstand beendet. Als die Nationalversammlung Vorbehalte wegen des Art. 231 und anderer Strafbestimmungen machte, hieß es kategorisch, die Zeit der Diskusionen sei vorüber. So unterzeichnete das Reich, dem militärischen Druck sich fügend, am 28. Juni den Versailler Vertrag. Hätte es das nicht getan, hätten die Sieger den Kampf wieder aufgenommen. Sie hätten bei ihrem Vormarsch den Süden Deutschlands vom Norden isoliert, den süddeutschen Ländern eigene Friedensverträge gegeben und das Reich so zerschlagen. Um eine weitgehende Schwächung des Reichs ging es vor allem dem französischen Ministerpräsidenten Clemenceau. Auch der britische Premier Lloyd George war zunächst für einen harten Frieden, entschied sich dann aber für etwas mildere Bedingungen. Deshalb geriet er zeitweilig mit Clemenceau in einen schweren Konflikt. Wilson hielt sich aus Sorge um den von ihm so dringend gewünschten Völkerbund zurück, statt Lloyd George zu unterstützen und Clemenceau so zum Nachgeben zu bringen. Durch den Versailler Vertrag verlor Deutschland ein Achtel seines Territoriums und ein Zehntel seiner Bevölkerung; die Abtretungen waren zum größeren Teil nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht vereinbar. Danzig wurde zur Freien Stadt mit Sonderrechten Polens. Das Saargebiet kam für fünfzehn Jahre unter Völkerbundsverwaltung, die Bergwerke dort wurden Frankreich übereignet. Der Beitritt Österreichs zum Deutschen Reich, den die Provisorische Nationalversammlung Österreichs am 12 November 1918 einmütig gewollt hatte, wurde für immer untersagt. Das Heer wurde auf 100 000 Mann, die Flotte auf 15 000 Mann beschränkt, schwere Waffen waren verboten, die allgemeine Wehrpflicht war aufzugeben. Umfangreiche Vorschriften sorgten für eine schwere Beeinträchtigung der deutschen Wirtschaftskraft. Über die Zukunft der Kolonien sollte der Völkerbund entscheiden, er gab sie als Mandate an die Hauptsiegermächte. Die Höhe der Reparationen blieb späterer Feststellung vorbehalten. Das Rheinland wurde in drei Zonen fünf, zehn und fünfzehn Jahre besetzt, ein breiter Streifen rechts des Flusses demilitarisiert. Ähnlich hart waren die Verträge für die anderen besiegten Staaten. Wilson sagte vor der Unterzeichnung des Vertrags, wenn er ein Deutscher wäre, würde er ihn nicht unterschreiben. Sein Außenminister Lansing hielt die Deutschland auferlegten Bedingungen für unsagbar hart und demütigend, viele für undurchführbar. Nach Gesprächen in London stellte er fest, man stimme darin überein, daß der Vertrag unklug und unbrauchbar sei und Kriege eher hervorrufe als verhindern werde. Auch sonst gab es Kritik von alliierter Seite. Der südafrikanische Premier Smuts nannte den Vertrag einen Rechtsbruch. Insgesamt waren die Pariser Vorortverträge der Jahre 1919/1920 nicht sorgsam genug durchdacht und enthielten manchen Grund für Konflikte. Dafür nur ein Beispiel: Statt Danzig zur Freien Stadt zu machen, hätte man besser getan, Polen dort einen Freihafen zuzugestehen. Die fatalsten Folgen hatte die Regelung der Reparationen. Die Gesamtsumme der Forderungen an Deutschland wurde Anfang 1921 von den Siegermächten auf 226 Mrd. Goldmark festgelegt, nach deutschem Widerspruch einige Monate später auf 132 Mrd. verringert. Einen geringen Rückstand bei den Deutschland abverlangten Sachleistungen benutzte Frankreich dazu, im Januar 1923 gemeinsam mit Belgien das Ruhrgebiet zu besetzen. Damit verband es die Erwartung, das Rheinland von Deutschland trennen und den Reichsverband sehr lockern zu können. Die Ruhrbesetzung war ein klarer Bruch des Versailler Vertrags. Sie löste in Deutschland starke nationale Emotionen aus, veranlaßte andererseits aber England dazu, aus der bisherigen Reserve gegenüber Frankreich herauszutreten und es an den Verhandlungstisch zu bringen. So kam es 1924 zu einer Interimsregelung für die Reparationen, 1925 zur Garantie der deutsch-französischen Grenze und 1926 zur Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. Die endgültige Regelung der Reparationsfrage brachte das Haager Abkommen im Januar 1930, dessen wesentlicher Inhalt schon Mitte 1929 bekannt wurde. Nach diesem sogenannten Young-Plan hatte das Reich in 58 Jahren, bis 1988, insgesamt 116 Mrd. Mark zu zahlen. Die erste Jahresrate belief sich auf 1,8 Mrd. Mark, das waren 26% des Reichshaushalts von 1928, eine außerordentlich hohe Summe. Ein von den Deutschnationalen, dem Frontsoldatenbund und der NSDAP beantragtes Volksbegehren gegen den Young-Plan machte einen Volksentscheid möglich. Der hatte allerdings keinen Erfolg, aber die NSDAP setzte ihren Kampf gegen den von ihr so genannten „Tributwahnsinn“ unermüdlich fort und fand damit eine große Resonanz. War sie bei der Reichstagswahl 1928 noch eine Splitterpartei mit nur 2,6% der gültigen Stimmen, so erhielt sie im September 1930 bei der neuerlichen Reichstagswahl 18,3%. Ihre Führung schrieb den Zuspruch von 6,5 Millionen Wählern zu einem ganz erheblichen Teil ihrer entschiedenen Haltung gegen den Young-Plan zu. Der Publizist und linksliberale Politiker Theodor Heuß, 1949 bis 1959 erster Bundespräsident, sagte 1932 in seinem Buch „Hitlers Weg“ mit vollem Recht, der Vertrag von Versailles sei die eigentliche Kraftquelle, aus der die nationalsozialistische Bewegung von Anfang an genährt wurde. Dieser Faktor sei für ihren Aufstieg viel wichtiger als das Parteiprogramm. Mit dem Wahlerfolg 1930 hatte die NSDAP eine solide Basis für das weitere Wachstum. Daß Hitler schließlich dazu befähigt wurde, das Amt des Reichskanzlers für sich zu verlangen, hing ebenfalls mit dem Versailler Vertrag zusammen. Um auf die nationalsozialistischen Sturmabteilungen bei etwaigen gewaltsamen Aktionen Polens, die nicht auszuschließen waren, zurückgreifen zu können, wollte Reichspräsident Hindenburg mehr nach rechts gehen und ließ der NSDAP für die Duldung der nun von ihm berufenen Regierung Papen neue Reichstagswahlen zusagen. Sie erbrachten der NSDAP Ende Juli 37,4% der Stimmen. Daraus erwuchs in wenigen Monaten die Situation, in der Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler wurde und danach seine Diktatur aufbauen konnte. Sechs Jahre später war die Frage Danzigs und des sogenannten polnischen Korridors, der Ostpreußen gemäß dem Versailler Vertrag vom übrigen Reich abtrennte, der Ausgangspunkt des deutschpolnischen Konflikts, der zum Zweiten Weltkrieg führte. Lloyd George hatte im März 1919 davor gewarnt, mehr Deutschen als unbedingt notwendig einen Souveränitätswechsel zugunsten Polens zuzumuten. Komme man Polen zu sehr entgegen, werde das früher oder später zu einem neuen Krieg im Osten Europas führen. Diese Befürchtung bewahrheitete sich 1939. Wären die Alliierten an der Jahreswende 1916/17 ebenso auf das amerikanische Vermittlungsangebot eingegangen wie das Deutsche Reich, so wäre auf der dann folgenden Friedenskonferenz unter Vorsitz Wilsons sicher ein Vertrag zustande gekommen, mit dem beide Seiten leben konnten. Und hätten die Staatsmänner der beiden angelsächsischen Mächte 1919 verhindert, daß dem Deutschen Reich ein Clemenceau-Friede auferlegt wurde, wäre Europa ebenfalls viel Unheil erspart geblieben. Literatur Clark, Christopher, The Sleepwalkers. How Europe went to War in 1914, London 2012 Fenske, Hans, Der Anfang vom Ende des alten Europa. Die alliierte Verweigerung von Friedensgesprächen 1914 – 1919, München, 2013 ders., “Hitler ist Reichskanzler. Wie im Märchen!“. Zur Erinnerung an den 30. Januar 1933, in: ders., Abhandlungen und Vorträge zur deutschen Geschichte 1914-1945. Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft. Sonderband anläßlich des 75. Geburtstags von Hans Fenske, Neustadt an der Weinstraße 2011, S. 71-238 Hirschfeld, Gerhard / Krumeich, Gerd / Renz, Irina (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn2003 Kolb, Eberhard, Der Frieden von Versailles, München 2005 Krumeich, Gerd, Hg., Versailles 1919: Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, Essen 2001 Michalka, Wolfgang, Hg. , Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1984 Neitzel, Sönke, Weltkrieg und Revolution, 1914 – 1918/19, Berlin 2008 Segesser, Daniel Marc, Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive, Wiesbaden 2012 Stevenson, David, 1914 – 1918: Der Erste Weltkrieg, Düsseldorf 2006 Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.