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Zeitschrift für
Literatur- und
Theatersoziologie
Herausgegeben von Beatrix Müller-Kampel und Helmut Kuzmics
SONDERBAND 1 (JUNI 2010)
K asperl-La Roche
Seine K unst, seine K omik und
das Leopoldstädter Theater
Medieninhaber und Verleger
LiTheS. Ein Forschungs-, Dokumentations- und Lehrschwerpunkt
am Institut für Germanistik der Universität Graz
Leitung: Beatrix Müller-Kampel
Herausgeber
Ao. Univ.-Prof. Dr. Beatrix Müller-Kampel
Institut für Germanistik der Universität Graz
Mozartgasse 8 / P, A-8010 Graz
Tel.: ++43 / (0)316 / 380–2453
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Fax: ++43 / (0)316 / 380–9761
Ao. Univ.-Prof. Dr. Helmut Kuzmics
Institut für Soziologie der Universität Graz
Universitätsstraße 15 / G4, A-8010 Graz
Tel.: ++43 / (0)316 / 380–3551
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Umschlagillustration
nach Beatrix Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Spaßtheater
im 18. Jahrhundert. Paderborn [u.a]: Schöningh 2003, Abb. 15: Johann Josef
La Roche als ”Caspar der Hausknecht“ in Philipp Hafners ”Der von dreyen
Schwiegersöhnen geplagte Odoardo, oder Hannswurst und Crispin die lächerlichen Schwestern von Prag“. Entwurf von Jean Antoine Watteau, wiedergegeben im Stich von Renard. Künstlerische Bearbeitung: Margarete Payer
Satz
mp – design und text / Dr. Margarete Payer
Gartengasse 13 / 3/ 11, 8010 Graz
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© Copyright
»LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie« erscheint halbjährlich im Internet unter der Adresse »http://lithes.uni-graz.at/lithes/«. Ansicht,
Download und Ausdruck sind kostenlos. Namentlich gezeichnete Beiträge
geben immer die Meinung des Autors oder der Autorin wieder und müssen
nicht mit jener der Herausgeber identisch sein. Wenn nicht anders vermerkt,
verbleibt das Urheberrecht bei den einzelnen Beiträgern.
Dieser Sonderband ist im Rahmen des FWF-Projektes Nr. P20468: Mäzene des Kasperls Johann Josef La Roche, unter der Leitung von Ao. Univ.Prof. Dr. Beatrix Müller-Kampel und der Mitarbeit von Mag. Dr. Andrea
Brandner-Kapfer und Mag. Jennyfer Gabriela Großauer-Zöbinger, unterstützt
von der Universität Graz (Forschungsmanagement und -service und Dekanat
der Geisteswissenschaftlichen Fakultät), entstanden.
ISSN 2071-6346=LiTheS
INHALTSVERZEICHNIS
Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
Sozialgeschichtliche und soziologische Verortungen eines
Erfolgsmodelles
5
Von Jennyfer Großauer-Zöbinger
Positionierung(en) des Leopoldstädter Theaters im Feld
5
Zwischen Kunst und Kommerz
5
Moral und Bildung im Theater
14
Ein Spielplan unter Aufsicht
23
Kasperls Sozialisierung
29
Das theatrale Feld
37
Ausbildung des theatralen Felds in Wien, retrospektiv
38
Materielle und lokale Bedingungen
45
Theater-Praxis: Spielbeginn, Normatage und Eintrittspreise
51
Kasperls komisches Habit
Zur komischen Gestalt und zur Gestaltung der Komik
in Erfolgsstücken des Leopoldstädter Theaters um 1800
56
Von Andrea Brandner-Kapfer
Johann Josef La Roche (1745–1806)
56
Biografische Voraussetzungen
56
Bedingungen seines Wirkens
67
Die Kasperliade – Typenkomik in der Wiener Vorstadt
81
Ferdinand Eberl: Kasperl’ der Mandolettikrämer
84
Joachim Perinet: Die Schwestern von Prag
90
Karl Friedrich Hensler: Der Schornsteinfeger
94
Karl Friedrich Hensler: Der unruhige Wanderer
98
Kasperl unter Kontrolle
Zivilisations- und politikgeschichtliche Aspekte der
Lustigen Figur um 1800
105
Von Beatrix Müller-Kampel
11 Komödien und ihre Karrieren
106
Methodologische Zwischenbemerkung (1)
109
Ehrbare Ehen und die Eifersucht
110
Zwischenfazit (1)
Exkurs: Hanswurstische Lumpenkerle und colombinische
Kanaillen von einst
116
117
Geschlechtlichkeit, Geschlechterrollen und
Geschlechterkonzeptionen
121
Zwischenfazit (2)
Methodologische Zwischenbemerkung (2)
126
127
Kasperl unter Kontrolle
128
Literaturverzeichnis
Quellen
Forschungsliteratur
135
142
Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
Sozialgeschichtliche und soziologische Verortungen eines
Erfolgsmodelles
Von Jennyfer Großauer-Zöbinger1
Positionierung(en) des Leopoldstädter Theaters im Feld
Zwischen Kunst und Kommerz
Johann Josef La Roche wirkte von 1781–18062 als Kasperl-Darsteller an der von
Karl Marinelli (mit)begründeten, stehenden Bühne in der Leopoldstadt. Dieser
Zeitraum, der identisch ist mit dem noch in den Kinderschuhen steckenden „Zeitalter der belletristischen Lesekultur“3 (zu beachten ist dabei, dass der Großteil der
Bevölkerung noch im Analphabetismus verhaftet war4, was das Theater für die bildungsfernen Schichten besonders interessant machte, da hier die zeitgenössische
Dramenkunst unabhängig von der Lesefähigkeit des Einzelnen zu konsumieren
war), bedarf einer näheren Betrachtung, um die historischen und soziologischen Bedingungen der Produktion, des Konsums sowie der Rezeption der für den KasperlDarsteller La Roche eigens gefertigten Komödientexte5 besser verstehen zu können.
Auf den folgenden Seiten soll nun nichts anderes als der wirkungsgeschichtliche
Kontext der Literaturproduktion wie der Literaturrezeption am Leopoldstädter The1
In: Andrea Brandner-Kapfer, Jennyfer Großauer-Zöbinger und Beatrix Müller-Kampel:
Kasperl-La Roche. Seine Kunst, seine Komik und das Leopoldstädter Theater. Graz: LiTheS
2010. (= LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie. Sonderband 1.) S. 5–55.
2
Dieser Zeitraum erfasst sein Wirken an der stehenden Bühne in der Leopoldstadt und
klammert somit vorangegangene Auftritte mit der Badner Gesellschaft in Wien und an
sämtlichen anderen Spielstätten (in Baden, Graz und den diversen Kronländern) aus.
3
Zwischen 1763 und 1805 verzehnfacht sich die Buchproduktion gegenüber dem Zeitraum
von 1721 bis 1763. Vgl. Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. (= UTB. 2482.) S. 32.
4
Ebenda, S. 33.
5
Im FWF-Projekt Mäzene des Kasperls Johann Josef La Roche. Kasperliaden im Repertoire des
Leopoldstädter Theaters. Kritische Edition und literatursoziologische Verortung gelang es, ein
umfangreiches Textkorpus (im Detail 30 Komödientexte), verfasst von Ferdinand Eberl,
Karl Friedrich Hensler, Leopold Huber, Karl von Marinelli und Joachim Perinet, zu edieren. Dieses Textkorpus wird als Basismaterial für die hier angelegte Studie verwendet. Vgl.
FWF-Projekt Nr. P20468 (15. Jänner 2008–14. Juli 2009): Mäzene des Kasperls Johann
Josef La Roche. Kasperliaden im Repertoire des Leopoldstädter Theaters. Kritische Edition und literatursoziologische Verortung (2008/09). Mitarbeiterinnen: Andrea BrandnerKapfer, Jennyfer Großauer-Zöbinger; Leitung: Beatrix Müller-Kampel. I. d. F. zitiert als
Mäzene des Kasperls. Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/maezene_startseite.html
[Stand 2009].
5
LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
http://lithes.uni-graz.at/lithes/10_sonderband_1.html
ater erhoben werden – oder mit anderen Worten – sollen epochale Charakteristika
des literarischen Feldes herausgestrichen werden, die ausgehend von der Feldtheorie
Pierre Bourdieus eine literatursoziologische Verortung erfahren (die Methodik bzw.
Vorgehensweise, Theorie und Praxis nicht zu trennen, sondern ad hoc miteinander
zu verbinden, folgt ebenso dem Konzept Bourdieus).
Der französische Soziologe Bourdieu nennt als eines der wichtigsten Charakteristika
des literarischen Feldes immer dessen Heterogenität, die sich im Agieren der Literaturproduzenten manifestiert. Diese beziehen aufgrund der Verschiedenheit ihrer
Merkmale eine bestimmte Position und verteidigen ihre Ansichten und Ausrichtungen vehement gegenüber anders Positionierten, sodass ein Kräftefeld entsteht,
welches auf das literarische Feld angewandt eine Achse mit folgenden Endpunkten
ausbildet: die auf den kommerziellen Erfolg abzielende Produktion für das Massenpublikum gegenüber der zweckfreien „reine Kunst“, die sich selbst genug, einzig
auf Anerkennung unter den Produzenten ausgerichtet ist und wirtschaftlich wenig
Ertrag abwirft.6
Das Leopoldstädter Theater positioniert sich im beobachteten Zeitraum (1781–
1806) ohne erkennbare Abweichung im Bereich des ersten der beiden Endpunkte.
Was geboten wird, dient – natürlich unter Berücksichtigung der Zensurauflagen,
aber hierzu später – der Unterhaltung der zahlenden Massen, infolgedessen sich die
Produzenten am eingespielten Gewinn zu orientieren hatten, womit die Regelmäßigkeit, die Kunstfertigkeit und die Originalität der Dichtung an dieser Bühne ins
Hintertreffen gerieten.
Die von Gottsched7, Maria Theresia und Josef II. Mitte des 18. Jahrhunderts angestrebten Literarisierungsmaßnahmen8 des Wiener Theaters (diese stehen für ein völ6��������������������������������������������������������������������������������������
Vgl. Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Aus dem Französischen von Hella Beister. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. (= edition suhrkamp. 985.)
S. 64–67.
6
7
Gottsched will das von bürgerlich geachteten Komödianten betriebene Berufstheater als
Instrument der ethischen, ästhetischen und politischen Erziehung des Bürgers nutzen,
was notwendiger Weise mit einer Theaterreform einhergeht. Er stellt die Forderung nach
Dichtern, die der Poetik der Komödie und Tragödie kundig sind, nach einer festgelegten
Dramentheorie arbeiten, deren Einhaltung die Wahrscheinlichkeit von Charakteren und
Handlung sowie die Einheit von Ort, Zeit und Handlung sichert. „Gottscheds ganz besonderes Mißfallen erregt der extemporierende Hanswurst – vor allem in den schwülstigen, allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit Hohn sprechenden Haupt- und Staatsaktionen. Doch
auch in der Komödie erachtet er eine ,lustige Person‘ als stehenden Typus für weitgehend
überflüssig – der Autor möge seine lustigen Einfälle in der Handlungsführung und in der
Zeichnung der auftretenden Personen im allgemeinen beweisen.“ Hilde Haider-Pregler:
Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert. München: Jugend und Volk 1980, S. 139 und vgl. ebenda,
S. 140–147.
8
Die Theaterreform Maria Theresias beabsichtigte das Wiener Theater in „ein literarisiertes,
vom Staat gesichertes und beaufsichtigtes Nationaltheater als öffentliche Sittenschule“ umzuwandeln. Vgl. hierzu: Haider-Pregler, Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 269.
Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
lig anderes Kunstverständnis, als es von Autoren, Darstellern und Rezipienten des
Leopoldstädter Theaters gespielt und gelebt wird) setzten sich, abgesehen von den
Erlässen zur Zensur, damit in der künstlerischen Orientierung des Leopoldstädter
Theaters nicht fort, was für die oben vorgenommene Definition des literarischen
Feldes nach Bourdieu, auf diese Bühne angewandt, eine Modifizierung notwendig
erscheinen lässt. So kristallisieren sich, die Funktion des Theaters betreffend, noch
zwei zu berücksichtigende, disparate Positionen heraus: die von den Denkern der
Aufklärung postulierte, zweckgebundene Auffassung vom Theater als pädagogischem Instrumentarium zur Anhebung des Bildungsniveaus und der Sozialtugenden (Moral, Sittlichkeit, Disziplin, Ethik etc.) sowie vom Theater als Boulevardtheater mit moralischen Auflagen, jedoch ohne höheren Bildungsanspruch (ein Nutzen
des Theaters ist entbehrlich, es zählt zweckfreie Zerstreuung), das die Tradition des
Hanswurst-Theaters, wie der Haupt- und Staatsaktion, in gemäßigter Weise fortsetzt und seine Bestimmung in der Erheiterung und kurzweiligen Unterhaltung des
Publikums ortet. Auf die Symbolik einer Achse übertragen, entstehen damit zwei
entgegengesetzte (und hier pauschal benannte) Kräftepole: das Bildungs- gegenüber
dem Unterhaltungstheater.
Abbildung 1: Exemplarischer Entwurf des literarischen Feldes des Leopoldstädter Theaters
Die Positionierung des Leopoldstädter Theaters im Bereich des kommerziellen Unterhaltungstheaters wird von gesellschaftspolitischen Verordnungen mitbestimmt,
die Mitte der 1750er Jahre ihren Anfang nehmen und bis in die 1780er Jahre sowie
darüber hinaus nachwirken.
Ursprünglich vom Staat nicht als Bildungsinstitution beachtet, richtet sich während
der Regentschaft Maria Theresias der Fokus erstmals auf das Wiener Theater (und
hier besonders auf dessen deutschsprachige Ausprägungen). Für die von pädagogi7
LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
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schen Bestrebungen gekennzeichnete Regierungsphase ganz programmatisch, wird
nun auch das Theater- neben dem Schulwesen von Reformen ereilt, deren Ziel die
Herausbildung von Institutionen zur Verbesserung des Bildungsniveaus (im Bereich
der Sitten wie des Intellekts) der Bevölkerung ist.9 Maßgeblichen Beitrag leistet etwa
Joseph Heinrich Engelschall mit seiner Schrift Zufällige Gedanken über die Deutsche
Schaubühne zu Wien, in der das Theater als Ergänzung zur Legislative, der religiösen
Erziehung und dem Schulsystem zweckdienlich als staatliche Einrichtung zur Umsetzung aufklärerischer, tugendhafter Werte und als Ort, an dem das Angenehme
mit dem Nützlichen einhergeht, angepriesen wird:
„[…] daß bloß die Kenntniß von dem Nützlichen und von dem Angenehmen
der Grund von der Bildung eines guten Geschmacks sey. Denn durch die weise
Verbindung dieser beyden Eigenschaften in den Wirkungen unsrer Handlungen zeigen wir, ob unser Geschmack gut oder übel ist. Man pflegt aber alles
dasjenige für Angenehm zuhalten, was äußerlich unsern Sinnen und innerlich
unsern Neigungen gemäß ist. Da hingegen das Nützliche in allen Stücken auf
die Vollkommenheit des Menschen, das ist, auf die Beförderung alles desjenigen siehet, was ihn zu dem Endzwecke, zu welchen er erschaffen ist, nämlich beständig glückselig zu seyn, führet. Woraus dann offenbar folget, daß
der bloße Augenmerk des Angenehmen den Menschen in seinen Handlungen
zu seiner Unvollkommenheit, zu seinem Unglücke führen kann; die Verbindung des Nützlichen aber mit dem Angenehmen ihn niemals fehlen läßt. […]
Diese Wahrheiten sind so allgemein, daß ihnen nichts mit Grunde entgegen
gesetzet werden kann. Sie sind aber auch zu gleicher Zeit die Quelle aller Betrachtungen, die ich hier über die Schauspielkunst, einen Theil der sittlichen
Gelehrsamkeit, anzustellen gedenke. […] jedermann giebt mir recht, daß die
vornehmste Bemühung, einen Staat glücklich zu machen, in der Sorgfalt bestehe, gute Sitten bey den Unterthanen einzuführen. Wodurch gelangt man aber
zu diesem Zwecke? Der größte Theil unserer Polizeyverweser weiß nur von drey
Wegen: Durch Anlegung guter Schulen; durch Sorgfalt für die reinen Lehren
der Religion; und durch die Strenge der Gesetze. Wider alle diese drey Stücke
habe ich nichts einzuwenden; es ist gewiß, sie sind in einem Staate unentbehrlich. Allein ich halte sie nach dem gemeinen Weltlaufe nicht für hinlänglich,
und entdecke in der Schauspielkunst durch die Erfahrung noch einen vierten
leichten Weg, zu meinem Zwecke zu gelangen. […] wenn ich des Menschen
Neigungen zu gleicher Zeit schmeicheln, und ihn mit Lachen von sittlichen
Wahrheiten überführen kann; wenn ich auch die Stunde seines Vergnügens mir
zu nutze machen, und ihm in selbigen angenehmen Unterricht ertheilen kann;
warum soll ich solches unterlaßen?“10
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Vgl. Carl Glossy: Zur Geschichte der Wiener Theaterzensur. I. In: Jahrbuch der Grillparzergesellschaft 7 (1897), S. 239.
10 [Joseph Heinrich Engelschall]: Zufällige Gedanken über die deutsche Schaubühne zu
Wien, von einem Verehrer des guten Geschmacks und guter Sitten. In: Philipp Hafner.
Burlesken und Prosa. Mit Materialien zur Wiener Theaterdebatte. Hrsg. von Johann Sonnleitner. Wien: Lehner 2007, S. 252–257.
8
Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
Das Theater ist bei Engelschall nicht mehr nur Theater um seiner selbst Willen, sondern didaktisches Mittel zur Bildung und Besserung der Gesellschaft.11 Als die wesentlichsten Punkte der Reformempfehlungen Engelschalls für das Wiener Theater
wären die Eliminierung des Stegreiftheaters samt dessen Extempore-Einlagen12, die
Überwachung des Theaters und deren Spielpläne durch staatliche Behörden13, die
Forderung nach einer realistischen Handlung14 sowie einem regelmäßigen Schauspiel15 auch für die unteren sozialen Schichten, den „Pöbel“16, zu nennen.
Der Kameralist und Zensor Joseph von Sonnenfels geht damit konform und streicht
in seinen Reformbestrebungen ebenso die Nutzbarkeit des Bühnenspiels zur Bildung der unteren Schichten heraus. Während der Adel und das gebildete Bürgertum
in der italienischen Oper sowie der französischen Komödie ihren Horizont erweiterten, blieb den weniger einkommensstarken bzw. privilegierten Bevölkerungsschichten nur das deutsche Theater. Diese Sparte des Mediums wurde aber nach Sonnenfels zu lange Zeit „gleichsam nur als ein zufälliger Theil angesehen und sich selber
überlassen“17, anstatt daraus gesellschaftsbildenden Nutzen zu ziehen.
„Ist der Regent, ist der große Adel der einzige Gegenstand der öffentlichen
Aufmerksamkeit? Verdient der übrige Theil der Bürger, welcher zu dem allgemeinen Wohl nicht minder das Seinige beyträgt, daß man seiner ganz [!] nicht
gedenke? Giebt es nicht mehrere Klassen der Bürger, welchen der Staat, nach
durchgearbeitetem Tage, eine Erholung zu verschaffen verpflichtet ist? Wäre
es nun aber gleichgültig, diesen Theil der Bürger entweder in eine Gaucklerbude hinzuschicken, wo sie die Albernheit eines Possenspielers und seine Unhöflichkeiten mit Ekel anhören müssen, oder ihnen ein gesittetes Vergnügen
zu verschaffen, wo sich ihre Stirne, ohne den Anstand schamroth zu machen,
aufheitern kann.
Der Mann aus der mittlern Klasse bedarf es so gar weit mehr, daß der Staat ihm
eine anständige Ergötzung zu verschaffen suche als der Adel. Diesem kann es bey
11 „Engelschall vertritt die Position, daß Kunst didaktisch im gesellschaftsverbessernden Sinn
zu wirken hätte und daß ihre unterhaltende Funktion ein Hilfsmittel zu diesem Zweck
wäre“. Haider-Pregler, Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 324.
12 „[…] und wer also immer der Schaubühne vorzustehen haben möchte, muß scharf darauf
sehen, daß kein Wort von einem Schauspieler auf der Bühne gesprochen werde, das nicht
in dem vorher gänzlich schriftlich abgefaßten und ihm zur Censur eingereichtem Stücke
befindlich sey.“ Engelschall, Zufällige Gedanken über die deutsche Schaubühne, S. 267.
13 Vgl. ebenda, S. 265–271.
14 Vgl. ebenda, S. 261–262.
15 Engelschall fordert Lustspiele „nach den Regeln der Kunst“. Vgl. ebenda, S. 263.
16 Vgl. ebenda, S. 257.
17 Zit. nach Glossy, Zur Geschichte der Wiener Theaterzensur, S. 255.
9
LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
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seinem großen Vermögen an Ergötzlichkeiten ganz [!] nicht fehlen, indessen der
eingeschränkte Aufwand, den die untern Klassen zu machen fähig sind, sie auf
die Schaubühne hauptsächlich herabsetzt, und wenn man sie dieser Ergötzung
beraubt, auf solche zu verfallen verleitet, die den Sitten nachtheilig sind […]“18
Die Überlegungen, das Theater als Instrumentarium zur Vermittlung sittlicher wie
moralischer Werte und Tugenden zu benutzen, zeugen von einer Neudefinition des
Mediums, die stark von den pädagogischen Bestrebungen des Theresianischen Zeitalters geprägt ist. Damit geht ein sozialer und kultureller Wandel einher, der im
protestantischen Deutschland seinen Ursprung hat, nach und nach aber auf das kulturelle Feld Österreichs einzuwirken beginnt. Träger dieses Wandels sind gebildete
Bürger mit protestantisch geprägtem Wertekanon (Pflicht, Fleiß, Ordnung etc.),
der wie auf alle Lebensbereiche eben auch auf kulturelle Produktionen angewandt
wird. Demnach werden Literatur und Theater mit einem Nutzen belegt, der weit
über ihren unterhaltenden, zerstreuenden Charakter hinausreicht: Sie übernehmen
fortan die leitende Position bei der Herausbildung moralischer Werte.19 Kulturelle
Produktionen werden nun nicht mehr daran gemessen, ob sie gefallen, sondern ob
sie pflichtgemäß Anteil an der moralischen Erziehung der Bevölkerung nehmen.
„Die von Wolff, Gottsched und anderen Geistesfürsten postulierte Moral der
Aufklärung ließ den Mut zur Selbstbestimmung eben nicht gelten, und schon
gar nicht im Hinblick auf Affekte und Begierden. Deren Spontaneität suchte
man weitgehend zu unterdrücken. In einem Diktat des Nutzens, einem heutigen
Utilitarismus recht ähnlich, verbanden insbesondere die norddeutschen, protestantischen Aufklärer Vernunft mit Pflichtbewußtsein, erklärten sie den Fleiß
zur moralischen Bestimmung des Menschen und den Müßiggang zum Laster.
Folglich mussten die Kultur und das Lesen einen Nutzen zeitigen; Unterhaltung ohne Lehre erachtete man als bedenkliche Frivolität. Körperliche Reize,
Erotik, ,Wollust‘ traf die ganz heftige Intoleranz der Toleranzprediger.“20
Von vorne herein steht fest, dass das Theater – und hier vor allem das deutsche
Theater, das als Bindeglied zu den weniger privilegierten sozialen Schichten anzusehen ist – den geforderten Bildungsauftrag nur erfüllen kann, wenn von höherer
Stelle überwacht wird, was auf der Bühne geboten wird. Hanswurst, Harlekin und
Bernardon mit ihrer grotesk-derben körperlichen Komik, deren Witz stets auf den
leiblichen Bedürfnissen des Menschen (Furzen, Scheißen, Kopulieren, Fressen und
18 Joseph von Sonnenfels: Briefe über die Wienerische Schaubühne. Hrsg. von Hilde HaiderPregler. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1988. (= Wiener Neudrucke. 9.)
S. 411.
19������������������������������������������������������������������������������������������
Vgl. Klaus Zeyringer: Die Kanonfalle. Ästhetische Bildung und ihre Wertelisten. Literatursoziologischer Essay. In: Lithes. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie. Nr. 1: Was
weiß Literatur? (Dezember 2008), S. 74–78.
20 Ebenda, S. 75–76.
10
Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
Saufen) beruhte,21 waren mit ihrem oft von der Haupthandlung separierten, unregelmäßig-improvisierten Spiel und den für sie charakteristischen Prügelszenen nicht
die geeigneten Identifikationsfiguren für die Vermittlung guter Sitten und höherer
Moral. Und der von den Aufklärern postulierte Nutzen, den diese jeder Alltagsbeschäftigung abverlangten, um nicht dem Müßiggang zu verfallen, stellte sich beim
Konsum der Hanswurst- und Bernardon-Aktionen schon gar nicht ein. Stegreifspiel
und Extempore-Einlagen waren, da sie zu viel Raum für individuelle Ausgestaltung
bzw. Rede und nicht zuletzt für spaßigen Unsinn ließen, mit der erzieherischen
Funktion von Theater generell unvereinbar, weshalb als logische Konsequenz der
Erlass der Theaterzensur (1765)22 als Garant für den ausgesucht bildenden und belehrenden Inhalt der Komödientexte sowie Tilgung des improvisatorischen Spiels
von der Bühne folgte (1769 war die extemporierte Komödie, zumindest von den
Hoftheaterbühnen, verschwunden23). Dieser Entwicklung vorausgegangen war eine
neue Geisteshaltung eines Teils der Theaterbesucher, die mit ihrem Geschmacksurteil oppositionelle Position zum deutschen Spaßtheater bezogen. Die Lustigen Figuren Hanswurst und Bernardon wurden als Feindbilder des „guten Geschmacks“
zunehmend öffentlich angefeindet, sodass in den moralischen Wochenschriften24
bald eine erbitterte Debatte um ihre Daseinsberechtigung entbrannte (bekannt als
„Hanswurststreit“).25 „Je toller und ungeberdiger […] die lustige Person wurde, je
mehr Unsinn und Zote sich ausbreiteten, desto lebhafter wurde die Opposition des
denkenden Theils aus dem Publicum und das Begehren nach einer Reinigung der
Bühne durch die Staatsgewalt.“26 Auf die „Censur des Geschmackes“, die in der
gebildenten Öffentlichkeit immer mehr Befürworter erlangte, folgte nun die Zensur des Geisteslebens der Wiener durch die Staatsgewalt (1769/70 vertreten durch
Joseph von Sonnenfels, danach durch den bekannten Zensor Franz Karl Hägelin).
Alle für die Aufführung in der Reichshauptstadt vorgesehenen Bühnenstücke waren
in schriftlichter, völlig ausformulierter Form der Theaterzensurbehörde einzureichen
21��������������������������������������������������������������������������������������
Vgl. Beatrix Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Spaßtheater im 18. Jahrhundert. Paderborn [u. a.]: Schöningh 2003, S. 91–112.
22 Vgl. Gerhard Tanzer: Spectacle müssen seyn. Die Freizeit der Wiener im 18. Jahrhundert.
Wien, Köln und Weimar: Böhlau 1992, S. 165.
23 Vgl. Glossy, Zur Geschichte der Wiener Theaterzensur, S. 258.
24 Hafner, Heufeld, Klemm aber auch Weiskern sprechen sich in diversen Wochenblättern
immer wieder gegen Sonnenfels aus. Sie lehnen das von ihm angestrebte „Hochstiltheater“
ab, wenden sich aber ebenso gegen das extemporierte, den Diktaten der Wahrscheinlichkeit
trotzende Possenspiel.
25 Vgl. hierzu Karl Görner: Der Hans Wurst-Streit in Wien und Joseph von Sonnenfels. Wien:
Konegen 1884.
26 Glossy, Zur Geschichte der Wiener Theaterzensur, S. 253.
11
LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
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und wurden – auch wenn es nicht immer den erwarteten Erfolg brachte27 – präventiv zensiert. Je nachdem, ob die Texte „schlüpfrige“ Reden, sittlich inadäquate
Aktionen und fragwürdige Charaktere enthielten, wurden sie zum Teil zensiert bzw.
der Umarbeitung des Urhebers überlassen oder, wenn die gesamte Geschichte wie
auch der Stoff selber für Sitten, Staat oder Religion bedenklich waren, zur Gänze
indiziert.28
„Wenn ich einem Fürsten zu rathen hätte, so würd’ ich ihm nichts eifriger empfehlen, als – sein Volk in gute Laune zu setzen. Kurzsichtige Leute sehen nicht,
wie viel auf diesen einzigen Umstand ankommt. Ein fröhliches Volk thut alles,
was es zu tun hat, munterer und mit besserem Willen als ein […] schwermüthiges; [Nur wenn die Menschen] bey guter Laune sind, so vergessen sie über
einer Komödie, einer neuen Tänzerin, einem neuen fröhlichen Liedchen, den
Verdruß über eine verlorene Schlacht, oder die Schlimme Verwaltung ihrer
öffentlichen Einkünfte.“29
Es sind treffende Worte, die Christoph Martin Wieland seinem Diogenes von Sinope in den Mund gelegt hat. Denn vermutlich trug damals nichts mehr zur Aggressionsbewältigung und Triebreduktion bei und half besser über schlechte Zeiten und
private Nöte hinweg, als das komische Theater. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ist es das Marinellische Theater in der Leopoldstadt, das als prototypisches
Lachtheater die Bewohner Wiens, aber auch Touristen aus dem Kaiserreich und
diverse Staatsgäste bei Laune hält. Vor allem der Kasperl-Darsteller Johann Josef
La Roche zog mit seiner individual-komischen Spielweise die Massen an und bot
somit die passende Ablenkung von größeren und kleineren Sorgen des Alltages, vom
politischen Geschehen oder, pauschaler beurteilt, vom Weltgeschehen überhaupt.
So war den Theaterreformern in der Mitte des 18. Jahrhundert zwar ein Schlag
gegen das ungebändigte deutsche Spaßtheater samt seinen zotigen Figuren Hanswurst und Bernardon gelungen, sowie das Medium Theater (zumindest was die
innerstädtischen stehenden Bühnen betrifft) von den Widrigkeiten gegen „die Sitten, den Staat und die Religion“ durch die Zensur bedingt zu befreien. Bei all den
literarisierungspolitischen Maßnahmen des deutschen Theaters und hier v. a. der
Komödie konnte und sollte aber die zweckfreie Unterhaltungslust der Wiener nicht
eingedämmt werden. Sie wurde nun in gemäßigter Form im Leopoldstädter Theater
gestillt.
27 „Wie gering aber die Macht dieser Theaterpolizei war, geht schon daraus hervor, daß der
Possenreißer sogar die Kühnheit hatte, von der Büchercensur zum Druck nicht zugelassene
Liederstrophen dennoch auf der Bühne zu singen.“ Glossy, Zur Geschichte der Wiener
Theaterzensur, S. 253.
28 Zu den Zensurrichtlinien siehe: Ebenda, S. 279–282.
29���������������������������������������������������������������������������������
Christoph Martin Wieland: Nachlass des Diogenes von Sinope. Aus einer alten Handschrift. In: C. M. Wielands sämtliche Werke. Bd. 13. Leipzig: Göschen 1795, S. 3–148, hier
S. 88.
12
Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
Die meisten Punkte, die u. a. von den beiden Theoretikern Engelschall und Sonnenfels für die Reformierung des Wiener Theaters vorgeschlagen wurden, hatten ein
gesellschaftspolitisches Echo sowie nach und nach entsprechende Erlässe von Seiten
der Regierung zur Folge. Während das Leopoldstädter Theater in der inhaltlichthematischen Ausrichtung seiner Theaterstücke von den Reformbestrebungen, der
Geschmacksdebatte, der Ernennung des Mediums zur Bildungsinstitution aufgrund
von Zensurerlass und zumeist unumgänglicher behördlicher Kontrolle in Teilbereichen beeinflusst wurde, tangierte die geforderte konzeptionelle Neugestaltung
der Theaterstücke (Wahrscheinlichkeit, Regelmäßigkeit) und somit ihre angedachte
Normierung und Literarisierung die künstlerische Ausrichtung des Theaters bestenfalls peripher.
Vorerst in knapper Form dargestellt, fassen folgende Thesen den Einfluss des gewandelten Geisteslebens auf das Leopoldstädter Theater zusammen:
These 1: Die Forderung nach der pädagogischen Zweckgebundenheit des Theaters wurde am Leopoldstädter Theater bedingt umgesetzt. Dem Repertoire zufolge30 dienten
die meisten der am Leopoldstädter Theater gebotenen Produktionen der Unterhaltung. Der von den Denkern der Aufklärung propagierten Pflichtausübung in allen (alltäglichen) Tätigkeiten kam das Theater damit nur geringfügig nach. Letzte
Geschmacksinstanz dieser Bühne war das nach Unterhaltung strebende Publikum,
nicht der von den elitären Denkern der Aufklärung propagierte erbauende, bildende
Theaterkanon.
These 2: Die Überwachung des Spielplans und der Produktion erfolgte in Bezug auf
die schriftlich fixierten Komödientexte gänzlich, in Bezug auf die dramaturgische Umsetzung auf der Bühne bedingt.
These 3: Die Forderung nach der Eliminierung des Stegreifspiels war damit nur bedingt
erfüllt.
These 4: Die Maßnahmen gegen die lustigen Volkstypen, die immer stärker um
sich greifende protestantisch geprägte „Sinnenfeindlichkeit“ sowie die Tendenz zur
Moralisierung kultureller Produkte bedingen eine Sozialisierung, Verbürgerlichung
und Versittlichung des Leopoldstädter Kasperls, der um die obszön-derben Charakterattribute des Hanswurst gebracht, nur mehr eine oftmals auf die Nebenhandlung
beschränkte Existenz als dessen Diminutiv führt.
30 Vgl. hierzu Studie zum Leopoldstädter Theater. In: Jennyfer Großauer-Zöbinger: Karl von
Marinelli (1745–1803). Das Gesamtwerk. Edition und Studie. Graz, Univ., Diss. [im Entstehen].
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Moral und Bildung im Theater
Die Forderung nach der pädagogischen Zweckgebundenheit des Theaters wurde am
Leopoldstädter Theater, wie behauptet, bedingt umgesetzt. Die Überwachung der
Produktionen und des Spielplans durch die Zensurbehörde, die Neudefinition des
Theaters als Erziehungsmedium, sowie generell der sich stetig verbreitende Einfluss
der Geisteshaltung der Aufklärung gaben den Anlass zur Verarbeitung sittlich-moralischer Werte und gesellschaftlicher Tugenden in einem Teil der Repertoirestücke.
Es sind v. a. die Komödien (überwiegend die reinen Sprechstücke ohne Musik)
Henslers, Eberls und die bürgerlichen Komödien Marinellis31, die didaktisch aufbereitete, klischeehafte Moral enthalten und die Tendenzen eines Besserungsstückes
aufweisen. Gepredigt wird dabei stets über dieselben sittlichen und moralischen
Vergehen: über geplanten und vollzogenen Ehebruch, Kuppelei, Arglist, Prasserei
(eigenartiger Weise sind es immer die Frauen, die verschwenderisch sind), Hochmut
bis zum Adelsstolz, übersteigerte Arglosigkeit und Eifersucht (auch diese Unsitte
wird fast stets an Frauen vorgeführt). Gepriesen werden hingegen der bedingungslose Gehorsam gegenüber dem Vater wie der Obrigkeit (Treue zum Regiment), die
Pflichterfüllung gegenüber dem Kaiser, die Redlichkeit und der Fleiß des Bürgers,
Ehrlichkeit und Sittsamkeit. Obwohl einige der eingesehenen Komödien diese lehrhaften Züge tragen, war der Hauptzweck des Leopoldstädter Theaters immer noch
die Unterhaltung und nicht die Belehrung des Publikums. Diese Absicht zeigt sich
v. a. in den Spieltexten Perinets, den Kasperliaden Marinellis und den Opernbearbeitungen Eberls, die kaum erzieherischen Wert haben und weitaus häufiger gespielt wurden, als jene mit Moral behafteten Stücke (Belege folgen unmittelbar).
Im theatralen Feld positioniert sich das Leopoldstädter Theater damit inhaltlich am
äußersten Rand des zum Bildungstheater gehörenden Subfeldes des meinungs- und
verhaltensbildenden Theaters.
Ein moralischer Unterton findet sich in Kasperl’ der Mandolettikrämer, wo Ehebruch
und Untreue angeprangert werden. Jeweils ein Part von drei Pärchen (jedes Pärchen
stammt aus einer anderen Gesellschaftsschicht, was für die Zuseher im Publikum,
die ebenso anderen Ständen angehörten, die Identifikation erleichterte) erfährt im
Laufe des nahezu endlos gedehnten Handlungsprozesses seine Läuterung bezüglich
Hinterlist und (angedachtem32) Seitensprung. Als Vertreter der Aristokratie wird
31 Im Leopoldstädter Theater kamen nur noch Marinellis Der Ungar in Wien und Der Bürger
und der Soldat zur Aufführung. Beide sollen an dieser Stelle nicht besprochen werden, da
in ihrer Personen-Konzeption die Figur des Kasperl nicht vorgesehen ist. Vgl. Karl von
Marinelli: Der Ungar in Wien. Ein Originallustspiel in drey Aufzügen. Wien: [o. V.] 1773
und Karl Marinelli: Der Bürger und der Soldat. Ein Originallustspiel in drey Aufzügen.
Preßburg: Landerer [1775].
Mehr gestattete die Zensur v. a. den weiblichen Charakteren eines Bühnenstückes nicht, so32������������������������������������������������������������������������������������������
dass auf betrügerisch-hinterhältige Worte zumeist keine entsprechenden Handlungen folgten. Darstellbar waren nur der Versuch der Untreue bzw. der Scheinehebruch. Vgl. Glossy,
Zur Geschichte der Wiener Theaterzensur, S. 317.
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
Baron Wellbach für seine Untreue gegenüber seiner Angetrauten Amalia, die er mit
deren selbst verschuldetem Verschwinden rechtfertigt, und seinen ständigen Annexionen des weiblichen Geschlechts à la Don Juan gescholten und schließlich auch
bekehrt – als Moralinstanz bzw. nach Freud als „Über-Ich“ fungiert hierbei zumeist
sein Bedienter Paul:
„Paul. Aber lieber gnädiger Herr! – wenn werden Sie einmal aufhören, den
irrenden Ritter zu spielen?
Baron. Kerl, du wirst mir so lange deine Moral vorsingen, bis ich dir den Tact
dazu gebe! –
Paul. Schon gut! – […] Geburt, Erziehung, Vermögen, und tausend günstige
Umstände – fordern sie recht auf, es zu werden, und eine einzige unglückliche
Leidenschaft – ich will sagen Grille – hindert Sie es zu seyn.
Baron. Hindert mich? – itzt seht doch einmal, den moralischen Schwätzer an
[…] gieb mir Unsterblichkeit, und frage mich dann, welcher Wunsch mir noch
übrig bleibt.
Paul. Und haben alle Augenblick einen andern.
Baron. Aber keinen lasse ich unbefriedigt, und das ist gerade das, was mich
glücklich macht – Abwechslung ist die Würze des Vergnügens – kurz Kerl,
wenn du nicht Eis statt Blut in deinen Adern hast, so sage mir, wer kann im
Besitz solch eines Meisterstückes der Natur (er zeigt ihm das Portrait) für etwas
andres noch Sinne haben?
Paul. (Das Portrait betrachtend) schön! – wahrlich schön – fast so schön, als
ihre Gemahlin!
Baron. Dumkopf mit deiner Vergleichung – fast so schön als ihre Gemahlin –
fast! – hab ich’s dir nicht ein für allemal verboten, nicht die geringste Erwähnung von ihr zu machen, gar nicht daran zu denken, daß ich verheurathet sey.
Paul. Wahr – aber was kann ich dafür, daß ich ein besser Gedächtniß habe
als Sie!
Baron. Du sollst aber nicht!
Paul. Und was soll ich dann?
Baron. Was? – an meinem Glücke Theil nehmen – dich mit mir freuen, mit
mir diese zauberische Schönheit bewundern – und –
Paul. Morgen wieder eine andere suchen – versichre Sie – gnädiger Herr, es ist
nicht die erste Trunkenheit der Seele, die ich an Ihnen erlebt habe.
Baron. Und doch geb ich dir mein Wort – daß dies das non plus ultra der
Liebe für mich ist – schwör dir’s, daß ich diesen Engel ewig, wohl – wohl
gemerkt – ich sage ewig – treu bleiben will –
[…]
Paul. Aber gnädiger Herr, was wollen Sie dann nun machen?
Baron. Was ich machen will – was ich machen will? – lieben will ich sie –
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Paul. Und Ihre Frau?
Baron. Je zum Teufel fängst du schon wieder damit an – Meine Frau! sie mag
nach Venedig reisen – und wenn sie da keinen Zeitvertreib findet, so wird es
wohl nirgends als im Kloster welche für sie geben! Und nun kein Wort mehr –
das rath ich dir! –
[…]
Mad. Buchw[ald]. Herr Baron dieser Ton? –
Baron. Ist der Ton einer verwirrten, aber nicht ganz verdorbenen Herzens! –
kurz es wäre zu boshaft von mir, wenn ich nicht durch das offenherzige Geständniß, daß weder mein Herz noch meine Hand in meiner Gewalt sind, eine
Flamme zu unterdrücken mich bemühte, die vielleicht ein freyer Blick und der
noch freyere Ton der grossen Welt in einem Augenblick anzufachen im Stande war! – Sie sind verheurathet Madame, die Arme Ihres Gemahles erwarten
Sie! – Verzeihen Sie, daß ich den Ton der grossen Welt vergaß, und Ihnen keine
Lüge sagte!! –
Mad. Buchw[ald]. Sie wollen mich also nicht lieben? –
Baron. Madame ich will zur Tugend zurückkehren, dieß Gelübd hab ich erst
vor wenigen Augenblicken gemacht! […]“33
Madame Buchwald ist die Zweite im Bunde der in Versuchung Geführten. Sie entstammt ursprünglich der bürgerlichen Oberschicht, fühlt sich aber im Geldadel
heimischer. Sie wird wegen ihrer Rendezvousfreudigkeit mit fremden Männern, der
öffentlichen Herabwürdigung ihres Mannes und seines Standes sowie wegen ihres
an Prasserei grenzenden, auffälligen Putzes als Ausdruck des angestrebten mondänaristokratischen Lebensstils (die komische Deplatzierung als Folge des Agierens in
einer sozialen Rolle, welche nur oberflächlich erworben, nicht aber vollständig habitualisiert wurde, lässt grüßen), der für die Gattin eines Kaufmanns wenig schicklich
ist, ergebnislos angeklagt:
„Klinger. Werden Sie bald selbst sehen – daß der Handel, den wir treffen wollen, ganz ein artig Stück Arbeit ist! (Klinger nimmt den Baron bey der Hand, und
führt ihn zur Madame Buchner [!].) Madame hier hab ich das Vergnügen, Ihnen
in dem Freyherrn von Lindenthal einen der reichsten Cavalliere, den feurigsten
Verehrer der weiblichen Schönheit aufzuführen! –
Mad. Buchwald. (Mit einem affektirten Complement) Es ist mir ein großes
Vergnügen einen so reichen und vornehmen Cavallier kennen zu lernen! –
Baron. Ich werde um die Erlaubniß bitten – Sie Madame besuchen zu dürfen!–
Mad. Buchwald. Ich würde es herzlich erlauben – aber ich hab gar einen abscheulich eifersüchtigen Mann […]
33 Ferdinand Eberl: Kasperl’ der Mandolettikrämer, oder: Jedes bleib bey seiner Portion. Ein
Lustspiel in drey Aufzügen. [Wien:] Wallishausser 1789, S. 4–9 und S. 156–157. Hrsg. von
Jennyfer Großauer-Zöbinger. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://lithes.unigraz.at/maezene/eberl_mandolettikraemer.html [Stand 2009].
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
Baron. Allerliebst! […]
Mad. Buchwald. Der Herr v. Klinger wird schon die Güte haben – Sie
dort aufzuführen – und den reichen Herrn v. Katzenbalg kennt ja die ganze
Stadt! –
Baron. Von Katzenbalg – Ihre Frau Mama? –
Mad. Buchwald. Ja diese ists – mein Hr. Papa ist erst Großritter der afrikanischen Erblande geworden – weßwegen er auch heute eine Akademie und Ball
im Casino giebt! –
[…]
Herr Buchw[ald]. (geht verdrüßlich auf und ab, Madame sitzt in einem Sessel)
Ein für allemal ich kann diese Lebensart nicht länger dulden.
Mad. Buchw[ald]. (hönisch) Diese Lebensart? –
Herr [Buchwald]. Diese Lebensart – ja Madame diese Lebensart! –
Mad. [Buchwald]. Und was finden Sie denn gar so sehr an mir zu tadeln?
Herr [Buchwald]. Was? – alles in allem – ihr Aufstehen – ihr Schlafengehen,
ihren Putz – ihre Sitten – kurz Madame sie müssen sich ändern – oder ich muß
andere Mittel ergreiffen! –
Mad. [Buchwald]. (ihm nachäffend) ändern – oder andere Mittel ergreiffen –
nu das ist ja allerliebst – in der That mein Herr so viel ich merke, so stimmen
Sie den Ton des Zuchtmeisters an! –
[…]
Herr [Buchwald]. Ich will ein braves Weib aus dir machen – das will ich
Schätzchen – und das werd ich; mit Gutem oder Bösem, das Mittel gilt mir
einerlei – wenn ich nur meinen Zweck erreiche! – und so hast du nun vorläufig
einige Regeln – itzt wollen wir auch einen Theil der Ausübung vornehmen – vor
allen Dingen, diesen lächerlichen Kopfputz herab! –
[…]
Herr [Buchwald]. (Ganz gelassen und scherzhaft geht hin, führt sie zur Toilette, setzt sie nieder, hält sie mit einer Hand bey der Hand, und räumt ihr mit der
andern Hand den Kopf ab) Ich sehe schon, Sie wollen mich zum Kammerdiener – kann Ihnen ja wohl auch diesen Gefallen erweisen – Sehn Sie ich weiß
gut damit umzugehen! – so! – Nun sind Sie noch einmal so liebenswerth – nun
will ich Sie küssen! (er will sie küssen)
[…]
Herr [Buchwald]. Roß und Wagen verkauft – Friesur und Kammermädchen
abgedankt – Dinees und Souppees abgeschafft – Bälle und Spiele verbothen –
das ist alles in der veränderten Lebensart begriffen! –
Mad. [Buchwald]. (Geht weinend mit gefaltenen Händen umher) Ich möchte
rasend werden – so herabgewürdiget – so beschimpfet; ich – die ich auf die
Hand eines Grafens Ansprüche machen könnte – was bin ich nun? – Ein elendes Kaufmannsweib!! –
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Herr [Buchwald]. (vom Affect überracht) Elendes Kaufmannsweib? Ha
Weib! – laß dirs nicht gelüsten mich da anzugreifen (nach einer Pause) Kurz
und gut! – es ist mein Wille, du mußt so leben, und nicht anders! –
Mad. [Buchwald]. (wirft sich in einen Stuhl) Schon gut! – ich will das Ding
schon umkehren – wollen doch sehen, ob sich das gemeine Volk so am Adel
vergreifen darf. –
Herr [Buchwald]. Was das Volk gegen den Adel darf? – weiß ich nicht! – was
der Mann gegen ein närrisches Weib darf, sollen Sie, Madame sehen! – Gott
befohlen! (er geht ab, und schlüßt die Thüre zu)“34
Und schließlich wird noch der Bäcker und Unterhändler Kaspar wegen seiner ständigen Eifersüchtelei und seiner Doppelmoral (er selbst liebäugelt gerne mit diversen
„Weibspersonen“, seine Frau beobachtet er hingegen mit Argusaugen, verbietet ihr
jeglichen Umgang mit anderen Männern und markiert den eifersüchtig polternden
Ehemann). Diese Figur ist es schließlich auch, die ihrem Typus gerecht die Lektion
am härtesten lernen muss, hat sie zuvor doch ohne es zu ahnen, das eigene Weib (die
Maske ist bei dieser nicht gelungenen, harmlosen Intrige das entscheidende Requisit) im wahrsten Sinne des Wortes an den Mann zu bringen versucht:
„Baron. Was Sie wollen lieber redlicher Mann! –
Kaspar. (Evgen hereinführend) Fikrament was fangen wir dann itzt mit den
hübschen Weiberl an? –
Baron. Je nun – das hübsche Weiberl wollen wir nun wiederum zu ihrem
Mann bringen, damit ja heute alles in Ordnung kömmt! –
Evgen. Das hab ich mir wohl gleich gedacht, daß ich dem Schlingel wiederum
in die Hände kommen werde!
Kaspar. Nein mein Herzenstäuberl, das sollen Sie nicht, ich will schon dafür
sorgen, wenn Sie nur wollen? Herr Baron Sie überlassen mirs also? –
Baron. Herzlich gerne!! –
Kaspar. Tausendfikrament das ist lustig, itzt kommens nur geschwind mit
mir! –
Evgen. Aber ihre Frau? –
Kaspar. So seyns nur kein Fratz nicht – die wird gar nichts inne davon – Sie
gehn mit mir, und ich bring Sie an einen Ort, wo Sie gewiß nicht endeckt
werden sollen!
Evgen. Nu so ist mirs auch recht! – (sie nimmt die Masque ab.)
34 Eberl, Mandolettikrämer, S. 65–66 und S. 70–77.
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
Kaspar. (der erschrickt) Alle Donner und’s Wetter! mein Weib – mein eignes
Weib!
Evgen. Ja du sauber’s Früchtel, ich bin’s selbst!! –
Kaspar. Nein – nein das ist doch auch gar zu dumm, daß ich mein eignes Weib
mit einem andern verhandeln wollte! – o! ich Esel! – ich Esel von allen Eseln! –
Hr. Baron das kann ich Ihnen auf dem Todtenbette nicht verzeihen! – aber
wart Weib, du, wann wir nach Hause kommen – freu dich!!
Evgen. Du Schatzerl was macht denn die Jungfer Muhme?
Kaspar. Still – still sey – ich bitt dich gar schön – ich seh schon, daß ich geprellt bin – die Jungfer Mahm ist fort – mach dir keinen Kummer mehr! –
Baron. Siehst du, so gehts mit solchen Negozien wie du mit mir machen wolltest – kömmt nichts heraus, da nimm dein Weib, und bleib hübsch bey einem
Gewerb – und nun meine liebe Amalia laß mich noch einmal hier meine feurigste Schwüre besiegeln!“35
Zusammenfassend wird hier die Verwerflichkeit des Ehebruchs angeprangert (das
Motto ist ja schon im Titelzusatz Jedes bleib bey seiner Portion erkennbar36) und
gegen alle Spielarten der Untreue gewettert. Gesellschaftskritik wird ebenso laut,
indem mit der Figur der Madame Buchwald Neureiche wegen ihres gekünstelten,
affektierten Lebensstils, der so gar nicht inkorporiert ist, belächelt werden.
Abgesehen vom Mandolettikrämer finden sich auch in weiteren Komödien Eberls
moralisch-belehrende Inhalte als Resultat der Neudefinition des Theaters als Bildungs- und Erziehungsmittel. So wird etwa in Der Tode und seine Hausfreunde erneut das Thema Ehebruch didaktisch aufbereitet: Während sich Kaspar tot stellt
(ein Unterfangen, das dramaturgisch viel Komik in sich birgt), hält sein Eheweib
Rose dem unmittelbar auf den Trauerfall einsetzenden Werben des bürgerlichen
„Mannsvolks“ (es handelt sich um den Richter, den Schulmeister und den Gerichtsschreiber, alles honorige Mitglieder der Gesellschaft, hier alle drei in der Manier
des Pantalone dargestellt) stand und erleichtert dieses als Strafe fürs Buhlen um
deren gesamte Barschaft. Wie es der Anstand gebietet, wird die pekuniäre Beute
schließlich den schnell herbeigerufenen Ehefrauen samt den schamroten, amourösen Anwärtern von Rose zurückgereicht (natürlich nicht ohne dass Rose als Belohnung für ihre Aufrichtigkeit selbst ein Stück vom Kuchen abbekommt), wo-
35 Ebenda, S. 160–162.
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Abgesehen davon spielt der Titelzusatz natürlich auch auf den erzwungenen gesellschaftlichen Aufstieg und das lächerliche Vordringen in andere als die eigene Gesellschaftsschicht
an.
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mit am Ende der Komödie die übergeordnete Moral des Stücks „Ehrlich währt
am längsten“37, die ohnehin schon die ganze Zeit im Raum steht, den Rezipienten
gänzlich zu erschlagen droht. Auch in Die Limonadehütte wird der Ehebruch als
neueste Modeerscheinung dargestellt, bevor in der Tendenz eines Besserungsstückes
alle Beteiligten plötzlich ein spätes Einsehen haben, zum angetrauten Partner zurückkehren und ihr Handeln als moralisch verwerflich bereuen.
Hensler, der dem erzieherischen Auftrag in seinen Komödien für das Leopoldstädter
Theater am signifikantesten nachkam, stellt in Männerschwäche und ihre Folgen oder
die Krida dar, wie eine sittlich verdorbene Bürgersfrau Tochter und Schwiegersohn
ins Verderben führt, alle Bescheidenheit verliert, Intrigen spinnt, Geld verprasst und
auch vor Trug und Lügen nicht halt macht.
Während in den von belehrenden Inhalten frei gebliebenen Perinet-Stücken Pizichi,
oder: Fortsetzung, Kaspars des Fagottisten (1792), Megera. Erster Theil (1806), Caro,
oder: Megärens zweyter Theil (1795), Die Schwestern von Prag (1794), Das lustige Beylager (1797) und Baron Baarfuß, oder der Wechselthaler (1803) Verwandlung, Klamauk (bis zum totalen Nonsens) und Aktion als Attribute an die Unterhaltung und
Schaulust überwiegen, findet sich in einem frühen Originallustspiel Perinets mit
dem Titel Die Eifersucht nach dem Tode (1791) ebenso ein moralischer Grundton
wie auch ansatzweise in seiner Bearbeitung Kasperl’s neu errichtetes Kaffeehaus, oder
der Hausteufel. In ersterem wird die Torheit einer krankhaft eifersüchtigen Ehefrau
den Lachenden preisgegeben, die, um ihren Mann der Untreue zu überführen, ihren
eigenen Tod vortäuscht (Komik entsteht v. a. durch das „Intrigen-Requisit“38 der
Tapetentüre, die es erlaubt, die schreckhafte Dienerfigur Johann, die dem Personenverzeichnis nach La Roche verkörperte, das eine oder andere Mal glauben zu
machen, den Geist der seligen Hausherrin gesehen zu haben, sowie ihn diverser
Unaufrichtigkeiten gegenüber seiner Herrschaft zu überführen). Als Moralträger
fungiert hier vordergründig der als opferbereit, ergeben, dankbar und sittenfest gezeichnete Charakter der Caroline. Person und Herkunft geben anfänglich Rätsel
auf. Das Mädchen entpuppt sich aber bald, nachdem es bereits als neue Hausherrin
gehandelt worden ist (dies die selbsterfüllende Prophezeiung der scheintoten Ehefrau
hinter der Tapetentüre), als Tochter ihres Wohltäters, des Hausherren, aus früherer,
natürlich ehelicher Beziehung. Aus Dankbarkeit für die erhaltenen Zuwendungen,
auch aus Unwissenheit und rigorosem Pflichtgefühl ist Caroline bereit, den Hausherrn zu heiraten und das eigene Glück mit Walder, in den sie unsterblich verliebt
ist, zu opfern:
37 Ferdinand Eberl: Der Tode und seine Hausfreunde. Posse in einem Aufzug. Wien: Meyer
und Patzowsky 1793, S. 31. Hrsg. von Jennyfer Großauer-Zöbinger. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/eberl_tode.html [Stand 2009].
38 Vgl. Peter von Matt: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. Hanser: München
2006, S. 33–38.
20
Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
„[Caroline.] Mir ist so wohl und so wehe! – so wohl, daß ich nun bey
ihm bin, dem Manne, den ich über alles schätze und liebe, und doch so
wehe! Walder – der gute Walder! Unglücklicher! ich mußte mit dir brechen, meine Pflicht betäubte meine unbesonnene Liebe – du weißt
nicht – – – Wie selig waren einst unsere Tage, und itzt in einem Hause, uns einander so nahe, und doch so weit von einander entfernt! –
[…]
Caroline. (ernst.) Walder – ich bin im Hause meines Wohlthäters, wie sie in
dem ihres Freundes. Seyn sie nicht undankbar, lassen Sie mich nicht pflichtvergessen werden.
[Caroline.] Ja wohl lieber, vortreflicher Mann; und ist es denn ein Verbrechen,
wenn ich seufze, wenn mein lange verschlossener Schmerz endlich in Thränen
ausbricht. – O Walder, Walder! Mein Herz war schwächer als meine Vernunft,
aber meine Vernunft ist nun schwächer als mein Herz! – Ich soll dir entsagen? –
ich muß dir entsagen; will Er es nicht so, Er, dem ich alles schuldig bin? – Ja ich
bringe diese Opfer meiner Pflicht, zwar mit Thränen, aber aus Dankbarkeit!“39
Das Happyend naht: der Hausherr entdeckt Carolines Herkunft, diese wird für ihre
Standhaftigkeit und Loyalität mit der Legitimation ihrer Liebe zu Walder (hier liegt
die Gesellschaftsmoral) belohnt. Die eifernde, tot geglaubte Ehefrau kehrt ebenso unter die Lebenden wie zu ihrem Gatten zurück und die beiden langfingrigen
Dienstboten Johann und Kristine werden, angeschwärzt durch die alles beobachtende Ehefrau, als Konsequenz für ihre Unehrlichkeit mit „wer über seine Herrschaft
schmäht, verdient nicht ihr Brod zu essen“40 aus dem Dienst entlassen. Caroline
verkörpert den moralischen Charakter des Stückes. Dessen harmlose Gestaltung
(die Ziererei beim Eingehen einer Affäre, die selbst auferlegte Keuschheit, der Vorsatz, stets ehrenhaft zu handeln, die absolute Dankbarkeit gegenüber dem eigenen
Brotgeber etc.) ist wohl zu einem Gutteil Resultat der Informationskontrolle durch
die Zensur, die eine Darstellung von Unkeuschheit, Lasterhaftigkeit und Betrug der
Bühne nicht dulden wollte.41
39 Joachim Perinet: Die Eifersucht nach dem Tode. Ein Lustspiel in drey Aufzügen. Wien:
Schmidt 1791, S. 85 und S. 108. In: Theatralische Sammlung. 262. Wien: [o. V.] 1797,
S. 71–158. Hrsg. von Jennyfer Großauer-Zöbinger. In: Mäzene des Kasperls (2008/09).
Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/perinet_eifersucht.html [Stand 2009].
40 Ebenda, S. 157.
41 Vgl. Glossy, Zur Geschichte der Wiener Theaterzensur, S. 317–334.
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LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
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Perinets Kasperls neu errichtetes Kaffeehaus, oder der Hausteufel 42 erzählt hingegen
in komischer Weise von einem vor Liebe blinden Vater (Anton Schindel), der seine
zweite Frau (Nannette) – das ist der Hausteufel, den der Untertitel nennt – über seine Kinder (Karl und Julchen) stellt, diese vorübergehend sogar des Hauses verweist,
da sie es wagen, Kritik an der Stiefmutter zu äußern. Ebenso schablonenhaft finden
sich auch hier die Moralinstanz (Wachtmeister Haubitz) sowie gute (der pflichttreue Karl, das keusche und tugendhafte Julchen) und verdorbene Charaktere (der
Kuppler und Intrigant Hüpfau, der mit dem Hausteufel Nannette, einem ehemaligen Trossweib, den einfältigen Schindel zu hintergehen sucht), deren Ruchlosigkeit
am Ende ins harmlose Verderben führt (sie sind die Geprellten und Verstoßenen).
Eine Zwischenstellung nimmt Kaspar ein. Er ist bürgerlicher Kaffeesieder und der
schlagfertige Gegenspieler der Nannette, der er alles zu Fleiß macht. Die kleinen
Gaunereien, die er in seinem Etablissement treibt, werden ihm ohne Konsequenz
nachgesehen.
Zusammenfassend sei festgehalten, dass einige Repertoire-Stücke La Roches moralische Tendenzen oder zumindest einzelne, schablonenhaft von Komödie zu Komödie reproduzierte Moralinstanzen aufweisen. Für die pädagogisch-vorbildhaften
Inhalte dürfte die Neudefinition des Theaters als Ort der Bildung, sowie das daraus
resultierende Zensurdiktat verantwortlich gewesen sein. Die Moral bleibt dennoch
eine klischeehaft-oberflächliche, auch überwiegen an dieser Bühne – die Aufführungszahlen43 als Indikator für die Beliebtheit der Repertoirestücke legen es nahe
– jene Produktionen, die der Zerstreuung und nicht der Unterweisung des Publikums dienten. Diese Absicht zeigt sich v. a. in den Spieltexten Perinets und den
Kasperliaden Marinellis, die zwar nichts Anstößiges, aber auch keinen erzieherischen Wert haben. Damit liegt der Schluss nahe, dass an dieser Bühne leichte Kost,
aufgrund des behördlichen Diktates manchmal mit moralischem Beigeschmack,
hauptsächlich aber unterhaltendes Spektakel, das sich gut verkaufen ließ, geboten
wurde. Die moralischen Sentenzen der Kasperl-Stücke als Anlass für die Ortung des
Theaters im Bereich des Bildungstheaters zu nehmen, führt zu weit, wie oben bereits
erwähnt, ist dieses Medium bedingt durch die Bestrebungen der Pädagogisierung
42 Joachim Perinet: Kasperl’s neu errichtetes Kaffeehaus, oder der Hausteufel. Eine komische
Oper in drey Aufzügen, nach einem Manuskripte für die k. k. privil. Schaubühne in der
Leopoldstadt frey bearbeitet. Wien: Schmidt 1803. Hrsg. von Jennyfer Großauer-Zöbinger.
In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/perinet_kaffeehaus.html [Stand 2009].
43 Der Fagottist, oder: die Zauberzither. Ein Singspiel in drey Aufzügen kam von 1791–1819
an die 129-mal zur Aufführung, Pizichi, oder: Fortsetzung, des Fagottisten. Ein Singspiel
in drey Aufzügen erlebte von 1792–1795 47 Aufführungen. Vgl. Franz Hadamowsky: Das
Theater in der Wiener Leopoldstadt 1781–1860. Bibliotheks- und Archivbestände in der
Theatersammlung der Nationalbibliothek Wien. Mit der Einleitung: Die Theatersammlung
der Nationalbibliothek in den Jahren 1922–1932 von Joseph Gregor. Wien: Höfels 1934.
(= Katalog der Theatersammlung der Nationalbibliothek in Wien. 3.) S. 133 und S. 227.
22
Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
und Normierung als Ausläufer oder entfernter Verwandter des Bildungstheaters zu
klassifizieren: eben als punktuell meinungs- und verhaltensbildendes Theater.
Ein Spielplan unter Aufsicht
Die Überwachung des Spielplans erfolgte in Bezug auf die verschriftlichen Komödientexte gänzlich, in Bezug auf deren dramaturgische Umsetzung auf der Bühne
bedingt. Grundsätzlich waren die für die Aufführung bestimmten Theaterstücke
vor der geplanten Premiere der Bücherzensur-Hofbehörde zur Kontrolle zu übergeben. Dem Usus folgend, hatten die Verantwortlichen stets zwei gleichlautende Abschriften einzureichen, wovon nach der Durchsicht eine, versehen mit Unterschrift
und Zensurpass, wieder an den Einreichenden zurückgegeben wurde, die zweite
aber, um nachträglicher Verfälschung vorzubauen, als Beleg für Vergleichszwecke
beim Zensor selbst verblieb. Als offizielle Affichen unterlagen Theaterzettel ebenso
wie althergebrachte Stücke mit Aufführungspraxis der (neuerlichen) Begutachtung
durch die Zensurbehörde.44 Von dieser Praxis künden heute noch die oft direkt an
die Texte angeschlossenen handschriftlichen Zensurvermerke in diversen Druckund Handschriften.
Exemplarisch für Vermerke in Druckschriften sei etwa ein Sammelband45 angeführt,
der sechs mit mehr oder weniger vielen Streichungen versehene Stücke verschiedener
Autoren enthält. Abgesehen von den handschriftlichen Einträgen auf dem Titelblatt
zu Eberls Kasperl’ der Mandolettikrämer (diese lauten: „Zum Soufflieren“ und in der
Mitte ist „Karl Marinelli“ zu lesen) und dem Titelblatt zu Keinen Schwiegersohn ohne
Amt (ganz oben „Leopoldstadt“, in der Mitte mit roter Tinte „Zum Soufflieren“ und
weiter unten „Zur Vorstellung“) sind v. a. die handschriftlichen Zensurpässe am
Ende der anonymen Stücke Keinen Schwiegersohn ohne Amt. Ein Lustspiel in einem
Aufzug nach dem Französischen: Il lui faut un Etat (1801) und Armuth, um Liebe. Ein
Schauspiel in drey Aufzügen (1787). Am Ende der ersten Druckschrift sind neben
Marinellis Unterschrift die Worte „Bittet um baldige Beförderung“, daneben „Kann
nach den Correcturen des […]“ und „Wird mit Correcturen zur Vorstellung paßirt“
vermerkt, im Falle der zweiten Druckschrift findet sich „Wird mit correcturen paßiert. Hägelin“, was Marinelli wiederum mit seinem Namen abzeichnete.
44 Vgl. Glossy, Zur Geschichte der Wiener Theaterzensur, S. 260.
45 Besagter Band findet sich in der Theatersammlung der Nationalbibliothek (ÖNBTH Sig. 621749 A.Adl.4).
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Abbildung 2: Zensurpass am Ende von Armuth, um Liebe. Ein Schauspiel in drey Aufzügen
(1787)
Etwas häufiger finden sich Zensurvermerke auf Handschriften, so etwa am Ende
der anonymen Kasperliade (als deren Urheber wohl auch Marinelli vermutet werden
darf46) Weiber List oder die verliebten Kaufmanns Diener („wird paßirt. Hägelin“)
oder im Anschluss an Marinellis Dom Juan oder Der steinerne Gast („wird mit correcturen paßirt. Hägelin“):
46 [Karl von Marinelli:] Weiber List oder die verliebten Kaufmanns Diener und die schöne
Saiffensieder, und Lebzelters Tochter wobey Kasperle einen lustigen Trager, verstellten Soldaten furchtsame Garten Statue und verliebten Kutscher spielt. [Ms]. Ediert in: GroßauerZöbinger, Karl von Marinelli [im Entstehen].
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
Abbildung 3: Letzte Seite der Handschrift Weiber List oder die verliebten Kaufmanns Diener
mit Zensurvermerk
Der bei den schriftlich fixierten Dramentexten als streng zu bezeichnenden Informationskontrolle ist eine weniger rigorose Kontrolle der Spielpraxis gegenüberzustellen. Obwohl spätestens ab 179347 während den Aufführungen Kontrollorgane
(Theaterpolizei) anwesend waren, gelang es La Roche doch, die eine oder andere
Bemerkung über das Stadtgeschehen fallen zu lassen, bzw. über den vorgeschriebenen Text hinweg sehend zu improvisieren.
„Nun war auch die Zeit des Lustigmachers wieder gekommen und mit ihm
auch die alte Freiheit des Hanswurst, der unter veränderten Namen des Kasperl
es wieder wagen durfte, sich über alle Censurvorschriften rücksichtslos hinwegzusetzen und selbst politische Tagesfragen in den Kreis seiner Spässe zu ziehen.
Es ist gewiß bezeichnend, daß in einer Zeit, in der mit Aengstlichkeit jede
Bemerkung über die Staatsverfassung verhütet wurde, Kasperl sein Publicum
durch folgende Anrede erheitern durfte: ,I will a allgemeine große Constitution
geben. Die Gewalten will i hübsch fein und klug arrangiren; die ausübende
b’halt i für mich selbst, die befehlende is a no mein, die unterlassende aber
bleibt, wies recht is beim Volk, das soll sich erlustigen und schnabuliren, im
Prater Backhändel essen und sei Seitel dazu trinken – wann’s a Geld hat und
zahlen kann.‘“48
47 Vgl. Tanzer, Spectacle müssen seyn, S. 165.
48 Glossy, Zur Geschichte der Wiener Theaterzensur, S. 292.
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Dass La Roche zuweilen extemporiert haben dürfte, legt u. a. das von der Verfasserin edierte Textbuch Caro, oder: Megärens zweyter Theil nahe, eine Druckschrift
mit Spuren von spielbegleitenden Ergänzungen, wie sie auch in Soufflier-Büchern
(handschriftliche Einschübe, Streichungen und Hervorhebungen, die das Mitlesen
erleichtern) oder in von der Zensur redigierten Druckschriften (Adaptionsvorschläge, Streichung der als anstößig empfundenen Textstellen etc.) zu finden sind.
Interessant erscheint an der Druckschrift v. a. der handschriftliche Eintrag „Riepel
Extempore“49, demzufolge La Roche, hier dem Personenverzeichnis nach in der Rolle des Hausknechts Riepel, an besagter Stelle eine spontane, im wahrsten Sinne des
Wortes nicht vorgeschriebene Einlage (welcher Art auch immer) darzubieten hatte.
Neben La Roche (Riepel) hatte auch der Darsteller der Figur des Nigewitz (das Personenverzeichnis nennt Johann Sartory als diesen) zu extemporieren50, eine Gepflogenheit, die anwesenden Ordnungshütern gegenüber einer Verhöhnung gleichkam
und zu deren endgültiger Eindämmung am 19. November 1801 schließlich folgender Erlass von der Hofbehörde erging:
„Da es mehrmals vorgekommen sei, daß die Schauspieler in den drei Vorstadttheatern die Theaterstücke nicht genau so vortragen, wie solche die Zensurbewilligung erhalten haben, sondern vielmehr jene Stellen, welche abgeändert
oder durchgestrichen worden sind, beibehalten, nebstdem aber auch mit zweideutigen und sittenwidrigen Zusätzen vermehren, wird die Polizeioberdirektion
beauftragt, den Unternehmern der Vorstadttheater zu bedeuten, daß derjenige
Schauspieler, welcher sich beikommen lasse, von dem wörtlichen Inhalt des zensurierten Theaterstückes abzugehen, ohneweiters, und zwar gleich beim ersten
Betreten, mit einem achttägigen Polizeihausarrest bestraft werden würde.“51
Allerdings wurden schon vor dem Jahr 1801 Zensurvergehen bestraft. Marinelli war
davon 1789 anlässlich der Aufführung von Eberls Das listige Stubenmädchen oder
Der Betrug von hinten52 betroffen. Obwohl der Komödientext die Zensur passierte,
hatte der Direktor des Leopoldstädter Theaters, Marinelli, wegen einer Spontanauslegung desselbigen – man extemporierte die Bestechung eines Beichtvaters, ein nicht
49 Vgl. Joachim Perinet: Caro, oder: Megärens zweyter Theil. Wien: Schmidt 1795, S. 47.
Hrsg. von Jennyfer Großauer-Zöbinger. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://
lithes.uni-graz.at/maezene/perinet_maegere_2.html [Stand 2009].
50 Vgl. ebenda, S. 43.
51 Glossy, Zur Geschichte der Theater Wiens, S. 4.
52 [Ferdinand Eberl:] Das listige Stubenmädchen oder Der Betrug von hinten. Ein OriginalLustspiel in drey Aufzügen. Wien: [o. V.] 1784 (ÖNB-Aug Sig. 392620-A 250).
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
unbedeutender Verstoß „wider die Religion“53 – 12 Dukaten Strafe zu bezahlen.54
Im Jahre 1800 diktierte die Behörde schließlich Heroine, oder Die schöne Griechin
in Alexandria. Ein militärisches Schauspiel mit Gesang in drey Aufzügen abzusetzen55,
nachdem es schon sechs Mal gegeben worden war, was ebenfalls auf ein ExtemporeVergehen zurückgegangen sein dürfte (denn wäre das Textbuch anstößig gewesen,
hätte man es erst gar nicht passieren lassen).
Das Diktat der Verschriftlichung traf auf alle für die Aufführung bestimmten Spieltexte zu. Als dessen unmittelbare Folge sind in Bezug auf das Repertoire La Roches
zwei, am Rande zu erwähnende (Neben-)Effekte der Zensurpraxis feststell-bar: erstens die Verschriftlichung der Komödien und damit ihre Konservierung für die
Nachwelt56 – eine für die Erforschung des Metiers dienliche Hilfestellung –, und
zweitens die damit kausal zusammenhängende Verfälschung des Quellenmaterials
aufgrund von Informationskontrolle und einem eng definierten Index des Darstellbaren (nichts wider Religion, Staat und Sitten), als deren unmittelbare Auswirkung
sich in Bezug auf Kasperls Komik ein verzerrtes Bild ergibt.
Primär ist die Zensur für „die Literarisierung und damit das Überleben der Altwiener Komödie“57 mitverantwortlich, was im weitersten Sinn als wesentliches, wenn
auch nicht beabsichtigtes Verdienst zu werten ist. Es ist nur schwer zu erahnen, wie
schlecht die Quellenlage für La Roches Spieltexte wäre, wären die Theaterreformer
nicht gegen das Stegreifspiel mit der Verschriftlichung der Texte für die Zensurbehörde vorgegangen.
Die staatliche Kontrolle der Textbücher zu den Kasperliaden diente zwar ihrer Erhaltung, stellt für die heutige Komikforschung aber eine nicht weniger als fatal zu
nennende Beeinträchtigung dar. So scheint es legitim, die noch zu dokumentierende
„Fadheit“ der Kasperl-Figur, die mit an Naivität grenzenden, mehr lieblich-verklärt
als zotig zu nennenden Charakterzügen ausgestattet ist, das Fehlen der Komik
(harmlose Sprachkomik und mäßige Situationskomik, die vom lesenden Rezipienten nicht mehr nachzuvollziehen ist, einmal ausgenommen) in etwas weniger als
zwei Drittel des Textkorpus der Zensur zuzuschreiben und wenn nicht ihr, dann
53 Vgl. für Details dazu: Glossy, Zur Geschichte der Wiener Theaterzensur, S. 307–310.
54 „Der Verfasser dieses Stückes ist der bekannte Eberl, der nämliche, in dessen Stücke, ,Das
listige Stubenmädchen‘ betitel, auf dem Marinellischen Theater ein Präsent für den Beichtvater extemporiert wurde und dem Marinelli zwölf Dukaten kostete“. Ebenda, S. 34–35
und S. 282.
55 Vgl. Wenzel Müller: Tagebuch. Übertragen aus der Handschrift der Wiener Stadt- und
Landesbibliothek von Girid und Walter Schlögl. Bd. 1. Wien: [Typoskript i. d. Wienbibliothek] [o. J.], S. 217.
56 Vgl. Haider-Pregler, Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 347.
57 Ebenda, S. 347.
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LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
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zumindest den ihr vorausgegangenen pädagogisch motivierten Reformen, die die
Zivilisierung58 der Lustigen Figur nach sich ziehen. So stellen sich bei der Lektüre
der Texte die Erwartungen, die man nach der Lektüre der Sekundärliteratur an
den vielgepriesenen Kasperl stellt, nicht ein – augenscheinlich existiert eine nicht
zu überwindende Diskrepanz zwischen dem von Zeitzeugen als überaus lustig beschrieben Spiel La Roches und dem farblosen, unwitzigen, in Nebenrollen agierenden Charakter der Dramentexte, die schon Friedrich Schlögl bemerkte:
„Da machten gleich in den nächsten Jahren zwei Perinet’sche Possen Furore,
deren Werth uns hochgebildeten Epigonen ein veritables Räthsel, deren ,Witze‘, wenn wir in den Textbüchern geneigtest blättern, uns nur ein mitleidiges Lächeln entlocken, obwohl es historisch verbürgt ist, daß sich unsere geehrten Ahnen dabei ,halbtodt‘ lachten. Ich meine das am 10. October 1793
zum erstenmale gegebene ,Neusonntagskind‘ und die am 11. März 1794 erschienen ,Schwestern von Prag‘, Stücke, die wirklich ,ganz Wien‘ sehen mußte und auch sah, und von deren hinreißender Wirkung noch in den Zwanziger-Jahren mir geistig achtbare Männer leuchtenden Auges erzählten.“59
Möchte man alleine den Zensurerlass verantwortlich machen, liegt der Schluss
nahe, dass die Autoren die Kasperl-Passagen von vorneherein harmloser anlegten,
ihre Texte also schon vor der Zensur selbst zensierten, sodass der Kasperl-Charakter
erst im Moment der Verkörperung durch den Schauspieler La Roche auf der Bühne an Drolligkeit und Komik gewannen, womit alle Komik am Typus des Schauspielers60 und der Umsetzung auf der Bühne gehaftet hätte. Für die Annahme der
körperzentrierten Komik spricht die Anwesenheit nicht deutschsprachigen bzw. mit
dem Wiener Dialekt wenig vertrauten Publikums61 in den Kasperl-Komödien, die
den lustigen Protagonisten nicht verstanden, ihn aber dennoch als amüsant empfanden. Eine durch den Körper bzw. die Verkörperung bedingte Komik lässt den
58 Vgl. Müller-Kampel, Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 187.
59 Zu beachten gilt hierbei, dass das Neusonntagskind kein ausgewiesenes Kasperl-Stück ist.
Friedrich Schlögl: Vom Wiener Volkstheater. Erinnerungen und Aufzeichnungen. Wien
und Teschen: Prochaska 1883, S. 36.
60 „Laroche (Kasperl) war ein gedrungener Mann, mittlerer Statur, mit lebhaften Augen und
stark markierten Zügen. Alle seine Bewegungen waren eckig und wurden eben dadurch
lächerlich. Sein Dialekt war der gemeine Wiener Dialekt, nur sprach er mehr breit als flüssig und hing oft an einzelne Worte, besonders an das Wort Er, ein a an, worüber man stets
lachte. […] Ich möchte Laroche die personifizierte populäre Komik nennen […]“ Ignaz
Franz Castelli: Memoiren meines Lebens. Gefundenes und Erfundenes. Erlebtes und Erstrebtes. Mit einer Einleitung und Anmerkungen neu herausgegeben von Josef Bindtner.
Bd. 1. München: Müller [o. J.]. (= Denkwürdigkeiten aus Alt-Österreich. 9.) S. 259–262.
61������������������������������������������������������������������������������������
Exemplarisch seien genannt: Der Napoleon-Bezwinger Lord Horatio Nelson und seine Mätresse Lady Emma Hamilton, ein nicht namentlich erwähnter türkischer Botschafter [d. i.
vermutlich Ismail Efendi], Herzog Ludwig I., Ferdinand Philipp von Parma (1773–1803),
1801–1803 Großherzog der Toskana, Ferdinand I. (1751–1825), 1759–1806 König von
Neapel und Friedrich Wilhelm Karl Prinz von Preußen (1783–1851). Vgl. der Reihe nach:
Müller, Tagebuch, S. 219–220, S. 183, S. 222–238, S. 101, S. 229, S. 269.
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
geschriebenen wie gesprochenen Witz hinlänglich werden und „d’gnädigen Herrn
und Fraun lachen […], bevor“ der Kasperl „’s Maul aufmacht“62.
Abgesehen davon lassen sich die Berichte über La Roches komische Darbietungen
und den enormen Zulauf63 angesichts der komikarmen Textbücher noch damit erklären, dass der Schauspieler, wie bereits zuvor angesprochen, von der zensierten
Textgrundlage zuweilen abwich, sozusagen ein Schlupfloch64 fand, die Behörde zu
umgehen (den einen oder anderen Bezug auf das aktuelle Tagesgeschehen65 einbrachte, oder ernsthafte Szenen sarkastisch interpretierte bzw. parodierte, wogegen
die Zensur der Texte nichts ausrichten konnte).
Es darf darüber spekuliert werden, ob die Zensur direkt für den Verlust der Komik
in den schriftlichen Spieltexten verantwortlich ist, oder ob die untersuchten Dramen einfach als Lesedramen nicht taugten und erst während der Umsetzung auf der
Bühne an Witz gewannen. Fest steht, dass der heutigen Forschung nur diese durch
die Zensur verzerrten „Schriften“ zur Verfügung stehen, um das Spiel und Komik
La Roches zu fassen. Hingegen wird La Roches Darbietungskunst, der Zeitzeugen
Komik im höchsten Maße zusprechen, in der von der Textgrundlage gelösten Form
wohl nie mehr vollständig rekonstruiert werden können.
Kasperls Sozialisierung
Ganz in der Tradition des Wiener Spaßtheaters setzte auch das Leopoldstädter Theater bei der Unterhaltung des Publikums auf einen lustigen Zentraltypus – den
Kasperl. Eine Folgeerscheinungen der Zensur ist die erzwungene Sozialisierung dieses Typus durch die Abtrennung der verpönten Charakterattribute der HanswurstFigur und die daraus resultierende Entwicklung eines zahmen, wenig anstößigen
Volkstypus, dem die Unkeuschheit, die derbe Sprache, die Ferkeleien, die Kopulationsobsessionen und der obszöne Witz der Sexual- und Fäkalkomik abhanden
gekommen sind. Damit wurde die Kasperl-Figur den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gemäß auf eine Schattenexistenz des Hanswurst – von dem nur mehr die
Ess-, Sauf- und Prügellust in abgeschwächter Form, nicht aber mehr Häme, Arglist
62��������������������������������������������������������������������������������������
Eugen von Pannel: Josef Richter. Die Eipeldauer Briefe 1785–1797. In Auswahl herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen. Bd. 1. München: Müller 1917, S. 49.
63 „Johann Laroche (der ,Magnet‘ der Truppe […])“. Schlögl, Vom Wiener Volkstheater,
S. 35.
64 In der Wiener Theater-Zeitung vom 3. Oktober 1807 findet sich eine Anspielung auf die Art
und Weise, wie La Roche improvisierte, ohne die Zensur zu verstimmen: „[…] und wenn
er gleich manchmal einen witzigen Gedanken zu sagen hatte, so benahm er sich immer so,
als wenn er ihm entschlüpft sey, wie durch einen Zufall, wie auch manchmal eine blinde
Henne ein Weitzenkörnchen findet; es lag in seinem ganzen Spiel mehr Kunst als in irgend
seinen Nachfolger zusammen lag.“ Theater-Zeitung, Wien, Nr. 14 vom 3. Oktober 1807,
S. 30.
65 Vgl. Glossy, Zur Geschichte der Wiener Theaterzensur, S. 292.
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LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
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und Bösartigkeit ererbt wurden – zurechtgestutzt, was die Soziabilität des Kasperl
im Prozess des sozialpolitischen und mentalitätsgeschichtlichen Wandels erhöhte.
Ganz allgemein ist der lustige Zentraltypus nur in den beiden ältesten der edierten
Texte „lustig“. In Die Liebesgeschichte in Hirschau (1780) und Der Spaziergang im
Brader (1770) ist die Figur des Kasperl noch präsent und Garant für Lacher. In
ersterem wird die klassische „Liebesgeschichte“ der Commedia dell’arte erzählt: Ein
närrisch verliebter, geiziger, argwöhnischer Pantalone (hier Kilian) umwirbt ein viel
jüngeres Weibsbild (Bonaventura), für das die Avancen des alten Zieraffen wenig attraktiv sind, weshalb sie sofort beginnt, sich nach einer besseren Partie umzusehen.
Es dauert auch nicht lange, findet sich ein junger Liebhaber ganz im Stile Anselmos
bzw. Octavios (hier der Leutnant Denckner), der, unterstützt von Colombine (Bonaventuras Magd Margereth) und den beiden harlekinischen Dienern (Kaspar und
Jackel), den Alten narren, sodass dieser, weichgekocht von den zahlreichen Streichen, Beleidigungen, Betrügereien und Farcen am Ende gerne auf das Mädchen verzichtet und dem jungen Glück kein alter Geck mehr im Wege steht. (Eine Auswahl:
Kaspar klebt ihm einen verpappten Brief ins Gesicht66, er übergießt den Alten mit
Löschwasser67, bindet ihn und schoppt ihn mit Brei68 – eben der klassische Kasperl
in seinem Metier.)
Kaspar tritt als gewitzter Scherenschleifer auf, der sich, einem Zuverdienst nicht
abgeneigt (das leibliche Wohl steht wie immer bei dieser Figur über allem anderen),
aber bald in Diensten des Leutnant Denckners begibt und als dessen Diener gemeinsam mit der zweiten Lustigen Figur, Jackel, bereitwillig als Brieferlträger, Unterhändler, Brautwerber, Mann fürs Grobe und Tunichtgut bzw. summa summarum
als Adjutanten in Liebesdingen und Gegenspieler des (zu prellenden) Alten agiert.
Die Handlung, die voller Aktion, Lebhaftigkeit, Schwung und Witz ist, wird v. a.
durch die meist vom Kaspar initiierten Missverständnisse, Foppereien, Verwechslungen und Verkleidungen vorangetrieben. Kaspar bleibt nicht Kaspar – stattdessen
absolviert die Figur nicht weniger als fünf komikstiftende Maskeraden: Einmal ist
Kasperl unruhestiftender, stets prügelbereiter Rauchfangkehrer (Hanswurst lässt
grüßen), wird kurz darauf zum edlen Herrn von Schweinburg, dessen höchstkomisches Charakteristikum, sich sogar in den primärsten Dingen von seinem Diener
(Jackel) zur Hand gehen zu lassen („schneuz mich“), nicht wenig vergnügt (körperzentrierte Komik), brilliert danach in der Paraderolle des Kleinkindes, dem man die
66 Vgl. [Karl von Marinelli:] Die Liebesgeschichte in Hirschau, oder Kasperle in sechserley
Gestalten ein Lustspiel in drey Aufzügen. [Wien, den 10ten Jänner 1780] [Ms.], [3v], S. 10.
Hrsg. von Jennyfer Großauer-Zöbinger. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://
lithes.uni-graz.at/maezene/marinelli_liebesgeschichte.html [Stand 2009].
67 Vgl. ebenda, [4v], S. 13.
68 Vgl. ebenda, [10 v], S. 29.
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
33 Jahre69 durchaus ansieht (Infantilitätskomik), mimt darüber hinaus noch einen
Tambour, eine Allegorie des Winters und sein Alter Ego, den Scherenschleifer.
Schmunzeln kann man über diese Kasperl-Figur auch noch in den Stücken Perinets und hier v. a. in den Hafnerbearbeitungen70, wo sie noch mit den typischen
Attributen Hanswursts, wenn auch abgeschwächt, ausgestattet ist. Bis auf wenige
Ausnahmen71 ist die Komik des lustigen Protagonisten in Eberls, Henslers und Hubers Stücken bestenfalls als lau, wenn nicht als gänzlich verebbt zu bezeichnen. So
findet sich in acht der 30 Komödien ein fader Kasperl ohne Tücke, Esprit und Witz,
der einfach Teil des Textbuches, aber bestimmt nicht Träger der Handlung ist. Der
zahme Charakter nimmt nur mehr Anleihen am komischen Volkstypus, steht den
darauf angewiesenen Herrschaften manchmal noch in Liebesdingen zur Seite (er
ist Überbringer von Billets und Regisseur diverser Rendezvous), ist selbst verliebt,
aber nie ein frivoler Schürzenjäger, oft auch verheiratet und damit gänzlich um das
Ausleben seiner sexuellen Triebe gebracht. Gerne verdreht er die Wahrheit, ohne
jemandem ernsthaft zu schaden, inszeniert, wenn überhaupt, dann harmlose Verwechslungen. In gemäßigter Weise ist er auch eifersüchtig und streitlustig (droht wie
schon Hanswurst mit dem spanischen Rohr), am Ende aber selbst der Geprellte, der
wie im Mandolettikrämer, ohne es zu ahnen, alle Vorbereitung trifft72, sein eigenes
Weib zu verkuppeln.
In besagten Stücken steht die Figur auf einem unschädlichen Außenposten, hat nur
wenige Auftritte und verübt keine „schlimmen“ Lazzi (zumindest nicht im fixierten
Text). Sie ist farblos, ihr Witz auf wenige Szenen beschränkt, sodass der Schluss
nahe liegt, die Kasperl-Figur sei nur alibihalber, aus Gründen der Promotion, in die
Handlung integriert. Lustige Szenen, Faxen, Verwechslungen – nahezu alle Dinge,
die den Kasperl ausmachen – werden ausgespart. Ein Gähnen entlocken auch jene,
bestenfalls von netten Witzchen getragene Rollen, die den Kasperl entweder auf
einen gutmütigen, redlichen Bürger oder einen alten, ärmlichen Gesellen reduzieren, wobei v. a. die Kasperl-Figuren mit dem Attribut „alt“ auf jegliche ungestüme
Komik, Zoten und Lazzi verzichten. Damit stellt sich unter Bezugnahme auf das
Textkorpus dasselbe Ergebnis ein, welches Müller-Kampel schon in ihrem Über69�������������������������������������������������������������������������������������������
Auf die Frage Kilians, wie alt er denn sei, antwortet der Kindskopf Kaspar „drey, und dreyßig Jahr“. Ebenda, [10r], S. 28.
70 Caro, oder: Megärens zweyter Theil, Die Schwestern von Prag, Das lustige Beylager und Megera. Erster Theil. Auch Perinets Zauberoper Baron Baarfuß, oder der Wechselthaler birgt
einiges an Komik.
71 Eberls Der Tode und seine Hausfreunde sowie Die Perüken in Konstantinopel; Henslers Volksmärchen Der unruhige Wanderer (beide Teile) und deren Bearbeitung durch Leopold Huber
Der eiserne Mann (beide Teile).
Zur Umsetzung kommt es nie und gescholten wird Kasperl auch dafür. Ohne die morali72�����������������������������������������������������������������������������������
sche Komponente und dem Aufzeigen des Irrweges hätte das Stück die Zensur wohl nicht
passiert. Vgl. „Gebrechen des Stoffes in Absicht auf die Sitten“ In: Glossy, Zur Geschichte
der Wiener Theaterzensur, S. 317–320.
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LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
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blickswerk zum Spaßtheater im 18. Jahrhundert für die Entwicklung der Lustigen
Figur und im speziellen der Kasperl-Figur auftut:
„Zensur und Geschmack […] drängten die Lustigen Figuren in die Rollen
ehrlicher, kindlich froher Domestikengestalten und paralysierten ihre groteske Leiblichkeitskomik ganz entscheidend. Im Vergleich mit Stranitzkys Hanswurst und Kurz’ Bernadon entdämonisiert, entzaubert und verharmlost, spielte
der Kasperl zuletzt nur noch Nebenrollen.“73
Zur „Versittlichung“74 des Kasperls passt auch, dass die Figur v. a. in den Produktionen von Ferdinand Eberl und Karl Friedrich Hensler nicht mehr ausschließlich, wie
noch sein Ahnherr Hanswurst, an die losgelöste Dienerrolle ohne sozialen Hintergrund gebunden ist. Als Träger bürgerlicher Moral und häuslicher Tugenden erfährt
der Kasperl eine Verankerung in den unterschiedlichsten Berufsständen, womit die
Lustige Figur in das in den Stücken gespiegelte gesellschaftliche Leben eingebunden
wird (sie hat Familie, eine berufliche und private Existenz etc.). Die Dienerfigur aus
ihrer isolierten Funktion zu holen und mit bürgerlichen Pflichten zu belegen, muss
ebenso Begleiterscheinung der Zensur sein, die keinen Lustigmacher dulden wollte,
der keiner Moral verpflichtet ist, ausschweifende Liebschaften beginnt, ständig hinter jedem Rock her ist, keine Rechenschaft für dieses Verhalten ablegen muss und
dem Publikum ein für die Vorbildwirkung fatales, lasterhaftes Leben präsentiert.
Somit wundert es nicht, dass in den ausgewählten Texten der Kasperl, wenn er noch
Diener ist, zumeist eine naive Verliebtheit an den Tag legt, die nie körperlich wird.
Oder er mimt einen Bürger mit Beruf, lebt folglich mit seiner Partnerin (das lustige
weibliche Gegenüber in der Tradition der Colombine) durch das Sakrament der
Ehe75 verbunden, in gesitteten Verhältnissen zusammen. Mit der Zuordnung des Familienstandes, der Reduktion der Lustigen Figur auf Ehemann und naiven Liebhaber werden die Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Der Verlust verschiedener
althergebrachter Facetten der Komik ist logische Begleiterscheinung dieses Zurechtstutzens, als dessen Folge die Kasperl-Figur ausgesprochen lieblich, aber nicht im
Entferntesten umtriebig erscheint.
Wie heterogen das literarisch-theatrale Feld in den 1780er Jahren infolge der Geschmacksdebatten, die seit den 1750er Jahren andauerten und Publikum wie Pro-
73 Müller-Kampel, Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 187.
74 Ebenda, S. 187.
75 Verheiratet ist der Kasperl in Kasperl’ der Mandolettikrämer, oder: Jedes bleib bey seiner Portion, Der Tode und seine Hausfreunde, Die Limonadehütte, Alles weis, nichts schwarz, oder
der Trauerschmaus, Der Schornsteinfeger, Männerschwäche und ihre Folgen; oder Die Krida,
Der Großvater, oder Die 50 jährige Hochzeitfeyer, Die Marionettenbude, oder der Jahrmarkt
zu Grünwald, Kasper Grünzinger, Der Glückshafen, Der eifersüchtige Schuster, Kasperl’s neu
errichtetes Kaffeehaus, oder der Hausteufel und damit in 12 von 30 untersuchten Stücken.
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
duzenten spalteten, zeigen die in diversen Flugschriften76 und Theaterzeitschriften77
ausgetragenen Diskussionen um die Bühnenberechtigung des Kasperl78, der die Zeitgenossen nicht minder polarisierte, wie es einst der Hanswurst getan hatte. Auch die
Frage, ob das auf der Leopoldstädter Bühne Gebotene den Diktaten der Zensur entspreche, beschäftigte die differenzierte Öffentlichkeit – kritische Stimmen gegen die
Bühnenleitung und Spielplanbeschaffenheit, die nicht immer frei von Befangenheit
und Kalkül waren, wurden laut. Zum Beispiel ist der in manchen schmähenden Rezensionen getätigte Vorwurf, die Bühne und die spielenden Protagonisten verstoßen
gegen Sitten, Religion und die Vorgaben des Staates, nicht mehr als der Versuch, ein
auf Subjektivität beruhendes Geschmacksurteil bzw. Geschmacksdiktat durch die
Berufung auf ein Zensur-Delikt zu legitimieren:
„So auch im Gegentheile: wo eine ähnliche Sorgfalt für die Sittenverbesserung
eines Volkes von dem Staate nicht nur vernachlässigt wird; sondern, wo der
Staat, ohne es zu ahnden, zusieht: wie ein Marinelli aufgeblasen und kühn, wie
ein kalekutischer Hahn wieder [!] alle Sitten und Religion selbst zu Felde zieht,
und noch manch anderen Unfug treibt – wo der Staat also so wenig aufmerksam auf die Unterhaltung seines Volkes ist; da muß freilich auch der Pöbel bei
den sittenwidrigen Lustspielen eines Marinelli nicht nur gleichgültig bleiben,
und Schauspieler und Dichter nicht beim Schopf nehmen; sondern an diesen
Vorstellungen endlich gar Gefallen finden, und dadurch jedes Gefühl von Sittlichkeit ersticken. – Aber, wird man sagen, der Staat hat ja eine Censur, und
Polizeikommission festgesetzt, die über dergleichen Unordnungen wachen sollen? Ohne zu untersuchen, wie weit sich die Gesetze der ersten erstrecken, und
76 Kasperl das Insekt unseres Zeitalters. Nebst einer Wahrnung [!] an seine Gönner. Wien:
[o. V.] 1781. In: In: Gustav Gugitz: Der Weiland Kasperl (Johann La Roche). Ein Beitrag zur Theater- und Sitten-geschichte Alt-Wiens. Wien, Prag und Leipzig: Strache 1920,
S. 75–82. Etwas für Kasperls Gönner. Wien: Hartl 1781. In: Ebenda, S. 83–98. Kurze Antwort auf die beiden Schmähschriften. I. Kasperl, das Insekt unseres Zeitalters. II. Etwas für
Kasperls Gönner. Wien: [o. V.] 1781. In: Ebenda, S. 99–107. Bitte an die Damen Wiens das
Leopoldstädter Theater betreffend. Wien: [o. V.] 1789. Antwort auf die unverschämte Kritik
über die Leopoldstädter Cosa Rara. Wien: [o. V.] 1787. Ferdinand Eberl: Abgedrungene
Antwort auf das im zweiten Vierteljahre des kritischen Theater-Journals erschienene sechste
Stück, Wien: [o. V.] 1789.
77 Kritisches Theaterjournal von Wien. Eine Wochenschrift. Wien: Ludwig 1788/89, Johann
Friedrich Schink: Dramaturgische Fragmente. 4 Bände. Graz: [o. V.] 1781–1784, Johann
Friedrich Schink: Dramaturgische Monate. Bd. 1. Schwerin: Bödner 1790, Johann Friedrich von Schink: Dramatische und andere Skizzen nebst Briefen über das Theaterwesen zu
Wien. Wien: Sonnleithner 1783.
Der lustige Protagonist würde nur die „dümmsten Einfälle“ auf die Bühne bringen, „ab78�������������������������������������������������������������������������������������
gedroschen“ spielen (was ja nicht ganz von der Hand zu weisen ist), dass man wegen der
Plumpheit (alles drehe sich nur um die eine Szene, in der Kasperl seinen Herrn „tüchtig
herumkarwatscht“) „Gefahr läuft, Kopfweh zu bekommen“, summa summarum sei er kein
sittlicher Charakter und ein schlechtes moralisches Vorbild für das Wiener Publikum – lauteten einige Vorwürfe der Kritiker. Nachzulesen in: Etwas für Kasperls Gönner, S. 86–97.
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die Wachsamkeit der letzeren in Thätigkeit ist; treibt Hr. Marinelli der strengen
Censur, und der wachsamen Polizey ungeachtet, sein Spielwerk immer fort;
beschmutzt die Sitten, hämt der Religion – (des guten Geschmacks nicht zu
gedenken) – und schlägt unterm Hüttchen sein Schnüppchen.“79
Diese Zeilen beziehen sich auf Eberls Lustspiel Das listige Stubenmädchen oder Der
Betrug von hinten80, das in erster Instanz von der Zensurbehörde genehmigt wurde, der Theaterleitung des Leopoldstädter Theaters, nachdem „ein Präsent für den
Beichtvater extemporiert“81 worden war (was nahelegt, dass die Textvorlage nicht
das Anstößige war), eine Geldstrafe einbrachte, als deren Konsequenz man das
Stück absetzte. Dass hinter den kritischen Worten dieser Rezension zu einem Gutteil ein übersteigertes Geschmacksurteil und – von dem unglücklichen Extempore
einmal abgesehen – weniger ein Zuwiderhandeln gegen die Auflagen der Zensur
steckte, zeigt die in Form einer Flugschrift zur Rechtfertigung dargebrachte Antwort Eberls – hier dargeboten in Auszügen:
„Da aber diese Homunculi – als Meister ihres Gewerbes weislich vermutheten – daß Alle-Tags-Rezensenten Schimpf – nicht ganz mehr seine gewünschte
Wirkung thun möchte; – so griffen sie die Sache gar fein an, – Sie traten als
Schutzredner der geheiligten Religion und ihrer ehrwürdigen Priesterschaft
auf; […] so möchte ich doch auch an diese Herrn die doch wenigstens halb so
gelehrt, als fromm seyn müssen, einige Fragen über ihre Kenntnisse stellen, –
nach denen Sie Ihr Urtheil zu bestimmen wissen werden; – und ich will es sogar
mit deiner Erlaubniß – Publikum – in deinem Namen fodern: – denn da diese
Herrn sich zu dem richterlichen Amte aufwerfen, von dem sie uns auf ihren
Dreyfuß die Patente ausfertigen wollen, was dir gefallen darf, oder nicht – was
du beklatschen – oder auspfeiffen – belachen – oder bestürmen sollst, da Sie
das alles mit so grauem Ernste, und Weisheittriefender Miene herab kreischen;
[…] Die Grundsätze dieser Herrn nach welchen Sie Stücke beurtheilen – kann
ich nicht entziffern – […] so erklären Sie mir aber genau, bestimmt ohne kindlichen Wortspielen, was ist der gute Geschmack? […] Kennen Sie den Begrif [!]
dieses Wortes nach seinem ganzen Umfange, so werden Sie mir darüber eine
feste – bestimmte – für alle Orte, Zeiten, und Völker anwendbare Erklärung
geben können. – Sie werden mir beweisen können – daß ein, nach der Meinung
Ihres guten Geschmacks – gutes Stück in Frankreich und Italien – in Rußland
und in Spanien – in England – und in Deutschland – auf gleiche Art, gleich gut
gefallen müsse, und wo es nicht gefällt, dort gibt es keinen guten Geschmack –
und man muß die Leute züchtigen – das heißt: einen Missionair von Ihnen
dahin senden – der es dem Volke vor der Nase beweist, daß es ohne seiner
Erlaubniß nichts gut finden dürfe. – Wenn aber erst wirklich – wie es denn ge79 Kritisches Theaterjournal von Wien, 1789, S. 118–119.
80 [Ferdinand Eberl]: Das listige Stubenmädchen oder der Betrug von Hinten. Ein OriginalLustspiel in drey Aufzügen vom Verfasser des Dichterlings. Wien: [o. V.] 1784.
81 Karl Glossy: Zur Geschichte der Theater Wiens. In: Jahrbuch der Grillparzergesellschaft
25 (1915), S. 1–323, hier S. 34f. und S. 282.
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
wiß lächerlich ist – wenn aber wirklich der gute Geschmack fest zu bestimmen
wäre – so frag ich Sie erst – ob diese Regeln des Geschmacks – Regeln seyn
können, nach denen man ein Privattheater beurtheilen dürfte – es wäre denn,
daß einer aus Ihrer Gesellschaft – den Unternehmer von Kopf und Herzen
vorstellen wolle – der ohne Absicht auf seine Kassa so viele Philosophie hätte,
sich und seine Leute von der Luft leben zu machen, um als ein Professor des
guten Geschmackes die geschraubten Regelwerke eines trocknen Gehirns – für
den Staub seiner Bänke vorzustellen; und darüber das Vergnügen zu finden –
am ersten Donnerstag darauf sich in Ihren Blat [!] – als ein Bekehrer der Sitten
verderbenden Zeit, mit Lorbern umwunden zu sehen – Nennen Sie uns also die
Regeln nach denen ein Privattheater beurtheilet werden kann – Nennen Sie uns
aber auch die Regeln nach welchen Sie Schaubühnen überhaupt, und insbesondere die Marinellische beurtheilen wollen; ich und kein Vernünftiger wird je
eine andere, als das Gesetz des Wohlstandes erkennen – und mit welch einer
frechen Stirne kann es die Verläumdung beweisen, daß bey Herrn Marinelli
diese Gesetze vergessen würden – ich habe schon einmal gesagt – daß meine
Stücke alle gedruckt erscheinen – und fordere also jeden auf, mir Unanständigkeiten und Schmutzereien darinnen zu erweisen. […] Wo sind dann aber
auch Ihre Werke, auf die sie sich allenfalls berufen dürften, um doch einigermassen die Kühnheit zu rechtfertigen, mit der Sie sich vor dem Angesicht eines
ganzen Publikums der Freyheit anmassen, über Geschmack und Sitte – über
Schauspiele und Schauspieler – ein Urtheil hinzuschütten – das ein ganzes Publikum, als einen Machtspruch annehmen, und in dem Wohlgefallen seiner Unterhaltungen, sich nach den Grillen solcher Köpfe richten sollte? […] Darüber
sich näher zu erklären: hätten Sie doch bey manchem auf dem Nationaltheater
aufgeführtem Stücke Gelegenheit gehabt, – denn dieß ist der Ort wo sich Geschmack, und Verfeinerung handhaben läßt“.82
Für die öffentliche Diffamierung der Leopoldstädter Bühne waren angeprangerter
Sittenverstoß und Religionshäme die schlagenden Argumente, hinter denen sich ein
anderes Stil- und Geschmacksgefühl verbarg, als es an dieser Stätte des Schauspiels
definiert wurde. Wesentlich an diesen zitierten Zeilen ist der auch unter Bourdieuschen Kriterien gültige Hinweis, dass „guter Geschmack“ etwas Relatives sei, das
die Angehörigen eines sozial-kulturellen Feldes jeweils für sich selbst definieren, die
wiederum zu anders Positionierten als Opponenten fungieren. Damit ist die innere
Homogenität eines kulturellen Feldes, wie es das literarische Feld im 18. Jahrhundert darstellt, reine Fiktion und „guter Geschmack“ nicht eindeutig zu bestimmen,
da es hiervon immer verschiedene Ausprägungen innerhalb eines Kräftefeldes gibt.
Der Kunstbegriff der Leopoldstädter Bühne war damit nur einer unter mehreren
und – Eberl deutet es an – größtenteils von kommerziellen und nicht ästhetischen
Faktoren bestimmt. Die von den Kritikern in Form eines rigiden Anspruchs auf
Definitionsmacht eingeforderten „Regelwerke“ ließen sich hier nicht verkaufen.
Sie entsprachen nicht dem Profil der Bühne (gewinnorientiertes, auf Unterhaltung
82 Ferdinand Eberl: Abgedrungene Antwort auf das im zweiten Vierteljahre des kritischen
Theater-Journals erschienene sechste Stück. Wien: [o. V.] 1789, S. 6–22.
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ausgerichtetes Privattheater) sondern erfüllten vielmehr den Kunstgeschmack des
Nationaltheaters.
Charakteristisch für den beobachteten Zeitraum sind die fließenden Übergänge
zwischen den Bereichen „guter Geschmack“ und Zensur, oder mit anderen Worten,
die implizite Auffassung, dass die publizistische Informationskontrolle als Richtschnur für den guten Geschmack auftrete bzw. die Zensur guten Geschmack garantiere. Wäre dem so gewesen, hätte es im theatralen Feld keine unterschiedlichen
Positionierungen und Ausrichtungen gegeben und v. a. keinen Widerpart von Unterhaltungs- und Bildungstheater. So leistete das Unterhaltungstheater im „Raum
des Möglichen“, was es unter Kontrolle der Zensur eben leisten konnte: Es bot Zerstreuung ohne erkennbaren Bildungsauftrag, dafür aber unter Berücksichtigung
der moralischen Gebote der Zensur. So entsprachen die Ergötzungen des Volkes
zumindest in ihrer Verschriftlichung den polizeilichen Vorgaben, auch wenn sie auf
Kosten dessen gingen, was Kunstrichter und Normpoetiker als guten Geschmackes
reklamierten (womit v. a. jene gemeint sind, die die Schau- und Sensationslust des
Publikums stillten).83 Es ist der berühmte Zensor Franz Karl Hägelin, der anlässlicheiner Denkschrift84 festhält – sie stellt einen Leitfaden für Theaterzensoren in
Ungarn dar –, dass die Zensur keine Geschmacksurteile fälle, sondern über das subjektive Empfinden erhaben sei, solange die alte Devise – nichts was Staat, Religion
und Sitten verletze – gewahrt bleibe:
„Denn der Geschmack ist in verschiedenen Zeiten verschieden, und noch nicht
ausgemacht, wo der wahre Geschmack wirklich existirt; denn einmal herrscht
der Schackspearische [!] Geschmack, ein andermal jener der Rittergeschichten
des mittleren Zeitalters, und so fort. […] Man kann auch den sogenannten
Geschmack nicht bey jedem publicum fordern, besonders da der Staat nebst
dem Hoftheater verschiedene Nebentheater privilegirt und auch wandernden
Truppen zu spielen erlaubt, die ohnmöglich Stücke nach dem feinen Geschmacke aufzuführen im Stande sind; zumal wo in Deutschland, das aus so vielen
kleinen und grösseren Höfen bestehet, der wahre Geschmack sich schwerlich
an einem Orte einförmig fixiren und den Hauptton geben wird. Genug, wenn
nichts ungereimtes und unanständiges wider die Sitten geduldet wird.
83������������������������������������������������������������������������������������������
Vgl. Glossy, Zur Geschichte der Wiener Theaterzensur, S. 293. Auch Ferdinand Eberl legitimiert seine Komödien über den Verweis (gleich zweimal), dass alle zur Aufführung gekommenen Stücke in gedruckter Form erschienen seien, was ohne Zustimmung von Bücherund Theaterzensur nicht möglich gewesen sein dürfte. Vgl. Eberl, Abgedrungene Antwort,
S. 7 und 13.
84 Wiedergegeben in: Glossy, Zur Geschichte der Wiener Theaterzensur, S. 298–340. Wie
die Musikwissenschaftlerin Lisa De Alwis (Institut für Musikwissenschaft der University
of Southern California, Los Angeles) erst kürzlich anhand von zwei neu aufgefundenen
Abschriften zeigen konnte, ist die Abschrift Glossys unvollständig. Glossy „zensierte“ den
Leitfaden Hägelins und sparte in seiner Abschrift all jene Textpassagen, die sich der Thematisierung sexueller Inhalte auf der Bühne widmen zur Gänze aus. Vgl hierzu Lisa de
Alwis: Zensieren des Zensors: Karl Glossys lückenhafte Übertragung (1896) von Franz Karl
Hägelins Leitfaden der Theaterzensur (1795) [im Entstehen].
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
Man weiß auch, daß seine Kunstwercke nicht von jeder Theatralgesellschaft
kustmäßig aufgeführt werden können; daß nicht jede Gattung des Publikums
solche verstehen und Belieben daran finden würde, und daß einzelne Privatunternehmer, die auf die Kosten sehen müssen, grosse Künstler, welche zur Aufführung vortreflicher Schauspiele erfordert würden, nicht hinreichend besolden
können. […] Die Zensur muß überall auf das Sittliche sehen, der Geschmack
gehet die Kritik an. Es ist bekannt, daß etwas sehr ästhetisch schön sein kann,
wenn es gleich sehr unmoralisch ist. Nur dann tritt die Zensur auch in Absicht
auf den Geschmack ein, wenn es den sittlichen Wohlstand zugleich betrifft.“85
Damit ist nicht nur die Basis für die Positionierung der Leopoldstädter Bühne im
Feld gewährleistet, sondern auch der Beweis erbracht, dass der Kasperl – bei allen
Extempore-Vergehen – von höherer Stelle legitimiert war, was auch seine Verteidiger
zuweilen als Argument ins Feld führen. Der Verdacht gegen Kasperl als Verunstalter
der Sitten ist damit nicht haltbar, sein Aufbegehren gegen die staatlichen Gesetze
im Extempore-Spiel zu vermuten, gegen dessen Ausprägungen, wie es scheint, zu
dieser Zeit noch mit verminderter Vehemenz vorgegangen wurde. Die Dispute in
der öffentlichen Kritik sind als auf den unterschiedlichen Geschmack ihrer Urheber
zurückzuführende Meinung und Gegenmeinung zu entlarven, eine für die Heterogenität des kulturellen Feldes (ein Kräftefeld, das stets von dem Kampf um Erhalt
der eigenen Meinung und Veränderung der anderen geprägt ist) bezeichnende Eigenschaft.
Das theatrale Feld
Die Theaterlandschaft, in die das Leopoldstädter Theater eingebettet war, kann in
erster Linie dualistisch genannt werden, wobei die inner- den vorstädtischen Vergnügungsfeldern gegenüber zu stellen sind. In der inneren Stadt befanden sich die
beiden Hoftheater, bestehend aus Kärntnertor- und Burgtheater, denen entgegengesetzt sich in den Vorstädten ab den 1780er Jahren, beginnend mit dem Leopoldstädter Theater, die weitaus jüngeren stehenden Privattheater zu etablieren begannen (Theater auf der Wieden, Josefstädter Theater). Abgesehen davon gab es in der
Vorstadt mehrere zum Teil schon vor den genannten Vorstadttheatern existierende,
durch wechselnde Prinzipale86 und Gesellschaften permanent oder vorrübergehend
85 Zit. nach ebenda, S. 299–300.
86 Genannt seien exemplarisch etwa Felix Berner, Franz Jakob Scherzer, Johann Georg
Wilhelm, Christoph Ludwig Seipp und Barbara Fuhrmann, die sich zum Teil für einen
gewissen Zeitraum in den bestehenden Saaltheatern einmieteten.
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bespielte Saaltheater87, familiäre Haus- und Laientheater (in Bürgerwohnungen)
und natürlich, nicht zu vergessen, die althergebrachten Komödienhütten88 (als Domäne des Marionettentheaters) auf den öffentlichen Plätzen der Innen- wie auch der
Vorstädte Wiens – alles Theaterbetriebe, die noch ergänzend zu nennen sind.
Ausbildung des theatralen Felds in Wien, retrospektiv
In Wien entstehen die ersten „speziell für Theateraufführungen gebaute[n] feste[n]
Häuser“ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (zuvor war es Praxis, geräumige
Säle in öffentlichen Gebäuden bei Bedarf umzugestalten). Als ältestes „städtisches“
Wiener Schauspielhaus gilt das Theater nächst dem Kärntnertor89, das 1708 erbaut
wurde. Es ist wie das 1741 entstandene Burgtheater90 zur der Kategorie der „höfischöffentlichen“ Schauspielhäuser zu zählen (das Kärntnertortheater und das Burgtheater sind die beiden k. k. Hoftheater Wiens), die aus „meist nicht autonome[n], einem größeren Baukomplex an- und eingepasste[r] Gebäude“ hervorgingen und sich
innerhalb der Stadtmauern Wiens befanden. Sowohl das Kärntnertor- als auch das
Burgtheater waren öffentliche, von staatlichen Behörden verwaltete, aber an diverse
Pächter91 vermietete, dem Einfluss der Theaterreformer sehr nahestehende92 Büh-
87 Vgl. dazu: Franz Hadamowsky: Wien. Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum
Ende des Ersten Weltkrieges. Hrsg. von Felix Czeike. München und Wien: Jugend und
Volk 1988. (= Geschichte der Stadt Wien. 3.) S. 455–482. Emil Karl Blümmel und Gustav
Gugitz: Alt-Wiener Thespiskarren. Die Frühzeit der Wiener Vorstadtbühnen. Wien: Schroll
1925, S. 38–102 und S. 103–165.
88��������������������������������������������������������������������������������
Zum Beispiel auf der Freyung, am Graben, am Neuen und am Hohen Markt. Vgl. Hadamowsky, Theatergeschichte, S. 577–579.
89 Vgl. Österreichisches Musiklexikon. Online: http://www.musiklexikon.ac.at „Kärntnertortheater“ [Stand 2009] und Gustav Zechmeister: Die Wiener Theater nächst der Burg
und nächst dem Kärntnerthor. Wien: Böhlau 1971. (= Theatergeschichte Österreichs. 3.)
90 Vgl. Österreichisches Musiklexikon. Online: http://www.musiklexikon.ac.at „Burgtheater“
[Stand 2009].
91 „Beide Theater waren anfangs verpachtet; seit der Theresianischen Theaterreform (1752)
wurden sie zuerst von der Stadt Wien und vom Hof, und dann von diesem allein verwaltet. Nach dem Tod Franz Stephans von Lothringen […] verpachtete Maria Theresia beide
Theater an verschiedene Unternehmer, die sich aber nach kurzer Zeit von der Pachtung
zurückzogen. Im Jahr 1770 übernahm die Hofbühnen der ungarische Graf Johann Koháry
[…]“ Franz Hadamowsky: Die Josefinische Theaterreform und das Spieljahr 1776/77 des
Burgtheaters. Eine Dokumentation. Wien: Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften
Österreichs 1978. (= Quellen zur Theatergeschichte. 2.) S.
92��������������������������������������������������������������������������������������
Sonnenfels konnte 1769 ein von Christoph Willibald Gluck initiiertes, seine Theaterreform in Gefahr bringendes Engagement der Badner Gesellschaft samt La Roche an das
Kärntnertortheater vereiteln, was den Einfluss des späteren Zensors und Reformers auf diese Bühne ansehnlich geltend macht. Vgl. Zechmeister, Die Wiener Theater, S. 310.
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
nen, die „sparten- und sprachübergreifend“ bespielt wurden.93 Der mehrsprachige
Spielplan ist auschlaggebend für die Publikumsstruktur dieser Bühnen und zugleich
auch ein gewichtiger Unterschied gegenüber den später entstandenen Vorstadttheatern. Obwohl auch das Kärntnertortheater und das Burgtheater94 deutschsprachige
Bühnenproduktionen zur Aufführung brachten, überwogen diese an den privaten
(Volks-)Theatern, deren Repertoire aus deutschen Sprechstücken, Singspielen und
deutschsprachigen Opern95 bestand, was mit der Pauschalbezeichnung dieser Bühnen als „Volkstheater“96 korreliert. Diese semantisch mehrfach besetzte97 Bezeichnung, lässt sich u. a. auf die bildungsunabhängigen, für die Unterhaltung des einfachen Volkes gestalteten Theaterformen anwenden, hat sich im unreflektierten, aber
einschlägigen Sprachgebrauch zum Überbegriff für diverse Spielstätten Wiens verselbstständigt, deren Programm eben solche ,triviale‘, ohne Fremdsprachenkenntnisse zu verstehenden Bühnenproduktionen vorsah.
Für die Vorstadttheatergründungen in den 1780er Jahren waren sowohl kulturpolitische als auch gesellschaftliche Veränderungen Voraussetzung. Wesentlich war das
93 Vgl. Österreichisches Musiklexikon. Online: http://www.musiklexikon.ac.at „Volkstheater“ [Stand 2009] und Zechmeister, Die Wiener Theater, S. 399–562.
94���������������������������������������������������������������������������������������
Dieses v. a. nachdem es von Josef II. 1776 zum „Teutschen Nationaltheater“ erhoben worden war.
95 Man machte sich, wie diverse Opernbearbeitungen Perinets und Eberls zeigen, die Mühe
italienische und französische Opernlibretti für die deutschsprachige Aufführung zu
adaptieren (Auch wenn es nur in der Absicht geschah, den Spielplan zu bereichern, passt es
dennoch zum Profil der Bühne.). Una cosa rara, o sia Bellezza ed onestá kommt in der Übersetzung von Eberl unter dem deutschen Titel Der seltene Fall oder Schönheit und Tugend.
Ein italienisches Singspiel nach der Italienischen Opera Cosa rara des Abbate Lorenzo Daponte
und L’arbore di Diana unter dem Titel Der Baum der Diana. Eine historisch-komische Oper
in zwei Aufzügen von Lorenzo Daponte zur Aufführung. Hinter Der Talisman. Ein Singspiel
in drei Aufzügen nach Goldoni verbirgt sich die von Eberl adaptierte italienische Oper Il Talismano. Joachim Perinet verfasste die deutsche Version der Opern Les Deux Petits Savoyards
comédie mêlée d’ariettes (Die zween Savoyarden. Ein Singspiel in einem Aufzuge. Aus dem
Französischen auf die Musik des Herrn Dalayrac übersetzt) und Raul von Crequi (Raul von
Crequi oder die verhinderte Grausamkeit. Oper in drei Aufzügen nach Monvel) von JacquesMarie Boutet de Monvel.
„Wiener Volkstheater“ bezieht sich auf die Schauspieltradition Wiens im 18. und 19. Jahr96�����������������������������������������������������������������������������������������
hundert und meint die „bürgerlichen, v. a. in den Vorstädten beheimateten Ableger des barocken Hoftheaters mit seinen z. T. sogar tragenden Musikanteilen“ Vgl. Österreichisches
Musiklexikon. Online: http://www.musiklexikon.ac.at „Volkstheater“ [Stand 2009].
97���������������������������������������������������������������������������������������
„[…] so erweist sich der genannte Begriff, dessen Implikationen sich in den letzten anderthalb Jahrhunderten immer wieder gewandelt haben, als äußerst unpräzis und deswegen irreführend.“ Roger Bauer: Wiener Volkstheater: Noch nicht und (oder) doch schon
Literatur? In: R. B.: Laßt sie koaxen, die kritischen Frösch’ in Preußen und Sachsen! Zwei
Jahrhunderte Literatur in Österreich. Wien: Europaverlag 1977, S. 119.
39
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Ausrufen der „allgemeinen Spektakelfreiheit“98 im Jahre 1776 – eine für die Schauspielunternehmer entscheidende Neuorganisation des Theaterwesens, die auf das
liberale Verständnis Josefs II. zurückzuführen ist. Nach dem Bankrott der Hoftheaterpächter hebt der Monarch das 1728 erlassene Spiel-Privilegium der Hoftheater
auf, wodurch das Theaterspielen in Wien auf kaiserliche Anordnung hin für alle
Schauspielertruppen ohne Abgabeleistungen an die Hoftheater möglich wird.99 Die
finanzielle Entlastung der saisonal in Wien anwesenden Theaterunternehmer ließ
manche von ihnen sesshaft werden und forcierte damit indirekt den Zuwachs an
neuen Theatern.
Fördernd wirkte, abgesehen davon, dass der Zeitabschnitt an sich weitgehend ohne
kriegerische Auseinandersetzungen verlief100, die Erschließung der Vorstädte als
Wohn- und Arbeitsplatz, als deren Folge Bevölkerungszahl und Wohlstand zunahmen – eine soziale Umstrukturierung, die das potentielle Publikum für etwaige
Vorstadttheater hervorbrachte.101
Als weiterer bestimmender Faktor für die Entstehung der Vorstadttheater sei das
selbst erwirtschaftete Privatvermögen diverser Schauspielunternehmer genannt, die
es nach dem Erlöschen des Theatermonopols häufiger102 als zuvor nach Wien zog.
Ihre gute finanzielle Situation bildete die Basis für den Erwerb einer geeigneten Immobilie und erlaubte den Bau eines privat-„bürgerlichen“103 Theatergebäudes jenseits
98�����������������������������������������������������������������������������������������
Am 23. März 1776 teilte Josef II. der „Nieder-Österreichischen Regierung“ mit, dass „hinfüro kein Privativum mehr ertheilet werden würde, sondern einem Jeden frey seyn solle, auf
was immer für eine erdenkliche Art sowohl in – als vor der Stadt das Publicum zu unterhalten und sich einen Nutzen zu verschaffen.“ Zit. nach Hadamowsky, Theatergeschichte,
S. 255.
99 Vgl. Hadamowsky, Die Josefinische Theaterreform, S. 8–27
100�����������������������������������������������������������������������������������������
Der Siebenjährige Krieg endete 1763, der Bayrische Erbfolgekrieg (1778/79) hatte den Charakter eines Kabinettkrieges ohne größere Gefechte und war für die Bevölkerung daher
auch weniger belastend, die Revolutionskriege (1792–1815) begannen erst nach der für die
Vorstädte entscheidenden Wachstumsperiode.
Blümml und Gugitz sprechen von den 1770er und 1780er Jahren als Zeitraum, der ge101���������������������������������������������������������������������������������
prägt ist vom „Anwachsen der Vorstädte und des Wohlstandes der Wiener Bevölkerung
in einer Zeit des Friedens“. Blümml und Gugitz, Thespiskarren, S. 103. Pezzl stellt einen
Zusammenhang zwischen den sich in den 1780er Jahren in der Vorstadt häufenden Fabrikgründungen, den sich daraus ergebenden Wohlstand und der Beliebtheit des Josefstädter
Theaters her. Vgl. Johann Pezzl: Mahlerische Darstellung der k. k. Haupt- und ResidenzStadt Wien, oder kurzgefaßte Geschichte derselben von ihrem Ursprunge bis auf den gegenwärtigen Augenblick. Wien: Müller 1822, S. 252–253.
102������������������������������������������������������������������������������������������
In „den Siebzigerjahren des achtzehnten Jahrhunderts [zeigten sich] in den Wiener Vorstädten mehr wandernde Schauspielertruppen als sonst“. Blümml und Gugitz, Thespiskarren,
S. 103.
103 Vgl. Österreichisches Musiklexikon. Online: http://www.musiklexikon.ac.at „Schauspielhäuser“ [Stand 2009].
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
der Innenstadt – beides Dinge, die ohne ausreichendes ökonomisches Kapital nicht
leistbar gewesen wären.
Als Vorreiter für die stehenden Vorstadttheater fungierte das Marinellische Theater
in der Leopoldstadt, mit dessen Gründung eine „Ausweitung des Unterhaltungsangebotes für die Wiener Bevölkerung“104 erfolgte. Die Einspielquoten der Badner
Gesellschaft, die schon seit 1770 ständig in der Wintersaison in der Leopoldstadt in
einem zur Bühne umgestalteten Saal spielte, waren hoch, sodass ihre beiden Leiter,
die Kompagnons von Menninger und Marinelli, bereits 1780 über genug Barschaft
verfügten, bei der Hofbehörde und damit indirekt bei Kaiser Josef II. um den Bau
eines privaten Theatergebäudes in der Leopoldstadt anzusuchen. Marinelli, der sich
stets um die bürokratischen Angelegenheiten der Gesellschaft kümmerte, richtete
folgende, für die Auslotung der sozialen Situation der Gesellschaft doch recht aufschlussreiche Worte an die kaiserliche Obrigkeit:
„Durch diesen Beyfall [damit ist der Zustrom an Publikum, den die Gesellschaft
in der Leopoldstadt erfuhr, gemeint] aufgemuntert, war ich Willens, ein eigenes
etwas größeres Schauspielhaus in der Leopoldstadt zu erbauen, hätten mich
nicht manche Kränkungen daran gehindert, denen ein Theater in Vorstädten
ausgesetzt ist. Eine gewisse Vergleichung, eine Art der Behandlung von Seiten
des Stadtmagistrats, der ich mich so, wie das gemeinste Marionettenspektakl
unterziehen mußte, konnte für mich stets nur sehr demütigend seyn, und das
Zutrauen einiger Massen vermindern, auf welches sonst eine an Ordnung gewohnte gesittete, Schauspielergesellschaft Anspruch machen dürfte. Lange sah
ich dem glücklichen Zeitpunkt entgegen, wo ich eine gewünschte Gelegenheit
finden konnte, mir die huldvolle Gnade Eurer Majestät allerunterthänigst zu
erbitten, um wenigstens vor diesen Kränkungen gesichert zu seyn. Dieser Zeitpunkt hat sich genähert, und ich darf hoffen, da itzt nur ein einziges Theater
[d.i. das Theater ,Zum weißen Fasan‘ auf dem Neustift105] in den Vorstädten
besteht, meine allerunterthänigste Bitte einigen Eingang finden dürfte […]“106
Der Privatbesitz, hier in erster Linie der Besitz eines eigenen Hauses, galt als Sinnbild
geordneter Verhältnisse und war auch Voraussetzung für den Erwerb der Bürgerrech-
104 Tanzer, Spectacle müssen seyn, S. 135.
105���������������������������������������������������������������������������������������
Das seit 1776 bespielte „Theater zum weißen Fasan“ auf dem Neustift (zwischen Neustiftgasse und Burggasse) kann als erstes stehendes Vorstadttheater Wiens gewertet werden.
Vgl. hierzu: „Das Theater zum weißen Fasan auf dem Neustift“ In: Blümml und Gugitz,
Thespiskarren, S. 103–165.
106 Fritz Brukner [Hrsg.]: Die Gründungsakten der Leopoldstädter Schaubühne. Aufgefunden
und bearbeitet von Franz Hadamowsky. Wien: [o. V.] 1928, S. 4–8.
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te.107 Die Niederlassung ist somit nicht nur als Bühnengründung infolge günstiger
gesellschaftshistorischer und lokaler Gegebenheiten, sondern auch als Positionierung
der Schauspielgesellschaft im sozialen Gefüge Wiens zu sehen. Marinelli grenzt die
Badner Gesellschaft eindeutig von den Betreibern mobiler Marionettenbuden ab,
will nichts gemein haben mit dem „landstreicherische[n] Komödieantenvolk“108,
was natürlich aufgrund der pekuniären Situation109 der Gesellschaft und des bestehenden Spielkontrakts mit der Stadt Baden der Realität entsprach, aber auch einem mit Absicht vorgenommenen Präsentabelmachen der Gesellschaft diente, um
das Ansinnen auf ein eigenes Spielhaus als gerechtfertigt auszuweisen. In jedem
Fall aber ist der soziale Aufstieg der Schauspielergilde, der zuletzt mit der Sesshaftwerdung einhergeht, ebenso wenig von der Hand zu weisen wie der Zugewinn
Marinellis an symbolischem Kapital, also an gesellschaftlichem Prestige, Status und
an Reputation, durch das erteilte Recht sich fortan „einen kais. kön. privilegirten
Schauspielunternehmer“110 schreiben zu dürfen, der über einen festen Wohnsitz und
ein eigenes Theatergebäude besitzt.
Die Betitelung „kais. kön. privilegirter Schauspielunternehmer“ ist nur eines der
Privilegien111, die Marinelli für seine Bühne in der Leopoldstadt erwirkte und die
fürdie weiteren, in den darauffolgenden Jahren in den Vorstädten entstehenden The107 Marinelli erwarb das Grundstück, auf dem er das Theatergebäude errichten ließ, von der
Geliebten und Erbin des 1780 verstorbenen Leopoldstädter Bürgers Anton Schreyer. Felix
Czeike: Historisches Lexikon Wien in sechs Bänden. Wien: Kremayr & Scheriau 2004,
Bd. 4, S. 39. Hadamowsky, Das Theater in der Wiener Leopoldstadt, S. 46. Die Bürgerrechte wurden demjenigen zugesprochen, der Hausbesitz und Eigentum in der Stadt hatte,
Steuern, Abgaben sowie seinen Beitrag zum Wehrdienst leistete. Letzterem kam Marinelli
definitiv nach. Der Spion von Wien berichtet über Abgabeleistungen des Theaterdirektors,
der sich bereit erklärte, „eine ansehnliche Summe als Kriegssteuer abzureichen, wenn sein
Theaterpersonale, wie jenes des National Hoftheaters von der Kriegssteuer befreit bleibe“.
In der Folge bezahlte Marinelli „für sein sämtliches Theaterpersonal 500 fl. Kriegssteuer aus
seiner eigenen Börse“. Vgl. Der Spion von Wien. Eine Wochenschrift. Wien: [o. V.] 1789,
Bd. 1, S. 10 und Bd. 2, S. 8.
108 So die pauschal geurteilte und stark wertende Bezeichnung für fahrende Komödianten.
Hadamowsky, Das Theater in der Wiener Leopoldstadt, S. 41.
109��������������������������������������������������������������������������������
Die Antwort des „Musicimpostamts-Administrator v. Zahlheimb“ auf ein Gesuch Menningers und Marinellis um Herabsetzung der an das Magistrat Wien zu entrichtenden Musikimpostgebühr gibt Aufschluss über die Geschäfte der Badner Gesellschaft. Die Höhe der
Musikimpostgebühr lässt Rückschlüsse auf die Einnahmen der Gesellschaft zu: „Ich [d. i.
Zahlheimb] habe diesen leztvergangenen Winter öfters um mein Geld verläßliche Leüthe
in die Leopoldstädter Komödie geschikt, und in Antwort erhalten, daß die Supplicanten
11 auch 12 Musicanten gehabt haben, so mittels eines Durchschnitts genohmen 8 fl. 15 Kr.
jedesmal betraget. Deren Supplicanten Losung oder Einnahm, weillen die Pläze fast allezeit
besezet sind, und vielmehr, weillen die Persohnen abzehlen lassen, belaufet sich einen Tag
in den andern gerechnet über 100 f. […]. Diese Schauspiell Unternehmere sind vermögliche
Leüte […].“ Brukner, Die Gründungsakten, S. 3.
110 Ebenda, S. 6.
111 Zu den anderen siehe ebenda, S. 6–8.
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
ater, vor allem aber für das (Freihaus-)Theater auf der Wieden112, richtungsgebend
sind. Diese letztgenannte, 1787 vom Wandergruppenprinzipal Christian Roßbach
eröffnete und 1789 von Emanuel Schikaneder übernommene Spielstätte erhält die
gleichen Rechte und Bedingungen wie das Leopoldstädter Theater verliehen, was
aus einer Archivstudie von Friedrich Arnold Meyer anlässlich der um 1900 aktuell
gewordenen Privilegienfrage der beiden Schauspielhäuser deutlich hervorgeht: Das
„Zustellungsdecret113 […] der Behörde an Marinelli ist die bekannte Magna charta
des Leopoldstädter Theaters, aber, wie sich zeigen wird, auch die des Theaters an der
Wien.“ Dieses Dokument wird „in allen späteren amtlichen Verhandlungen und
Berichten“ rund um das Theater an der Wien „wörtlich citirt“, und als Schikaneder
das „Privileg und die Concession zur Theater-Unternehmung“ verliehen wurde,
geschah die Erteilung des Privilegiums „ausdrücklich in der Art, wie Marinelli es
besitze“.114
Die beiden Theater erhielten nicht nur dieselben Privilegien. Gemeinsam war ihnen
neben dem Standort in der Vorstadt auch die Ausgestaltung des Spielplans. Das Leopoldstädter Theater und das Theater auf der Wieden gaben dem lokalen Volksstück,
der Zauberposse, dem Singspiel und natürlich noch Ausläufern der Maschinenkomödie mit komischen Zentraltypen Raum, sprachen damit denselben Publikumsgeschmack an, was sie in erster Instanz natürlich zu erbitterten wirtschaftlichen
Konkurrenten werden ließ, den Spielstätten aber auch eine gemeinsame Positionierung im theatralen Feld gegenüber den beiden Hoftheatern bescherte:
„Schikaneder treibt sein Wesen in der Vorstadt an der Wien […]. Der Mann
kennt sein Publikum, und weiß ihm zu geben was ihm schmeckt. Sein großer
Vorzug ist Lokalität, deren er sich oft mit einer Freimütigkeit bedient, die ihm
selbst und der Wiener Duldsamkeit noch Ehre macht. Ich habe auf seinem
Theater über die Nationalnarrheiten der Wiener Reichen und Höflinge Dinge
gehört, die man in Dresden nicht dürfte laut werden lassen, ohne sich von
höherem Orte eine strenge Weisung über Vermessenheit zuzuziehen. […] Es
ist den Wienern von feinem Ton und Geschmack gar nicht übel zu nehmen,
daß sie zuweilen zu ihm und zu Kasperle herausfahren und das Nationaltheater
und die Italiäner [Anspielung auf die italienischen Schauspielergesellschaften
im Kärntnertortheater] leer lassen. Seine Leute singen für die Vorstadt verhältnismäßig weit besser, als jene für die Burg. […] So lange Schikaneder Possen,
Schnurren und seine eigenen tollen Operetten gibt, wo der Wiener Dialekt und
der Ton des Orts nicht unangenehm mitwirkt, kann er auch Leute von gebilde112 Vgl. Österreichisches Musiklexikon. Online: http://www.musiklexikon.ac.at „Freihaustheater auf der Wieden“ [Stand 2009].
113 Vgl. Brukner, Die Gründungsakten, S. 7–8. Eine offizielle Privilegiums-Urkunde, die über
dieses an Marinelli zugestellte Dekret hinausgeht, dürfte gar nicht erlassen worden sein.
Vgl. auch: Friedrich Arnold Mayer: Die Privilegien der Wiener Vorstadttheater. Eine Archivstudie. In: Neue Freie Presse vom 8. Juli 1900, S. 19.
114 Mayer, Die Privilegien der Wiener Vorstadttheater, S. 19.
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tem Geschmack einige mal vergnügen: aber wenn er sich an ernsthafte Stücke
wagt, die höheres Studium und durchaus einen höheren Grad von Bildung
erfordern, muß der Versuch allerdings immer sehr schlecht ausfallen. […] Die
Herrn Kasperle und Schikaneder mögen ihre subordinierten Zwecke so ziemlich erreicht haben; aber das Nationaltheater ist, so wie ich es sah, noch weit
entfernt, dem ersten Ort unseres Vaterlandes und der Residenz eines großen
Monarchen durch seinen Gehalt Ehre zu machen.“115
Hingegen wurden das Bildungstheater, die italienische und französische Oper vom
Kärntnertor- und Burgtheater getragen. Im Ersteren fand sich das Bürgertum, im
Zweiteren allen voran der Wiener (Hoch-)Adel ein. Der wirtschaftliche Aufschwung
und das Anwachsen der Vorstädte, das Aufkeimen eines Mittelstandes, der sich sein
Freizeitvergnügen abseits des bildungsnahen, fremdsprachigen Theaters suchte und
auch die Umstrukturierung bzw. Intensivierung der Freizeitgestaltung116 boten Platz
für die Ausbildung von privat verwalteten, von der deutschen Sprache dominierten
Kommerz-(Musik-)Theatern, die ihre Bestimmung in der Unterhaltung und Zerstreuung des Publikums fanden:
„Uibrigens giebt sich diese Truppe sichtbare Mühe, sich über den Rang eines
Nebentheaters empor zu arbeiten, spielt neben den Faccen [!] auch verschiedene
feine Stükke, die ihnen freilich noch blutschlecht gelingen, und nur durch einzelne Rollen, die nicht übel ausfallen, erträglich werden. Ihre Faccen aber fallen
meists sehr gut aus, bringen auch brav Geld. Einige dieser Stükke werden oft
in einem Monat zehn bis zwölfmal bei immer vollem Hause wiederholt, eine
Ehre, die in Wien dem feinsten Stük nicht wiederfärt. Mit einem Wort […],
ich halte wenn man nach verdrüslichen Geschäften nichts, als sein Zwergfell
erschüttern will, dies Leopoldstädter Theater für eine recht gute Rekreazion.
Feine Sachen, wahren pollirten Wiz mus man nicht hier suchen, aber der pollirte, feinere Wiz macht auch nur lächeln, und erschüttert das Zwergfell nicht.
Wer seinen Geist nären will, hat überdem die Nazionalbühne, hingegen sind
für den, der blos aus vollem Halse lachen will, was doch auch zu weilen gut und
nüzlich ist, Kasperle und seine Konsorten trefliche Leute.“117
Zur Entente der Theater mit derartiger Ausrichtung ist auch das 1788 errichtete,
sich heute noch am selben Ort befindliche Josefstädter Theater118 zu zählen, womit
die drei größten Spielstätten in der Wiener Vorstadt komplett wären. Die „Grün-
115 Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. In: J. G. S.: Werke in
zwei Bänden. Hrsg. von Jörg Drews. Bd. 1. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag
1993. (= Bibliothek deutscher Klassiker. 85.) S. 155–540, hier S. 190–191.
116 Vgl. Tanzer, Spectacle müssen seyn, S. 133–276.
117 Schink, Dramatische und andere Skizzen nebst Briefen, S. 126–127.
118 Vgl. Österreichisches Musiklexikon. Online: http://www.musiklexikon.ac.at „Josefstädter
Theater“ [Stand 2009].
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
dungswelle“ der Privattheater in den Vorstädten kam erst 1794 zum Erliegen, als ein
von der Hofbehörde erlassenes Dekret den Bau neuer Theater unterband.119
Materielle und lokale Bedingungen
Das Marinellische Theatergebäude entstand im Erholungs- und Vergnügungsviertel
der Wiener, gelegen vor den Toren der Stadt in unmittelbarer Nähe zum Prater120
wie auch zu dem an dessen Eingang befindlichen, mit Wirtshäusern, Kegelbahnen, Schaukeln und Ringelspielen lockenden Stadtgut121, woran auch die in der
Neuzeit aufkommende, sich im Städtebau niederschlagende Trennung der Bereiche Arbeit und Freizeit deutlich zu erkennen ist. Damit ist die bloße Örtlichkeit
einerseits Determinante für die Erbauung des Leopoldstädter Theaters, welches sich
bei den sozialhistorischen Bedingungen dieser Epoche eben nur in der Vorstadt
herausbilden konnte, sowie andererseits für dessen inhaltliche Ausrichtung als Lachund Belustigungstheater: „Absicht dieses Unternehmens“ war es, „für die heilsame
Erschütterung des Zwergfells seiner Nazion zu sorgen“ 122 – oder anders ausgedrückt
– „Lachen ist sein Endzweck, sein Brot und Ruhm.“123
Die nähere Betrachtung der Spielstätte Kasperls ist ein wenig desillusionierend,
da das Bild, das dabei entsteht, nicht mit den heutigen Vorstellungen von einem
Theatergebäude korreliert. Es handelte sich beim Leopoldstädter Theater nicht um
ein freistehendes Gebäude, sondern vielmehr um einen in den Wohn-124 und Wirtschaftskomplex der Theatergesellschaft integrierten, einfachen, im ersten Parterre
fünf, im zweiten 15 Bankreihen fassenden Aufführungssaal von ca. 255m2, an den
sich eine 16m breite und 10m tiefe Bühne anschloss. Beides war nur über einen in
119��������������������������������������������������������������������������������������������
Baron Peter von Braun erhielt das Privileg für alle Stadttheater. Dieser Erlass kam der Zensurbehörde entgegen, die durch den verhinderten Zuwachs an neuen Theatern entlastet
wurde, da Bühnen und Aufführungen umso leichter und intensiver zu überwachen waren,
je weniger es davon gab. Vgl. Tanzer, Spectacle müssen seyn, S. 145.
120 Erst 1766 wurde der Prater durch Josef II. allen Bewohnern Wiens als Erholungsgebiet
zugänglich gemacht und bürgerlichen Kaffeesiedern wie Gastwirten die Eröffnung diverser
Stätten zur Versorgung der Besucher gestattet. Vgl. hierzu: Czeike, Historisches Lexikon
Wien, Bd. 4, S. 593.
121 Vgl. ebenda, Bd. 5, S. 293.
122 Schlögl, Vom Wiener Volkstheater, Erinnerungen, S. 34.
123 Etwas für Kasperls Gönner, S. 87.
124 Neben dem Marinellischen Wohnhaus befanden sich hier auch die Wohnungen mehrerer
Ensemblemitglieder. Vgl. Gustav Gugitz: Die Totenprotokolle der Stadt Wien als Quelle zur Wiener Theatergeschichte des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Gesellschaft für
Wiener Theaterforschung. 1953/ 54 (1958), S. 130 und Otto Schindler: Theatergeschichte
von Baden bei Wien im 18. Jahrhundert. Mit besonderer Berücksichtigung der „Badner
Truppe“ und ihres Repertoires. Wien, Univ., Diss. 1971, S. 124.
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den Kassenhof mündenden, schlecht beleuchteten Gang durch das Marinellische
Wohnhaus erreichbar, welches der Straßenseite zugewandt, den Besucher empfing.
„Die Worte ,das alte Leopoldstädter Theater sei eine Goldgrube‘ waren mehr als
eitle Redensart […]. Wer hätte das dem kleinen, niedrigen und unscheinbaren
Hause in der Jägerzeile angesehen, und vollends erst, wenn man in dasselbe
durch einen schmalen, niedrigen Gang eingetreten war. Welch’ traurigen Anblick gewährte da das düstere, räumlich sehr beengte, unfreundliche und unsaubere Haus, das noch durch keinen Luster erhellt wurde, und dessen Schnürboden sich in einem solchen primitiven Zustande befand, daß die Decorationen
nicht wie anderswo herabgelassen, sondern herabgerollt werden mußten – eine
Manipulation, welche für die auf der Bühne Beschäftigten nicht ohne Gefahr
war, denn da hieß es behutsam sein, daß Einem nicht eine Decoration mit
ihrem schweren Holzrahmen als Einsäumung an den Kopf flog. Dieser Vorgang war auch für die Decorationen von schädlichem Einfluß, welche sich viel
schneller als jetzt abnützten; – doch was lag an dem Stückchen Leinwand, auf
welchem eben keine Meisterwerke gemalt waren, denn die schmale und niedrige Bühne erheischte nur ganz kleine Decorationen, die, einmal unbrauchbar
geworden, ohne große Kosten durch neue ersetzt werden konnten. Und wie
wenig Aufwand brauchte dieses kleine Theaterchen für seine Ausschmückung?
So viel wie gar keinen, denn was Luxus und Comfort war, davon wußte man
in diesem Hause nichts.“125
Die wertende Tendenz der Beschreibung Seyfrieds’ ist nicht von der Hand zu weisen; dennoch gibt es weitere Quellen, die mit der Schilderung des Theaters durch
die Adjektive „unfreundlich und unsauber“ korrelieren sowie den als „primitiv“ beschriebenen „Zustand“ des Theaters (sei es nun dessen Publikumsraum, Theaterapparat, Trottoir126 oder Beleuchtung) herausstreichen. So ist eine Schilderung der
Hygienebedingungen aus heutiger Sicht nicht nur amüsant zu lesen, sondern erhellt
auch die Motive für die Darstellung des Theaters als sudelig:
„Eine dritte Gattung Leute, welche, größere Sorgfalt für die Reinlichkeit ihrer
Kleider, als die Gesundheit ihres Körpers zu haben schienen, war nimmermehr
zu besänftigen, wenn kleine Kinder aus Unwissenheit, und ungezogene Purschen [!] und Dirnen aus Bosheit der Natur freyen Lauf liessen, und so die Kleidung ehrliebender Leute bewässerten, oder wohl gar eine Kanne Bier darüber
vergossen.“127
125 Aus: Ferdinand Ritter von Seyfried: Rückschau in das Theaterleben Wiens seit den letzten
fünfzig Jahren. Wien: Selbstverlag des Verfassers 1864, S. 47–49.
126�������������������������������������������������������������������������������������
„[…] eine gute Ordnung der Wägen bey der Zu- und Abfahrt, welche gegenwärtig noch immer fehlt, ein ihnen zur Stellung angewiesener Platz, ein vom sumpfichten [!] Kothe gereinigter Fußsteig […]“ etc. Gotthold August von Stranden: Unpartheyische Betrachtungen
über das neuerbaute Schauspielhaus in der Leopoldstadt, und die sämtlichen Glieder der
Gesellschaft. Von Gotthold August van der Stranden, gewesener Unternehmer einer Schauspielergesellschaft, nebst dessen Lebensgeschichte. Wien: Hartl und Grund 1781, S. 20.
127 Ebenda, S. 22.
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
Wen wundert es da noch, wenn die Chronisten einen üblen Gestank128 erwähnen,
der das Theater erfüllte. Bleibt nur die Frage, wie sollte ein solcher bei dem herrschenden Verständnis von Körperhygiene in der damaligen Zeit auch vermieden
werden?
Abgesehen davon finden sich Belege, denen zufolge der Publikumsraum sich angeblich durch einen Mangel an Bequemlichkeit – die „Logen“ seien „schmal“, die Galerien „nieder“129 – und die Dekorationen bestenfalls durch ihre Zweckdienlichkeit
auszeichneten (abgesehen von der vielgelobten Kortine130 von Fibich)131. Dem gegenüber stehen die Schilderungen Hadamowskys, der von „herrlichen“ und „prächtigen
Dekorationen und staunenerregenden Maschinerien“ spricht, sowie festhält, dass
„die Verwandlung des Sylvio“ trotz des oben primitiv genannten Bühnenapparates
„im Baum der Diana bei Marinelli pünktlich, im Hoftheater aber nie geriet.“132 Ob
nun üble Nachrede oder übertriebene Stilisierung – die Wahrheit dürfte wie so oft
in der Mitte liegen.
Auf dem Theatergelände befanden sich außer dem Publikumsbereich und der Theaterbühne auch noch das Marinellische Wohnhaus (am exponiertesten Platz), der
Wohntrakt der Ensemblemitglieder und verschiedene Wirtschaftsgebäude (Tischlerei, Malerei, Bierschank133, Bäckerei); eine Gebäudeanordnung, die die örtliche
Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz nur bedingt134 umsetzte und daher in ihrer
Spezifik einerseits als Überbleibsel der Kultur der Wanderschauspieler, die beide
Bereiche aus Gründen der Ökonomie nicht zu separieren wussten, andererseits auch
128��������������������������������������������������������������������������������������
Der üble Geruch, der im Theater herrschte, wird in den Quellen und Chroniken des Öfteren erwähnt. Vgl. Friedrich Kaiser: Unter fünfzehn Theater-Direktoren. Bunte Bilder aus
der Wiener Bühnenwelt. Wien: Waldheim 1870, S. 76 und Stranden, Unpartheyische Betrachtungen, S. 22.
129 Kaiser, Unter fünfzehn Theater-Direktoren, S. 76. „[…] bey den Logen wäre mehr auf den
Preis, als ihre Bequemlichkeit gesehen worden“, verlautbart Stranden über die Publikumsplätze im Marinellischen Theater. Stranden, Unpartheyische Betrachtungen, S. 22.
130 Vgl. zu deren Konzeption Schink, Dramaturgische und anderen Skizzen, S. 127.
131 Während Stranden die Kortine von Fibich lobt, bekrittelt er dessen restliche Malereien:
„[…] und ich sah, daß Herr Fibich ganz gut ein fleißiger, aber eben nicht der geschickte Maler seyn mag, oder es wenigstens damals nicht gewesen ist, als er die obere Decke (Plafond)
malte, an der man ungeachtet der Täuschung vieler brennender Lichter einen schweren Pinsel, fehlerhafte Zeichnung, und ein finsteres beynahe schmutziges Kolorit nicht verkennen
konnte. Mit besserem Erfolge arbeitete er an der Kortine […]“ Stranden, Unpartheyische
Betrachtungen, S. 23–24.
132 Hadamowsky, Das Theater in der Wiener Leopoldstadt, S. 50–51.
133 Vgl. Kaiser, Unter fünfzehn Theater-Direktoren, S. 75.
134 Eine Trennung von öffentlichen und privaten Räumen liegt vor, allerdings befinden sich
Arbeits- und Wohnstätte auf ein und demselben Gelände.
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als Anzeichen der bürgerlichen Gepflogenheit, einen Raum multifunktional135 (also
Arbeits- bzw. Werkstätte und Wohnraum in einem) zu verwenden, gedeutet werden
kann.
Die Kombination aus Wohn- und Wirtschaftsgebäuden spricht für das Vorliegen
einer „Ordnung des ganzen Hauses, die Herrschaftsbeziehung meint und zugleich
eine wirtschaftliche Gemeinschaft“ darstellt und zu der außer dem engen Familienkreis – „wenn vorhanden – auch die Gesellen, Knechte, Mägde und anderes Gesinde“ zählten.136 Auch die Marinellische Theatergesellschaft definierte sich über alle
ihre Mitglieder – ein Familienverband, der Ausdruck einer spezifischen Lebenswelt
war und am ehesten als handwerklich-bürgerlich zu identifizieren ist. Die „hervorgehobene Stellung“ des „Hausvaters“137 war die Karl Marinellis, der dem Schauspielerensemble wie dem Rest des Gesindes138 in patriarchalischer Weise vorzustehen
pflegte, als Unternehmer die kleine wirtschaftlich-soziale Einheit in erster Instanz
zusammen- aber auch am Funktionieren hielt.
Die Kategorisierung „bürgerlich“ ist nicht nur auf Beschaffenheit und Konstitution
des Unternehmens (Privatbesitz, Arbeitskollektiv und hierarchisch-familiäre Ordnung) anwendbar, sondern auch bezeichnend für die herrschende Moral im Ensemble, dem Zeitzeugen Anstand, Manieren sowie geordnete Verhältnisse zusprachen:
„Herr Marinelli, der ein äußerst redlicher und schätzbarer Mann seyn soll, hält
solche Ordnung unter seinem Personale, daß es an Einigkeit, Sittlichkeit, Folgsamkeit, sowie die Aufführungen selbst an Pünktlichkeit und Ordnung vielen
anderen zum Muster dienen könnte“, 139
lautet ein solches Urteil, das Marinelli und den Mitgliedern seiner Gesellschaft im
sozialen Gefüge der Stadt einen Platz in der Bürgerschicht zugestand. Der Schauspieler als Zugehöriger der untersten sozialen Schicht und die damit verbundene
135����������������������������������������������������������������������������������
Vgl. Bernd Roeck: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums in der frühen Neuzeit. München: Oldenburg 1991. (= Enzyklopädie deutscher Geschichte. 9.) S. 18.
136 Ebenda, S. 14.
137 Ebenda.
138����������������������������������������������������������������������������������
Abgesehen vom Bühnenpersonal waren auch Handlanger, Zettelträger, Zimmerleute, Maler, Kassiere, Dekorateure, Maschinisten, Billeteure und Maler am Leopoldstädter Theater
beschäftigt. Vgl. hierzu den Personalstand in: Wiener Theateralmanach für das Jahr 1794.
Wien: Kurzbeck 1794, S. 35–37, Wiener Theater Almanach 1795. Wien: Camesina 1795,
S. LI–LIII, Wiener Theater Almanach für das Jahr 1796. Wien: Camesina 1796, S. XLIII–
XLV, Joachim Perinet [Hrsg.]: Wiener Theater Almanach auf das Jahr 1803. Wien: Riedl
1803, S. 146–151, Joachim Perinet [Hrsg.]: Wiener Theater Almanach auf das Jahr 1804.
Wien: Riedl 1804, S. 157–162, Joachim Perinet [Hrsg.]: Wiener Theater Almanach auf das
Jahr 1806. Wien: Riedl 1806, S. 110–114.
139 Aus: Neuestes Sittengemälde von Wien. Wien: Pichler 1801, S. 13.
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
Herabwürdigung140 seines Standes begannen folglich der Vergangenheit anzugehören (sofern die als pauschal einzustufende Verurteilung der Schauspieler überhaupt
jemals auf die Badner Gesellschaft anwendbar war, was aufgrund der verliehenen
Spielgenehmigung und den Privilegien für die Leopoldstadt von höchster Stelle
recht unwahrscheinlich scheint141).
Wie andere Vorstadttheater142 geriet auch das Leopoldstädter Theaterbetrieb zuweilen in Verruf, in seinem Publikumsraum „leichte Mädchen“ zu beherbergen, was der
Spielstätte nicht alleine die sittliche Disziplin absprechen mag, sondern viel mehr
auf die zusätzliche Funktion als Umschlagplatz des gesellschaftlichen Lebens, in
eben allen seinen Ausprägungen, verweist.
„Wagen wir einmal einen Gang in das Innere des Hauses, so werden wir, abweichend von dem Gebrauche in andern Theatern, die Ecksperrsitze im Parterre
zum großen Theile von weiblichen Wesen besetzt finden, deren häufig dick mit
Schminke belegte Wangen und frech herausfordernde Blicke jedem Besucher,
der eben nicht zu den Blöden zählte, die Ueberzeugung aufdringen mußten,
diese lebendige Garnierung der Bänke bestehe ausschließlich aus ,gefälligen‘
Damen. In dieser Beziehung hatte das in dem Hause herrschende Chair’ oscuro
auch seine volle Berechtigung. Dieses Theater brauchte eben eine solche und
keine andere Beleuchtung. Wie hätte auch die stets lauernde Polizei ein Treiben
übersehen sollen, ohne dem Publicum gerade Aergerniß zu geben, wenn sich im
hellerleuchteten Hause die Ecksitze periodisch leerten und nachher wieder füllten, jenachdem ihre Besitzerinnen in ,Geschäftsangelegenheiten‘ das Theater
zeitweilig verlassen mußten, um es später wieder zu besuchen. Es gibt Dinge,
die eben kein helles Licht vertragen, und ein solches Ding war das Parterre des
alten Leopoldstädter Theaters bis in die Zwanzigerjahre mit seinen Besuchern
und stereotypen Besucherinnen.“143
„Das Leopold- und Josephstädter Theater ist dem Pöbel, den Huren, und denen die sie suchen, geweiht; es verdient nicht erst beschrieben zu werden. […]
Um mich zu überzeugen, wie die Huren in Wien ihr Wesen treiben, ging ich
140 Noch Joseph von Sonnenfels quittiert den Schauspielerberuf mit den wenig rühmlichen
Worten, „jeder Vater“ ließe „den Sohn eher ins Zuchthaus sperren […] als Schauspieler
werden“ und „jede Mutter verläugne ihre Tochter […], sobald sie Schauspielerin geworden“.
Joseph von Sonnenfels: Der Mann ohne Vorurtheil. In: J. S.: Gesammelte Schriften. Bd. 3.
Wien: Baumeister 1783, S. 99.
141 In dem Eröffnungsstück Aller Anfang ist schwer aus der Feder Marinellis heißt es: „Marinelli. Der Schauspielerstand wird durch ein redliches, bürgerliches Betragen schätzbar. Und
dies hat uns den höchsten Schutz, Gnade und Unterstützung der Gönner verschafft.“ Karl
von Marinelli: Aller Anfang ist schwer. Ein Gelegenheitsstück in einem Aufzuge. Bey Eröfnung des neuerbauten Schauspielhauses in der Leopoldstadt. Wien: [o. V.] 1781. In: Gugitz,
Der Weiland Kasperl, S. 53–73, hier S. 65.
142 Vgl. auch: Johann Kaspar Riesbeck: Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an
seinen Bruder in Paris. Bd. 1. [o. O.]: [o. V.] 1784, S. 231.
143 Seyfried, Rückschau in das Theaterleben Wiens, S. 50–54.
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ins Leopoldstädter Theater, und setzte mich zu zwey Mädchen, die mir aus
jener Klasse zu seyn schienen; ich versuchte es auf verschiedene Weise, an sie
zu kommen; wurde aber spröde abgewiesen. Dieß konnte ich nicht enträthseln,
bis sie im zweyten Akt sich entfernten, und die eine mir eine gedruckte Adresse
in die Hand schob, worauf ihr Logis deutlich bemerkt stand. […] Ich erklärte
ihr bald: daß ich nicht der Liebe wegen gekommen sey, sondern daß ich von ihr
nur hören wolle, wie sie und ihres Gleichen in Wien lebten. […] ohne darüber
böse zu werden, […] setzte sie sich auf den Sopha und hub an: […] Oeffentlich
dürfen wir unsere Netze nicht aufstellen, sondern es muß in der Stille und mit
Anstand geschehen; denn wenn wir uns öffentlich zeigten, wie wir sind, so
holte uns die Polizey ab. Sie mein Herr, machten uns Ihre Anforderung viel zu
deutlich im Theater, darum eilten wir, daß wir fortkamen, und ich gab Ihnen
meine Addresse. Unsere Fangplätze sind die drey Theater an der Wien, in der
Josephs- und Leopoldstadt. In das Kärntner Thor und auf die Burg dürfen wir
nicht kommen; auch dürfen wir überhaupt nicht zu sehr entblößt gehen, weil
wir sonst gewiß von rechtlichen Bürgersleuten beschimpft werden würden.“144
Dass Freudenmädchen hier häufiger als in den übrigen Theatern Wiens auf Kundenfang gingen, entspricht wohl eher einem parteiischen Geschmacksurteil bis hin
zur Denunziation als der Realität. Vielmehr gehörten sie zum Theateralltag, dessen
gesellschaftliche Konzeption, bestehend aus der regelmäßigen Anwesenheit bunt gemischter Menschenmengen, den geeigneten Rahmen sowie beste Vorrausetzungen
bot, um Kontakte (eben auch moralisch und sittlich verwerfliche) zu knüpfen und
Geschäfte (welcher Art auch immer) anzubahnen. Der Theaterbesuch war der rechte
Vorwand für das „Abschleppen“ von Kundschaft, was, einer echten Doppelmoral
folgend, subtil und ohne Verstöße gegen den Anstand durch „eindeutig-zweideutige
Zeichen“ und keinesfalls offen zu erfolgen hatte, bewegten sich die Prostituierten
doch „in einer sozialen Umwelt, deren Strukturen fundamental von Ehe und Familie geprägt wurden; die gegenüber jeder Form der Sexualität außerhalb dieser Strukturen […] in höchstem Maße intolerant sein konnte“, auf schmalem Grade.145
144 Wien und Berlin in Parallele. Nebst Bemerkungen auf der Reise von Berlin nach Wien
durch Schlesien über die Felder des Krieges. Ein Seitenstück zu der Schrift: Vertraute
Briefe über die innern Verhältnisse am preußischen Hofe seit dem Tode Friedrichs II. von
F. v. C-n. Amsterdam und Cölln: Hammer 1808, S. 122–124.
145���������������������������������������������������������������������������������������
„Im Wien Maria Theresias soll es ungeachtet der Aktivitäten der von der Kaiserin eingesetzten Keuschheitskommission nicht weniger als 10 000 gewöhnliche und 4000 ,bessere‘
Dirnen gegeben haben.“ Im 18. Jahrhundert ist die Prostitution, die mit den moralischen
Verständnis einer durch die christliche Religion geprägten Gesellschaft nicht zu vereinen,
aber auch nicht auszumerzen war, „ins Halbdunkel gewandert; das mit dem Stadtfähnchen
gekennzeichnete Freudenhaus weicht diskreten Etablissements“ – unauffälligeren Orten,
wie eben dem Publikumsraum eines Theaters. Siehe: Sexualität und Marginalisierung.
In: Bernd Roeck: Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten. Fremde im Deutschland der
frühen Neuzeit. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1993. (= Kleine VandenhoeckReihe. 1568.) S. 119–128.
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Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
Auch Räsonierer sprachen der Örtlichkeit bei aller Kritik als Nebenerscheinung des
Theaterbesuchs die Stiftung von Sozialkontakten zu:
„Ich bin überzeugt und will es zur Ehre unserer Nation glauben, daß besonders
der denkende Teil der Menschen diesen Schauplatz nicht um der Schauspiele
willen besucht, wovon keines der Aufmerksamkeit würdig ist, er besucht sie wie
einen öffentlichen Gesellschaftsort – um seine Bekannten zu finden.“146
Man sah im Leopoldstädter Theater in zweierlei Hinsicht und wurde gesehen, man
tauschte hier Neuigkeiten aus, betrieb Konversation und vergnügte sich über den
vordergründigen Besuch der Komödie hinaus. Das Theater hatte unbestritten neuigkeits- und gesellschaftsstiftende Funktion, es war Unterhaltungs-Maschinerie im
wahrsten Sinne des Wortes und abendfüllende Beschäftigung.
Theater-Praxis: Spielbeginn, Normatage und Eintrittspreise
Schon Joseph von Sonnenfels hielt die Abendstunden für den rechten Zeitpunkt,
das Theater zu besuchen; v. a. „die Stunden von 6 bis 10 Uhr“, schrieb er, seien
geeignet, „bey dem Schauspiele hingebracht zu werden“147, eine Begleiterscheinung
der neuzeitlichen Strukturierung des Tages, womit Aktivitäten des Nachmittags auf
den Abend verschoben wurden (noch im ausgehenden Mittelalter begannen Theatervorstellungen in der Regel um ein Uhr Mittags und fanden um sieben Uhr
abends, spätestens aber mit Einbruch der Dunkelheit ein Ende).148 Die Theaterzettel
des Leopoldstädter Theaters nennen entweder „halb 7 Uhr“ oder „7 Uhr“ als Zeitpunkt für den Beginn der Vorstellung.149
Der Spielplan des Leopoldstädter Theaters ist in den ersten Jahren noch von dem
von Maria Theresia 1752 erlassenen „Norma-Edikt“ geprägt, welches neben dem
Verbot des Bernardon auch jene 50 Tage (Norma-Tage) benannte, die frei von The-
146 Etwas für Kasperls Gönner, S. 86.
147 Joseph von Sonnenfels: Der Mann ohne Vorurtheil. Eine Wochenschrift. 4 (1766), S. 680.
148 Vgl. Tanzer, Spectacle müssen seyn, S. 63.
149 Vgl. Theaterzettel des Leopoldstädter Theaters in der Wienbibliothek im Rathaus. Bd. 1.
Wien: [o. V.] 1781–1798 (Sig. C 64525).
51
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atervorstellungen zu bleiben hatten.150 1781 kam die Gesellschaft von Oktober (dem
Eröffnungsmonat) bis Jahresende auf ungefähr 57 Spielabende151, wobei Allerheiligen, Allerseelen nicht, jedoch die Adventzeit bis zum 21. Dezember gespielt wurde.
1782 waren es bereits an die 151 Spielabende, eine durch die Sommerpause (die Gesellschaft weilte von Ende Mai bis Ende September in Baden) und das Spielverbot
während der gesamten Fastenzeit bedingte geringe Anzahl an Abenden. Das Jahr
1783 ist erstmals in Bezug auf die gespielten Abende und ihre Zunahme in den noch
kommenden Jahren repräsentativ zu nennen, da auch den Sommer über durchgespielt wurde – abzüglich der Fastenzeit, diverser (hoher) Kirchenfeiertage152, Sterbe-,
Gerburts-, und Namenstage der kaiserlichen Familie153 zählt das Bühnentagebuch
ca. 236 Spielabende. Erwähnenswert ist auch, dass in diesem Jahr Allerheiligen und
Allerseelen, nach Maria Theresia beides Norma-Tage, zum ersten Mal an dieser Bühne ein Schauspiel zur Aufführung kam: Marinellis Dom Juan oder Der steinerne Gast.
Das Spielen an diesen beiden kirchlichen Gedenktagen ist als erstes Indiz für den
stetigen Verlust an Einfluss des kaiserlichen Diktats von 1752 zu werten, die Spieltage beginnen tendenziell zu steigen, sodass nach und nach immer mehr Abende für
Theateraufführungen gewonnen werden. 1787 sind es bereits 323 Spieltage, da in
der Fastenzeit über auf Geheiß Josefs II. mit Ausnahme von Mittwoch, Freitag und
150 „Norma Tage waren: 1) Die Adventszeit, vom 12. Dezember inklusive anzufangen, 2) die
ganzen Fasten, 3) die Betwoche [auch Bitttage; christliche Gebets- und Prozessionstage
vor dem Fest Christi Himmelfahrt], 4) das Fest der Dreifaltigkeit, 5) die Frauenfeste [alle
Marienfeste] und deren Vorabende, auch wenn sie keine kirchlichen Festtage waren, 6) die
Fronleichnamsoktav, 7) Quatembern, 8) die Allerheiligen und deren Vorabende, 9) Allerseelen, 10) Christi Himmelfahrt, 11) Heilige Drei Könige, 12) 1. Oktober und 4. Novembern (Geburts- und Namenstag Karls VI.), 28. August und 18. November (Geburts- und
Namenstag von Elisabeth Christina), 19. und 20. Oktober (Jahresgedächtnis von Karl VI.),
15) nach Weihnachts- und Osterzeit, sowie Pfingsten durfte jedesmal erst am folgenden
Mittwoch oder Donnerstag mit dem Spiel begonnen werden. – Das vor dieser Verordnung
auf 260 Spieltage anberaumte Theaterjahr wurde damit auf 210 Spieltage reduziert, was zugleich einer drastischen Reduzierung der möglichen Einnahmen gleichkam.“ Aus: HaiderPregler, Des sittlichen Bürgers Abendschule, S. 454.
151 Zu deren Anzahl vgl. Müller, Tagebuch, S. 6 –298.
152 Am Leopoldstädter Theater eingehaltene Norma-Tage anlässlich von Kirchenfeiertagen
sind etwa: bis 1783 Allerheiligen und Allerseelen, bis 1787 die gesamte Fastenzeit (Aschermittwoch bis einschließlich Ostersonntag), dann bis 1793 in der Fastenzeit jeder Mittwoch, Freitag und Samstag und danach nur mehr der Aschermittwoch und die 10 Tage
von Palmsamstag bis Ostersonntag, das Pfingstwochenende bzw. ab 1786 nur mehr der
Pfingstsonntag, Fronleichnam, die Weihnachtsfeiertage (meist von 22. bis 25. Dezember)
und die Marienfeiertage (8. September Mariä Geburt etc.).
153 Exemplarisch seien genannt: sämtliche Trauerzeiten anlässlich des Todes von Angehörigen
des Herrscherhauses, jährlich die Sterbetage von Maria Theresia (28./29. November), Maria
Josepha (15. Oktober; d. i. eine Tochter Maria Theresias; † 1767), Josef II. (20. Februar),
Kaiser Franz I. (18. August) und Leopold II. (1. März) etc.
52
Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
Samstag bzw. Sonntag154 Schauspiele inszeniert werden durften, ab 1793 spielt man
in der Fastenzeit an allen Tagen außer an Palmsamstag und -sonntag, der Karwoche, sowie dem Osterwochenende, was die Anzahl der Spieltage auf 340 erhöht, eine
Zahl, die bis 1806 annähernd konstant bleibt. Einbrüche stellen nur das Jahr 1790
(296 Spieltage) und 1792 (290 Spieltage) dar, die Todesjahre von Kaiser Josef II. und
Kaiser Leopold II., in denen mehrwöchige Trauerzeiten ausgerufen wurden, die mit
Aufführungsverboten einhergingen und infolge für die Schauspielunternehmer arge
finanziellen Einbußen bedeuteten. Marinelli, der im Februar seiner Gesellschaft alljährlich die doppelte Gage gab155, vermutlich um seinem Ensemble so finanziell über
die spielfreie Fastenzeit zu helfen, zahlte auch während der Trauerzeiten die vollen
Gagen der Mitarbeiter weiter.156 Galt nach dem Erlass des „Norma-Edikts“ noch
an 155 Tagen im Jahr Spielverbot, waren es um 1806 nur mehr durchschnittlich
25 Tage, an denen sich der Vorhang der Leopoldstädter Bühne nicht hob.
Im Eröffnungsjahr 1781 verlautete der Theaterzettel des zweiten Spielabends (gegeben wurden die gleichen Stücke wie am Tag der Eröffnung: Aller Anfang ist schwer
und Der Wittwer mit seinen Töchtern, oder Mädln wollen Männer) die folgenden
nach der jeweiligen Sitzkategorie abgestuften Eintrittspreise:
„Eine große Loge, worein acht Personen gelassen werden, kostet täglich 5 fl. /
Eine kleine Loge worein vier Personen 2 fl 30 kr. / Auf dem ersten Parterre,
und ersten Gallerie bezahlt die Person 34 kr.157/ Auf dem zweyten Parterre, und
zweyten Gallerie 17 kr. / Im dritten Stockwerk 7 kr. […]“.158
Die preisliche Abstufung der Areale des Zuschauerraumes stellte sich in der Mitte
des 18. Jahrhunderts aufgrund des aufkeimenden Interesses von Adel und Hof an
den „Produktionen Fahrender“ ein, was eine örtliche „Abgrenzung der Stände“ nach
sich zog, um die gesellschaftlichen Unterschiede wie die Etikette während den Vorstellungen zu wahren.159 Auch das Leopoldstädter Theater wies, wie die Theaterzettel
zeigen, eine räumliche Strukturierung des Publikumsraumes auf, anhand derer der
154 Müller nennt zwar den Sonntag als Norma-Tag, im Bühnentagebuch ist aber immer am
Samstag ein „nichts“ anstatt einer Vorstellung eingetragen. Vgl. Müller, Tagebuch, S. 56–
57.
155 „Den ersten Freytag nach Aschermittwoch bekam die ganze Gesellschaft jedes Jahr ohne
ausnahme [!] doppelte Gage von H. Marinelli“. Ebenda, S. 57.
156 Vgl. ebenda, S. 92 und S. 116.
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„[…] die damals kursirenden Viertelkronen, welche 34 kr galten“ wurden „allgemein Kasperln“ genannt „und zwar darum, weil auch der Eintrittspreis in das Parterre des Leopoldstädter Theaters auf 34 kr. festgesetzt war“ Aus: Castelli, Memoiren meines Lebens, Bd. 1,
S. 257.
158 Vgl. Theaterzettel vom 21. Oktober 1781. In: Theaterzettel des Leopoldstädter Theaters in
der Wienbibliothek im Rathaus. Bd. 1. Wien: [o. V.] 1781–1798 (Sig. C 64525).
159 Tanzer, Spectacle müssen seyn, S. 136.
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LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
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gesellschaftliche Status bzw. das Vermögen der dort Platz Nehmenden ablesbar waren. Ein Logenplatz kostete mit knapp 63 Kreuzern fast doppelt soviel wie ein Platz
am ersten Parterre bzw. der ersten Galerie – eine preisliche Nuancierung, bei der sich
die Frage nach der selektiven Wirkung erübrigt.
Dreierlei Dinge sind es, die im Zusammenhang mit den Eintrittspreisen dieses Theaters bemerkenswert erscheinen: Erstens verfügte schon der alte Spielort der Badner
Gesellschaft in der Leopoldstadt, der Czerninsche Saal, über verschiedene Sitzkategorien, zweitens zeigen die Theaterzettel, die die Preise dieser Sitzkategorien nennen, dass mit der Eröffnung des stehenden Theaters keine Teuerung vorgenommen
wurde, d. h. die Gesellschaft spielte immer noch um annähernd den selben Preis,
wie sie es 1766160 in der Kurstadt Baden und 1769161 und 1780162 im Czernischen
Gartenpalais getan hatte. Drittens erfolgte auch nach 1781 – trotz des regen Zulaufes und des anhaltenden Erfolgs – bis zur Pachtübernahme durch Karl Friedrich
Hensler im Jahr 1803 keine Preiserhöhung der Theater-Billets. Hensler informierte
das Publikum über die preisliche Neuerung schließlich in einer eigens dafür verfassten Nachricht, die gegenüber 1781 leicht veränderte Kategorien aufweist:
„Meine Ausgaben, die sich seit der Pachtung durch jede Rubrik meiner theatralischen Bedürfnisse so sehr vermehrt haben, nöthigen mich von dem heutigen
Tage an das Entree um einen geringen Preiß zu erhöhen. Ich bin von der Billigkeitsliebe des verehrungswürdigen Publikums überzeugt, daß mir Niemand
diese geringe Preißerhöhung verargen wird, indem ich bereits schon durch die
Reinlichkeit des äusseren Schausplatzes sowohl als auch durch innere Einrichtung der Bühne und Dekorationen dafür gesorgt habe, das gnädige und verehrungswürdige Publikum nach Würde zu unterhalten. […] Preise der Plätze:
Eine Loge kostet 3 fl. / Ein gesperrter Sitz[163] auf dem ersten Parterre und
der ersten Gallerie 48 kr. / Erstes Parterre und erste Gallerie 36 kr. / Zweytes
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„Der Schauplatz ist bekannt. Das Leeggeld ist auf den ersten Partere 34 Kr. Auf den zweyten 17 Kr. Auf den letzten Platz 7 Kr.“. Theaterzettel der Badner Gesellschaft. In: Schindler,
Theatergeschichte von Baden bei Wien, S. 292.
161 „Auf dem ersten Parterre, und auf der ersten Gallerie bezahlt die Person 34 kr. Auf dem
zweytern Parterre 17 kr. Auf der zweyten Gallerie 7 kr.“. Theaterzettel der Badner Gesellschaft. In: Ebenda, S. 308.
162 „Eine Loge, in welche vier Personen eingelassen werden, kostet täglich 2 fl. Auf dem ersten
Parterre und Gallerie bezahlet die Person 34 kr. Auf dem zweyten Parterre und Gallerie
17 kr. Im dritten Platz 7 kr.“. Theaterzettel der Badner Gesellschaft. In: Schindler, Theatergeschichte von Baden bei Wien, S. 312.
163 Eine Sitzkategorie, die im Eröffnungsjahr 1781 noch nicht berücksichtigt wurde, auf einem
Theaterzettel vom 27. Dezember 1803 allerdings schon erwähnt wird: „die Logen und gesperrten Sitze“ sind „nicht allein im Theaterhause in der Leopoldstadt, sondern auch in der
Stadt im Kaffeehause […] auf dem Peters-Platz Nro. 603“ zu bestellen. Theaterzettel des
Leopoldstädter Theaters. In: Theaterzettel des Leopoldstädter Theaters in der Wienbibliothek im Rathaus. Bd. 1. Wien: [o. V.] 1781–1798 (Sig. C 64525).
54
Jennyfer Großauer-Zöbinger: Das Leopoldstädter Theater (1781–1806)
Parterre und zweyte Gallerie 20 kr. / Dritte Gallerie 10 kr. / Karl Friedrich
Hensler. Pächter und Directeur des k. k. priv. Theaters in der Leopoldstadt.“164
Beim Vergleich der Entree-Gelder des Leopoldstädter Theaters mit denen der Hoftheater zeigt sich, dass im Burgtheater bereits 1763 kein Platz um 7 Kreuzer zu
haben war. Hier logierte die (aristokratische) Ober- und Mittelschicht unter Einbeziehung des Hauspersonals – das vermutlich auf die billigsten Ränge im vierten
Stock befohlen war, wo das Billet 17 Kreuzer kostete. Das Kärntnertortheater, Unterhaltungsstätte des Bürgertums, schrieb Karten der günstigsten Kategorie bei den
italienischen Komödianten mit 17 Kreuzern aus; für 7 Kreuzer erhielt man lediglich einen Platz im vierten Stock bei den deutschen Komödianten, was den Schluss
nahe legt, dass die deutsche Komödie von jeher für das wenigste Geld und somit
für die einkommensschwachen Schichten zu sehen waren.165 Ebenso günstig waren die „Kreuzerkomödien“, laut Perinet „der Sammelplatz von Zottenreißern und
Schweinigeln“ und damit ein erwähnenswertes soziales „Aergerniß“, bei denen um
7 Kreuzer ein Sitz im „Parterre noble“ erstanden werden konnte („Siebnerplatz“).
Zielgruppe waren v. a. „Kinder, Mägde“ und der „Kaufmannsdieneradel“166 – also
zumeist deutschsprachiges Publikum aus den unteren Schichten. Auch in den Komödienhütten am Graben (wo vermutlich ebenso Kreuzerkomödien gespielt wurden) zahlte man 1793 7 Kreuzer fürs „Parterre noble“167, gleich viel wie 1769–1803
für die billigste Kategorie in der Leopoldstadt.
Schon wegen des Preisgefälles von den Hoftheatern über die Vorstadttheater zu den
Komödienhütten scheint die den Theaterbesuchern zugesprochene freie Wahl von
Spielstätte und Art der Unterhaltung reine Illusion zu sein.
164 Nachricht. In: Ebenda.
165 Vgl. hierzu: Tanzer, Spectacle müssen seyn, S. 138 –139.
166 Joachim Perinet: 29 Aergernisse. Wien: Torricella 1786, S. 32–33.
167 Blümmel und Gugitz, Thespiskarren, S. 319.
55
Kasperls komisches Habit
Zur komischen Gestalt und zur Gestaltung der Komik in Erfolgsstücken des Leopoldstädter Theaters um 1800
Von Andrea Brandner-Kapfer1
Johann Josef La Roche2 (1745–1806)
Biografische Voraussetzungen
Für den 1. April des Jahres 1745 verzeichnen die Taufmatrikel des Pressburger Martinsdomes die Taufe des Knaben, der später als Schauspieler die Charge des Kasperl
übernehmen sollte und dieser Gestalt „feste Umrisse gab und sie zu einem Typus
machte, so daß [… er] dann zum Kasperl überhaupt wurde“3, und um den
„zu sehen, zu hören, zu bewundern, zu belachen, zu beklatschen, täglich hundert rollende Kutschen und mehrere hundert schnaubende Fußgänger zum Roten Turm hinausjagen, um sich die Grillen des Tages von der Stirne zu scheuchen und zum frohen Abendmahl Stoff zum Gespräch zu holen.“4
56
1
In: Andrea Brandner-Kapfer, Jennyfer Großauer-Zöbinger und Beatrix Müller-Kampel:
Kasperl-La Roche. Seine Kunst, seine Komik und das Leopoldstädter Theater. Graz: LiTheS 2010. (= LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie. Sonderband 1.)
S. 56–104.
2
Für die Biografie wurden herangezogen: La Roche. In: Constant von Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaisertums Österreich, Bd. 14. Wien: Verlag der k. k. Hof- und Staatsdruckerei, S. 161–163. Otto G. Schindler und Christian Fastl: La Roche (Laroche), Familie. In: Österreichisches Musiklexikon. Kommission für Musikforschung. Wien: Verlag
der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2002. Online: http://epub.oeaw.ac.at/
ml/musik_L/La_Roche_Familie_2.xml [Stand 2009-06-15]. Marlena Zahubień: Joachim
Perinet, Schauspieler und Theaterschriftsteller. Edition und Studie. Graz, Univ., Mag.-Arb.
2008. Gustav Gugitz: Der Weiland Kasperl (Johann La Roche). Ein Beitrag zur Theaterund Sittengeschichte Alt-Wiens. Wien, Prag und Leipzig: Strache 1920. Otto Rommel:
Die Alt-Wiener Volkskomödie. Ihre Geschichte vom barocken Welttheater bis zum Tode
Nestroys. Wien: Schroll 1952. Ignaz Franz Castelli: Memoiren meines Lebens. Gefundenes
und Erfundenes. Erlebtes und Erstrebtes. Mit einer Einleitung und Anmerkungen neu hrsg.
von Josef Bindtner. Bd. 1 und Bd. 2. München: Müller [o. J.] (= Denkwürdigkeiten aus
Alt-Österreich. 9.). Josef Kürschner: Laroche. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 17.
Leipzig: Duncker & Humblot 1883, S. 717.
3
Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 429.
4
Johann Pezzl: Skizze von Wien. Ein Kultur- und Sittenbild aus der josefinischen Zeit. Hrsg.
von Gustav Gugitz und Anton Schlossar. Graz: Leykam 1923, S. 320.
Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
Viel ist aus seiner Jugendzeit nicht bekannt, geboren wird La Roche in Bratislava
(Poszony, Pressburg)5 als Sohn eines Lakaien im Dienste des Grafen Nádasdy6 und
man weiß, dass er wohl den Beruf eines Barbiers ausübte, doch seine Ausbildung
und auch seine Wanderjahre bleiben im Dunkeln. 1764 befindet sich La Roche
in Graz. Hier tritt der knapp 20-jährige erstmals als Sänger und Schauspieler in
Erscheinung. Zumindest vier Jahre lang ist La Roche Mitglied der Brunianschen
Gesellschaft7, eventuell war er schon zuvor im Engagement bei Brunian und begleitete dessen Truppe von Prag nach Graz, hier verkörperte er Bediente, Hausknechte
und vor allem den Kasperl,8 den er später „als theatralische Großmacht“9 etablieren
sollte.
Als Matthias Menninger 1768 mit seiner Truppe in Graz gastiert, übernimmt dieser
La Roche in seine Gesellschaft,10 ein Entschluss, der vermutlich durch den Abgang
5
Über seine Herkunft bzw. seine Abstammung berichtet La Roche in späterer Zeit auf der
Bühne: „Mein Großvater ein Franzose, mein Vater ein Schwabe, meine Mutter eine Österreicherin, ich ein halber Wiener und ein geborener Preßburger“. Karl von Marinelli: Der
Anfang muß empfehlen. Ein Vorspiel in einem Aufzuge. Bey Eröffnung der Schaubühne in
der Leopoldstadt, von den Unternehmern Menninger, und Marinelli. Wien: Schulz [1777].
In: Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 38–39.
6
Vgl. den Eintrag in das Taufbuch von St. Martin in Pressburg. Zit. nach Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 288.
7
Geleitet von Johann Josef Brunian (1733–1781), der auch in Brünn und Prag spielte und
selbst die Rolle des Burlin übernahm. In der Steiermark trat die Bruniansche Gesellschaft
am Grazer Tummelplatz und in verschiedenen Schlosstheatern auf. Möglicherweise stand
La Roche schon zuvor im Engagement der Brunianschen Gesellschaft und gelangte in diesem Verband nach Graz; ein Eintrag in Müllers Theatral-Neuigkeiten lässt dies vermuten,
da unmittelbar nach Ankündigung der Gesellschaft („Nach Hrn Moser kam Hr. von Brunian ohngefehr im Jahr 1764 mit seiner starken und geschickten Gesellschaft von Prag auf
Gräz“) La Roche als Mitglied der in Graz spielenden Truppe genannt wird. Vgl. Johann
Heinrich Friedrich Müller: Theatral-Neuigkeiten. Nebst einem Lustspiele und der dazu
gehörigen Musik, wie auch die in Kupfer gestochenen Vorstellungen, des Theaters. Wien:
Ghelen 1773, S. 191–192.
8
Vgl. Müller: Theatral-Neuigkeiten, S. 193. Müller äußert sich geradezu euphorisch über
die Darstellungskunst der Mitglieder der Brunianischen Gesellschaft: „Sein Theater war
glänzend, seine Schauspieler gut, seine Kleider prächtig und seine Ballette einnehmend. Er
versäumte nicht, so gar mit seinem eigenen Schaden, das Publikum zu vergnügen. Unter
ihm sahe man seit des Mingotti Zeiten, die ersten großen, doch viel bessere Ballette, wieder.
Regelmäßige Stücke der Inn- und Ausländer, Operetten und sparsam abwechselnde Burlesquen, machten seine Schaubühne zu einem Garten für jeden.“ Ebenda, S. 192.
9
Gerhard Ebert: Der Schauspieler. Geschichte eines Berufes. Ein Abriß. Berlin: Henschel
1991, S. 205.
10 Im Rahmen der Festvorstellung (Cornelius von Ayrenhoff: Trajan und Aurel oder Wettstreit
zwischen Liebe und Gerechtigkeit), die Menninger im Oktober (anlässlich des Namenstages
Maria Theresias) ankündigte, wurde als Beschluss – so es die Zeit erlaube – der „Casperle
mit einem lustigen Nachspiel“ am Theaterzettel avisiert. Vgl. Kasperl erstmals erwähnt. In:
Landeschronik Steiermark. Hrsg. von Walter Zitzenbacher. Wien, München: Brandstätter
1988, S. 179.
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LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
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Brunians „wegen Überschuldung“11 nach Prag unterstützt wurde und der absolut
entscheidend die Entwicklung des Wiener Theaterlebens beeinflussen sollte. Doch
zunächst verbleibt die Gesellschaft in Baden, hier in der südlich von Wien gelegenen
Kurstadt reüssiert La Roche als Kasperl. Bereits seit 1767 spielte die Menningersche Gesellschaft sommers in Baden, im Winter reiste die Truppe nach Pressburg
(1765–1767 sowie 1772/73), Pest (1770/71 und 1774/75) und schon zuvor, nämlich
1768/69 hatte Menninger „den weitesten Vorstoß unternommen, nach Graz, wo das
Engagement Kasperls gelang“12 . Einem anonymen Broschürenautor13 zufolge trat
La Roche während des Interims von Graz nach Wien auch am Wiener Kärntnertortheater auf, und zwar als Tänzer:
„Dies geschah und La Roche schuf für die Bühne einen neuen Charakter. –
Denn er war der erste Kasperl. Kaspars witzige Einfälle ließen bald die niedrigsten Späße der Bernardons und Hanswurste vergessen; er kam von da unter
Noverres Zeiten nach Wien, spielte im Kärntnertortheater in den Balletts; ging
von da nach Baden zu der Direktion der Herren Menninger und Marinelli;
kam mit letzterem wieder nach Wien; spielte im Czerninischen Garten bis zur
Erbauung der jetzigen Leopoldstädtischen Bühne; und es bleibt erwiesene Tatsache, daß er den Grundstein zum Wohlstande des letztern legte.“14
Gugitz beruft sich auf den Hauskomponisten des Leopoldstädter Theaters Wenzel
Müller, der anlässlich des Todes von La Roche in seinem Theater-Tagebuch von
einem mehr als 40-jährigen Engagement des Kasperl-Darstellers auf der Leopoldstädter Bühne spricht15, und wähnt in der Verpflichtung am Kärntnertor einen
„vorübergehende[n] Versuch“ oder gar ein „Mißverständnis“16 – auszuschließen ist
ein Gastspiel jedoch nicht, zumal auch Müller in seiner Chronik vor Pauschalierungen nicht gefeit war. Bekannt ist, dass der in Wien tätige Theaterpächter Giuseppe
11 Schindler und Fastl, La Roche (Laroche), Online.
12 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 414.
13 La Roches erster – namentlich nicht fassbarer – Biograf, veröffentlichte unter dem Titel
Gedrängter Auszug aus dem Leben des verstorbenen Johann La Roche, sogenannten Kasperls
die erste Vita La Roches. Diese ist dem ersten der Totengespräche La Roches als Prolog
beigefügt. Vgl. La Roche’s Todtenfeyer, oder des sogenannten Kasperls Gespräch am jenseitigen Ufer des Styx mit dem Schatten einer seiner Directeure. In Knittelversen. Vorher ein
gedrängter Auszug aus seinem Leben. Wien: Rehm 1806. In: Gugitz, Der Weiland Kasperl,
S. 111–115. Schon Joachim Perinet bemängelte an dieser ersten Biografie deren Fehlerhaftigkeit. Vgl. Gugitz, ebenda, S. 282.
14 Gedrängter Auszug aus dem Leben des verstorbenen Johann La Roche, sogenannten Kasperls. In: Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 112.
15 Vgl. Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 337.
16 Ebenda, S. 243.
58
Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
d’Affligio17 versuchte, „das zaghaft aufblühende regelmäßige Stück zu knicken“18
und dazu unter anderem Menninger mit dessen Truppe zu engagieren.19 Obschon
es d’Affligio nicht gelang, die Truppe Menningers und mit ihr La Roche an das
Kärntnertortheater zu binden, wurde die Schau- und Lachlust des Wiener Publikums durch den Auftritt einer neugeprägten lustigen Figur befriedigt. Seit dem
Winter 1777 trat La Roche in Menningers Truppe in der Leopoldstadt (zu diesem
Zeitpunkt noch eine Vorstadt Wiens), und zwar im Czerninischen (auch „Wimmerischen“) Saal auf (in Baden agierte die Gesellschaft nach wie vor bis 1783 während
der Sommermonate). Ein Theaterzettel sucht ein durchaus gemischtes Publikum in
die Komödie zu locken:
„Avertissement: ‚Auf Verordnung einer k. k. privilegirten deutschen Theatral­
direction wird Herr Meninger mit seiner bekannten baadnerischen Schauspieler­
gesellschaft den sämmtlichen Gönnern mit ausgesuchten lustigen Komödien
auf einige Zeit eine Unterhaltung zu machen suchen. Kosten, Müh, und Fleiß
sind nicht gesparet worden, den Schauplatz, und die Bühne, bequem, und ordentlich auszu­zieren, damit sowol der Adel, als das Publikum in Ansehung der
Gemächlichkeit bestens bedienet werden kann. Sonntag den 15. Weinmonats,
wird zum Erstenmal ein Lustspiel aufgeführet werden. Der Schauplatz ist in
der Leopoldstadt unweit der Jägerzeil im Wimmerischen, oder sogenannten
Zserninischen Saal.‘“20
17 Giuseppe d’Affligio (d’Afflisio, Afflissio) (16. März 1722–23. Juni 1788), Theaterpächter
und Reisender. Seine Reisen führten ihn seit Anfang der 1740er Jahre durch italienische
und französische Städte, nach Dresden und Innsbruck, München, Paris und London. Um
1750/51 gelangte er erstmals nach Wien, 1756 und 1760/61 zwei weitere Male, ehe er im
Mai 1767 hier einen Vertrag unterzeichnete, durch den ihm die Pacht des Wiener Burgtheaters und des Kärntnertortheaters für zehn Jahre zugesprochen wurde. Schon 1769 musste er,
der ausgesprochen schlecht wirtschaftete, Teilhaber und Investoren aufnehmen (Christoph
Willibald Gluck, Philipp Jacob Baron Bender und Franz Lopresti). 1770 trat er schließlich
alle Theatervollmachten an Johann Nepomuk Graf von Koháry ab, verließ Wien und wandte sich in den Süden. 1778 wurde d’Affligio wegen Finanzbetrugs in Bologna zu lebenslanger Strafarbeit verurteilt.
18 Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 244.
19 Die Gründe dafür sind wohl finanzieller Natur. Auch versuchte d’Affligio im selben Jahr
aus einem Neuengagement des gealterten Komödianten und ehemaligen Bühnengröße des
Kärntnertortheaters Johann Joseph Felix von Kurz (1717–1784) Kapital zu schlagen, doch
der Plan scheiterte ebenso wie der Versuch, Menninger bzw. La Roche an das Kärntnertortheater zu binden. Vgl. Andrea Brandner-Kapfer: Johann Joseph Felix von Kurz – Lebens- und Werkchronik. In: A. B.-K.: Johann Joseph Felix von Kurz. Das Komödienwerk.
Historisch-Kritische Edition. Graz, Univ., Diss. 2007, S. 785, Anm.1 und Hilde HaiderPregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des
Berufstheaters im 18. Jahrhundert. München: Jugend und Volk 1980, S. 495, Anm. 239.
20 Theaterzettel des Leopoldstädter Theaters a. d. Jahr 1769. Zit. nach Franz Hadamowsky:
Das Theater in der Wiener Leopoldstadt 1781–1860. Bibliotheks- und Archivbestände in
der Theatersammlung der Nationalbibliothek Wien. Mit der Einleitung: Die Theatersammlung der Nationalbibliothek in den Jahren 1922–1932 von Joseph Gregor. Wien: Höfels
1934. (= Katalog der Theatersammlung der Nationalbibliothek. 3.) S. 43.
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Die Menningersche Gesellschaft konnte sofort unglaubliche Erfolge verbuchen und La Roche füllte die Leere, die der Abgang des Johann Joseph
Felix von Kurz (1717–1784, Rolle des Bernardon) bzw. der Tod Gottfried Prehausers
(1699–1769, Rolle des Hanswurst) in Wien hinterlassen hatten. Wie sehr die Tradition die Anfänge der Menningerschen Truppe bestimmte, beweist exemplarisch
ein Theaterzettel, der (nach ihrem anderen Schauplatz bezeichneten) Badner Gesellschaft mit La Roches Auftritt in der Leopoldstadt:
„Ein auf die Person des Casperle eingerichtetes Lustspiel unter dem Titel: Casperle der unschuldige Missethäter, oder der falsche und ungegründete Verdacht,
mit Hanswurst, dem geschickten Narrenfopper und groben Postenträger nebst
Colombine und Isabelle, den ungleichen Freundinnen der Mannspersonen.
NB. Casperle wird diesen Charakter nach lebhafter Natur spielen.“21
Seit 1761 gehört der Truppe, die, dem harten Urteil Rommels zufolge, „außer Laroche-Kasperl keine einzige Persönlichkeit von Rang“22 aufweisen kann, auch Karl
Marinelli an. Dieser wird 1777 zum Kompagnon Menningers und zur wirtschaftlich geschickt agierenden und treibenden Kraft der Gesellschaft, die zu diesem
Zeitpunkt noch aus relativ wenigen, überwiegend familiär verbundenen Personen
besteht.23 Marinelli verdankt das Wiener Publikum nicht nur die Förderung und
Weiterentwicklung alter Burlesken, Singspiele und Komödien, ihm verdankt es
auch die Schaffung einer neuen Spielstätte für all die genannten Genres und der
sich schlussendlich entwickelnden Kasperliade: am 4. November 1780 ergeht das
Gesuch Marinellis, in der Leopoldstadt ein ordentliches, mit den kaiserlich-königlichen Privilegien versehenes Schauspielhaus errichten zu dürfen; am 20. Oktober
1781 wird das neue Theater in der Leopoldstadt (das „Kasperltheater“) eröffnet, und
es dauert nicht lange, bis Kasperl zur tragenden Figur der Bühne wird, die auch
schnell den Spielplan prägt – Wurzbach erklärt, La Roche wäre gar „meteorartig in
den Vordergrund“24 getreten. La Roche betritt in jedem Monat etwa fünfzehnmal
als Kasperl die Bühne und beherrscht diese fortan für viele Jahre. Ungeachtet der
21 Theaterzettel vom 25. Oktober 1769. Zit. nach Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 244–245.
22 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 416.
23 Vgl. dazu die Kurzbiographien: Biographische Skizzen der Angehörigen des Leopoldstädter Theaterbetriebes (Mäzene des Kasperls). Zusammengestellt von Andrea Brandner-Kapfer. In: FWF-Projekt Nr. P20468 (15. Jänner 2008–14. Juli 2009): Mäzene des Kasperls
Johann Josef La Roche. Kasperliaden im Repertoire des Leopoldstädter Theaters. Kritische Edition und literatursoziologische Verortung (2008/09). Mitarbeiterinnen: Andrea
Brandner-Kapfer, Jennyfer Großauer-Zöbinger; Leitung: Beatrix Müller-Kampel. I. d. F.
zitiert als Mäzene des Kasperls. Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/maezene_startseite.html [Stand 2009], hier: http://lithes.uni-graz.at/maezene-pdfs/maezene_kurzbio.pdf
[Stand 2009].
24 Constant von Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaisertums Österreich. Bd. 14.
Wien: Verlag der k. k. Hof- und Staatsdruckerei Biographisches Lexikon des Kaisertums
Österreich 1865, S. 161.
60
Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
anderen Komiker, die ihr Glück als Kasperl versuchen25, die aber tatsächlich nicht
in der Lage waren, La Roches Ausdrucksweise zu erreichen, gelang es La Roche, sich
förmlich in die erste Reihe der Wiener Vorstadtkomiker „zu spielen“.26 Erst als das
Singspiel in Mode gerät, können auch andere Komiker (etwa Anton und Friedrich
Baumann, Johann Sartory und Anton Hasenhut) an die Erfolge Kasperls anschließen, da der „stimmlich schlecht ausgerüstete[...]“27 La Roche in dieser Hinsicht auf
seine komischen Partner angewiesen ist.
Auch als Schriftsteller versucht sich La Roche. Er
„schrieb auch und zwar gewöhnlich die Stücke für seine Einnahmen. Das waren dann immer förmliche Theaterereignisse; acht Tage zuvor wurden die Logen bestellt, und am Tage der Vorstellung drängte sich das Publicum in Haufen
vor dem Schau­spielhause. Alles wollte an diesem Tage dem Mann, der es das
ganze Jahr mit seiner grotesken Laune ergötzt hatte, sein Schärflein beitragen.
Die Gegengabe, welche dem Publicum Kasperl mit seinem Stücke dargebracht,
war aber eine dramatische Unge­heuerlichkeit, die jedoch immer um so wirksamer war, von je kolossalerem Unsinn sie strotzte.“28
Diese Benefizstücke, die der Chronist Pezzl als „für seine Person zwar passend, im
ganzen aber höchst elend“29 bezeichnet und der Theaterdichter Adolph Bäuerle als
„selbst komponierte Faxen“30 abtut, wurden nicht gedruckt und sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch als Manuskript in den Bibliotheken nicht auffindbar. Eben
so wenig gibt es aufschlussreiche Zeugnisse über La Roches Gastspiel in Graz, der
Stadt seiner ersten Erfolge, welches er mutmaßlich im Jahr 1800 absolvierte.31
25 Etwa Philipp Burghuber (* um 1758–1794), der einen sehr bäuerischen Kasperl verkörperte
und der mehrfach jährlich das Engagement wechseln musste. Vgl. Rommel, Alt-Wiener
Volkskomödie, S. 429.
26 Joachim Perinet lässt im Theatralischen Guckkasten Bajazzo einen Blick in die Anfangszeiten der Gesellschaft um Kasperl werfen: „So sind die Directeurs als gute Fratelli Herr
Menninger und der brave **** [Marinelli] hinaus in die Leopoldstadt in Saal zum Czernini,
um dort zu sammeln die Ducatini. La Roche der Kasperl war ihr Auf und um, sie hatten viel
Zulauf vom Publikum, es regnete Geld, und in kurzer Frist ward jeder bald ein Kapitalist.“
Joachim Perinet: Theatralischer Guckkasten mit Dekorationen vergangener, gegenwärtiger
und künftiger Zeit. Wien: [o. V.] 1807, S. 4.
27 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 431. Siehe auch Castelli: „Er sang auch Couplets,
aber ganz ent­setzlich.“ Castelli, Memoiren meines Lebens, Bd. 1, S. 260.
28 Wurzbach, Biographisches Lexikon, Bd. 14, S. 162.
29 Pezzl, Skizze von Wien, S. 324.
30 Alt-Wiener Kulturbilder. Aus Adolf Bäuerle’s Memoiren. Hrsg. von Josef Bindtner. Wien:
Steyrermühl 1926. (= Tagblatt-Bibliothek. 322. 323.) S. 61.
31 Vgl. Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 431.
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Auch sein Privatleben liegt weitgehend im Dunkeln. Man weiß, Adolph Bäuerles
Memoiren zufolge, dass er im Leben „ernst und gemessen“ war; er
„vermochte nicht den geringsten Scherz vorzutragen, liebte auch Gesellschaft
nicht, besuchte weder Gast- noch Kaffeehäuser und lebte nur für seine Frau
und Kinder. Von seinen Kollegen ging er nur mit Anton Baumann um, den er
einen echten Komiker nannte. ‚Ich muß mich glücklich schätzen‘, sagte er oft,
‚daß das Publikum nicht meinen Geschmack hat, denn dächte es wie ich, so
würde der Kasperl längst ausgespielt haben.‘“32
Bekanntermaßen neigt Bäuerle dazu, die Geschichte als Künstler zu betrachten,
und so seine Memoiren – wie auch seine biografischen Romane über Therese Krones
oder Ferdinand Raimund – mit wesentlichen Anteilen an Fiktion zu vermengen.
Widersprüchlich ist etwa die Behauptung, La Roche hätte keine Wirtshäuser besucht, zu anderen diesbezüglichen Aussagen; so vermerkt Eduard Bauernfeld, dass
La Roche vor Auftritten wiederholt „mit Mühe aus dem Bierhause herbeigeholt“33
werden musste, Karl Marinelli selbst legt La Roche, den er beim Eröffnungsstück
des Leopoldstädter Theaters Aller Anfang ist schwer als La Roche selber auf die Bühne
bringt, folgende bezeichnende Worte in den Mund: „Ich bin ohnehin ein Wasserkind, das beim Wein aufgewachsen ist“34, und seine Stimme klang gar – glaubt man
seinen Kritikern – „versoffen“35.
Obschon ein Rollenbild36 und eine Silhouette37 La Roches über sein Aussehen Auskunft geben, vermitteln doch die Aussagen seiner Zeitgenossen und Chronisten ein
wesentlich lebendigeres Bild: Er war in „seiner Frühzeit [...] nach allen Zeugnissen
von einer unerhörten Beweglichkeit und Lebendigkeit“38, später wurde er, „wie es
scheint [...] ziemlich dick“39; auf „sein ‚Erbsengesicht‘, das heißt auf seine Blatternar32 Bäuerle, Alt-Wiener Kulturbilder, S. 60.
33 Eduard Bauernfeld: Gesammelte Schriften. Bd. 12: Aus Alt- und Neu-Wien. Wien: Braumüller 1873, S. 39.
34 Karl Marinelli: Aller Anfang ist schwer. Ein Gelegenheitsstück in einem Aufzuge. Bey Eröfnung des neuerbauten Schauspielhauses in der Leopoldstadt. Wien: [o. V.] 1781. In: Gugitz,
Der Weiland Kasperl, S. 51–73, hier S. 58.
35 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 432.
36 Vgl. u. a. Franz Hadamowsky: Wien. Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum Ende
des Ersten Weltkrieges. Hrsg. von Felix Czeike. München und Wien: Jugend und Volk
1988. (= Geschichte der Stadt Wien. 3.) Tafel XXIV.
37 Vgl. Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 240 a.
38 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 432.
39 Ebenda. Bauernfeld (Aus Alt- und Neu-Wien, S. 39) nennt La Roche dick und behaglich.
Vgl. auch die Komödien, wo ihn seine Mitspieler wiederholt als „dicken Wampel“ bezeichnen.
62
Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
bigkeit, wird oft angespielt. ‚Zerrissen‘ nennt Perinet in Kaspars Zögling (1791) sein
Gesicht.“40 Ignaz Franz Castelli charakterisiert La Roche als „gedrungene[n] Mann,
mittlerer Statur, mit lebhaften Augen und stark markierten Zügen“41, und La Roche
bezeichnet sich in einer Posse selbst als „Knerzel“42. Alles in allem scheint schon das
Äußere La Roches eher einer komischen als einer ernsten Rolle entgegenzukommen.
Das Kostüm Kasperls entsprach zunächst dem seines hanswurstischen Vorfahren:
Er trug die Bauernkleidung mit weiter Hose und Jacke und zuweilen auch den berühmten schwarzen Bart, den er jedoch bei Bedarf ablegen konnte.
„Um 1790 ging der Wiener Kasperl ‚schon sehr moderner‘ in ‚Charakterkleidung, je nachdem es seine Rollen erforderten‘, und ein Kasperl im Sommertheater in Brünn, der noch in der alten stereotypen Kleidung auftrat, wurde schon
als veraltet empfunden.“43
Mehr noch als die Kleidung prägten seine Erscheinung, sein Auftreten die Figur, wie zahlreiche Quellen belegen. La Roche hätte sich durch seine „komische
Pöbelphysiognomie“44 ausgezeichnet, schreibt der Biograf Wurzbach, nur ein Mittel, dessen Kasperl sich bediente, um das Publikum in seinen Bann zu ziehen, besser,
zu amüsieren, zum Lachen zu bringen und auch die Theaterzeitung thematisiert in
einer Reminiszenz aus dem Jahr 1807 das Gesicht und die Mimik La Roches:
„Das Stück45 ist daher eins von den wenigen alten, wo Kasperle eine bestimmte
Physiognomie von dem Dichter erhalten hat, Dummheit, Gutmüthigkeit und
Laune liegen in seinem Charakter, welches die spätern Dichter oft außer Acht
ließen, und ihren Helden noch ein Quintchen Witz und Verschmitztheit zuwogen. Der unvergeßliche La Roche wußte derley Mißgriffe immer zu beschönigen, und wenn er gleich manchmal einen witzigen Gedanken zu sagen hatte, so
benahm er sich immer so, als wenn er ihm entschlüpft sey, wie durch einen Zufall, wie auch manchmal eine blinde Henne ein Weitzenkörnchen findet; es lag
40 Ebenda.
41 Castelli, Memoiren meines Lebens, Bd. 1, S. 259.
42 Joachim Perinet: Kasperl’s neu errichtetes Kaffeehaus oder Der Hausteufel. Eine komische
Oper in drey Aufzügen nach einem Manuskripte für die k. k. privil. Schaubühne in der
Leopoldstadt frey bearbeitet. Wien: Schmidt 1803, S. 12. Hrsg. von Jennyfer GroßauerZöbinger. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/maezenepdfs/translit_perinet_kaffeehaus.pdf [Stand 2009].
43 Hadamowsky, Das Theater in der Wiener Leopoldstadt, S. 48.
44 Wurzbach, Biographisches Lexikon, Bd. 14, S. 162. Vgl. auch Pezzl, Skizze von Wien,
S. 324.
45 Kasperl, der Hausherr in der Narrengasse; eine Komödie, die auf Basilisco di Bernagasso zurückgeht und in verschiedenen Variationen am Wiener Volkstheater häufig zu sehen war.
Vgl. u. a. Otto G. Schindler: Commedia dell’arte as children’s theatre. The Landlord in the
Fool’s Street, 1828 at Sopron. 30. September 2003. Online: http://www.kakanien.ac.at/
beitr/fallstudie­/OSchindler1.pdf [Stand 2009-07-09].
63
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in seinem ganzen Spiel mehr Kunst als in irgend seinen Nachfolger zusammen
lag. Mit den Situationen und Um­gebungen war er immer beschäftigt, er wußte
stets das Ensemble herauszurechnen, immer Harmonie in die Darstellung zu legen. So sah ich ihn einmal im lustigen Beylager, wo er mit Haspel eine Scene hat,
die ohne dem andern Komiker seine Lazzi zu verderben, ganz ausdrucksvoll und
höchst scherzreich durchbrach. Seine Grimassen hatten auch immer Rundung,
Verträglichkeit und passende Umrisse. Das Erstaunen, die Furcht, die Noth, die
Freude, das Erwachen, Sehnsucht, Hunger, und Durst verschied sich immer richtig und motiviert, und fiel niemahls albern, unsittlich oder fad in die Augen.“46
Derartiger Würdigung steht natürlich auch Einwand gegenüber: Beanstandungen
gab es nicht nur von Seiten derer, die Kasperl generell ablehnten – wie noch im Folgenden zu lesen sein wird –; der Reisende von der Stranden beklagt, dass La Roche
„wenig Mühe auf die Erlernung der Rollen verwende, und sich nicht befleiße, statt
der alltäglichen Grimassen, die Zuschauer mit einem neuen abwechselnden Spiel zu
unterhalten“47, doch offensichtlich taten die öfters bemängelnden Grimassen48 der
Beliebtheit des und dem Zulauf zu Kasperl keinen Abbruch. Vergleichbares gilt für
La Roches Stimme, per se das wichtigste Bühneninstrument eines jeden Schauspielers, das besonders im weit­gefassten europäischen Theaterbetrieb um 1800 autodidaktisch oder später zunehmend institutionell gesanglich und sprachlich zu schulen
war. La Roche war keineswegs ein ausgezeichneter Sänger und Kritiker sprechen
überhaupt von einer schnarrenden Stimme des Schauspielers, ein weiteres Charakteristikum, das zur Besonderheit des Kasperl beitrug. Auch sprach er, wie es den
meisten seiner eigens verfassten Rollen einge­schrieben war, Dialekt, genauer den
„gemeine[n] Wiener Dialekt, nur sprach er ihn mehr breit als rund und hing oft
an einzelne Worte, besonders an das Wort ‚Er‘ ein a an, worüber man nicht wenig
lachte“49. Gerade die frühen Rollen des Repertoires (Händler unterschiedlichster
Waren, Wirte, Bediente, Handwerker) verlangten die Verwendung des Dialektes
und dieser wiederum zeichnete die Bühnenfigur als „nichts mehr, als einen österreichischen Bauern“50; ein Bild, das wiederholt die Darstellungsweise La Roches zu
kennzeichnen versucht:
46 Zeitung für Theater, Musik und Poesie. Nr.14 vom 3. Oktober 1807, S. 30.
47 Gotthold August von der Stranden: Unpartheyische Betrachtungen über das neuerbaute
Schauspielhaus in der Leopoldstadt, und die sämtlichen Glieder der Gesellschaft. Wien:
Hartl und Grund 1781, S. 28.
48 Vgl. Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 433; Pezzl, Skizze von Wien, S. 324. Zeitung
für Theater, Musik und Poesie. Nr.14 vom 3. Oktober 1807, S. 30.
49 Wurzbach, Biographisches Lexikon, Bd. 14, S. 162.
50 Johann Friedrich von Schink: Dramatische und andere Skizzen nebst Briefen über das Theaterwesen zu Wien. Wien: Sonnleithner 1783, S. 123–124.
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Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
„Was ist der Kasperl? Nichts anders als ein steiermärkischer Bauer, mit den
Sitten und der Sprache eines solchen Bauers, gewöhnlich in der Rolle eines
Bedienten, der durch Tölpeleien, durch Mißverstehen, durch Dummheiten, zu
Zeiten auch durch Witz, Lachen zu erregen sucht, der seine Nase und seine
Zunge, ja seine Hände und Füße überall hat, der die beste Sache verdirbt und
bei der schlechtesten immer gut wegkommt, der unerhört grob und beißend ist
und den kein Herr nur eine Stunde als Bedienter im Hause leiden könnte. Dies
ist Kasperl.“51
Die oben bereits angesprochene Fabulierlust Bäuerles weiß zu vermelden, dass sich
La Roche in seinen späteren Jahren im Repertoire des Leopoldstädter Theaters nur
noch schwer zurechtfand – sein Förderer Marinelli war zu diesem Zeitpunkt bereits
verstorben52 und dessen Nachfolger als Direktor, Hensler, fügte sich dem Zeitgeschmack und baute den Spielplan zwar sorgsam aber doch beträchtlich um:
„Laroche empfand dies schmerzlich; er war alt geworden und fühlte es. Auch
Hensler merkte, daß die Zeit des Kasperls vorüber sei. Es kamen andere Stücke
auf die Bühne, die Lokallustspiele. Hensler ließ es ihm [!] empfinden, daß er
der Kasse kein Geld mehr einbringe. Er feindete ihn an und warf ihm vor, seine
Gage nicht mehr zu verdienen. Das nahm sich der alternde Kasperl zu Herzen,
er begann zu kränkeln und nicht lange darauf war er tot.“53
Aus den Aufzeichnungen des Kapellmeisters und Komponisten Wenzel Müller geht
jedoch hervor, dass La Roche verlässlich beinahe jeden zweiten Tag auf der Leopoldstädter Bühne spielte. Im Dezember des Jahres 1802 erkrankt La Roche so schwer,54
dass ihm ein Priester bereits das Sakrament der Krankensalbung55 spendet. Erst
nach gezählten 58 Tagen56 scheint La Roche geheilt und tritt als Kasperl am 3. Februar 1803 wieder auf die Bühne. Nichtsdestoweniger kränkelt der Kasperl seit dieser
51 Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 256.
52 Karl Friedrich Hensler übernimmt die Direktion des Leopoldstädter Theaters förmlich am
29. September 1803. Vgl. Andrea Brandner-Kapfer: Karl Friedrich Hensler. Biographie,
S. 4. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene-pdfs/
bio_hensler.pdf [Stand 2009]. Marinelli stirbt am 25. Jänner1803. Vgl. Jennyfer GroßauerZöbinger: Karl von Marinelli. Biographie, S. 10. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene-pdfs/bio_marinelli.pdf [Stand 2009].
53 Bäuerle, Alt-Wiener Kulturbilder, S. 61.
54 Vgl. Wenzel Müller: Tagebuch. Übertragen aus der Handschrift der Wiener Stadt- und
Landesbibliothek von Girid und Walter Schlögl. Bd. 1 und Bd. 2. Wien [o. J.] [Typoskript
i. d. Wienbibliothek.], S. 248.
55 Das ursprüngliche, v .a. im Volksmund so bezeichnete, heilige Sakrament „Letzte Ölung“
wurde von der katholischen Kirche umbenannt, da das Sakrament „die Hoffnung auf
Besserung der Krankheit“ in sich birgt. Vgl. Wolfgang Schallhofer: Krankensalbung ein
Sakrament-Lexikon. Online: http://www.kirchenweb.at­/sakramente/sakrament/krankensalbung.htm [Stand 2009-07-09].
56 Vgl. Müller, Tagebuch, S. 250.
65
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Zeit und eine vollständige Genesung tritt nicht ein. Am 8. Juni 1806 stirbt Johann
La Roche an Hydropisis (Wassersucht) in Wien, nur knappe vier Monate nach seinem letzten Auftritt in Perinets Megera57 am 14. März 1806.
Die Hinterbliebenen von La Roche – seine erste Gattin Barbara, auch sie war
Schauspielerin am Leopoldstädter Theater („spielt Koketen, und Karakterrollen
mit Beyfall“58), starb bereits 178859 – waren seine Witwe Regina (Regina starb im
Jahr 1843)60 und zwei Kinder61: die Tochter Therese (1795–1823), die als Tänzerin
und Sängerin (Columbina) unter anderem am Theater an der Wien (1812–1814)
engagiert war, und der Sohn Michael Johann (1805–1870), dessen Ausbildung zum
Tänzer im Kinderballett des Theaters an der Wien seinen Anfang nahm und der
dort bis zu seinem Abgang an das königliche bayrische Hoftheater in München im
Jahr 1822 engagiert blieb.62 Ein Pflegesohn La Roches schließlich, nämlich Johann
(oder Josef?) Handel, sollte die Rolle des Kasperl übernehmen und weiterführen,
La Roche „selbst hatte gehofft, sich […] einen solchen zu erziehen; aber es stellte
sich bald heraus, daß dieser nur zu einem Episodisten taugte, der sich bald in die
Pantomime flüchtete“63. Damit wurde die Frage des Nachfolgers von Kasperl zu
einem Problem. Am Leopoldstädter Theater versuchte sich der aus Troppau stammende Michael Mayer als Kasperl. Obschon er mehrfach den Kasperl geben sollte,64
57 Joachim Perinet: Megera. Erster Theil. Eine Zauberoper in drey Aufzügen, nach Weil[and]
Hafner neu bearbeitet. Die Musik ist von Herrn Wenzel Müller, Kapellmeister. Wien:
Wallishausser 1806. Hrsg. von Jennyfer Großauer-Zöbinger. In: Mäzene des Kasperls
(2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene-pdfs/translit_perinet_megaere_2.pdf
[Stand 2009].
58 Stranden, Unpartheyische Betrachtungen, S. 30.
59 Vgl. Gustav Gugitz: �������������������������������������������������������������������
Die Totenprotokolle der Stadt Wien als Quelle zur Wiener Theatergeschichte des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Wiener Theaterforschung.
1953/54 (1958), S. 114–145, hier S. 130.
60 Vgl. Gustav Gugitz: Anmerkung zum Begleitwort. In: Gugitz, Der Weiland Kasperl,
S. 342.
61 Vgl. Schindler und Fastl, La Roche (Laroche), Online.
62 Wiederum gibt Bäuerle ein fiktives Bild des tatsächlichen Sachverhaltes: Bäuerle weiß von
zwei Töchtern, deren eine – die jüngere – eine Rolle am Theater an der Wien bekommen
haben soll, nachdem sie sich, Hensler schickte die Kinder La Roches nach dessen Tod aus
ihrem Quartier – da er nicht für diese aufkommen wollte – um Unterstützung an Herrn
Zitterbarth, den Eigentümer des Theaters an der Wien wandte und dieser beide Mädchen
vorspielen ließ. Vgl. dazu Bäuerle, Alt-Wiener Kulturbilder, S. 61–62. Über den Wahrheitsgehalt dieser Darstellung können keine seriösen Aussagen getroffen werden.
63 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 618.
64 Michael Mayer spielte am 1. Juli 1806 in Henslers Teufelsmühle am Wienerberg und am
11. Juli 1806 in Perinets Die Schwestern von Prag (hier den Hausknecht/Kasperl). Vgl. Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 618.
66
Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
zeichnete sich ein unabwendbares Scheitern schon anlässlich seines Debüts in der
wesentlichen Rolle dieser Bühne ab:
„Es war bald nach dem Tode des Schauspielers la Roche der auf dem hiesigen
Leopoldstädter-Theater durch lange Jahre sich beliebt und berühmt machte,
daß Herr Mayer vom Troppauer-Theater in der Teufelsmühle am Wienerberg
als Kaspar debütirte. Das Haus war zum Erdrücken voll, und Alles sah dem
Fremden mit einer Art Neugierde entgegen die auffallend war. Endlich erschien
er, und siehe da mit ihm auch die Kabale. Bey seiner ersten Scene die er so leidenschaftlich spielte, wurde gezischt, bey seinem Gesange, das freylich häßlich
sich vernehmen ließ, gepocht und kein Wort mehr beklatscht als das einzige
Impromtu: Ich bin nicht der wahre Kasperl, ich bin nur der nachgemachte.
Später trat er als Hausknecht in den zwey Schwestern von Prag auf, und gefiel
noch weniger als das erste Mahl; warum? wissen wir wirklich nicht zu behaupten: vermuthlich wußten es gewisse Menschen – so einzuleiten.“65
„Aber einen Ersatz für Laroche-Kasperl gab es nicht und konnte es nicht geben“66
schreibt Rommel beinahe schwermütig; es tut auch nichts zur Sache, dass, wie
im oben genannten Zitat ausgesprochen, gewisse Menschen den Misserfolg eines
„Nachfolgers“ einzuleiten wussten, d. h. den Schauspieler, der sich in der Rolle des
Kasperl versuchte, auszischten; denn La Roches Ausstrahlung und sein Gepräge, das
er dem Kasperl gab, waren offenbar einzigartig. Ein Weiterleben der Figur wurde
nach La Roches Tod ebenso wie eine Renaissance unmöglich; auch auf anderen Theatern mussten die Akteure, die sich der „längst stereotyp gewordenen Mätzchen“67
befleißigten, und die Theaterdichter einsehen, dass eine das Repertoire derart bestimmende Typenkomik mit La Roche zu Grabe getragen worden war.
Bedingungen seines Wirkens
„Das Leopoldstädter Theater war es nun, welches ausschließlich auf der Indi­
vidualität dieses Schauspielers aufgebaut wurde, der mit seinem Kasperltypus
einen vermittelnden Übergang von der Comedia dell’arte zum regelmäßigen
Lustspiel gab und damit hinreißende Erfolge erzielte. Man stürmte das Haus,
wenn La Roche auf­trat, und es blieb leer, wenn man kein Kasperlstück gab.“68
Die Wirkung, welche die Person und vor allem das Spiel Johann Josef La Roches auf
sein Publikum ausübte, wird in vielerlei Quellen beschworen: Zeitgenössische Kritiken stehen neben Erinnerungen von Schriftstellern, Chronisten sowie Biografen
und geben ein vielfach beschworenes Bild, wie es La Roche gelang, seine Zuschauer
65 Christiani: Der neue Kasperl in Wien. In: Wiener Theater-Zeitung. Nro. 2 vom 8. Juli
1806, S. 23.
66 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 618.
67 Ebenda.
68 Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 241.
67
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zu fesseln. Im Folgenden seien zwei namhafte österreichische Schriftsteller zitiert,
deren Erinnerung uns eine Ahnung von der Bühnengewalt La Roches vermitteln
sollen.
Eduard von Bauernfeld: „In den genannten Stücken erweckte der dicke,
behagliche La Roche den alten Hannswurst zu neuem Leben in dem beliebten
Kasperl. Wenn der Ritter nach einem pathetischen Monolog seinen Knappen
herbei­rief: ‚Käsperle, wo bleibst du?‘ so stand wohl schon La Roche, mit Mühe
aus dem Bier­hause herbeigeholt, noch kaum halb für seine Rolle angekleidet,
hinter den Coulissen und schickte seine Stimme voraus. Auf das schnarrende:
‚Er-r – kommt schon!‘ erhob sich ein Vorjubel auf den Galerien wie im Parterre,
ein Vorgeschmack der so lang ersehnten komischen Seligkeit – und wenn endlich der Knappe Käsperle mit den geschwärzten Augenbrauen, dem ziegelroth
angestrichenen Gesicht und den noch halb herunter hängenden Inexpressibles,
die er erst im Auftreten völlig zu­nestelte, vor Ritter und Publicum mit einer
ziemlich derb angedeuteten Ent­schuldigung seines Verspätens erschien und
seine übrigen Dummheiten vorbrachte, da kannte der Enthusiasmus kein Ziel
und Maß! – Glückliche, kindische oder kindliche Wiener!“69
„Glückliche, kindische oder kindliche Wiener!“ schreibt der spätere Hausdichter des
Wiener Burgtheaters Eduard von Bauernfeld (1802–1890)70 in seiner Erinnerung
und Franz Grillparzer ruft sich und den Lesern seiner Selbstbiografie einen seiner
frühen Theaterbesuche ins Gedächtnis:
„Sonst führte man uns Kinder höchstens an Namenstagen ins Leopoldstädter
Theater, wo uns die Ritter- und Geisterstücke mit dem Käsperle Laroche schon
besser unterhielten. Noch sehe ich aus den zwölf schlafenden Jungfrauen die
Szene vor mir, wo Ritter Willibald eine der Jungfrauen aus einer Feuersbrunst
rettet. Das Gebäude war eine schmale Seitenkulisse und die Flammen wurden
durch herausgeblasenes Kolophonium-Feuer dargestellt, damals aber schien es
mir von schauerlicher Naturwahrheit. Vor allem aber bewunderte ich die Verwandlung eines in schleppende Gewänder gehüllten Greises mit einer Fackel
in der Hand, in einen rot gekleideten Ritter, wobei mir als das Wunderbarste
erschien, daß der rote Ritter auch eine Fackel in der Hand hielt, was eben die
schwache Seite der Verwandlung war, und von meinem damaligen Scharfsinn
keine vorteilhafte Meinung gibt.“71
69 Eduard Bauernfeld: Gesammelte Schriften. Bd. 12: Aus Alt- und Neu Wien. Wien: Braumüller 1873, S. 38–39.
70 Vgl. Birgit Scholz: Eduard von Bauernfeld. Biographie. In: Briefe an Anastasius Grün.
Hrsg. von Birgit Scholz und Margarete Payer (2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/
downloads/­bauernfeld_bio.pdf [Stand 2009-07-13].
71 Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Hrsg. und mit Einleitungen versehen von August Sauer. Bd. 19: Selbstbiographie [u. a.]. Stuttgart: Cotta [1893], S. 19–20.
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Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
So illustrativ diese Erinnerungen auch sein mögen, so vermitteln sie doch ein rein
subjektives Bild der Darstellungskunst La Roches. Überhaupt muss man Rommel
zustimmen, wenn dieser den Mangel an sachlichen Urteilen kritisiert:
„Wir sind über den eigentlichen Zauber der Kasperl-Komik vielfach nicht
besser unterrichtet als über die des Wienerischen Ur-Hanswurst. Es fehlt ein
authentisches Bild seiner Reifezeit, es fehlen zeitgenössische Besprechungen,
die nicht Pamphlete oder Erwiderungen auf Pamphlete, also alles andere als
objektive Würdigungen sind.“72
Pamphlete und Erwiderungen gibt es zuhauf, der Kasperl spaltete die Gemüter, Lob
auf der einen, Verständnislosigkeit und vehemente Kritik auf der anderen Seite prägen mitunter die Rezensionen in den Zeitungen und auch einige der Broschüren
Wiens. Ein anonymer Broschürenschreiber etwa versucht über die „Damen Wiens“73
auf deren Männer zu wirken. In fünf Abteilungen fasst er das Wesen des Leopoldstädter Theaters, das Wirken der Schauspieler und Dichter und die Frage, ob „der
Staat diese Bühne dulden soll“, zusammen, um sich abschließend im sechsten Kapitel direkt an den Direktor Karl von Marinelli zu wenden und dessen Integrität in
Frage zu stellen. Anlass für die Abfassung der Broschüre ist der Skandal, den der
Leopoldstädter Theaterdichter Ferdinand Eberl mit seinen direkten Anspielungen
auf eine angesehene bourgeoise Wiener Familie in seinem Stück Kasperl’, der Mandolettikrämer ausgelöst hatte.74 Dass vor diesem Hintergrund auch La Roche – „ein
Lustigmacher für den Pöbel“75 – und dessen Spiel – „unnatürliche Geberden“76 –
keine Gnade bei dem Autor finden, muss nicht eigens ausgeführt werden.
Selbstverständlich wird auch die Persönlichkeit Johann Josef La Roches selbst in den
Blickpunkt so mancher Broschüre gerückt. In seinem Sammelband Der Weiland
Kasperl (Johann La Roche) aus dem Jahr 1920 vereinigt Gugitz unterschiedlichste
Schriften, deren Bindeglied die Person La Roche darstellt. Es finden sich darin drei
72 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 432.
73 Bitte an die Damen Wiens das Leopoldstädter Theater betreffend. Wien: [o. V.] 1789.
74 Vgl. dazu weiter unten die Besprechung des Textes.
75 Bitte an die Damen Wiens, S. 17.
76 Ebenda, S. 18.
69
LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
http://lithes.uni-graz.at/lithes/10_sonderband_1.html
relevante Gelegenheitsstücke77, Anti-Kasperl-Broschüren, Pro-Kasperl-Broschüren,
die erste bekannte Biografie78 La Roches und Joachim Perinets Huldigung79 an den
großen Kasperl-Mimen. Von besonderem Interesse sind hierbei in unserem Kontext die Pro- bzw. Kontra-Kasperl-Broschüren, da in ihnen der gesellschaftsrelevante
Duktus Kasperls bzw. La Roches manifest wird. Die erste Anti-Kasperl Broschüre
trägt den Titel Kasperl das Insekt unseres Zeitalters. Nebst einer Wahrnung an seine
Gönner, sie erschien anonym im Jahr 1781.80 Schon zu Beginn stellt der Verfasser fest, „daß es gut gesitteten Menschen nicht anstehe, an einem so verderblichen
und häßlichen Abenteuer, wie euer Kasperl ist, ein Vergnügen zu finden“81; der
gottschedianische Einfluss auf den Urheber des Textes ist also unüberlesbar und
wird in vielen Passagen der Broschüre evident. „Leute, die noch einen Funken vom
fühlenden Menschen besitzen, versicherten mich, daß man ihn in manchen seiner
Spiele nicht aushalten könnte,“ urteilt er über Kasperl weiter, „so sehr beleidigt er
die Menschen durch seine Worte“; muss aber auch Zugeständnisse an La Roches
Selbstverständnis machen: „[D]emungeachtet kennt er doch seine Auditoren und
weiß den Applaus zu erhaschen, wenn er eine Reihe von Zoten und Possen im vollen
Gallope heraussagt.“82 Diese, wie auch die im Folgenden zu besprechende Broschüre
bezeichnet der Kompilator Gugitz – dessen Intention „durch Vereinigung an einer
77 Karl von Marinelli: Der Anfang muß empfehlen. Ein Vorspiel in einem Aufzuge. Wien:
Schulzische Schriften [1774]. In: Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 5–29. Karl von
Marinelli: Der Anfang muß empfehlen. Ein Vorspiel in einem Aufzuge. Bey Eröffnung der
Schaubühne in der Leopoldstadt von den Unternehmern Menninger, und Marinelli. Wien:
mit Schulzischen Schriften [1777]. In: Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 32–49. Marinelli,
Aller Anfang ist schwer. In: Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 51–73. Zur Datierung und zur
Entstehung dieser Gelegenheitsstücke, in denen bemerkenswerterweise sämtliche Schauspieler der Menninger-Marinellischen Gesellschaft unter eigenem Namen auftreten vgl.
ausführlich: Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 275–279.
78 Gedrängter Auszug aus dem Leben des verstorbenen Johann La Roche, sogenannten Kasperl. In: La Roche’s Todtenfeyer, oder des sogenannten Kasperls Gespräch am jenseitigen
Ufer des Styxs mit dem Schatten einer seiner Directeure. In Knittelversen. Wien: Rehm
1806. In: Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 109–122.
79 Der Weyland Casperl aus der Leopoldstadt, im Reiche der Todten. Ein auferbauliches Gespräch in Knittelreimen zwischen ihm, Charon, Prehauser, Stranitzky, Bernardon, Brenner
und noch einem Schatten. Hrsg. von Joachim Perinet. Wien: 1806. In: Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 123–237. Die Totengespräche erstrecken sich über insgesamt sechs Hefte
mit je unterschiedlichen Titeln und bilden eine „Revue von Wiener Theater- und Sittenverhältnissen, welche Kasperl und seine Kumpane noch im Jenseits durchhächeln“. Gugitz,
Der Weiland Kasperl, S. 282.
80 Kasperl, das Insekt unseres Zeitalters. Nebst einer Wahrnung an seine Gönner. Wien:
[o. V.] 1781. In: Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 75–82. Als Verfasser vermutet Gugitz
einen Journalisten mit Namen Claiton. Vgl. ebenda, S. 280.
81 Kasperl, das Insekt unseres Zeitalters, S. 77.
82 Ebenda, S. 80–81.
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Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
Stelle dem Forscher und Liebhaber zugänglich zu machen“83 auch der Anspruch zu
unterhalten unterschwellig innewohnt – als „Wichtigtuereien eines Pseudoliteratentums, das alles mißverstand und mit angelesenen Phrasen des Gottschedianismus
prunkte.“ Dies mag unter gewissen Aspekten auch korrekt sein, doch übersieht dieser Standpunkt die Aussagekraft des subjektiv Geäußerten; denn wenngleich Gugitz
den Verfassern der Broschüren zugesteht, dass „dort, wo sie sich an die Tatsachen
hielten“84, die Texte auch von dokumentarischem Wert wären, ignoriert er doch die
implizite Problematik des je nach den unterschiedlichen Anschauungen variierenden Wahrheits­gehaltes, oder verkürzt: Auch Gugitz argumentiert subjektiv, ortet
die Wahrheit auf Seiten der Pro-Kasperl-Autoren und negiert gleichzeitig den Tatsachenanspruch der Kasperlgegner. So übersieht der Kompilator auch das zum Teil
ironische Gepräge der Broschüre Etwas für Kasperls Gönner 85 aus dem Jahr 1781:
„Eine Scene Kasperls Gönnern gewidmet. Aus einem nagelneuen, wunder­
schönen, durchaus zum Lachen eingerichteten, mit Dekorationen, Theater­
verzierungen, Maschinen, Flugwerken, Versenkungen, Verschwindungen, Ver­
kleidungen versehenen, auf die Person des Kasperls besonders eingerichteten,
mit vielen Arien, Duetten, Terzetten, Quartetten, Quintetten, Sextetten, Chören und Tänzen besetzten, so gut, als von ihm selbst verfaßten Piece, genannt:
Das Spiel der Liebe und des Glückes, oder Kasperl, der geglaubte Prinz der
Insul Csiri Csari.“86
Diese Ankündigung weist auf eine Szene, die mitten in die Broschüre eingerückt
ist. Überhaupt mutet der Text Etwas für Kasperls Gönner wie ein Sammelsurium,
ein – um in der Diktion der Zeit zu bleiben – ‚Mischmasch‘ an, das möglichst Unterschiedliches zur Sprache bringen möchte. Zunächst zum Aufbau des Broschürentextes: Sogar am Titel ist eine Art Widmung zu finden: „Wer wird den Kasperl sehen, der nicht von Herzen lachet. Da dieser liebe Narr so schöne Gsichter machet?“
(Nichts ist lächerlicher als lächerliches Lachen).87 Auf der Rückseite des Titels findet
sich dann das Catull entlehnte Motto: „Nam risu inepto res ineptior nulla est“88 –
schon hier erkennt der Leser die Intention des Arguments. Indem der Autor Kasperl
nicht von vornherein ablehnt, sondern ihn, seine Spielweise und seine Wirkung zu
erkennen versucht, kann er ihm – mit Worten – entgegentreten. Die Broschüre vereint allgemeine Bemerkungen zur Absicht des Kasperltheaters und über das Lachen
83 Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 274.
84 Ebenda, S. 280.
85 Etwas für Kasperls Gönner. Wien: Hartl 1781. In: Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 83–
98.
86 Etwas für Kasperls Gönner, S. 88.
87 Ebenda, S. 83.
88 Aus: Catulls Carmen 39 („An Egnatius“, Vers 16). Vgl. Volltext in Latein. Online: http://
www.negenborn.net/catullus/text2/l39.htm [Stand 2009-07-14].
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(„Kasperl lacht ja auch – – und mit Recht – – Lachen ist sein Endzweck, sein Brot
und Ruhm“89), Ausführungen über die „Zuseher bei Spektakeln“90 und schlussendlich natürlich die Forderung nach einer
„National-Schaubühne, welche der weiseste Monarch, dessen einzige Absicht
das Glück seiner Völker ist, zum Besten der Nation in jenen Stand gesetzt hat,
daß sie eine Schule der edlen Sitten und des guten Geschmacks ist“91. Ungeachtet so mancher bekannter Argumente und Forderungen arbeitet der Verfasser
eine beachtenswerte Szene in den Text seiner Broschüre, die – vollständig unkommentiert – das Wesen einer Kasperliade exakt auf den Punkt bringt. Die
schon oben zitierte Ankündigung widmet dieses kurze Stück „Kasperls Gönnern“ und ist „auf die Person des Kasperls besonders eingerichtet“92.
Es ist ganz im Stile einer Bernardoniade verfasst, erinnert sei an das Druckdatum
der Broschüre 1781, und zeigt Kasperl im charakteristischen Duktus seiner Anfangsjahre:
„Das Spiel der Liebe und des Glückes, oder Kasperl, der geglaubte Prinz der Insul
Csiri Csari.
[…]
Valerio. Wie hast du den Brief an Angeolina bestellt? Rede, sage wo ist die
Antwort? (Kasperl gibt ihm eine Maulschelle.)
Valerio (läuft nach dem Degen). Diese Verwegenheit kostet dich dein Leben!
richte deine zerraufte Seele in Ordnung, du mußt sterben!
Kasperl (fällt ihm zu Füßen, schreit erbärmlich). O jeges! O jeges! verschonts
mai jungs Lebn, i bin jo meiner Mueder ihr schönster Sun, si hot jo gar kann
ondern ghobt.
Valerio. Sprich, Bestie, wo du nicht willst, daß deine spitzbübische Seele auf
der Spitze meiner Klinge zittere.
Kasperl. Jo jo, i wills alls bstehn.
Valerio. Rede, Elephanten-Schlingel, antworte, Mißgeburt.
Kasperl. No, ös hobts gsogt, nit wohr, ös hobts gsogt, wos gsogt hobts. […]
Das Theater verwandelt sich in einen Wald, Kasperl tritt auf, seinen Wanderbinkel
auf dem Rücken, eine Spansau auf dem Arm, singt:
89 Etwas für Kasperls Gönner, S. 87.
90 Ebenda, S. 94.
91 Ebenda, S. 97.
92 Ebenda, S. 88.
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Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
Aria:
Armer Kasperl, nix zu lebn,
Nix den Madeln Pratzl gebn,
Nichts mehr sagen als wie eh,
Armer Kasperl hat Baucherweh [!].
(Die Spansau schreit.)
Sei still, lieber Narr, schweig still, i hob mir hold an guaden Raskompagnion
gnuma, won mi hungert, kon in vor lauter Lieb freßn. Main Mogn schrait a
so ollwail Kälberbradl, Kälberbradl. Geh, wort auf a weni. (Will der Spansau
aufwarten lernen, sie läuft ihm davon und verschwindet. Er läuft nach, plätzlich
verwandelt sich ein Baum in ein Ungeheuer, welches Feuer ausspeit, die Zauberin
Mägera kommt in einer Wolke, Kasper fällt für Schrecken zu Boden und macht
entsetzliche Grimassen.) […]
Mägera (gibt ein Zeichen, es entstehet ein heftiges Ungewitter, aus der Erde und
Luft kommen viele Gespenster, Geister und Teufel; Kasperl schreit erbärmlich: O
jeges, o jeges, helfts m’r, die teuflischen Teufeln; er versteckt sich hinter Mägerens
Mantel). […]
Die Bühne verwandelt sich in den prächtigen königlichen Palast der Insul Csiri
Csari. Kasperl in kalikutischer Kleidung liegt auf einem Ruhebett und schläft; er
erwacht, besiehet sich und sagt): hannts, wo bin i denn? main Handkuß sieht
spaßig aus, es muß do nit richti zugehn. (Der Großkanzler und die ersten Minister der Insul Csiri Csari treten auf.)“93
Das kurze Szenar vereint die gängigsten Charakteristiken Kasperls bzw. seiner Spielvorlagen: Mord- und Totschlag, Prügeleien, Maschinenspektakel, prunkvolle Verwandlungen, exotische Menschen und Landschaften, Kasperls Fress- und Liebes­
lust, Schimpfwörter, sprachliche Verwirrungen und Dialekte. Dies alles waren die
Ingre­dienzien der Vorstadtkomödie, die das Publikum zum Lachen brachten und
die – auf die zu diesem Zeitpunkt bereits ruhmvolle Tradition der Wiener Komödie
des 18. Jahrhunderts zurückgreifend – für La Roche das Fundament seiner Laufbahn bildeten.
Der Verfasser der Travestie persifliert in diesem kurzen Szenar quasi idealtypisch
jede Kasperliade und jede Aufführung der Marinellischen Gesellschaft und illustriert damit die Absurdität der beim Publikum so beliebten Vorstadtkomödien.
Überdies unterstellt er dem Publikum – und das betrifft nun auch manchen Besucher der Nationalbühnen –, am Geschehen auf der Bühne ohnehin nicht interessiert
zu sein, denn geselliges Geschwätz wäre das eigentliche Anliegen vieler Besucher
und dies wiederum eine Zumutung für tatsächlich interessierte Theaterliebhaber:
„Überaus hab’ ich gefunden, daß wenige den Endzweck der Spektakeln kennen
und dadurch Menschen von Geschmack zur Last werden, denkende durch ihr Ge-
93 Ebenda, S. 88–93.
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schwätz stören“94, und er folgert: „Wie wäre es zu wünschen, daß alle platonischen
Menschen, welche die edle Absicht des Theaters nicht kennen, Ochsenteilung oder
Hahnenhetze zum Gegenstand ihres Spektakels wählten oder wenigstens mit Kasperl sich begnügten.“95 Kasperl – der Stein des Anstoßes – und sein Gebaren auf der
Bühne werden umgehend aber auch verteidigt, was sei „Böses an Kasperl! Wann hat
er je etwas Schmutziges oder eine Zote gesagt?“96 fragt der ebenfalls anonyme Verfasser einer weiteren Broschüre, genauer einer Antwort auf die beiden vorgenannten
Kontra-Kasperl-Schriften. Mit dem Verweis auf die zensurbedingte Unmöglichkeit
grobianischer Sprache auf der Bühne und dem Vorwurf, Unwahrheiten zu verbreiten, ereifert sich der Autor der Verteidigungsschrift derart, dass er sich am Ende gar
zu drohen bemüßigt fühlt: „Zum Beschluß soll noch was Eindringendes gesagt werden“, schreibt er, „und dies sei, daß sich Kasperl niemals mehr in ein Federgefecht
mit seinen Gegnern einlassen, sondern die, die’s zu arg treiben, bei der Behörde zu
belangen wissen wird.“97 Dabei übersieht er vollkommen, dass einige der aufgestellten Behauptungen durchaus der Wahrheit entsprechen: Beispielsweise moniert der
„Gönner“ Kasperls die Vorhaltung von Raufhändeln zwischen Herr und Bedienstetem auf der Bühne, denn „wie kann bewiesen werden, daß Kasperl jemals seinen
Herrn geprügelt, und daß diese gemeiniglich die wichtigste Stelle sei? Dieses ist niemals und wird in Zukunft nie geschehen.“98 Beipflichten wiederum muss man ihm
in einem sehr wesentlichen Punkt, nämlich dass niemand das Recht haben darf, von
der Rolle auf die Person zu schließen, d. h. La Roche anzugreifen, wenn er Kasperl
meint. Bezug nehmend auf die Broschüre Kasperl, das Insekt unseres Zeitalters fällt
die Verteidigung La Roches in zwar letztlich wieder nicht absolut korrekten, aber
immerhin nachvollziehbar die Menschenwürde einfordernden Worten aus:
„Hier werden alle Zuseher zu Zeugen genommen, ob Kasperl je die Rolle eines
Besoffenen gespielt? ob sie ihn je darin excellieren gesehen? Niemals! Was tastet
der Pasquillant also seinen moralischen Charakter an und will ihn aller Welt als
einen Trunkenbold zeigen? Warum bleibt er nicht beim Theater? Soll ihm unbekannt sein, daß persönliche Beleidigungen, klare Pasquille verboten sind?“99
94 Ebenda, S. 96.
95 Ebenda, S. 97.
96 Kurze Antwort auf die beyden Schmähschriften I. Kasperl, das Insekt unseres Zeitalters.
II. Etwas für Kasperls Gönner. Wien: [o. V.] 1781. In: Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 99–
107, hier S. 102.
97 Ebenda, S. 107.
98 Ebenda, S. 106.
99 Ebenda, S. 103.
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Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
Von Zotenhaftigkeit und grimassierender Spielweise100 war schon die Rede. Von der
„erniedrigende[n] Furie eines Kasperltheaters“101, die der Ehre des Wiener Geschmackes großen Schaden zufüge, spricht der Chronist Joseph Krepler – und dennoch
sei La Roche „die nie erlöschende Liebe der Wiener“102 gewesen, ablesbar an den
Besucherzahlen des Leopoldstädter Theaters, und auch die Bewunderung ausländischer Zeitgenossen war ihm sicher. Bekannt ist, dass Ismael Effendi, ein türkischer
Beamter,103 gerne das Leopoldstädter Theater besuchte, da er „in den Mienen und
der Gesticulation des Herrn La Roche alles wohl verstehe und begreife, was seine
Wörter etwa enthalten mochten.“104 Vermutlich besser verstand den Kasperl, zumindest sprachlich, Johann Gottfried Seume, der generell die Qualitäten der Schauspieler, Sänger und Tänzer der Wiener Vorstadttheater denen der Nationaltheater
vorzog,105 Friedrich Nicolai gab in seinen Reisebeschreibungen nach dem Theaterbesuch Ratschläge zur besseren Ausformung der Kasperl-Rolle106, und auch der aus
Erlangen gebürtige und spätere Wiener Schriftsteller Johann Rautenstrauch gesteht
La Roche „alle moeglichen Talente zu einem grossen komischen Schauspieler“ zu;
einzig die mangelhafte Ausbildung könne man ihm ankreiden; dennoch wäre er in
der Lage durch „seine Sprache, sein[en] Ton und besonders sein[em] Geberdenspiel
[…] auch einen Kato lachen“ zu machen107.
Neben dem genannten Minister Ismael Effendi besuchten auch andere Staatsmänner das Leopoldstädter Theater und seinen Kasperl, unter ihnen Kaiser Josef II.108
100 Vgl. Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 433.
101 Theaterchronik von der Sündfluth bis auf den grossen Kasperle in der Leopoldstadt. Hrsg.
von Joseph Krepler. Wien: Hartl 1782, S. 18.
102 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 433.
103�����������������������������������������������������������������������������������
Ismail Effendi (Hammâmîzade Ismael Dede Efendi), 1778–1846, war klassischer osmanischer Komponist und hoher Beamter im türkischen Finanzministerium. Vgl. In: Republic
of Turkey. Ministry of Culture and Tourism. Online: http://www.kultur.gov.tr/DE/Genel/BelgeGoster.aspx?­48BD9BC89B9B89DA6407999D5EC50F89DF36587C4B003136
[Stand 2010-02-10].
104 Überblick des Überblickes des neuesten Zustandes der Literatur, des Theaters und des Geschmackes in Wien von C** X**, nebst einem Anhange von H** X**. Wien: Pichler 1802,
S. 78. Zit. nach Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 339, Anm. 28.
105 Vgl. Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. In: J. G. S. Werke
in zwei Bänden. Hrsg. von Jörg Drews. Bd. 1. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker
Verlag 1993. (= Bibliothek deutscher Klassiker. 85.) S. 190–191.
106 Vgl. Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 442.
107 Johann Rautenstrauch: Der Kasperl. In: Aufklärung auf wienerisch. Hrsg. und mit einem
Nachwort versehen von Joachim Schondorff. Wien, Hamburg: Zsolnay 1980, S. 126.
108 Vgl. Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 24 und Hadamowsky, Theatergeschichte, S. 486.
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und der russische Großfürst Paul I. (d. i. Pawel Petrovič, 1754–1801)109. Der Chronist Pezzl beschreibt die ständische Zusammensetzung des Publikums als ausgesprochen heterogen:
„Er kennt so den Geschmack des Publikums; weiß mit seinen Gebärden, Gesichterschneiden, seinem Stegreifwitz die Hände der in den Logen anwesenden hohen Adeligen, der auf dem zweiten Parterre versammelten Beamten und
Bürger und des im dritten Stock gepressten Janhagels so zu elekrisieren, daß
des Klatschens kein Ende ist. Bei seinem Auftritte, und wenn ihr auch nur
eine Fußspitze oder seinen Rücken sehen könnt, wird schon gelacht; er hat den
Mund noch nicht geöffnet und doch stehen schon die Mäuler der Zuschauer
offen und harren auf seinen ersten Spaß.“110
Adelige, Bürger und Bedienstete, Gelehrte111 und Menschen, die sich einfach unterhalten wollten, besuchen das Theater und erfreuen sich der Späße La Roches und
seiner Kollegen. Das Publikum, und das war dem Unternehmer Karl von Marinelli
bestens bewusst, war der maßgebende Faktor, wollte er das Leopoldstädter Theater erfolgreich führen.112 Marinelli betrachtete La Roche als „lebendiges Kapital“113,
hatte er ihm doch
„zu seiner Wohlhabenheit verholfen, denn nur um ihn zu sehen und zu hören,
rollten Hunderte von Kutschen in die Jägerzeile, wo Marinelli bereits aus den
Summen, die ihm Kasperl eingebracht, ein eigenes Schauspielhaus erbaut hatte.
Kasperl erschien nun auf diesem Theater, und da ein regelmäßiges Schauspiel
fest gegründet war, sich des Schutzes des Kaisers und der lebendigen Theilnahme der besseren Stände erfreute, so war für ein Abirren des Geschmackes
nichts mehr zu besorgen; aber das Kasperltheater war für ein Publicum, das sich
ergötzen wollte, eben so nothwendig geworden wie das höhere Schauspiel, für
welches das Interesse in jenen Tagen immer mehr zunahm.“114
Das Publikum suchte überdies die Abwechslung von den ernsten Stücken der Nationaltheater115 und auch die Befriedigung lukullischer Genüsse: „Auf dem zweiten
und dritten Platz dieses Theaters werden Bier, Brod und Würste zum Kauf herumgetragen; eine sehr willkommene Bequemlichkeit für das durch Lachen ausgetrock109 Vgl. Schindler und Fastl, La Roche (Laroche).
110 Pezzl, Skizze von Wien, S. 321.
111 Vgl. ebenda.
112 Vgl. dazu auch: Reinhard Urbach: Die Wiener Komödie und ihr Publikum. Stranitzky und
die Folgen. München: Jugend und Volk 1973, S. 64–66.
113 Pezzl, Skizze von Wien, S. 321.
114 Wurzbach, Biographisches Lexikon, Bd. 14, S. 161.
115 Vgl. Pezzl, Skizze von Wien, S. 321.
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nete und ermüdete Publikum!“116 Die Beliebtheit Kasperls – der im Laufe der Jahre
zu einem wahren Publikumsmagneten117 wurde – ermöglicht sogar Grobheiten gegenüber dem zahlenden Publikum:
„Laroche machte Marinelli durch die zahlreichen Einnahmen, die er ihm verschaffte, nicht nur außerordentlich stolz und übermütig, sondern auch brutal
gegen das Publikum. Stand der Name des Kasperls auf dem Theaterzettel, so
konnte man sicher sein, daß am frühen Morgen schon alle Logen und Sperrsitze vergriffen waren. Der Zudrang war ungeheuer und das Volk belagerte schon
um ein Uhr mittags das Schauspielhaus. Um diese Stunde tafelte Herr Marinelli. Es ging natürlich nicht ohne Spektakel ab. Die Leute zankten, schimpften
und prügelten einander. Wenn Herr Marinelli dies hörte, eilte er auf den Gang
hinaus. ‚Ihr verflucht’s G’sindel‘, redete er sein Galeriepublikum an, ‚wollt’s
mich nit ruawig (ruhig) essen lassen?! Noch einen Laut gebt von euch und
ich lass’ den Kasperl gar nit spiel’n. Wart’s, ich werd euch schon derwischen
(erwischen)!‘“118
Ähnliche Anekdoten berichten vom Umgang La Roches mit seinem Publikum:
„Was Laroche überhaupt für eine Gewalt bloß durch den Ton seiner Stimme
auf das Publikum ausübte, mag auch folgender Umstand beweisen. Manchmal
geschah es, daß Kasperl noch nicht angekleidet war, wenn er schon auf die
Szene treten sollte. Wenn nun ein Schauspieler schon extemporierte, um statt
dessen die Lücke aus­zu­füllen, und der Theaterinspizient in die Garderobe lief
und ängstlich rief: ‚Herr Laroche, ich bitte Sie, es ist schon höchste Zeit‘, da
antwortete Laroche ganz phleg­matisch: ‚Mach’ die Türe auf!‘ Und nun schrie
er aus vollem Halse: ‚Auwedl! Auwedl! Auwedl!‘ und in diesem Augenblick
hörte man auch das schallende Gelächter des Publikums, welches an diesen
Worten, womit er fast immer aufzutreten pflegte, seinen Liebling erkannte, bis
in die Garderobe hinauf.“119
„Laroche war nicht nur ein Kasperl, sondern auch ein guter Schauspieler. Er
bewährte den tüchtigen Darsteller, den denkenden Künstler, wenn er einen
gut gezeichneten Charakter vorzuführen hatte. Nur wenn er der Kasperl sein
mußte, trieb er es bunt, schnitt Gesichter, zappelte mit Händen und Füßen
und machte Lazzi. – Wenn das Publikum hinter den Kulissen seine Stimme
hörte, geriet es schon außer sich. Wenn er sich dann näherte, seinen Gönnern
zuerst einen Fuß, eine Hand, am liebsten das Hinterteil zeigte, konnte man
glauben, das Publikum sei von der Tarantel gestochen worden, aber nicht etwa
nur das auf der letzten Galerie, sondern auch das in den Logen und im ersten
116 Ebenda, S. 322.
117 Pezzl betont eigens, dass er mehrere Leute kenne, die das Leopoldstädter Theater täglich
besuchten. Vgl. ebenda, S. 324.
118 Bäuerle, Alt-Wiener Kulturbilder, S. 59–60.
119 Castelli, Memoiren meines Lebens, Bd. 1, S. 262.
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Parterre. Selbst die feineren Kreise Wiens, der höhere Adel, waren in den
Kasperl verliebt. Wenige fanden kein Behagen an ihm und zu diesen gehörte
der Hof. Kaiser Franz sah den Kasperl nur einmal und nicht wieder. Als Direktor Marinelli den Kaiser beim Verlassen des Theaters mit silbernen Armleuchtern über die Stiege bis zum Wagen begleitete, bemerkte dieser: ‚Nun
hab’ ich das Wundertier auch gesehen, über welches ganz Wien lacht; ich
muß gestehen, ich habe nicht lachen können. Der Mann macht doch gar zu
gemeine Faxen und schreit so sehr, daß mir noch die Ohren gellen. Ich ersuche Sie jedoch, Herr Marinelli, dies Ihrem Laroche nicht wieder zu sagen.
Ich möchte nicht den Mann kränken, der meine Wiener so gut unterhält.‘“120
Ein wesentlicher Teil der Komik La Roches rührt von den Extempores her, steht
Kasperl ja in der hanswurstischen Tradition. Auch wenn die „Anreden eines Schauspielers an das Parterre […] auch auf kleinen Volkstheatern […] nicht immer wohl
schicklich“ sind,121 so sollen La Roches Anspielungen auf Stadtereignissen gerade
in seinen frühen Jahren „einen besonderen Reiz seines Spieles ausgemacht haben,
obwohl es natürlich Gegner gab, die sich über ‚Grobheiten und antastende Worte‘
entrüsteten“122. Die Wienerische Kronik spricht von „launichte[n] Einfälle[n]“, die
einer „gewissen schalkhaften Feinheit“123 nicht entbehren. Wie sah nun das Extemporespiel La Roches aus? Als guter Beobachter124 seiner Zeit und Zeitgenossen
brauchte er nicht zu viel Phantasie, um einige „Wiener Tagesbegebenheiten und
Stadtereignisse“125 auf die Bühne bringen zu können.
„Er war ein lebendiges Neuigkeitsblatt, hechelte alle Unsitten und Torheiten
durch und schonte niemand. Seine Satire richtet sich gegen alle Stände und
man würde sich heute von einem Komiker nicht den hundertsten Teil dessen,
was Laroche an Ausfällen, Anspielungen und handgreiflichen Andeutungen
leistet, gefallen lassen.
[…]
Ein in Wien sehr bekannter Kaufmann machte Krida. Er fiel dem tollen Aufwand seiner Frau zum Opfer. Dieser Kaufmann hieß Wagener und hatte seine
Niederlage beim ‚Scharfen Eck‘ in der Wollzeile. Es wurde ein Stück gegeben,
das den Titel führte: ‚Der Hausherr in der Narrengasse‘. Laroche spielte den
Hausknecht. Der Hausherr fragt ihn, was es in Wien Neues gebe? ‚In der Woll-
120 Bäuerle, Alt-Wiener Kulturbilder, S. 60.
121 Theaterzeitung vom 5. Oktober 1811, S. 315.
122 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 433.
123 Ebenda, S. 436.
124 Vgl. Zahubien, Joachim Perinet, S. 63.
125 Bäuerle, Alt-Wiener Kulturbilder, S. 58.
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Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
zeile‘, berichtet dieser, ‚hat ein Kaufmann statt seinem Kutscher die Zügel seiner Frau in die Hand gegeben. Beim ‚Scharfen Eck‘ hat sie umgeworfen und
ihren Mann so grausam angeschleudert, daß er sich verblutet hat. Sie ist mit
heiler Haut davongekommen, aber das Kalesch hat dermaßen Schaden gelitten,
daß es der Wagner nicht mehr herstellen kann.‘“126
La Roches Stegreifspiel übte wohl große Anziehungskraft auf das Publikum aus,
Wurzbach weiß zu berichten, dass er viel extemporiert hätte, und „der Beifall [jedoch] mehr dem Gesichterschneiden, den Lazzis und der geschickten Unbehilflichkeit [galt], womit er sich zu benehmen wußte“127. Schindler zitiert Castelli, der
La Roche gar als „personifizierte populäre Komik“ bezeichnete, nach dem „kein
Komiker mehr so ganz die Populance für sich zu gewinnen“128 wusste.
Natürlich war auch die Wahl der Stücke ausschlaggebend für La Roches Erfolg. Das
Repertoire, in dem Kasperl auftrat, wechselte im Laufe der Zeit von Burlesken in
der Anfangszeit über Singspiele und regelmäßige Lustspiele bis hin zu Lokal- und
Volksstücken in den letzten Jahren La Roches. Mit Ausnahme von Parodien agierte
Kasperl in sämtlichen bekannten und am Vorstadttheater beliebten Genres.129
„Die Hauptmasse der für Kasperl eingerichteten Stücke sind Burlesken, die
zweifellos unter dem Einfluß der Stegreifburleske aus der Prehauser-Zeit stehen, ohne daß sich direkte Beziehungen nachweisen ließen. Es sieht vielmehr
so aus, als seien die zahllosen Verkleidungen sozial etwas niedriger gegriffen:
Lumpen-, Hechel- und Mausfallenkrämer, Limonihändler, Sesselträger, Anstreicher, Stockmeister, Totengräber. Aber Laroche spielt auch noch einen
Krautschneider, wie weiland Stranitzky, und Kammerlakaien, Haushofmeister,
Friseure, Porträtmaler, Rekruten, lustige Bediente und vor allem ‚böse Wiener Früchteln‘ wie Prehauser, und wie dieser exzelliert er in seiner Jugend in
Verwandlungsrollen.“130
Die Rollen, die La Roche in seiner Frühzeit als Kasperl verkörpert, entstammen
zumeist dem Repertoire,131 welches von der damals noch kleinen Badner Gesellschaft unter dem Prinzipal Marinelli (bzw. Menninger) während derer Wanderjahre
zusammengetragen worden war: Harlekinaden, Maschinenkomödien, Bernardoniaden und sogar – wenngleich selten – Haupt- und Staatsaktionen befinden sich auf
126 Ebenda.
127 Wurzbach, Biographisches Lexikon, Bd. 14, S. 162.
128 Schindler und Fastl, La Roche (Laroche).
129 Vgl. Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 436.
130 Ebenda, S. 437–438.
131 Vgl. Jennyfer Großauer-Zöbinger: Karl von Marinelli (1745–1803). Das Gesamtwerk. Edition und Studie. Graz, Univ., Diss. (im Entstehen)
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dem Spielplan. Seit Mitte der achtziger Jahre bearbeitet Joachim Perinet ältere Texte
und schafft Zauberkomödien und Feenmärchen, doch
„diese Zauberkomödie schien nicht gedeihen zu wollen, obwohl es ein Interesse
dafür gab, wie die Neubearbeitungen von Perinet beweisen, und obwohl das
Leopoldstädter Theater für diese Gattung bühnentechnisch gut ausgestattet
war. Man könnte vermuten, daß der vorsichtige Marinelli an der Ausstattung
sparte. Aber die Tatsache, daß man sich mit Modernisierungen alter Stücke
behelfen mußte, läßt wohl ein Versiegen der seelischen Spannungen erkennen,
aus denen das barocke Spiel mit Diesseits und Jenseits erwachsen war.“132
Es kam zu einem regelrechten „Notstand“, Textbücher wurden dringend benötigt,
„denn sein führenden Komiker, der in dieser seiner ersten Entwicklungsperiode
ganz auf burleskes Spiel gestellt war, konnte der Möglichkeiten eines raschen
Szenen- und Gestaltenwechsels, die das Zauberstück gewährleistet, nicht gut
entraten. Er hat tatsächlich in seinen Anfängen auch in der Burleske ohne Zauber nur Verwandlungsrollen gespielt und stieß mit diesen Stücken auf stärksten
und – nach den zwei erhaltenen schwachen Burlesken zu schließen – gewiß
nicht unberechtigten Widerstand.“133
Marinelli erkannte, dass er mit dem alten Repertoire der Wandergesellschaft keinen
abwechslungsreichen und ansprechenden Spielplan zusammenstellen konnte. So
„baute [er] zuerst den Spielplan nach der Seite des Musikdramas hin aus“134 und
nahm Musiker, Sänger und Tänzer in das Ensemble auf (unter ihnen die Brüder
Baumann und den Komponisten Wenzel Müller, die für das Leopoldstädter Theater
zu tragenden Personen wurden). Dem Singspiel zur Seite gestellt wurde bald die Komödie mit Gesangseinlagen, die „Kasperl und dem um ihn versammelten Ensemble Gelegenheit zur Entfaltung ihrer eigensten Gabe der komischen Spiegelung des
Wiener Lebens bot“135. Doch der Gattungen und Genres gab es wesentlich mehr,
ungemein vielfältig sind die Bezeichnungen, vielfältig die Möglichkeiten, Kasperl in
die Komödie zu integrieren: Regelmäßige Lustspiele, bürgerliche Schauspiele, Sittenkomödien, Soldaten- und Zeitstücke, Lokalstücke, Ritter- und Geisterstücke,
Zauberstücke und natürlich und nicht zuletzt das romantisch-komische Volksmärchen, dem La Roche sein ganz besonderes Gepräge verlieh:
„[…] und die – aus Mangel an Stücken nur wenig ausgenützte und beinahe
zur Seite geschobene – komische Kraft des Kasperl, welche die Zeit gegen sich
zu haben schien. Und dennoch, was geschehen mußte, gelang: die neue Form
des romantisch-komischen Volksmärchens, die sich in wenigen Jahren über das
ganze deutsche Theater ausbreitete und weitere neue Formen in sich barg. Diese
132 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 438.
133 Ebenda, S. 439–440.
134 Ebenda, S. 441.
135 Ebenda.
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neue Form ist nicht die Schöpfung eines einzelnen. Sie ‚machte sich selbst‘, wie
Cavour136 vom Werden seines Staates gesagt haben soll und wie es immer geschieht, wenn eine Entwicklung reif ist. Die schöpferische Potenz, um die sich
bei diesem Vorgange alles drehte, war die Urkraft der Kasperl-Komik. Daher
konnte die neue Form auch nur in dem kleinen Hause in der Leopoldstadt entstehen, das Kasperl-Theater hieß und in dem allein Kasperl noch immer sicher
war, ‚seine‘ Zuschauerschaft zu finden, während der ihm kongeniale Hasenhut
sich in dem prächtigen Hause an der Wien […] bald vereinsamt fand.“137
Die Kasperliade – Typenkomik in der Wiener Vorstadt
Karl Marinelli engagierte Dichter, die eigens für den Wiener Kasperl Johann
Josef La Roche Komödien verfassten. Schon sein Aussehen („ein gedrungener Mann,
mittlerer Statur, mit lebhaften Augen und stark markierten Zügen“138) bewog das
Publikum zu lachen, seine Sprache („der gemeine Wiener Dialekt“139) tat ein Übriges und vor allem die Verbindung von Sprache mit Spiel, Gestik und Mimik, Unausgesprochenem und Dargestelltem schien den besonderen Reiz auszumachen, mit
dem La Roche das Publikum jahrzehntelang begeisterte, wie Castelli beschreibt:
„So z. B., wenn ihm sein Herr befahl: ‚Kasperl, geh’ jetzt in jenes Haus und
trage den Brief hinein‘, und er sich ein paar Mal gegen diesen Befehl geweigert
hatte, der Herr ihm dann mit dem Degen drohte, so antwortete er: ‚Laßt’s
stecken, er a geht schon!‘ Und hierauf ging er mit langen Schritten, die beiden
Arme vor sich ausstreckend, in das Haus.“140
Eine weitere Anekdote Castellis beweist, dass La Roches Anziehungskraft weit über
das einfache Schauspiel und Rezitieren von Textvorlagen hinausging:
„In einem Stücke kniet Kasperls Herr vor seiner Geliebten und erklärt ihr seine
Liebe; da öffnet Kasperl die Türe und schreit herein: ‚Steh’ auf, alter Bettelstudent, d’ Hosen g’hört nit dein!‘ und ist wieder verschwunden. [...] In einem anderen Stücke spielt Kasperl einen verstellten Stummen; als man ihn aber fragt,
wie lang er stumm sei, antwortet er, sich vergessend: ‚Vier Jahre!‘ Da er aber
136 Camillo Benso Conte di Cavour (10. August 1810–6. Juni 1861) verfolgte als sardinischer
Premierminister (seit 1852) die Idee eines geeinten Italien, konnte diese in Folge von Kriegen (etwa gegen Österreich 1859) und Bündnissen (u. a. mit Napoleon) verwirklichen und
wurde schließlich der erste Ministerpräsident des im Jahr 1861 vereinten Königreichs Italien (erst 1866 gehörten auch Venetien und 1870 Rom dem Königreich Italien an).
137 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 542.
138 Castelli, Memoiren meines Lebens, Bd. 1, S. 260.
139 Ebenda.
140 Ebenda.
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dann dies Versehen wieder gut machen will, so antwortet er im ganzen Stück
auf alle an ihn gestellten Fragen nur immer dieselben Worte: ‚Vier Jahre!‘“141
Leider sind die Berichte über La Roches darstellerischen Esprit auf derartige Anekdötchen und kaum verifizierbare Aussagen in Broschüren oder Chroniken beschränkt –
für eine weitere Analyse muss auf die erhaltenen Textgrundlagen zurückgegriffen
werden: auf Szenare und Kanevasse, auf die textlich fixierten Spielgrundlagen, deren Ausgestaltung durch die Sänger und Schauspieler nur erahnt werden kann.
Exemplarisch für die Masse der Theaterstücke des Leopoldstädter Theaters stehen
nachgenannte Komödien, jede von ihnen lässt eine je leicht variierte Kasperlrolle erkennen, Rollen, deren Gesamtheit den Kasperltypus präsentiert. Aus den 30
im Projekt Mäzene des Kasperls Johann Josef La Roche. Kasperliaden im Repertoire
des Leopoldstädter Theaters. Kritische Edition und literatursoziologische Verortung
(2008/09)142 edierten Kasperliaden wurden folgende hinsichtlich ihrer Kasperl-Komik analysiert:
Ferdinand Eberl
Kasperl’ der Mandolettikrämer (1789)143
Karl Friedrich Hensler
Der Schornsteinfeger (1791)144
Der unruhige Wanderer (1796)145
Joachim Perinet
Die Schwestern von Prag (1794)146.
141 Ebenda.
142 Vgl. online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/­maezene_startseite.html
143 Ferdinand Eberl: Kasperl’ der Mandolettikrämer, oder: Jedes bleib bey seiner Portion.
Ein Lustspiel in drey Aufzügen. Wien: Wallishausser 1789. Hrsg. von Jennyfer GroßauerZöbinger. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/
eberl_mandolettikraemer.html [Stand 2009].
144 Karl Friedrich Hensler: Der Schornsteinfeger. Ein Original Lustspiel in drey Aufzügen.
Wien: Wallishauser 1791, S. 8. Hrsg. von Andrea Brandner-Kapfer. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/hensler_schornsteinfeger.html
[Stand 2009].
145 Karl Friedrich Hensler: Der unruhige Wanderer, oder Kasperls lezter Tag. Erster Theil Ein
Original-Feemärchen in vier Aufzügen für die Marinellische Schaubühne. Wien: Schmidt
1796. Hrsg. von Andrea Brandner-Kapfer. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online:
http://lithes.uni-graz.at/maezene/hensler_wanderer_1.html [Stand 2009].
146����������������������������������������������������������������������������������������
Joachim Perinet: Die Schwestern von Prag. Als Singspiel in zwey Aufzügen, nach dem Lustspiele des Weyland Herrn Hafner, für dieses Theater bearbeitet von J. P., Theaterdichter,
und Mitgliede dieser Gesellschaft. Wien: Schmidt 1794. Hrsg. von Jennyfer GroßauerZöbinger. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/
perinet_schwestern.html [Stand 2009].
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Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
Die Auswahl erfolgte einerseits durch die Präsenz der Kasperlrolle im jeweiligen Text
sowie andererseits durch die ihr je intendierte Relevanz für die komische Handlung
(Qualität und Quantität der Kasperlrolle).
„Die Textdichter Kasperls werden nicht müde, für ihn immer neue Situationen
zu finden, in denen sich diese seine Komik ausleben kann. […] Besonders lustig
war es aber offenbar, wenn er von einem Ungeheuer durch die Luft entführt
wurde, denn dieser Trick wird fast in jedem Stück wiederholt. Oft genug verwandelt sich der Baum, auf dem er festen Halt sucht, in ein Untier, das mit ihm
davonfliegt, oder in eine Windmühle, die ihn herumwirbelt. Die Komik der
Hilflosigkeit, die bei solchen Gelegenheiten an ihm in Erscheinung trat, war
offenbar so überwältigend, daß die Dramatiker eine geradezu sadistische Phantasie an den Tag legten, um Kasperl in immer neue Verlegenheiten zu bringen,
und gute wie böse Zauberer, erlösungsbedürftige, von Tragik und Grauen umwitterte Gespenster, ganz zu schweigen von gutgelaunten Feen und spitzbübischen kleinen Schutzgeistern beiderlei Geschlechts, beteiligen sich eifrig an
dem Unfug. Sehr verlockend war es, den stets ess- und trinklustigen Kasperl
ein wenig Tantalusqualen ausstehen zu lassen.“147
Kasperl, der als Kaspar, Kasperl oder auch Käsperle auf die Bühne tritt, ist stets und
in allen Stücken der Leopoldstädter Bühne als ‚besondere Person‘ gekennzeichnet –
nicht durch seine ständische Zugehörigkeit oder durch seinen Beruf, sondern durch
sein Verhalten, das ihn zum ersten von den anderen Rollen klar unterscheidet und
das er gleichzeitig und zum zweiten dem Publikum gegenüber zeigt. Immer wieder
fällt Kasperl aus der Rolle und durchbricht die Bühnenillusion für lustige Zwischenbemerkungen, um die Handlung zu kommentieren oder gar zu hinterfragen und
um die Protagonisten zu bewerten. „Kasperl wirkt gegen die Idee und gegen die
Handlung der Stücke, denn er steht in keiner echten Beziehung zu den anderen
dramatischen Personen, sondern bleibt für sich, hat er gelegentlich auch mit ihnen
zu tun“148, schreibt Binder in ihrer Arbeit und spricht damit vor allem die frühen
Stücke an, die die Marinellische Gesellschaft zur Aufführung brachte. Auch in den
romantisch-komischen Volksmärchen Henslers und generell den um 1800 entstandenen Lustspielen ist diese dem Kasperl typische Eigenart noch augenscheinlich,
obschon Kasperl zusehends in das Spiel integriert wird. Dadurch nimmt seine Selbständigkeit in den Lazzi zwar ab, doch gerade in den jüngeren Stücken interagiert
Kasperl vermehrt mit dem Publikum, wie dies aus den Nebentextanweisungen der
Lustspieldrucke hervorgeht.
147 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 575.
148 Marika Binder: La Roche – Kasperl in Karl Friedrich Henslers Stücken. Wien, Univ., Dipl.Arb. 1994, S. 76.
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Ferdinand Eberl: Kasperl’ der Mandolettikrämer
Ein ausgesprochen fragwürdiger Charakter haftet dem Kasperl in Ferdinand Eberls
Kasperl’ der Mandolettikrämer149 an.
Angesprochen auf seine Vergangenheit, gibt er sich seinem einstigen ‚Weggefährten‘,
dem inkognito reisenden Baron Karl Wellbach (der sich ‚Lindenthal‘ nennt) als Jäger Franz zu erkennen, der in Graz ein „ganz artiges Kapitälchen zu schneiden“150
wusste und sich dann nach Wien wandte, denn „wer auf der langen Kegelstadt
seines Lebens einmal neune scheibt – der soll zu spielen aufhören, denn zweymal
geräths selten“151. In Wien betreibt er, der sich nun Kaspar Ellenbogen rufen lässt,
gemeinsam mit Everl, seiner Frau, ein Bäckergewölbe und vertreibt als fliegender
Händler Mandoletti und andere Backwaren. Dass dies nicht sein einziges Einkommen ist, gesteht er seinem früheren Bekannten, dem Schwerenöter Baron Wellbach,
gleich bei ihrem Wiedersehen in der Hauptstadt Wien. Kaspar vermietet auch –
recht unverblümt, da er seinen Bäckerladen mit dem Zeichen des Cupido versieht –
„ganz niedlich eingerichtete Zimmer“152 zu verschiedenen Lustbarkeiten seiner verschwiegenen, aber gut zahlenden Gäste. In Kaspars Räumlichkeiten werden sich im
Laufe der Handlung die Intrigen kumulieren, verdichten, schlussendlich in allgemeiner Konfusion aufbrechen und sich wieder lösen. Hauptangelpunkt der Kabalen
ist Baron Wellbach. Wellbach ist unmittelbar nach seiner eigenen Hochzeit mit
dem Stubenmädchen Lisette durchgebrannt; diese lebt, vorerst noch von allen unerkannt, in Kaspars Haus, als dessen vorgebliche Muhme. Seit dieser Flucht verführt
er unter wechselnden Namen Frauen (beinahe) jeder sozialen Schicht: Er umwirbt
Dienstmädchen genauso wie Bürgersfrauen oder adlige Damen. Ungeachtet seiner
aufkeimenden Liebe, die er für Blande empfindet (die niemand anders ist als seine
eigene Gattin Amalia), macht er Kasperls Frau Everl den Hof, als diese Backwaren
austrägt. Sie ist naiv genug, sich auf ein Abenteuer mit dem Baron einlassen zu
wollen, doch Wellbach erkennt ihre Einfalt als Ehrlichkeit und möchte nicht zum
„Urheber ihres Verderbens“153 werden, das die unausweichliche Folge einer Affäre
wäre. Stattdessen besinnt er sich gewisser adeliger Tugenden154 und möchte Kaspar
149 Ferdinand Eberl: Kasperl’ der Mandolettikrämer, oder: Jedes bleib bey seiner Portion.
Ein Lustspiel in drey Aufzügen. Wien: Wallishausser 1789. Hrsg. von Jennyfer GroßauerZöbinger. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/
eberl_mandolettikraemer.html [Stand 2009].
150 Eberl, Mandolettikrämer, S. 15.
151 Ebenda.
152 Ebenda.
153 Ebenda, S. 26.
154 Der Text lässt keine genaue Charakterisierung der Figur Wellbachs zu; sein plötzlicher
Sinneswandel wirkt durch die mangelnde Beschreibung jedweder moralischen Gesinnung
unmotiviert und keinesfalls begründbar.
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Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
Ellenbogen eine Lehre erteilen („aber Spaß solls mit den sinnreichen Kaspar Ellenbogen geben – der ihm gewiß die Luft nehmen soll – je wieder den Unterhändler
zu spielen!“155). Sein anderes Engagement nimmt er jedoch zusehends ernster: Lindenthal (bzw. Baron Karl Wellbach) spricht persönlich bei Blande (bzw. Baronin
Amalia Wellbach) vor, nachdem der Kuppler Klinger sich seine Dienste zwar bezahlen ließ, sie aber nicht ausführte. Erst weist Blande Lindenthal zurück, doch auch
sie verliebt sich in ihn und identifiziert zuletzt ihren Mann in ihm. Nicht nur das
Paar Wellbach muss noch etliche Hürden bewältigen156, ehe die finale Versöhnung
stattfinden kann. In diese Intrigen sind weiters verwickelt: Kaspar Ellenbogen und
Everl, Herr und Frau Katzbalg – die Protagonisten der an die Tradition des AbcSchützen anschließenden Nebenhandlung157, deren Sohn, der Dümmling Jakob,
und die ehebrecherische, verheiratete Tochter Madame Buchwald (die eine durch
Klinger arrangierte Affäre mit dem Baron Wellbach eingehen möchte, da sie glaubt,
sich dadurch gesellschaftlich bessern zu können) sowie ihr moralisch integrer Gatte
Herr Buchwald. Hauptschauplatz sind stets die zwielichtigen Räumlichkeiten des
‚Mandolettikrämers‘ Kaspar.
Everl charakterisiert ihren Mann zwar nicht als alt oder hässlich, aber doch als „mürrisch – eifersüchtig – geizig“158 und bezeichnet ihn als „mein altes Erbsen­gesicht“159.
Er selber schildert sich, wenn auch indirekt, weit genauer:
„Baron. Nu! das versteht sich ja – und damit du siehst, daß ich dein Vertrauen
erwiedere, so hör einmal – Ich hab so eine kleine Liebesavanture vor – und da
sollst du mir dabey helfen! –
Kaspar. Herzlich gerne – bin mit Leib und Seele dabey!! –
Baron. Ja aber die Affaire ist ein bisgen –
Kaspar. Kitzlicht – verstehs schon – aber machen wir nichts daraus – ich geb
Ihnen mein Wort – Sie sollen mit mir wacker bedient seyn!
Baron. Nu das will ich sehen es ist ein eifersüchtiger, mürrischer Mann im
Weg! –
Kaspar. Kinderey – den Narren schaffen wir halt auf die Seite – oder wir betrügen ihn vor der Nase –
155 Eberl, Mandolettikrämer, S. 26–27.
156 So erkauft sich Baron Wellbach beispielsweise von Lisette ihr Schweigen. Vgl. ebenda,
S. 21.
157 Vgl. Johann Joseph Felix von Kurz: Bernardon der 30jährige ABC-Schütz. In: BrandnerKapfer [Hrsg.]: Johann Joseph Felix von Kurz, S. 338–364.
158 Eberl, Mandolettikrämer, S. 10.
159 Ebenda, S. 11.
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Baron. Und das Weibchen ist ein bisgen schüchtern – weiß sich nicht recht
anzuschicken!
Kaspar. Itzt gehens mit solchen Kleinigkeiten – ein Weib – sich nicht recht
anzuschicken – nu! nur Geduld – Sie werden doch ihre gelben Sprachmeister
nicht vergessen? –
Baron. War das schon je bey mir Frage? –
Kaspar. Nu so sind wir schon zu Hauß! –
Baron. 200 Dukaten sollen heute noch dein seyn – wenn das Weibchen mein
wird!
Kaspar. 200 Dukaten – o! Fikrament! – nu! ich habs ja erst gesagt – das Ihnen
um ein hübsches Gesichtl kein Dukatl zu rund ist, 200 Dukaten – mir ist als
ob Sie mirs schon aufzählten – sollen sehen – daß das Weiberl eben so reden
lernen, als der Esel von einem Mann blind werden muß, kommen Sie nur in
einer Stunde in mein Magazin – und da wird mein Plan fertig – und alles zu
Ihren Diensten bereit seyn! – Fikrament 200 Dukaten sagen Sie? –
Baron. 200 Dukaten! –
Kaspar. Vezeihens mir! – aber könnte ich nicht etwelche sehen – nur sehen – es
wird mir völlig kurios – wann ich die Dinger nur anschauen kann – die guten
Gedanken kommen mir völlig als wie ein Platzregen –“160
Dies Zitat kennzeichnet Kaspar, so wie Eberl sich ihn vorstellt, in hervorragender
Weise. Kaspar ist gleichermaßen eilfertig („Herzlich gerne – bin mit Leib und Seele
dabey!!“), jedes Mittel scheint ihm recht („den Narren schaffen wir halt auf die Seite – oder wir betrügen ihn vor der Nase“), dumm (er bemerkt nicht, dass er selbst
der Gefoppte sein wird) und schlau („Kitzlicht – verstehs schon“); Kaspar kennt die
notwendigen Mittel („gelben Sprachmeister“) und auch die Frauen („Itzt gehens mit
solchen Kleinigkeiten – ein Weib – sich nicht recht anzuschicken“), Kaspar agiert
anderen gegenüber abschätzig (verbal: „Kinderey“) und betrügerisch, zugleich aber
auch ehrlich („ich geb Ihnen mein Wort“), und zwar immer dann, wenn er sich
einen Vorteil erwartet. Eberls Kaspar ist alles andere als redlich. Augenzwinkernd
erinnert er den Baron Wellbach an Erlebnisse ihrer gemeinsamen Vergangenheit:
„Kaspar. […] warn so oft mitsammen auf der Jagd in Gratz – erinnern Sie sich
denn gar nimmer auf den ehrlichen Kerl, der sie so manchmal des Nachts, mit
dem werthen Herrn Hofmeister zum Fenster hinaus praciticiren half – wofür
so mancher ehrsamer Dukaten in meinen Schubsack flog.“161
Nun verfügt er über eine „ganz besondere Einrichtung in meinem Hause […] im
ersten Stock ganz niedlich eingerichtete Zimmer […] ober meinem Quartier steht
160 Ebenda, S. 19–21.
161 Ebenda, S 14.
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Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
Cassino – können also nicht fehlen – zu ebener Erde ist meine Boutique – und der
Schild heißt beym Cupido auf dem grossen Ring“.162 Kaspars insgeheim erwirtschafteter Verdienst stammt also unter anderem aus passiver Kuppelei, ein Geschäft,
das durchaus lukrativ zu sein scheint, bedenkt man beispielsweise die oben zitierte
beträchtliche Summe von 200 Dukaten, die der Baron Kaspar verspricht, oder die
fünfzig Souverän der Katzenbalg, die einerseits ein „Piknik“163 im offiziellen Kasino Kaspars und andererseits ein „Extrazimmer […] ganz von aller Gesellschaft
gesondert“164 gegen Bezahlung von weiteren Dukaten ordert. Als ein Kunde, der
Hochstapler Schevallier de Grand Fortune (eigentlich ein Friseur), nicht zahlen
kann, wird Kaspar grob – eine Eigenart, die übrigens in Eberls Text auch anderen
Figuren eigen ist, so wird sogar der an sich redliche Herr Buchwald seiner Frau gegenüber handgreiflich165, als er diese an einen anderen Mann zu verlieren fürchtet.
Kaspar greift den Betrüger und Zechpreller tätlich an und macht ihn verächtlich:
„Kaspar. Lumpengesindel? einen ehrlichen Burgers Mann? wart ich will dichs
lehren du Windbeutel – itzt bezahl, oder ich schlag dich blau! – (alle Köche und
Köchinnen umrungen den Chevalier, der auf die Knie niederfällt und bitt)
Chev[alier]. Ik bitten tausendmal um der Verzeihung – aber ik nit aben Geld
bey mir!
Kaspar. Was? – heraus mit die Dukaten!
Chev[alier]. (zieht den Beutel heraus) Ah bien Pardon! – es sind dir nik Dukat! –
Kaspar. Was – keine Dukaten also Dantes? Ih du Gottloßer Leutbetrüger –
wart ich will dich lehren (zu den Leuten) nehmt ihm etwas weg! –
Koch. Den Hut! –
Kaspar. Der ist zerlumpt! –
Koch. Den Degen! –
Kaspar. (versuchts) der ist ja angenäht – nichts da – den Harbeutel! –
Chev[alier]. Ah mon dieu ik bitt – bitten um alles in der Welt nur – nur lassen
meiner Arbeutel! –
Alle Köche. Nichts da! – nur her – (sie lösen ihm den Harbeutel ab)
Chev[alier]. Ah verdammte Streik – itzt wo ik nehm Arbeutel – ah quelle
Sottise! (lauft ab)
162 Ebenda, S. 15–16.
163 Ebenda, S. 40.
164 Ebenda, S. 41.
165 Vgl. ebenda, S. 74.
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Kaspar. Ha! – ha! – nicht übel – ein franzöischer Harbeutel, itzt da mach ich
eine Kastrollpastete darüber, und gieb ihn heute beym Souppe als das vierte
Eingemachte! – (alle lachen)“166
Auch wenn die Komik derartiger Szenen aus dem Verständnis des 21. Jahrhunderts
kaum noch nachzuvollziehen ist, hatte Eberls Text beachtliche Wirkung auf das
zeitgenössische Publikum. Nach der Uraufführung des Lustspiels am 13. Dezember
1787 wurde Kasperl’ der Mandolettikrämer am Leopoldstädter Theater 15-mal im
Laufe zweier Jahre wiederholt und kam auch an anderen Vorstadttheatern zur Aufführung.167 Castelli berichtet anlässlich einer dieser Aufführungen:
„Ich ging eines Tages durch die Praterstraße (Jägerzeile) spazieren und sah von
dem noch geschlossenen Theatertore eine große Menge Menschen stehen, welche auf das Aufsperren wartete. Ich besah den daneben ausgehängten Zettel,
man gab: ‚Kasperl, der Mandolettikrämer‘. Die Versammelten waren in einen
dichten Knäeuel zusammen­gepfercht und lärmten, stießen schrien und drängten, weil jeder der nächste am Tore sein wollte, um ja gewiß einen guten Platz
zu bekommen.“168
Ungewiss ist, aus welchem Grund das Publikum tatsächlich in die Aufführung
schwärmte. Fraglos zog La Roche viele Menschen an, wenn sein Name auf der Ankündigung zu lesen war, denkbar ist aber zusätzlich zu seiner viel beschworenen
Beliebtheit auch das sicher unstillbare Bedürfnis des Publikums nach Neuigkeiten
(vielmehr Stadtgespräche oder auch Lästerreden), das die Wiener ins Leopoldstädter
Theater – natürlich auch in die anderen Vorstadttheater – drängte. Unterstützung
findet diese Hypothese in der Tatsache, dass es sich bei Eberls Text um eine Gelegenheitsdichtung handelte, die dieser anlässlich eines konkreten Skandals in der
Wiener Gesellschaft verfasst hatte169 und die wiederum skandalisiert und damit weiter öffentlich thematisiert wurde, wie dies etwa in der schon genannten Broschüre
Bitte an die Damen Wiens das Leopoldstädter Theater betreffend geschah, in der der
Theaterdichter Ferdinand Eberl als ein die Fakten überzeichnender und schadenfroher Mensch kritisiert wurde:
166 Ebenda, S. 68–69.
167 Vgl. Jennyfer Zöbinger: Dokumentation. Kasperl’ der Mandolettikrämer. Entstehung und
Aufführung. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/eberl_mandolettikraemer.html [Stand 2009].
168 Castelli, Memoiren meines Lebens, Bd. 1, S. 258.
169 Vgl. Maria Anna Spöttl, die ‚Sardellenkönigin‘. In: Blümmel, Gugitz, Von Leuten und Zeiten im alten Wien, S. 222–237, sowie Zöbinger, Dokumentation, Kasperl’ der Mandolettikrämer, S. 4–5.
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Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
„Er hat sich zur Kopirung – mit manch’ falschem Zusaz – eine Familie gewählt, die dadurch zum Gespötte der Stadt geworden. Er war auch schadenfroh
genug, die Familie unter seinen Freunden selbst zu nennen, in Furcht, er möchte sie verzeichnet haben.“170
Sogar der Direktor des Leopoldstädter Theaters Karl Marinelli wurde als Günstling („Sie waren dennoch klein ec. genug, sich auf Unkosten dieser Familie zu –
mästen“171) angegriffen. So empörend der Skandal um die tatsächlichen Geschehnisse auch sein mochte, im Theatertext strebt die Handlung einer moralisch möglichst
makellosen Lösung zu. Kaspar, der in seinem „Lebtag mehr solche Prozesse unter
den Händen gehabt“172 hat, soll seiner Läuterung zugeführt werden – dies ist die
Absicht des mittlerweile selbst einsichtigen Barons. Dieser versichert Everl, dass der
von ihm geplante „Spas […] deinen Mann von all jenen Geldtragenden Projekten –
die der Beutelschneiderey so ähnlich sehen, mit einem zurücke bringen [soll]“.173
Während sich Kasper noch seiner Betrügereien und Kuppeleien erfreut und selbst
als der Baron ihn außerordentlich schroff zurückweist („Zum Teufel sollst du dich
scheren, ich will allein seyn!“174), verfolgt er noch seinen unseligen Weg und begreift
die Veränderungen um ihn herum nicht. Kaspar bemächtigt sich der verkleideten
Everl und führt sie gleich einer Beute ab,175 nur um sich das Kopfgeld des Barons zu
sichern. Selbst als alle Intrigen aufgeklärt sind (noch glaubt Kaspar seine Frau Everl
außer Haus), irrt er als einziger und letzter immer noch:
„Kaspar. ([das maskierte] Evgen hereinführend) Fikrament was fangen wir dann
itzt mit den hübschen Weiberl an? –
Baron. Je nun – das hübsche Weiberl wollen wir nun wiederum zu ihrem
Mann bringen, damit ja heute alles in Ordnung kömmt! –
Evgen. Das hab ich mir wohl gleich gedacht, daß ich dem Schlingel wiederum
in die Hände kommen werde!
Kaspar. Nein mein Herzenstäuberl, das sollen sie nicht, ich will schon dafür
sorgen, wenn Sie nur wollen? Herr Baron Sie überlassen mirs also? –
Baron. Herzlich gerne!! –
Kaspar. Tausendfikrament das ist lutzig, itzt kommens nur geschwind mit mir! –
Evgen. Aber ihre Frau? –
170 Bitte an die Damen Wiens, S. 16.
171 Ebenda, S. 27–28.
172 Eberl, Mandolettikrämer, S. 115.
173 Ebenda, S. 114.
174 Ebenda, S. 155.
175 Vgl. ebenda, S. 156.
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Kaspar. So seyns nur kein Fratz nicht – die wird gar nichts inne davon – Sie
gehn mit mir, und ich bring Sie an einen Ort, wo Sie gewiß nicht endeckt
werden sollen!
Evgen. Nu so ist mirs auch recht! – (sie nimmt die Masque ab.)
Kaspar. (der erschrickt) Alle Donner und’s Wetter! mein Weib – mein eignes
Weib!
Evgen. Ja du sauber’s Früchtel, ich bin’s selbst!! –
Kaspar. Nein – nein das ist doch auch gar zu dumm, daß ich mein eignes Weib
mit einem andern verhandeln wollte! – o! ich Esel! – ich Esel von allen Eseln! –
Hr. Baron das kann ich Ihnen auf dem Todtenbette nicht verzeihen! – aber
wart Weib, du, wann wir nach Hause kommen – freu dich!!“176
Joachim Perinet: Die Schwestern von Prag177
Kaspar ist Odoardos Hausknecht, der sich – er fühlt sich oft ungerecht behandelt –
gegen seinen Herrn wenden wird, um dem jungen Liebespaar zu helfen. Doch zunächst zum Haushalt Odoardos.
Odoardo, verehelicht mit Kunigunde, ist der Vater Mitzerls, der drei Verehrer den
Hof machen: der französische Chevalier Chemise, der versoffene Baron Papendeckel
und Marquis Kletzenbrod, Dienstgeber des Johann Schneck. Alle drei begehren
Einlass ins Haus, doch Kaspar ist dazu angehalten, niemanden ins Haus zu lassen.
Er versieht seinen Dienst, so gut er kann, d. h. es gelingt nur dem schlauen Johann
Schneck, Kaspar zu übertölpeln und ins Haus zu kriechen:
„Kaspar: Krieche lieber Hanns, kriech zu!
O du braves Schneckerl du!
Bitt’ dich gar schön, kriech hinein!
Wie wird das den Herrn nicht freun! [...]
Mein Herr ist doch ein feiner Strick! Vom Kriechen hat er kein Wort nicht
g’sagt.“178
Zu den Liebhabern gesellt sich der vazierende Schneidergeselle Krispin, der sich
in das Stubenmädchen Lorchen verliebt und aus sich bietender Gelegenheit in die
Dienste des Baron Papendeckel tritt. Auf Baron Papendeckel wiederum hat es Kunigunde abgesehen, die ihm einen anonymen Brief zukommen lässt, anhand ihrer
176 Ebenda, S. 160–161.
177����������������������������������������������������������������������������������������
Joachim Perinet: Die Schwestern von Prag. Als Singspiel in zwey Aufzügen, nach dem Lustspiele des Weyland Herrn Hafner, für dieses Theater bearbeitet von J. P., Theaterdichter,
und Mitgliede dieser Gesellschaft. Wien: Schmidt 1794. Hrsg. von Jennyfer GroßauerZöbinger. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/
perinet_schwestern.html [Stand 2009].
178 Perinet, Die Schwestern von Prag, S. 18–19.
90
Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
Schrift aber später als Skribentin demaskiert werden kann. Und auch Odoardo verfasst einen Liebesbrief, dieser ist an das Stubenmädchen Lorchen gerichtet.
Abends, als Mitzerl und Lorchen an das Fenster treten, beginnt zunächst ein wahrer Reigen von Ständchen und schließlich ein handfester Raufhandel, in den alle
Liebhaber verwickelt werden und dem der Ruf des Nachtwächters ein Ende setzt.
Odoardo lässt Kasperl wegen seiner Unachtsamkeit über Nacht in Arrest führen.
Am folgenden Morgen kehrt Kaspar verstimmt zurück und erklärt sich bereit, den
Marquis Kletzenbrod zu unterstützen. Dieser verabredet mit Mitzerl, die den Marquis schon seit geraumer Zeit wiederliebt, eine List, bei der Kaspar helfen soll. Odoardo wartet unterdessen auf seine Schwester aus Prag, die Mitzerl bei der Wahl ihres
künftigen Gatten beraten will. Als sich Mitzerl für krank ausgibt, holt Kaspar den
als Mediziner verkleideten Marquis Kletzenbrod, der eine gemeinsame Flucht vorbereitet, sollte der eigentliche Plan scheitern, nämlich Johann als Schwester auszugeben, bei der die Wahl selbstverständlich auf Kletzenbrod fiele. Und zunächst sieht
es auch aus, als wäre das Liebespaar in Nöten, denn auch Krispin hat erfahren, dass
Odoardo seine Schwester lange Jahre nicht mehr gesehen hat, und verkleidet sich
kurzerhand als Schwester. Doch er stellt sich derart ungeschickt an, dass er beim
Eintreffen des verkleideten Johann demaskiert wird. Johann heißt (als „richtige“
Schwester) die Verbindung zwischen Mitzerl und dem Marquis gut, Odoardo und
Kunigunde stimmen dem auch zu, bis Johann enttarnt wird. Doch Kletzenbrod
und Johann, die mittlerweile im Besitz der beiden Liebesbriefe sind, erpressen das
Ehepaar, welches die Hochzeit schließlich von Herzen billigt.
Die Komödie Joachim Perinets ist eine Bearbeitung der älteren Burleske Der von
dreyen Schwiegersöhnen geplagte Odoardo von Philipp Hafner. Die Schwestern von
Prag wurde am 11. März 1794 uraufgeführt und entwickelte sich zu einem ausgesprochen erfolgreichen Stück, das bis 1859 über 130 Wiederholungen erlebte. Das
wesentliche Verdienst Perinets bei der Bearbeitung ist die Verdichtung des ursprünglich „recht ungleichmäßig gewebt[en]“179 Lustspiels von Philipp Hafner. Perinet
vermehrt die Liebesgeschichte um jenes des alternden Ehepaares, neu ist auch die
zentrale nächtliche Szene, in der die Tumulte auf der Bühne eskalierten. Bei Hafner
brachten die Liebhaber ihre Ständchen der Reihe nach dar, bei Perinet kommt es zu
einer „Nuit à l’Italienne [...], in die schließlich alle Personen des Stückes verwickelt
werden“180, und die zur Kernszene des neu eingeführten Kaspars wird.
Doch zunächst zur Rolle La Roches. Kaspar ist der zwar treue, jedoch ausnehmend
dumme Bedienstete, der den Auftrag seines Herrn nur allzu wörtlich nimmt. Es erfüllt
ihn mit Stolz, wenn er seinem Herren dienlich sein kann, doch die Befriedigung wird
179 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 547.
180 Ebenda, S. 548.
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je ins Gegenteil gekehrt und lässt Kaspar sich schließlich gegen Odoardo wenden,
als er von diesem geprügelt, verhöhnt und sogar in den Arrest geschickt wird, ohne
eigentlich zu erkennen, warum. Kaspar möchte alles richtig machen, doch er vermag
dies kaum; zu karg sind seine geistigen Ressourcen, und auch wenn er sich bemüht,
misslingt ihm der Auftrag. Schon zu Beginn der Komödie versagt Kaspar zu hundert Prozent:
„Odoardo. [...] Aber wie hat denn der Chevalier einsteigen können?
Kaspar. Er ist halt auf’s Gatter zu ebner Erd g’stiegen, da hat er sich oben an
G’sims ang’halten, und hat hinauf kraxeln wollen.
Odoardo. Und was hast denn du dabey gemacht?
Kaspar. (lacht) Ich? Ich hab’s gar fein g’macht. Ich hab g’schrieen, ,He! he! Der
Herr kann sich ja zersprageln, oder gar den Hals brechen, wann er so herumkraxelt: Was brauchts denn die Talkerey da? Wann der Herr expressi einsteigen
will, so kann ich ihm ja eine Leiter hohlen?‘ – Dictum factum, ich geh her,
bring ihm d’ Feuerleiter, und da ist er ganz kommod eing’stiegen.
Odoardo. Was! der Franzos hat über nacht in meinem Haus kampirt?
Kaspar. Die Fräula Mitzerl hat ihn ja nicht hineing’lassen, und es ist ja besser,
daß einer spienzelt, als daß er ein Krüppel wird?
Odoardo. Hab ich dir nicht befohlen, keinen Menschen in’s Haus zu lassen?
Kaspar: Sie haben g’sagt; Stell dich vor die Thür, und laß keinen Menschen
hinein, aber vom Fenster haben sie nichts gesagt; das können Sie nicht reden
als ein braver Mann: und ich hab all mein Lebtag ghört, Fensterln därf man
aber nicht thürln.“181
Indem er den Auftrag buchstäblich ausführt, lässt er den Galan zwar nicht zur
Tür hinein, doch er unterstützt ihn am alternativen Weg, der durch das Fenster
führt. Dies ist das erste, aber beileibe nicht das einzige Missverständnis, das zum
Lachen auffordert. Kaspar ist dumm, treu, ehrlich, hilfsbereit, Kaspar steht neben
sich und neben allen anderen und will niemandem Böses. Natürlich ist Kaspar in
bester hanswurstischer Tradition großsprecherisch. Noch zu Beginn rühmt er seine,
dem Hausknecht eigene, Stärke in einem Lied („Ein Hausknecht wird überall stark
honorirt, Weil jeder des Hausknechts sein Faust respectirt“182), kurz darauf muss er
Schläge einstecken („Kletzenbrod. Mit dem Kerl ist nichts anzufangen; der taugt
gar nicht in die Welt [...] (Er giebt Kasparn mit der flachen Klinge einen Hieb über den
Rücken.) Bleib stehen, Ochs!“183), und als er schon im nächsten Auftritt auch vom
zweiten Liebhaber bedroht wird, schreit er aus Leibeskräften um Hilfe („Papendeckel. Wohlan Kerl! so will ich dich, wie eine Kröte spießen. (zieht) Kaspar. (schreyt)
181 Perinet, Die Schwestern von Prag, S. 7–8.
182 Ebenda, S. 10.
183 Ebenda, S. 13.
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Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
He! Leute! Menschen, Kinder, Katzen, Mäus’ und Ratten kommt mir zu Hülfe!“184).
Für Kasperl ist es selbstverständlich, Liebende zu unterstützen, ist er doch selbst,
allerdings in erster Linie jungen, Frauen nicht unbedingt abgeneigt. Zunächst ist er
beim Rendezvous des Marquis mit Mitzerl der „Ehrenhüter“185 des Fräuleins. Die
beiden versichern ihm, nur miteinander reden zu wollen, und Kaspar sorgt tatsächlich für einen gebührenden Abstand zwischen den Zweien. Vorerst lässt er sich zwar
bestechen, doch als sie sich hinter seinem Rücken küssen wollen, streckt er seine
Hellebarde dazwischen und treibt schließlich den Marquis fort186. Im zweiten Aufzug hat Kaspar neuerlich eine Schlüsselrolle in der Liebeshandlung: Er übernimmt
die Verkleidung des Doktors, nachdem sich der Marquis ins Haus geschlichen hat,
stellt ein Rezept aus und verstellt sich als würdevoller Gelehrter:
„Odoardo. Nun wie stehts, Herr Doktor?
Kunegunde. Geben Sie Hoffnung?
Kaspar nickt mit dem Kopfe, deutet, daß sie schlummere: giebt ihnen das Rezept,
und will ab.
Odoardo. Nehmen Sie doch für ihre Mühe! (giebt ihm Geld)
Kunegunde. Und sehen Sie bald wieder nach.
(Kaspar steckt das Geld gravitätisch ein, nickt mit dem Kopfe und läßt sich bis vor
die Thüre hinaus begleiten.)“187.
Solche Szenen, wie auch die folgende, boten mit Sicherheit viel Raum für Lazzi und
es ist anzunehmen, dass La Roche auch kürzeste Auftritte mit reichlich übertriebener Gestik spielte:
„Kaspar kommt gähnend aus dem Hause und dehnt sich. Izt hab’ ich g’schlafen
wie ein Prinz, izt wollt ich wieder die ganze Nacht munter seyn. Der Schneckenhannsel ist auch wieder herausgekrochen, und izt will ich auf meinen Herren warten, damit er sieht, was ich für ein Mordkerl bin.“188
Den Höhepunkt der Schwestern von Prag bildete gewiss die Nachtszene im Garten,
als alle Darsteller nach und nach die Bühne betraten und, von unterschiedlichen
Instrumenten (Requisiten und als Arienbegleitung reale Instrumente) begleitet ihre
Musiknummern vortrugen. Auch Kaspar, dessen Darsteller La Roche über keine
besonders schöne Singstimme verfügte, wie mehrere Chronisten bezeugten, durfte
dem Stubenmädchen ein Ständchen bringen, dazu begleitete er sich selbst mit einem
„hölzernen Gelächter“ (einem Xylophon):
184 Ebenda, S. 15.
185 Ebenda, S. 35.
186 Vgl. ebenda, S. 14.
187 Ebenda, S. 89.
188 Ebenda, S. 33–34.
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„Kaspar kommt mit einem hölzernen Gelächter auf dem Buckel.
O jemine, o jemine!
Mit thut schon fast der Buckel weh.
Ich bring mein Instrument mit mir,
Und spiels den Madeln vor der Thür’.
Ich hab’, weil ich mein Lebtag g’lacht.
Ein hölzerns G’lachter mitgebracht.
(Kaspar legt es auf den Eckstein und schlägt)
Hippedi, Huppedi, Klapp, klapp, klapp!
Der Tact, der geht bey mir im Trabb.
Ich sag dirs Lenorl! mein Herz hackt auch so,
Und liegt auch, wie’s hölzerne G’lächter auf Stroh
Hippedi, huppedi! Klabb, klabb, klabb!
Schütt’s mir nur nichts auf’m Schädel herab.“189
Karl Friedrich Hensler: Der Schornsteinfeger
Die bemerkenswerteste „Entwicklung“ durchläuft Kasperl im Oeuvre Karl Friedrich Henslers. Dabei avanciert die Figur vom rührigen und meist redlichen Familienvater in den bürgerlichen Stücken zum verschlagenen und bramarbasierenden
Knappen in den romantisch-komischen Volksmärchen, als deren ‚Vater‘ Hensler in
die Literatur- und Theatergeschichtsschreibung eingegangen ist. Dabei verläuft die
Metamorphose vom bürgerlichen Biedermann zum komischen Faktotum in märchenhafter Kulisse in die eigentliche Handlung stets begleitenden Rollen, obschon
Kasperl in vielen Fällen die Titel gebende Person ist. Der Kasperltypus wandelt sich
merklich, doch immer bleibt er dumm, feige aber auch grundehrlich – damit sind
seine Haupteigenschaften umrissen, die ihn in allen Komödien ‚begleiten‘.
In den bürgerlichen Stücken Henslers (etwa Männerschwäche und ihre Folgen oder
Die Krida; Der Großvater oder Die fünzigjährige Hochzeitsfeyer; Kasper, der Schornsteinfeger) „müssen sich ‚wackere‘ Bürger und tugendhafte Mädchen aufregender
Verfolgungen seitens schurkischer Beamter erwehren und nur durch ein überraschendes Zusammentreffen günstiger Umstände, das ein Eingreifen des Fürsten
herbeiführt, können sie in letzter Stunde gerettet werden“190. Dabei werden „alle
Schurkerei[en ...] rechtzeitig abgewendet [...]. Die Gequälten tragen ihr unverdientes
Leiden auf stoisch tugendhafte Art und Weise. Der Fürst übernimmt die Rolle der
Vorsehung“191. „Unbedeutende Liebes- und Heiratsgeschichten bilden den Inhalt.
189 Ebenda, S. 52–53.
190 Binder, La Roche, S. 32.
191 Ebenda.
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Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
Immer dreht es sich darum, dass ein Liebespaar einen verhassten oder zumindest
sehr ungebetenen Dritten, der das Mädchen umwirbt, abschüttelt.“192
In Henslers „Original Lustspiel“ Der Schornsteinfeger193 verkörperte La Roche die
Titelfigur Kaspar Puff, der gemeinsam mit seiner Frau Susanna zwei Pflegekinder
aufzieht: Antonia und Karlchen. Karlchens leibliche Eltern sind (und dies wird sich
erst im Laufe der Handlung herausstellen) Antonia und Karl, ein heimlich verheiratetes Paar. Auch Karls wahre Identität ist ein Geheimnis: Zwar gibt er sich als
Rauchfangkehrergeselle aus, jedoch ist er Seeoffizier Graf von Steinburg und Sohn
des Gouverneurs Graf Bolla. Begünstigt durch dieses familiäre Geflecht können die
Intrigen vom Stadtsyndikus Wilhelm (er ist der durch Neid verblendete Stiefbruder
Karls) und dessen Handlanger, dem Baron Walter, in Gang gebracht werden.
Kaspar ist ein Handwerker, der seine Jugend längst hinter sich gelassen hat („mein
lieber Alter“194), arbeitsam, redlich, verschroben, kurz: von einfachem Gemüte.
Schon zu Beginn bescheinigt ihm der ehemalige Hofmeister Kluger (die moralische
Instanz der Komödie) seine Fehlerlosigkeit („Klug[er]. (beis.) Kasper Puff ist ein
ehrlicher Mann“). Rechtschaffenheit und biedere Zurückhaltung prägen die bürgerliche Komödie Henslers, dessen Intention durch zwei Sentenzen zusammengefasst
werden kann:
„Wilh[elm]. [...] Ja, es sey, wo das Schicksal dem Glück der Menschen Einhalt
thut, da muß unser Witz zu Hilfe kommen, und eine List durch Witz ausgeführt, muß gelten, auch wenn so bisweilen eine kleine Feinheit unterläuft.“195
„Klug[er]. [...] wirst du deine Grundsätze, die so schön in dem Munde des
ehrlichen Mannes stehen, verlassen, wirst dein Herz hören, das als Hausvater
so schön für deine Familie schlägt, wirst ein glücklicher Großvater seyn, ohne
nach Rang und Würde gestrebt zu haben.“196
Der ‚Witz‘ wird als Motor des Geschehens betrachtet, List und Kabalen treiben die
Entscheidungen, an deren Ende neben der Zufriedenheit aller auch der Erkenntnis-
192 Norbert Wiltsch: Karl Friedrich Hensler: Ein Beitrag zur Geschichte des Alt-Wiener Theaters. Wien, Univ., Diss. 1926, S. 31.
193 Uraufführung am 13. Oktober 1789, Erstdruck 1791.
194 Karl Friedrich Hensler: Der Schornsteinfeger. Ein Original Lustspiel in drey Aufzügen.
Wien: Wallishauser 1791, S. 8. Hrsg. von Andrea Brandner-Kapfer. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/hensler_schornsteinfeger.html
[Stand 2009].
195 Hensler, Schornsteinfeger, S. 19.
196 Ebenda, S. 15.
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gewinn der Ehrbarkeit bürgerlicher Tugenden (natürlich möglichst auch des Publikums) stehen soll, an. „Grundsätze“197 und „Politik“ sind relevante und den schriftlich fixierten Text prägende Begriffe. In Erinnerung gerufen sei an dieser Stelle die
(zeitgenössische) Definition des Terminus Politik:
„Die Politīk: Fertigkeit, alles was in der bürgerlichen Gesellschaft vorkommt,
vernünftig zu beurtheilen, die nach den Verhältnissen der Staatsverbindung
bestimmte Klugheit; die Staatsklugheit, S. auch Staatswissenschaft. Ingleichen,
objective, der Inbegriff aller dahin gehörigen Wahrheiten. In weiterer Bedeutung wird auch die Klugheit, so fern sie sich in dem Umgange mit andern äußert, die Politik genannt.“198
Politisch zu sein und zu agieren kennzeichnet den edelsinnigen, würdevollen Charakter – die Negation dessen enthüllt eine reaktionäre Gesinnung. Noch ehe der
Zuschauer (respektive der Leser) erfährt, dass Wilhelm gegen seinen Stiefbruder
Karl intrigiert, offenbart er in einem Gespräch mit Kluger sein wahres Wesen: „Kluger! sie sind meines Bruders Erzieher, also sein vertrautester Freund, verwünscht sey
aber die Stunde, worinn sie ihm zum erstenmale jene gefährlichen Grundsätze der
Politik einprägten.“199 Die Positionen stehen fest und die Intrigen können beginnen.
In diesem Rahmen (Rückkehr des verlorengeglaubten Sohnes, dessen Wiedereingliederung in die Gesellschaft, zugleich dessen Aufstieg in der ständischen Hierarchie durch glückhafte Erlangung eines prestigeträchtigen Amtes, die Aufdeckung
der Vergangenheit und offiziöse Anerkennung seiner geheimgehaltenen Ehe und
Vaterschaft) wird der Typus des Kasperl beinahe mühsam eingefügt. Als Handwerker gibt er dem vermeintlichen Gesellen Karl die Möglichkeit, sich sowohl seiner
primären Familie (Vater und Stiefbruder; noch unerkannt) als auch seiner Herzensfamilie (Antonia und Karlchen) nach langer unverschuldeter Abwesenheit wieder
anzunähern. Während Karls Absenz hat Kaspar, ohne es zu wissen, die Obsorge
für dessen Frau und Sohn übernommen, pflichtergeben dient er dem Allgemeinwohl und letztlich auch seiner Frau, obschon er diese für närrisch und hochfahrend
hält und sie schließlich sogar als herrschsüchtig und überheblich demaskiert. Diese
Beziehungen (Kaspar–Ehefrau Susanna; Kaspar–Gouverneur Bolla; Kaspar–Karl,
Schornsteinfegergeselle bzw. Graf von Steinburg) bilden den Raum, in welchem
La Roche seinen Kasperl ‚inszeniert‘. Die in der Forschung beständig genannten
197 Zwei Beispiele aus dem Text mögen zur Illustration genügen: „[...] deine Grundsätze, die so
schön in dem Munde des ehrlichen Mannes stehen“ (Kluger prophezeit Kaspers Zukunft).
Hensler, Schornsteinfeger, S. 15 und „Ihr habt edle Grundsätze, guter Mann“ (Kluger zu
Kasper). Ebenda, S. 29.
198 Politik. In:��������������������������������������������������������������������������
Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der
Oberdeutschen. 2., vermehrte und verbesserte Auflage. Bd. 3. Leipzig: Breitkopf und Compagnie 1793–1801, S. 803. Elektronische Volltext- und Faksimile-Edition nach der Ausgabe letzter Hand. Online: http://www.zeno.org/Adelung-1793/-/Hauptseite [Stand 2009].
199 Hensler, Schornsteinfeger, S. 21.
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Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
Merkmale Kasperls200 (Streit und Zank im Alltag des kasperlischen Haushaltes, Eifersucht auf seine Frau, Dummheit, die er aber im Nachhinein immer einsieht,
Sprachwitz, Missverständnisse, falsches Wörtlichnehmen, Unvereinbarkeit von
Sprache und Dingen; Infantilität und Naivität Kasperls) kehren auch im Schornsteinfeger unverkennbar zu Tage, werden jedoch durch eine zusätzliche Eigenart Kasperls erweitert: La Roche stellt Kasperl als zärtlichen Familienvater vor, „der seine
Kinder liebt, sie zu ehrlichen und ordentlichen Handwerkern“201 erziehen möchte,
und dies stets mit der Betonung der Begrenztheit des Standes202.
Belehrend und unterhaltsam zugleich sind vorrangig jene Passagen, in denen Kasper
sich mit Kluger unterhält. Des Kasperls Sprachkomik und seine Infantilität kommen gleichermaßen zum Ausdruck wie auch seine (und vor allem Karl Friedrich
Henslers) grundsätzliche vorgenannte politische Auffassung:
„Kasp[ar]. Mein Weib prophezeyt mir auch so Narrheiten, daß das Madl noch
eine vornehme Dame wird, und da gehts s’Weib beständig auf die Männer Jagd
aus, damit ihre Prophezeyhung eintreffen soll, s’Madl setzt sich z’letzt das Ding
in Kopf, glaubts selber, weil’s die Mutter glaubt, und vertreibt mir jeden ehrlichen, braven Burgerssohn, der Sie heurathen will; aber nur Geduld, eh 8 Tage
vergehen, werd ichs Madl fort transportiren.
Klug[er]. Und wohin, wenn ich fragen darf.
Kasp[ar]. In den heiligen Ehestand, sonst hats keine Ruh mehr; [...]
Klug[er]. Habt ihr denn schon einen Mann für Sie gefunden.
Kasp[ar]. Hab einen, aber der Teufel weiß, wo er seit 3 Tagen steckt. [...] Herr,
ein Kerl wie gedrechselt, – von Geburt ist er ein Wälscher, aus – aus – wie heißt
man doch das Land – aus – aus Flo – Flor –
Klug[er]. Florenz.
Kasp[ar]. Richtig, Florenz, – und dem thät ichs’ Madl von Herzen gönnen.
Klug[er]. Wer ist er denn, wenn ichs wissen darf?
Kasp[ar]. Was wird er seyn, ein Schornsteinfeger ist er, und ein Schornsteinfeger ist ein groß, großes Thier, – warum? weil er ein Mitglied des Staates ist.
Klug[er]. Ein Mitglied des Staats, – wie das?
200Vgl. allgemein Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie sowie�����������������������������
Beatrix Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Spaßtheater im 18. Jahrhundert. Paderborn [u. a.]: Schöningh
2003 und zu Henslers Komödien dezidiert Binder, La Roche, S. 33–36.
201 Binder, La Roche, S. 36.
202 Vgl. ebenda.
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Kasp[ar]. Wer den Staat vor Gefahren schützt, ist ein Mitglied desselben, der
Schornsteinfeger schützt den Staat vor Feuersgefahr, ergo – ist der Schornsteinfeger ein Mitglied des Staats, da hat ers jetzt, als wenn’s auf ein Buttersemel
aufgestrichen wär.“203
Dass die staatstragenden Ausführungen Kasperls mit der Erwähnung einer Buttersemmel enden, ist alles andere als abwegig. Für ihn gehen seine Grundbedürfnisse
Hand in Hand und die rechtliche oder finanzielle Absicherung seiner Familie wie
auch das Stillen seines Hungers wiegen für ihn gleich schwer. Kommt ihm dabei
jemand in die Quere, scheut er auch vor Handgreiflichkeiten nicht zurück: „[...] oder
Blitz Sapperment! wenn einmal der Kasper Puff ins Puffen kommt, Herr! da gibt’s
Puffer, dass sich der Herr Stadtsyndicus verwundern wird.“204 Dabei ist es Kasperl
einerlei, ob sein Gegner ein Handwerker wie er oder ein Angehöriger des Adels ist.
So kommt er auch mit dem Gouverneur der Seestadt, Graf Bolla, ins Handgemenge, als dieser Karlchen (der sich als Enkel beider herausgestellt hat) zu sich nehmen
will:
„Casp[ar]. (Wie er den alten Bolla Krlchen [!] wegtragen sieht) He, he, Blitz Fikerment, wer trägt mir denn meinen Jungen davon, (hält ihn zurück, nimmt ihn
dem Alten weg) Euer Excellenz, der Knabe ist mein.
Boll[a]. Er ist aber meines Sohnes Kind, gebt mir meinen Enkel (nimmt ihm
wieder auf seinen Arm)
Casp[ar]. Blitz Fickerment! Euer Excellenz! der Junge gehört mein.“205
Karl Friedrich Hensler: Der unruhige Wanderer
Von Furchtsamkeit als wesentlichem Kennzeichen des Kasperls kann in den bürgerlichen Komödien Henslers kaum die Rede sein – gänzlich anders verhält es sich
damit in den später entstandenen Lustspielen, hauptsächlich aber in den bereits genannten romantisch-komischen Volksmärchen, in welchen die Furchtsamkeit Kasperls zur seinem beinahe obligaten Charakteristikum wird. „Hier“, schreibt Binder
in ihrer Arbeit über das Zusammenwirken La Roches und Henslers,
„entdeckt man Kasperls stark ausgeprägte Furchtsamkeit, die sich wie ein ‚roter
Faden durch die einzelnen Stücke zieht und das Publikum zum Lachen trieb.
Es scheint mir eine urmenschliche Reaktion zu sein, dass man sich über einen
‚zerkugeln‘ kann, nur weil er sich fürchtet und dies obendrein noch zugibt.
203 Hensler, Schornsteinfeger, S. 10–11.
204 Ebenda, S. 28–29.
205 Ebenda, S. 47.
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Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
Dieses Lachen tritt natürlich nur dort auf, wo man sich in Sicherheit (sprich:
Zuschauerraum) wähnt.“206
Der Furchtsamkeit, wie auch der Infantilität, die sich die Kasperlrolle im Laufe der
Entwicklung beibehalten hatte, gesellt sich in den Volksmärchen ein Lazzo hinzu,
nämlich der des Nachäffens,207 der typisch für den Kasperl La Roches wird. Dieser
Form der Komik fügt Binder in ihrer Betrachtung von Henslers Donauweibchen
weitere an, die wohl auch für den Unruhigen Wanderer u. a. romantisch-komische
Volksmärchen Henslers gelten können und hier nur kurz in Form einer Auflistung
wiedergegeben werden sollen: Angst, Kindlichkeitskomik, Naturhaftigkeit, Dummheit, Vergesslichkeit, Unkenntnis, Analphabetismus, Furchtsamkeit, Betrunkenheit,
Dienertreue, Prügel und Ohrfeigen. Diesen gesellt sich die Hilflosigkeit übermächtigen Gegnern und dem einfachen Alltag gegenüber hinzu.208
Am 13. Mai 1796 erfährt das ‚erste‘ romantisch-komische Volksmärchen am Leopoldstädter Theater seine Uraufführung. Der Verfasser Hensler bezeichnet die Komödie im Untertitel als Original-Feemärchen in vier Aufzügen und widmet das Stück
explizit „seinem Freund Johann Laroche [...] zu seiner jährlichen freyen Einnahme“: Der unruhige Wanderer, oder Kasperls lezter Tag. Erster Theil209. Wie erfolgreich
La Roche und das Ensemble der Leopoldstädter Bühne diese Komödie spielten,
bezeugt unter anderem210 die Häufigkeit seiner Wiederholungen: Bis 1806 gelangte
das Stück 43-mal zur Aufführung. Entsprechend seiner Konzeption und seinem
Gattungsverständnis kommt es Hensler „auf die lebendige Zentralgestalt an, nicht
206 Binder, La Roche, S. 39.
207 Ebenda, S. 63 bezeichnet das Nachäffen sogar als ‚stehenden‘ Lazzo.
208 Vgl. ebenda.
209 Karl Friedrich Hensler: Der unruhige Wanderer, oder Kasperls lezter Tag. Erster Theil Ein
Original-Feemärchen in vier Aufzügen für die Marinellische Schaubühne. Wien: Schmidt
1796. Hrsg. von Andrea Brandner-Kapfer. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online:
http://lithes.uni-graz.at/maezene-pdfs/translit_hensler_wanderer_1.pdf [Stand 2009].
210 Auch die Tatsache, dass Hensler eine Fortsetzung verfertigte, beweist die Publikumswirksamkeit des Feenmärchens (ob Hensler, wie Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 555
versichert, schon während der Arbeit am ersten Teil einen allfälligen zweiten Teil mitkonzipierte, ist zwar nicht bewiesen, doch auch nicht abwegig, bedenkt man, dass ihm mit den
Romanen des Christian Heinrich Spieß, derer sich Hensler wiederholt als Quelle (bspw.
Das Petermännchen, Geistergeschichte von Spieß: Das Petermännchen, Schauspiel mit Gesang von Hensler, 1794 oder Die zwölf schlafenden Jungfrauen, Geistergeschichte von Spieß,
1795/96: Die zwölf schlafenden Jungfrauen, Schauspiel mit Gesang von Hensler, 1797) bediente, zahlreiche Vorlagen zur Verfügung standen). Vgl. Karl Friedrich Hensler: Kasperl
der unruhige Wanderer. Zweyter und letzter Theil. Ein Original-Feemärchen mit Gesang
in drey Aufzügen für die Marinellische Schaubühne. Wien: Schmidt 1799. Hrsg. von
Andrea Brandner-Kapfer. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://lithes.unigraz.at/maezene-pdfs/translit_hensler_wanderer_2.pdf [Stand 2009].
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LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
http://lithes.uni-graz.at/lithes/10_sonderband_1.html
auf die Handlung. Diese ist ein Feenmärchen, wie es schon oft über die Bühne gegangen war.“211
„Den Inhalt der Rahmenhandlung festzuhalten lohnt sich kaum. Da ist eine
stolze Königin Evana, die auf ihrer Insel ein Amazonenreich begründet hat.
Männer, die sich auf die Insel verirren, macht man durch einen Zauberwein gefügig und lässt sie spinnen. Von den neugeborenen Kindern werden alle männlichen getötet. Eifersüchtig wacht Evana über die Erhaltung ihres ,Gesetzes‘,
für das durchaus nicht alle Amazonen begeistert sind, und fühlt sich deshalb
besonders gereizt durch die Weigerung ihrer Ziehtochter, es bei einer Art Jugendweihe zu beschwören. Hat sie doch selbst ihr eigenes Söhnlein wenige Tage
nach der Geburt ertränken lassen. Unnötig zu sagen, daß Evana schließlich
bekehrt wird, und zwar am Ende des ersten Stückes äußerlich, am Ende des
zweiten auch innerlich. Jetzt stellt sich selbstverständlich heraus, daß einer ihrer
Gefangenen, der lieber den Hungertod sterben als Frauenarbeit im Spinnsaal
verrichten wollte, ihr Sohn ist und ihre Ziehtochter liebt. Motiv und Milieu
entsprechen ganz dem Vorbilde der orientalisierenden Märchen der Sammlung
,Dschinnistan‘. Das Beste hat natürlich die gute Fee Chara zu tun, die über
dem Ganzen ihre Hand hält, und der lustige ,kleine Schutzgeist‘, den sie mit
der Fürsorge für Kasperl betraut hat. Auch der Mohr Mongogul, der diesmal
verliebte Amazonen und gefangene Männer zugleich zu bewachen hat, gehört
zum ständigen Personal der ,Contes des Fées‘. Er hatte weder im ,Fagottisten‘
noch in der ,Zauberflöte‘ gefehlt und hatte schon in Stephanie-Mozarts ,Entführung aus dem Serail‘ (1782) sein Spiel getrieben. Neu ist nur, daß Kasperl
im Dienste der Fee Chara, deren Name wohl ,Freude‘ bedeuten soll, die Aufgabe bekommt, der verkrampften Unnatur des Amazonenrechtes ein Ende zu
machen.“212
Kasperl setzt dem Treiben ein Ende, natürlich nicht ohne zuvor auch für Tumult,
Verwirrung, Verfolgungen und vieles mehr gesorgt zu haben. Durch das Einwirken
Charas, der „Beschützerinn der Menschenfreuden“213, wird Kasperl, der „reduzirte[...] Hofnarr“214, durch die Handlung getrieben. Sie übernimmt die Funktion des
Schicksals und bedient sich förmlich der beiden männlichen ‚guten‘ Protagonisten
im Kampf gegen die das Bösen verkörpernden Amazonen und deren männliche
Untergebene. Während dem jungen Abenteurer Samor jedwede Unterstützung für
seine Heldentaten zuteil wird, sieht sich Kasperl indes unentwegt unterschiedlichsten Hindernissen gegenüber. Die erste Tat Charas ist die Verjüngung Kasperls, die
Voraussetzung für Kasperls Eingreifen in die Handlung: Kasperl eröffnet das Theaterstück mit einem Schläfchen auf der Bühne, das durch Kinder gestört wird. Als
Kasperl erwacht, hält er einen sein bisheriges Leben resümierenden Monolog:
211 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 554.
212 Ebenda, S. 554.
213 Hensler, Der unruhige Wanderer, S. 2.
214 Ebenda.
100
Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
„Kasperl (allein, gähnt, streckt sich aus). Ha, ha, ha! da heist’s wohl, s’kann einem nicht närrischer träumen! Nun ja! (er will aufstehen, zittert, setzt sich wieder)
da haben wir’s! es geht nimmer! die Füße! die Füße! wenn ich ihnen auch noch
so gute Worte gäb, es wär kein Tanzl mehr aus ihnen heraus z’holen! (Pause,
lacht mit innerer Zufriedenheit) ha, ha, ha! wie ich immer sag, wenn man lang
lebt, so wird man alt, und wenn man alt wird, so werden einem d’Spazierhölzer
zu eng, und wenn’s auch im obern Stockwerk noch so lustig aussieht, was hilfts!
wo der Hausmeister logirt, (deutet auf die Füsse) da singt man s’Lamentabile
s’ganze Jahr! (Er steht mit Mühe auf, lehnt sich auf seinen Knotenstock, und nähert sich dem Tischchen) Der Appetit ruckt auch schon wieder an – ich muß
doch nachschauen, was mir die Frau Fee aus ihrer Hofkuchel bescheert hat.“215
Diesen Monolog bezeichnet Rommel als „das vielleicht echteste und reinste Dokument seiner [La Roches] Komik“216, denn, so führt dieser weiter aus:
„Seine Komik, auf die es in erster Linie ankam, war ja von jeher in hohem
Grade unabhängig von dem ihm zugeteilten Handlungsmotiv gewesen. Kasperl wirkte immer durch das, was er war, und nicht durch das, was er auf der
Bühne zu tun bekam. Er ist überhaupt in dieser seiner letzten, durch Henslers
Stücke repräsentierten Entwicklungsepoche nicht mehr bloß eine Bühnenfigur.
Er wirkt offenbar – auf der Bühne wie im Leben – durch sein Menschentum.
Johann Laroche zählte erst 51 Jahre, als Hensler ihm im ‚Unruhigen Wanderer‘
die Rolle eines ganz alten Mannes vorschrieb.“217
Indem der alte Kasperl einige Prüfungen und Neckereien Charas besteht (beispielsweise muss er die als Alte verkleidete Chara küssen), erweist er sich als geeignet,
um Samor und andere Männer aus der Gefangenschaft der Amazonen zu befreien.
Dazu verwandelt sie Kasperl in einen jungen „Tirolerbauer[n]“218 und stattet ihn mit
mehreren Requisiten aus, die ihn auf seinem Weg unterstützen sollen. Prädestiniert
als ehemaliger Narr des Tiroler Hofes („war ehedem Hofnarr – wie ich aber das Project g’macht hab, dass alle Ehemänner, die ihren Weibern ungetreu sind, rothe Perücken tragen sollten, so haben sie mir die Schellenkapp um den Kopf geschlagen, und
mich aus dem Land gejagt.“)219 macht er sich zur Rettung der Männer auf. Dabei
treten seine typischen Eigenschaften immer wieder zutage: Kasperl ist weinerlich,
trotzig und ausgesprochen furchtsam, den ihm eigenen kindlichen Zug vermag er
bis zum Ende der Komödie, zu seinem Tod am Abend seines titelgebenden letzten
Tages, nicht abzulegen:
215 Ebenda, S. 4–5.
216 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 555.
217 Ebenda, S. 554–555.
218 Hensler, Der unruhige Wanderer, S. 17.
219 Ebenda, S. 7.
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LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
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„Kasperl. Also – also muß es wirklich gestorben seyn? (weinend) Also ist wirklich der heutige Tag mein letzter Tag?
Chara. Geniesse die Ruhe, des Glückes fröhlicher Menschen, damit du einst
vorsichtiger vollendest deine zweyte Wallfahrt auf Erden.
Kasperl. (beginnt zu senken) Wenn – wenn ich halt noch einmal auf die Welt
kommen soll, so bitt ich mir wieder so ein Glöckl aus – will – will mich hernach
schon gescheiter aufführen –
König[in]. Mongogul! vollziehe deine Pflicht! (Mongogul erhebt seine Keule –
Kasperl verschwindet. Es erscheint ein Grabhügel. Donnerschlag.)“220
Eine sehr wesentliche Eigenschaft, die bislang noch kaum Erwähnung fand, ist
Kasperls ständiger Hunger und Durst: Im Unruhigen Wanderer wird die Essenslust
Kasperls fortwährend thematisiert,221 doch gerade der Genuss von Wein ist ihm
strengstens untersagt:
„Kasperl. O ich armer Teufel! nirgends hab’ ich eine bleibende Stätte – die
Weiber machen Jagd auf mich, und wenn sie mich erwischen, so spießen sie
mich an ihre Fahneln. (laut schluchzend) S’ g’schieht mir – s’ g’schieht mir aber
recht – warum hab’ ich in meinen alten Tagen noch solche Kindereyen anfangen müssen. (lauter schluchzend) Keinen Wein soll ich auch nicht trinken, vom
Wasser stirbt man – und dürsten thut michs, wie – wie –
Hirtenj[unge]. Hast du Durst – da trink – Milch von unsern Lämmern, genährt auf unsern fetten Fluren – sie wird dir köstlich schmecken – trink!
Kasperl. Jetzt geh mit deiner Milch – bring mir lieber Wein.“222
Der Durst übermannt Kasperl, so dass er schon bereit ist, Milch zu trinken, als er
plötzlich einer Flasche Wein gewahr wird:
„Kasperl. Milch! Milch! – so lang du mir keinen Wein – – (er erblickt die
Flasche von Mongogul), Alle Wetter! was seh ich da – da wär freylich so etwas,
womit man den Durst – wenn nur mein verdammtes Glöckl nicht wär – (er
nimmt die Mütze ab) ich – ich würde – (er sieht immer nach dem Glöckl) ich würde trinken – (er nimmt die Flasche) Nun! nun! – rührt sich nichts? ich trink –
(Pause) ich trink – (wie er ansetzen will, kommt Florina mit einer Eulenlarve, er
erschrickt heftig).“223
220 Ebenda, S. 86–87.
221 Einige Beispiele seien hier genannt: „O – o – o ich armer Teufel! nix zu essen, nix zu trinken“ (Hensler, Der unruhige Wanderer, S. 5); „Ihr wohnet in einem so schönen Land – ein
Weinl – ein Weinl soll bey euch wachsen wie ein Provanzer-Oehl!“ (Ebenda, S. 35); „Also
Wein hast du da? Wein! laß doch einmal“ (Ebenda, S. 49).
222 Hensler, Der unruhige Wanderer, S. 58.
223 Ebenda, S. 59.
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Andrea Brandner-Kapfer: Kasperls komisches Habit
Seine Mütze, die er von Chara bekommen hat, warnt Kasperl. Erst als er diese ablegt – die Amazone Florina überredet ihn teils schmeichelnd, teils Hand anlegend,
dies zu tun – trinkt er vom Wein und empfängt prompt die Strafe – ihm wachsen
lange Ohren („O ich dummer Eselskopf!“).224
Das Requisit, bzw. das Motiv der Schellenkappe übernimmt Hensler notabene auch
in seine letzte Komödie, nämlich die einaktige Allegorie Das friedliche Dörfchen225,
deren Uraufführung am 29. September 1803 Henslers Direktion des Leopoldstädter
Theaters einleitet. Hier ist Kasperl ein Spielmann, der die beiden Genien Gesang
und Scherz auf ihrer Reise nach Wien begleitet und im ‚friedlichen Dörfchen‘ den
Menschenhasser durch seine Fröhlichkeit (und dank der Hilfe der Schutzgöttin des
Fleißes) besiegt.
„Immer scherzen, immer lachen
Liebe Leute! wollen wir.
Allen Menschen Freude machen,
Nimm die Hand – ich schwör’ es dir.
[...]
Der Beyfall dort ist unser Ruhm.
Vom edlen Wiener Publikum!“226
Kasperl führt auf seiner Reise durch das friedliche Dörfchen u. a. eine Larve (Wenn
ich die vor’s Gesicht nehme, so seh’ ich jedem an, was er ist“227) und besagte Schellenkappe („wenn ich die auf den Kopf setz, da strömt mir die Wahrheit zum Maul
heraus, als wenn ich ein Hofnarr wär“228) mit sich, mit denen er den Menschhasser
foppt und das Publikum unterhält und natürlich auch hofiert. Beschlossen wird
die Allegorie mit einem Lob auf die Kunst und deren Gönner (dem Publikum des
Leopoldstädter Theaters).
„,Der Kasperl macht allemal den nämlichen Spaß und’s muß einer halt doch
lachen‘, meint der Eipeldauer und findet richtig den Grund der Dauerhaftigkeit
dieser Wirkung: ‚Der Kasperl kommt mir vor wie ’s liebe Brot, das man nicht
satt wird.‘ Es war das Naturhafte dieser Komik, der diametrale Gegensatz jeder
Possenreißerei. Weil er eine Natur war, sah ihn auch Ernst Moritz Arndt immer
wieder gerne, ‚besonders aber um der Freude willen, die man an dem ganzen
Publikum hat, welches sympathetisch alle kasperlichen Falten seines Gemü224 Ebenda, S. 81.
225 Karl Friedrich Hensler: Das friedliche Dörfchen. Ein allegorisches Singspiel in einem Aufzuge. Wien: Schmidt 1803. Hrsg. von Andrea Brandner-Kapfer. In: Mäzene des Kasperls
(2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene-pdfs/translit_hensler_doerfchen.pdf
[Stand 2009].
226 Ebenda, S. 21–22.
227 Ebenda, S. 23.
228 Ebenda.
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LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
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tes in einem entzückten Gesicht entdeckt und durch witzige Bemerkungen,
Nachempfindungen und Nachgespräche oder durch ein lautes Klatschen sich
offenbart.‘“229
Als La Roche starb, starb mit ihm die Kasperl-Komik,230 denn seine potentiellen
Nachfolger konnten keinesfalls an seinen Ruhm anschließen. Joachim Perinet lässt
La Roche nach dessen Tod noch einmal zu Worte kommen und sich von seinem
Publikum, das er jahrzehntelang zum Lachen brachte, verabschieden:
„La Roche. Nimm auch meinen letzten Dank an’s liebe Publikum mit –
Ich leg’ mich itzt schlafen und will aufhören zu diskurieren,
Denn ich fürchte am Ende meine gütigen Leser zu molestieren.
Sag’ allen Freunden und Gönnern in meinem Namen,
Ich hoff’, über lang oder kurz kommen wir wieder zusammen,
Sie sollen mich nicht ganz vergessen – nur jährlich einmal auf mich denken –
Sonst müßt ich mich aus Jammer als tot noch erhenken; –
Es küßt für alles genossene Gute noch’mal dankbar die Hand,
Ihr ewig ergebner La Roche – sonst Kasperl genannt.“231
229 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 576.
230 Vgl. ebenda, S. 576.
231 Der Jahrmarkt in der Unterwelt oder Sechster und letzter Heft [!] des Gespräches im Reiche
der Todten zwischen La Roche, Bernardon, Prehauser, Stranitzky, Brenner, dem bekannten männlich- und weiblichen Schatten, Guardasoni, Ignaz Sartory, Madame Menninger,
Madame La Roche, Perinets erster Frau und Charon, dem Redacteur der neuesten Weltberichte. Hrsg. von Joachim Perinet. Im Tartarus 1806. In: Gugitz, Der Weiland Kasperl,
S. 221–237.
104
Kasperl unter Kontrolle
Zivilisations- und politikgeschichtliche Aspekte der
Lustigen Figur um 1800
Von Beatrix Müller-Kampel1
Als „Lachtheater Europas“, wie Otto Rommel es in seinem monumentalen Standardwerk etwas überzogen nannte, wird man das Leopoldstädter Theater in Wien
allenfalls im Vormärz nennen dürfen,2 doch stellen gerade die Jahre zwischen 1790
und 1806 das dar, was man, bezogen auf die Erfolgsphasen von Unternehmen, die
erste Konsolidierungsphase nach der expansiven Pionierphase nennt. Profitorientiert, wie sich das Leopoldstädter Theater in der künstlerischen Landschaft Wiens
positioniert hatte, bemaßen sich Konzept und Spielpraxis an jenen, die den Profit
bedingten beziehungsweise verbürgten: Josef II. (Kaiser von 1765 bis 1790) und
Franz II./I. (Kaiser 1792 bis 1806 bzw. 1804 bis 1835), die über Privilegerteilung
und Zensur die juridischen Grenzen absteckten, und Johann Josef La Roche, als erster Komiker am Leopoldstädter Theater Garant für den Erfolg. Zwischen 1790, als
Josef II. verstarb und Hoffnungen auf eine Lockerung der Zensur bestanden (leider
vergeblich, wie sich herausstellen sollte), und La Roches Todesjahr 1806 präsentierte das Leopoldstädter Theater in schneller Abfolge eine Unzahl von Possen, Singspielen, Maschinenkomödien, Zauberopern, Volksmärchen, Pantomimen, Ritterstücken, Soldatenstücken, Tanzspielen, Feenmärchen und komischen Zeitstücken.
Sie stammten zu einem Gutteil von den Hausautoren des Theaters: Neben dem
Gründer und Leiter des Theaters, Karl Marinelli, waren dies der Schauspieler und
Theaterdichter Ferdinand Eberl, der spätere Direktor des Theaters an der Wien und
des Theaters in der Josefstadt Karl Friedrich Hensler, der Theaterdichter Leopold
Huber und der Schauspieler und Theaterdichter Joachim Perinet.
Im Gegensatz zum kindlichen Kasperl, wie er seit Beginn des 20. Jahrhunderts und
vollends nach 1945 im Puppentheater üblich wurde, hat man sich den KasperlLa Roche um 1800 als (für damalige Begriffe) gesetzteren Mann vorzustellen: 1781
empfiehlt er sich bei der Eröffnung des Theaters als 36-Jähriger dem Publikum, und
im Todesjahr 1806 wählt der 61-jährige Philipp Hafners Mägera, die förchterliche
Hexe, oder das bezauberte Schloß des Herrn von Einhorn zu seinem letzten Benefiz.3
1
In: Andrea Brandner-Kapfer, Jennyfer Großauer-Zöbinger und Beatrix Müller-Kampel:
Kasperl-La Roche. Seine Kunst, seine Komik und das Leopoldstädter Theater. Graz:
LiTheS 2010. (= LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie. Sonderband 1.)
S. 105–134.
2
Otto Rommel: Die Alt-Wiener Volkskomödie. Ihre Geschichte vom barocken Welt-Theater
bis zum Tode Nestroys. Wien: Schroll 1952, S. 585–858.
3
Vgl. ebenda, S. 56.
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LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
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(Bei dem 1762 oder 1763 uraufgeführten Zauberlustspiel hatte, doch dies nur nebenbei, der 63-jährige Gottfried Prehauser den Hanswurst gespielt – auch er war
damals bereits eine lebende Legende.)
11 Komödien und ihre Karrieren
Aus den insgesamt 30 im Rahmen des FWF-Projekts Mäzene des Kasperls Johann
Josef La Roche4 edierten Komödien von fünf Autoren und einem Anonymus (oder einer Anonyma?) wähle ich zwei von jedem Autor aus, um sie auf Themen und Motive
der Affekte, der Emotionen und ihrer Kontrolle hin zu durchforsten.5 Ausnahmslos
alle Stücke sind Komödien, ausnahmslos allen geht es um Liebesgeschichten und
Heiratssachen und den meisten auch um Geld (das man nicht hat oder verloren
hat, das Mann oder Frau sich erarbeiten, erkämpfen, erschwindeln, erheiraten, erzaubern wollen). Das Prinzip der repräsentativen Stichprobe rechtfertigt sich durch
die Gattung Komödie, wie sie am Leopoldstädter Theater gepflegt wurde: nämlich
als (nach einem Begriff von Hans Dieter Zimmermann) „Schema-Dramatik“, die
im Gegensatz zur sogenannten „künstlerischen“ Dramatik,6 d. h. in den theatralen
Feldern dieser Zeit: im Gegensatz zum Bildungstheater einerseits, zum Hoftheater
andrerseits, weder auf ästhetische Innovation noch auf Originalität abgestellt war,
sondern im Gegenteil Variationen altbekannter Themen und Geschichten bieten
wollte – und das immer auch komisch drapiert. Die Textgrundlage umfasst:
Ferdinand Eberl
Die Limonadehütte (1792)7
Der Tode und seine Hausfreunde (1793)8
106
4
FWF-Projekt Nr. P20468 (15. Jänner 2008–14. Juli 2009): Mäzene des Kasperls Johann
Josef La Roche. Kasperliaden im Repertoire des Leopoldstädter Theaters. Kritische Edition und literatursoziologische Verortung (2008/09). Mitarbeiterinnen: Andrea BrandnerKapfer, Jennyfer Großauer-Zöbinger; Leitung: Beatrix Müller-Kampel. I. d. F. zitiert als
Mäzene des Kasperls. Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/maezene_startseite.html
[Stand 2009].
5
Joachim Perinets und Wenzel Müllers Parallelaktionen zu Mozarts und Schikaneders Zauberflöte, Kaspar, der Fagottist und dessen Forsetzung Pitzichi, werden als ein Doppelwerk
betrachtet.
6
Vgl. den programmatischen Titel von Hans Dieter Zimmermann: Trivialliteratur? SchemaLiteratur! Entstehung, Formen, Bewertung. 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer 1982. (= Urban Taschenbücher. 299.)
7
Ferdinand Eberl: Die Limonadehütte. Ein Lustspiel in drey Aufzügen. Wien: Meyer und
Patzowsky 1793. Hrsg. von Jennyfer Großauer-Zöbinger. In: Mäzene des Kasperls (2008/09).
Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/eberl_limonadehuette.html [Stand 2009].
8
Ferdinand Eberl: Der Tode und seine Hausfreunde. Posse in einem Aufzug. Wien: Meyer
und Patzowsky 1793. Hrsg. von Jennyfer Großauer-Zöbinger. In: Ebenda, http://lithes.unigraz.at/maezene/eberl_tode.html [Stand 2009].
Beatrix Müller-Kampel: Kasperl unter Kontrolle
Karl Friedrich Hensler
Der Großvater, oder Die 50 jährige Hochzeitfeyer (1792)9
Männerschwäche und ihre Folgen; oder Die Krida (1791)10
Leopold Huber
Der eifersüchtige Schuster (1791)11
Kasperl der lustige Schaafhirt, oder das Mayfest auf den Alpen (1791)12
Karl von Marinelli
Dom Juan, oder Der steinerne Gast (1783)13
Die Liebesgeschichte in Hirschau, oder Kasperle in sechserley Gestalten (1780)14
9
Karl Friedrich Hensler: Der Großvater, oder Die 50 jährige Hochzeitfeyer. Ein Originallustspiel in 4. Aufzügen, mit Gesang und Tanz für die Marinellische Schaubühne. Wien:
Goldhannsche Schriften 1792. Hrsg. von Andrea Brandner-Kapfer. In: Ebenda, http://lithes.uni-graz.at/maezene/hensler_grossvater.html [Stand 2009].
10 Karl Friedrich Hensler: Männerschwäche und ihre Folgen; oder Die Krida. Ein Original-Lustspiel in drey Aufzügen. Wien: Wallishausser 1791. Hrsg. von Andrea BrandnerKapfer. In: Ebenda, http://lithes.uni-graz.at/maezene/hensler_maennerschwaeche.html
[Stand 2009].
11 Leopold Huber: Der eifersüchtige Schuster. Ein Lustspiel in 3 Aufzügen. Wien, 1791. In:
Sammlung einiger ganz neuen Theaterstücke. Drittes Bändchen. Wien: Mit Goldhannschen Schriften 1791. Hrsg. von Andrea Brandner-Kapfer. In: Ebenda, http://lithes.unigraz.at/maezene/huber_schuster.html [Stand 2009].
12 Leopold Huber: Kasperl der lustige Schaafhirt, oder das Mayfest auf den Alpen. Ein komisches Singspiel in zwey Aufzügen für die Marinellische Kinderschule. Die Musik ist von
Herrn Ferdinand Kauer, Lehrer der Singschule. Wien: Goldhannsche Schriften 1791. Hrsg.
von Andrea Brandner-Kapfer. In: Ebenda, http://lithes.uni-graz.at/maezene/huber_mayfest.html [Stand 2009].
13 Karl von Marinelli: Dom Juan, oder Der steinerne Gast. Lustspiel in vier Aufzügen nach
Molieren, und dem spanischen des Tirso de Molina „el Combidado de piedra“ für dies
Theater [d. i. das Leopoldstädter Theater, Wien] bearbeitet mit Kaspars Lustbarkeit. [Wien,
1783]. In: Otto Rommel [Hrsg.]: Die romantisch-komischen Volksmärchen. Leipzig: Reclam 1936. (= Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in
Entwicklungsreihen. Reihe Barock. Barocktradition im österreichisch-bayrischen Volkstheater. 2.) S. 53–96.
14 [Karl von Marinelli:] �����������������������������������������������������������������
Die Liebesgeschichte in Hirschau, oder Kasperle in sechserley Gestalten ein Lustspiel in drey Aufzügen. [Wien, 1780] [Ms.] Hrsg. von Jennyfer GroßauerZöbinger. In: Mäzene des Kasperls (2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/
marinelli_liebesgeschichte.html. [Stand 2009].
107
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Joachim Perinet
Kaspar, der Fagottist, oder: die Zauberzither (1791)15
Pizichi, oder: Fortsetzung, Kaspars des Fagottisten (1792)16
Kasperl’s neu errichtetes Kaffeehaus, oder der Hausteufel (1803).17
Mit Marinellis Dom-Juan-Stück wie auch dessen Liebesgeschichte in Hirschau, die
bislang nur in einer zum Teil schwerst leserlichen Handschrift der Wienbibliothek
im Rathaus zugänglich war,18 sind auch zwei in doppelter Hinsicht eigentlich aus
dem zeitlichen Rahmen fallende Stücke aufgenommen: Zum einen stammen sie aus
den frühen 1780er-Jahren (und nicht aus den 1790ern und 1800ern), zum anderen
gehört Karl von Marinelli mit dem Geburtsjahr 1745 zu einer anderen Generation
als Eberl, Huber und Perinet (*1762, *1766, *1763), und in damaligen Dimensionen gedacht, dürfte selbst der 14 Jahre nach Marinelli geborene Hensler (*1759)
als ‚Junger‘ gegolten haben. Bei etwaigen Unterschieden in Konzept, Motivik und
Dramaturgie wird zu überlegen sein, ob diese nicht auf altersbedingt unterschiedliche Auffassungen, Erfahrungen und Gewohnheiten beim Sückeschreiben zurückzuführen sind.
Vorerst zu den ‚Karrieren‘ der Komödien auf dem Leopoldstädter Theater. Zu Eberls
Stücken Die Limonadehütte und Der Tode und seine Hausfreunde enthält Hadamowskys Verzeichnis19 keine Einträge. Henslers Männerschwäche gelangte insgesamt nur 7-mal (1790), dessen Großvater 19-mal (1790–1798) auf die Bühne des
Kasperl-Theaters; zu Hubers Der eifersüchtige Schuster ist bei Hadamowsky abermals
15 Joachim Perinet: Kaspar, der Fagottist, oder: die Zauberzither. Ein Singspiel in drey Aufzügen. Die Musik ist von Wenzel Müller. Wien: Schmidt 1791. In: Otto Rommel [Hrsg.]: Die
Maschinenkomödie. Leipzig: Reclam 1935. (= Deutsche Literatur. Sammlung literarischer
Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen. Reihe Barock. Barocktradition im
österreichisch-bayrischen Volkstheater. 1.) S. 206–262.
16 Joachim Perinet: Pizichi, oder: Fortsetzung, Kaspars des Fagottisten. Ein Original-Singspiel in drey Aufzügen mit Maschinen und Flugwerken. Die Musik ist vom Hrn. Wenzel
Müller, Kapellmeister dieses Theaters. Aufgeführt auf dem k. k. priv. Marinellischen Theater. Wien: Schmidt. 1792. Hrsg. von Jennyfer Großauer-Zöbinger. In: Mäzene des Kasperls
(2008/09). Online: http://lithes.uni-graz.at/maezene/perinet_pizichi.html. [Stand 2009].
17 Joachim Perinet: Kasperl’s neu errichtetes Kaffeehaus, oder der Hausteufel. Eine komische
Oper in drey Aufzügen, nach einem Manuskripte für die k. k. privil. Schaubühne in der Leopoldstadt frey bearbeitet. Die Musik ist vom Herrn Wenzel Müller, Kapellmeister. Wien:
Schmidt 1803. Hrsg. von Jennyfer Großauer-Zöbinger. In: Ebenda, http://lithes.uni-graz.
at/maezene/perinet_kaffeehaus.html. [Stand 2009].
18 Die Handschrift wurde von Jennyfer Großauer-Zöbinger schließlich im Rahmen des FWFProjekts Mäzene des Kasperls (2008/09) transkribiert. Vgl. online: http://lithes.uni-graz.at/
maezene/marinelli_liebesgeschichte.html [Stand 2009].
19 Die Zahlen bzw. Leerbelege stammen i. d. F. von Franz Hadamowsky: Das Theater in der
Wiener Leopoldstadt 1781–1860. Bibliotheks- und Archivbestände in der Theatersammlung der Nationalbibliothek Wien. Mit der Einleitung: Die Theatersammlung der Nationalbibliothek in den Jahren 1922–1932 von Joseph Gregor. Wien: Höfels 1934. (= Katalog
der Theatersammlung der Nationalbibliothek in Wien. 3.)
108
Beatrix Müller-Kampel: Kasperl unter Kontrolle
nichts zu finden, dessen Kasperl der lustige Schaafhirt wurde 11-mal (1791–1792)
gespielt. Marinellis Dom Juan-Komödie konnte sich von ihrer Uraufführung am
31. Oktober 1783 bis 1821 als Allerseelenstück behaupten und wurde noch 1821
von Josef Alois Gleich (1772–1841) für das Theater in der Josefstadt eingerichtet.20
Auf dem Leopoldstädter Theater wurde der Dom Juan innerhalb von 40 Jahren
87-mal gespielt (1783–1821),21 die Liebesgeschichte in Hirschau 41-mal (1782–1800).
Perinets und Wenzel Müllers Kaspar, der Fagottist gab man allein im Jahr der Uraufführung, sie hatte am 8. Juni 1791 stattgefunden, 59-mal; bis 1819 konnte der
Fagottist 129 Aufführungen verbuchen; allerdings fiel dessen Fortsetzung Pizichi
mit insgesamt 47 Aufführungen (1792–1795) im Vergleich damit eindeutig ab.
Über Aufführungszahlen von Perinets Kasperl’s neu errichtetes Kaffeehaus ist bislang
ebenfalls nichts Näheres bekannt. Bemessen an der in der Wiener Theater- und Unterhaltungslandschaft um 1800 konkurrenzbedingt verstärkten Jagd auf Quote befanden sich sogenannte Nieten (wie Henslers Männerschwäche oder Hubers Kasperl
der lustige Schaafhirt) ebenso darunter wie absolute Renner nach Art von Perinets
Kaspar, der Fagottist.
In Relation mit den komischen Subgattungen scheint eines auffällig (sofern man
den angegebenen Untertiteln überhaupt trauen kann): Singspiele und Komische
Opern sind beliebter als Komödien mit wenig oder ohne Musik; Stücke mit forcierter komischer Reihenstruktur beziehungsweise paradigmatischer Spielstruktur bei
zugleich nebengeordnetem oder nicht vorhandenem moralischen Konflikt (wie Marinellis Liebesgeschichte in Hirschau oder Pernets Kaspar, der Fagottist) erfolgreicher
als schlecht verhehlte Besserungsstücke (wie jene von Hensler, die vor Sittsamkeit
und Untertanengeist geradezu triefen). Und Stücke, die dem Kasperl Josef La Roche
viel Text und Spaß zugestanden (wie Hubers Der eifersüchtige Schuster sowie die Komödien von Marinelli und Perinet), garantierten – auch auf Dauer – eher Publikum
als jene, die ihn auf Nebenrollen verwiesen oder nicht komisch sein ließen.
Methodologische Zwischenbemerkung (1)
Mit dem Aspekt der Affekte und der Affektkontrolle der Lustigen Figur ist das Erkenntnisperspektiv einerseits auf Liebesgeschichten und Heiratssachen, Sich Verlieben wie Verlassen Werden, auf gelebte und gespielte Leidenschaften eingestellt, andrerseits auf die Lustige Figur und ihre Komik, welche letztere, so steht zu vermuten,
in den Spielen wohl die großen wie die kleinen Gefühle modelliert. Will man sich
bei der Analyse der Gefühle und deren Kontrolle nicht mit der objektsprachlichen
Gefühlsdiktion der Komödien begnügen, liegt es nahe, sich bei der Emotionsforschung umzusehen. Nicht, dass ich von dem darum herum ausgerufenen „Emotional Turn“ in den Kulturwissenschaften viel hielte – das Tempo, mit dem die „Turns“,
vom Linguistic Turn über den Cultural, Interpretive, Performative, Literary, Post20 Vgl. Rommel, Die Alt-Wiener Volkskomödie, S. 211–212 und S. 1037.
21 Zahlen i. d. F. wieder nach Hadamowsky, Das Theater in der Wiener Leopoldstadt.
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LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
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colonial, Translational, Iconic, Spatial bis zum Emotional Turn wechseln, nähert
sich mittlerweile jenem saisonaler Wegwerfware an. Immerhin hat die philologische Emotionsforschung das Instrumentarium zur textinternen und kontextuellen
Analyse von Affekt- und Emotionsmotiven geschärft. Prinzipiell sind (nach Thomas
Anz) zwei Möglichkeiten der philologischen Emotionsforschung zu unterscheiden:
die Analyse von „literarischen Thematisierungen und Darstellungen von Emotionen, wobei es in der Regel um Emotionen geht, die in einem Text irgendwelchen
Figuren oder personifizierten Gegenständen zugeschrieben werden“ – was schlicht
der traditionellen Interpretation eines Motivs, nämlich jenem von Gefühlen, entspricht –, und zweitens, die „historische Rekonstruktion kultureller Bewertungen
und Repräsentationsformen diverser Emotionen.“22 Was die dramatisch-sprachliche
Darstellung von Emotionen anlangt, stehen in der Emotionsforschung mediale und
mentalitätsgeschichtliche Aspekte im Mittelpunkt.23 Worin bestehen sie nun, die
Emotionen, die sich zwischen Kasperl und den Frauen um 1800 auf dem Leopoldstädter Theater entspinnen, sich steigern, ausbreiten und verflüchtigen, und mit welchen dramaturgischen Techniken führen die Theaterautoren diese Emotionen dem
Publikum vor?24 Kasperl, so das überraschende Fazit vorweg, ist um 1800 Hagestolz
oder treuer Ehemann geworden.
Ehrbare Ehen und die Eifersucht
Bei Ferdinand Eberl führen Kasperl und seine Maria eine friedliche ehrbare Ehe.
Um den ökonomischen Ruin abzuwenden – Kasperl kann halt nicht wirtschaften
und wird es auch nicht mehr lernen –, kümmert sich die Ehefrau um Konzession
und Eröffnung der Limonadehütte im Prater.25 In Eberls Der Tode und seine Haus22 Thomas Anz: Literaturwissenschaftliche Text- und Emotionsanalyse. Beobachtungen und
Vorschläge zur Gefühlsforschung. In: Literatur und Ästhetik. Texte von und für Heinz Gockel. Hrsg. von Julia Schöll. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 39–66, hier
S. 46. D. s. Auszüge aus: Th. A.: Kulturtechniken der Emotionalisierung. Beobachtungen,
Reflexionen und Vorschläge zur literaturwissenschaftlichen Gefühlsforschung. In: Im Rücken der Kulturen. Hrsg. von Karl Eibl, Katja Mellmann und Rüdiger Zymner. Paderborn:
mentis Verlag 2007. (= Poetogenesis.) Vgl. auch Th. A.: Emotional Turn? Beobachtungen
zur Gefühlsforschung. In: literaturkritik.de (Dezember 2006), Nr. 12: Schwerpunkt:
Emotionen. Online: www.literaturkritik.de/public/rezension.php%3Frez_id%3D10267
[Stand 2010-01-09].
23 Rüdiger Schnell nennt überdies performative, geistesgeschichtliche, wortgeschichtliche,
semiotische, narratologische, psychohistorische, gattungsgeschichtliche, anthropologische
und psychoanalytische Aspekte der literarisch-sprachlichen Darstellung von Emotionen:
Erzähler – Protagonist – Rezipient im Mittelalter, oder: Was ist der Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung? In: IASL. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 33 (2008), H. 2, S. 1–51, hier bes. S. 2–5.
24 Vgl. Anz, Literaturwissenschaftliche Text- und Emotionsanalyse, S. 48.
25 Vgl. Eberl, Limonadehütte, bes. S. 7.
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Beatrix Müller-Kampel: Kasperl unter Kontrolle
freunde singt Kasperl tatsächlich ein Loblied auf „das Weib“ – sein eigenes wagt bald
darauf sehr viel für ihn: Auch hier gilt es, den finanziellen Ruin des kasperlschen
Haushalts abzuwenden, und so hält Rose den Ehegespons an, sich tot zu stellen und
unter einem Leintuch zu verstecken. Kaum haben Roses Verehrer erfahren, dass
Kasperl das Zeitliche gesegnet hat, stellen sie sich voller Hoffnung bei ihr ein. Doch
sie weiß ihr Fell teuer zu verkaufen – und die prospektiven Liebhaber haben den
Schaden und den Spott dazu. Am Beginn sitzt Kasperl
„mit der Schlafhauben, ohne Ueberrock am Tisch, und liest aus dem Buche. ‚Lieben Brüder! [...] Ein Weib ist ein vortreffliches Geschöpf; denn sie ist das Kleinod, das ihres Mannes Ehre schmückt, sie ist das Spezereikästel, die [!] seine
Wunden heilt, sie ist das Labsall, welches die Bürden des kümmerlichen Lebens
erleichtert. – Darum sag’ ich euch – ihr werdet wohl thun, wenn ihr Euch eine
nehmet, sie mag braun oder weiß – groß oder klein – mager oder fett sey; sie
wird immer die Hälfte von euch ausmachen, nämlich – denn sie ist aus dem
nämlichen Stoffe, aus dem ihr geschaffen seyd – weßwegen, wenn ihr 2 Speckseiten im Sauerkraut habt – ihr ja genau mit ihr theilen, und sie so gut halten
sollt, als euern Leib!“26
Die von Karl Friedrich Hensler im Titel angesprochene Männerschwäche ist nicht
jene, die man wohl auch damals assoziierte; vielmehr ist damit die pädagogischmoralische Nachsicht gegenüber Frau und Kindern gemeint.27 Das „Original-Lustspiel“ ist nichts weniger als komisch und spielt in der Textilbranche beziehungsweise
in der Familie des Seidenfabrikanten Brugge. La Roche gab darin den einfachen Seidenweber Kasper Ehrlich, eine Zierde seines Namens, der seiner bärbeißigen Frau
ein nachgiebiger Mann ist. Kasperls zweite Frau ist im Gegensatz zur verstorbenen
ersten ein faules verschwenderisches Stück, wie das Genrebild zu Beginn des 3. Aufzugs sinnig belegt: „Kaspers Zimmer, Felicitas [Kasperls Frau] mit unterstemmten
Armen vor Kasper, der sich fürchtet, sie und Xaver [der gemeinsame Sohn] nebenbei
trinken mit vieler Behaglichkeit Koffe.“28 An seinem ehelichen Unglück ist er selber
schuld, wie er weiß und zugibt:
„Kasper. Herr! die grauen Locken da, und wenn ein Mann mit dieser Schneeperücke wieder ans Heurathen denkt, den soll man trepaniren.
Mot[te]. Und wie das?
Kasp[er]. Es [sey] ihnen genug, wenn ich ihnen sag daß ich von 1ten Jän[ner]
bis auf den 31ten Dezember nicht soviel im Haus reden darf, als ich jetzt bei
ihnen geredt hab. [...] Und dann ist mein Weib auf das Geld wie der Luzifer auf
n’fromme Seel, ein Stückel um das andere spaziert aus der Haushaltung. [...]
26 Eberl, Der Tode und seine Hausfreunde, S. 3–4.
27 Vgl. Hensler, Männerschwäche, bes. S. 171.
28 Ebenda, S. 135.
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Mot[te]. Mit euren Kindern seyd ihr also sehr glücklich?
Kasp[er]. Ja, wenn mich mein Weib nicht mit einer Nachbruth versehen hätt,
ich sags ja, wenn die Jahr einmal da sind, soll man nicht mehr an so was denken
[...]. Mein Xaver ist so dumm wie die egyptische Finsterniß; er geht ins 14te
Jahr, und hats noch nicht weiter gebracht, als daß er weiß, daß 2. – 2. 4 ist.“29
Wenn dem Hausdrachen danach ist, lässt er Kasperl nicht einmal bei der Tür hinein, denn: „der soll schon so früh nach Haus kommen, der Lump hält seine richtige
Stund – vor 12 Uhr läßt ihn das Wirthshaus nicht fort, nichts – das ist Fopperey.
Schlägt das Fenster zu.“30 1792, ein Jahr nach Die Männerschwäche, weist Hensler in
Der Großvater, oder Die 50 jährige Hochzeitfeyer La Roche abermals eine Vaterrolle
zu, allerdings jene eines liebenden und fleißigen Bergmanns. Der komische Part
kommt hier eher dem im Titel angesprochenen 96-jährigen Großvater zu, der sich
mit seiner 88-jährigen, schwerhörigen Frau (ein steter Quell der Komik – eigentlich
der einzige), auf seine goldene Hochzeit freut, noch wacker in der Grube arbeitet
und seine Schwiegertochter anweist, die Enkerln in die Schule zu schicken. Kasperl
ist ein ebenso respektabler wie liebevoller Vater und Ehemann. Am allermeisten
freut ihn,
„wenn einem denn so sein gesundes Weib entgegen kommt mit einem freundlichen Gesicht, an jeder Hand ein paar Fratzen dem Vater entgegen führt, und
alle so in einer Melodie einem zuruffen – Grüß euch Gott, Vater!
Christ[oph]. Gott! was giebt es für glückliche Menschen!
Kasp[er]. Ha, meiner Six! da kruselts einem durchs Herz, daß man gleich in
die ganze Schöpfung n’Jubelschrey werfen möchte, um der Welt zu sagen, wie
glücklich man ist.“31
Was den Kasperl in mehreren Stücken zur Raserei bringt, ist seine grundlose Eifersucht. Der eifersüchtige Schuster aus Leopold Hubers gleich betitelter Komödie von
1791, das ist Kasper Knieriem, der den ganzen lieben Tag vor Galle nur so überquillt: wegen seiner Frau Marthe, die er mit seiner blinden Eifersucht bis aufs Blut
quält (und regelmäßig verprügelt); wegen seiner Ziehtochter Röschen, das nicht den
kurios-dümmlichen Schulmeister, sondern den Feldwebel Liebenthal heiraten will;
wegen seines „Taxl“ Maxl, des Lehrbuben, der alles falsch macht, auch noch frech
ist und eine diebische Elster dazu. Ein Wutanfall des Kasperl gegen seine Frau liest
sich dann so:
„Marthe. Aber sag mir nur, du Widhopf! mußt den ganzen Tag nichts als
brummen und knausen; früh Morgens hebt’s Liedel an, und dauert, bis dir
deine Bocksaugen zu pappen; sogar bei der Nacht murrt der Tanzbär noch –
29 Ebenda, S. 124–125.
30 Ebenda, S. 133.
31 Hensler, Der Großvater, S. 44.
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Beatrix Müller-Kampel: Kasperl unter Kontrolle
Kasper. Schau, schau, Prunzessin [!] von China, wenn man eng Mähren die
Wahrheit sagt, so geht der Schnabel auf. Willst mir etwan ein Leichtpredigt
machen, und thut’s Herzenweiberl kitzeln, wenn ich den Schuhknecht ’n wenig
hunz? Aber ich weiß, d’Mirl wird’s noch so weit bringen, daß ich’s ins Speckkammerl werd einsperren müssen, ’s ist mit dir eine rechte Schand und Spott
keinen sichern Schritt kann ich aus dem Haus machen. Kommt kein Fremder,
so hast du mit dem jungen Lecker da deinen Techtelmechtel. – Ja, ja, mit dem
hab’ ich mir nicht wenig blaubuklichte Kollonisten in den Pelz gesetzt. O heuriger Februari, Marzi und Aprill! – –
Marthe. Aber – hm! du toller Schöps! ich will nur sehen, wenn du einmal
aufhören wirst, dir mit deiner närrischen Eifersucht selbst den Balg abzuschinden.
Kasper. So bald Madam das thun wird, was Unsereiner befohlen hat. Auf
deinen [!] Zimmer sollst du hübsch hocken bleiben, und da will ich haben, daß
kein fremdes Ungeziefer über die Hausschwelle glitschen soll.
Marthe. Schäme dich doch, du unchristlicher Bärnhäuter! in deinen rothen
Judasbart hinein. Du – du kannst von einem Weib so was fordern? Darüber
müßte sich selbst der Hanswurst die Lungel aus dem Leib heraus lachen.“32
Dem Kasperl gilt es als ausgemachte Sache, dass man den „Weibsbildern“ alles so
„vorkäuen“ muss, „wie den Kindern ’s Koch. Steht man nicht beständig hinter euch
mit der Hetzpeitsche, so ist man alle Augenblick betrogen und belogen.“33 Kurzum: „es schadt nicht, wenn man den Weibern auf die Kappen geht, und ihnen den
Wurm nimmt.“34 Was daraus folgt: „er prügelt Marthen wacker ab; sie versetzt ihm
eine derbe Ohrfeige, rauft die Perücke vom Kopf, und lauft schreiend ab“,35 oder: „er
prügelt sie wacker herum [...] er zieht sie mit Gewalt mit sich fort wart Weiberl, jetzt
will ich dich erst in die Zucht nehmen.“36 Am Ende fleht er zerknirscht:
„Herzensweibl! Sieh deinen ehlichen allergetreuesten Hörnertrager zu deinen
Füßen! Ich bitte, ich beschwöre dich bei allen Ehe-Frauen der ganzen Welt,
erhöre meine Gurgel und laß mein Geschrei zu dir kommen!“37
32 Huber, Der eifersüchtige Schuster, S. 17–18.
33 Ebenda, S. 18.
34 Ebenda, S. 26.
35 Ebenda, S. 20.
36 Ebenda, S. 38.
37 Ebenda, S. 97.
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Selbst der Verprügelten gelten jedoch die Prügel letztendlich als Liebesbeweis, denn
„obwohl er mich mit seiner barbarischen Eifersucht Tag und Nacht quällt, so bin ich
doch überzeugt, daß er mich liebt“.38
In Leopold Hubers und Ferdinand Kauers „komischem Singsspiel“ Kasperl der lustige Schaafhirt, oder das Mayfest auf den Alpen von 1791 wurde die Titelpartie nicht
von La Roche gespielt, sondern von Georg Gruber, einem Kinderdarsteller und Sänger am Leopoldstädter Theater; der Grund: Das Singspiel war laut Untertitel „für
die Marinellische Kinderschule“ verfasst, die Anfang der 1790er-Jahre unter der
Leitung von Marinellis zweitem Kapellmeister Ferdinand Kauer eingerichtet worden war und die die ständigen Repertoire- und Besetzungsschwierigkeiten beheben
sollte.39 Wohl auch deshalb ist das Stück als Abfolge von Nummern und handlungsmäßig als kindliches älplerisches Schulspiel angelegt. Einerseits markiert der
kindliche Kasperl als Hirte zwar den Luftikus und singt:
„Ueberall, wo Mädchen sind,
Da bin ich dabey –
Grillen schlag ich in den Wind,
Haß’ das Einerley –
Bald ists diese, bald ists jene,
Süß ist mir das Wandern –
Zur Brunette, zur Blondine –
Bald zu einer andern –“.40
An und für sich ist Kaspel jedoch ein braver Bub: „du [Christel] weißt, ich hab deine
Schwester die Gretl auch gern – so lang aber dein Vater nicht Ja sagt, – ja so wird
aus der ganzen Pastete nichts werden“,41 versichert er treuherzig. Dann singt der
verliebte Gimpel die eine oder andere Arie der Art:
„Mein Gretl ist so wunderschön,
Hat Aepfelrothe Backen,
Krieg ich sie einmal nur zu sehn –
So nimm ich’s an dem Nacken,
Und küsse sie von Herzen mein,
Und hab mit ihr mein Spiel –
Sie ist n’ Diendl zart und fein,
So schlank, wie Besenstiehl.“42
38 Ebenda, S. 31.
39 Vgl. Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 441.
40 Huber, Kasperl der lustige Schaafhirt, S. 14–15.
41 Ebenda, S. 7.
42 Ebenda, S. 8–9.
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Beatrix Müller-Kampel: Kasperl unter Kontrolle
Die hier nicht ganz grundlose Eifersucht plagt ihn freilich auch:
„N’Madel ist ein närrisch G’wächs,
Ganz lieblich anzuschauen –
So schelmisch aber, wie n’ Hex.
Da ist nit viel zu trauen –
Je freundlicher die Madeln sind,
Je wirblicher sind sie, wie Wind –
Da kratzen sie ein’m s’Goderl,
Da lecken sie ein’m s’Pfoderl –
Und richten noch von Hauß zu Hauß.
Uns arme Männer wacker aus –
Und doch – Narrethey!
S’bleibt halt doch dabey –
N’Mädel ist ec.“43
Zu ähnlichen Texten singen die – fast allesamt Lustigen – Figuren in Joachim Perinets und Wenzel Müllers Singspielen Kaspar, der Fagottist, oder: die Zauberzither
von 1791 und Pizichi, oder: Fortsetzung, Kaspars des Fagottisten von 1792. Worauf
es Librettist und Komponist am allermeisten ankam, steht programmatisch im
Untertitel der Fortsetzung; demnach handelt es sich um ein „Original-Singspiel in
drey Aufzügen mit Maschinen und Flugwerken“ – und tatsächlich werden aktionistisch Einfälle, Späße, Zaubereien unter Aufbietung aller nur technisch möglichen
Maschinenkunststücke aneinandergereiht. Perinet und Müller verknüpften die ins
Feen- und Zauberreich verlegten Kriminalhandlungen um die Entführung einer
jungen Frau (im zweiten Teil sind es gleich mehrere) sowie die daraus folgenden Befreiungs- und Mordmotive entlang parallelisierter Liebeskonflikte im Herren- und
Dienermilieu mit je einem männlichen Nebenbuhler als Störenfried. Dramaturgisch
setzten sie auf eine zyklische Abfolge von Maschinenkunststücken, Gesangseinlagen
und akustischen Überraschungseffekten, die in der Fortsetzung die Handlungslogik
der gedoppelten Liebesgeschichte sowie deren kriminalistischen Rahmen mehrmals
sprengt. Kasperl liebt Palmire und bleibt ihr treu, obwohl man ihm Gift ins Ohr
träufelt:
„Sie möchten mich gern papierln, und hernach brennen? aber anpumpt! Reiner,
keuscher, sittsamer Mond, sichelkrummes Ebenbild, du bist Zeuge, daß ich
meiner Palmire getreu bin. So lang ich diese Zeilen ansehe, so lang kommt
keine [andere] Lieb in mein Herz. er zieht ein Papier heraus. Das ist ihre eigene
manupropria – als wanns gestochen wär, und noch obendrein französisch:
Je vous aime
Und das Extrem!“44
43 Ebenda, S. 35.
44 Perinet, Pizichi, S. 85–86.
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Rund ein Jahrzehnt danach begegnet Kasperl, wie schon in Ferdinand Eberls Limonadehütte, dem Publikum als Cafetier: in Joachim Perinets und Wenzel Müllers
„komischer Oper“ Kasperl’s neu errichtetes Kaffeehaus, oder der Hausteufel von 1803.
Und wieder kann das Einvernehmen mit Frau und Kind eigentlich nichts trüben
außer der Armut. Aber selbst die scheut er nicht, wenn ihm die unmoralischen Zustände im Haus seines Herrn gegen den Strich gehen:
Kaspar. „Ein jedes Hasel hat sein Grasel, hat man kein Rindfleisch, so ißt man
ein Bratel – ich hab nur vier Kinder, zwey von meiner ersten, und zwey von
meiner Zweyten. Einen Tag essen die ersten zwey, den andern Tag die letzten
zwey nichts. Ey was! der Himmel verlaßt keinen rechtschaffenen Kerl; ich will
lieber betteln, als da [unter der keifenden Wirtschafterin] im Haus bleiben.“45
Das heißt nicht, dass er bei Bedarf nicht mit Armut und Kinderreichtum hausieren
geht: Auf die Frage „Hat er noch mehr Kinder“ antwortet der Kasperl: „Acht Kinder
hat mir die Katz gefressen, und sechs sind noch auf der Reis“.46 Alles in allem ist
Kasperls Ehe ganz in Ordnung – weil Mann und Frau auch auf Ordnung halten,
wie Kasperls Frau mit einer „Polonaise“ bezeugt:
„Ich geb euch Männern Brief und Siegel,
Bey Weibern hilft kein Schloß noch Riegel,
Hält man sie gar zu kurz am Zügel,
So reißen sie den Strang entzwey.
Doch schenkt ihr Männer! Euern Frauen,
Nur ohne Eifersucht Vertrauen,
So könnt ihr auf uns Häuser bauen.
Und ewig bleiben wir euch treu.
Drum folget meinen Lehren;
Wolt ihr die Männer recht bekehren,
So haltet sie auch hübsch in Ehren,
Und lebet nicht in Saus und Braus!
Wenn Weiber hübsch die Ordnung halten,
In Lieb und Treue nicht erkalten,
Die jungen Männer, wie die Alten,
Die bleiben dann auch gern zu Haus.“47
Zwischenfazit (1)
Die Lust- und Singspiel-Kasperliaden von Ferdinand Eberl, Karl Friedrich Hensler, Leopold Huber / Ferdinand Kauer und Joachim Perinet / Wenzel Müller fördern ein überaus enges und vor allem moralisch ziemlich beispielhaftes Gefühls45 Perinet, Kasperl’s neu errichtetes Kaffeehaus, S. 15.
46 Ebenda, S. 35.
47 Ebenda, S. 48.
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Beatrix Müller-Kampel: Kasperl unter Kontrolle
repertoire des Kasperl zutage. Affektiv agiert er allenfalls, wenn die Eifersucht ihn
packt – doch die gilt stückintern stets als Liebes-, ja Treuezeichen. Die vorgeführten
Emotionen entsprachen sowohl den bürgerlichen Normen wie (bis auf die Eifersucht) dem christlichen Dekalog, mitunter gar grundiert von einem empfindsamen
Zug. Kasperls Affekte und Emotionen auch nur zu konstatieren und schon gar zu
deuten fällt nicht leicht, ist doch Kasperl kaum noch Lustige Zentralfigur und selbst
als figurales Requisit nur schwer zu fassen. Jedenfalls erstaunt Kasperls narrative,
dramaturgische und komödiantische Bedeutungslosigkeit im Leopoldstädter Repertoire um 1800 – das doch für ihn und um ihn herum geschrieben worden war, wie
es heißt. Wie, wenn mit seinen Affekten und seinem Affekthaushalt, das heißt beim
Kasperl: mit seiner Obszönität, sich die Komik verflüchtigt und die Autoren tatsächlich nicht mehr gewusst hätten, was anzufangen sei mit ihm? In dem Maße, wie
der Kasperl kein Frauensammler und Sexualphantast mehr sein darf, kein Zotenreißer und Hosenscheißer wie Hanswurst, kommt ihm textlich auch das Komische
abhanden, das wohl tatsächlich ganz prinzipiell von einem lebt: dem Bruch von und
dem Spiel mit Tabus. Wie tief und entschieden dieser Fall vom phallischen Typus
zum ehrsamen Arbeiter und Ehemann vonstatten ging, belegt ein vergleichender
Blick auf die hanswurstischen Liebschaften von einst.
Exkurs: Hanswurstische Lumpenkerle und colombinische Kanaillen
von einst48
Der Hanswurst der Haupt-und Staatsaktionen von Stranitzky kannte nur zweierlei Frauenkategorien: „junge feine Mädl“ und „alte Rindfiher“.49 In seinem sexualmetaphorischen Jargon (in bezug auf Frauen beherrscht Stranitzkys Hanswurst
keinen anderen) lauten die dazugehörigen Funktionszuschreibungen: „Madratzen
der Vergnügenheit“50 sowie „überdragene Madratzen“.51 Damit eine solche Matratze
48 I. d. F. nach Beatrix Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Spaßtheater im
18. Jahrhundert. Paderborn [u. a.]: Schöningh 2003, S. 128–139.
49 Der Tempel Dianae oder Der Spiegl wahrer und treuer Freundschafft mit H:W: Den sehr
übl geplagten Jungengesellen von zwey alten Weiberen Componirt Von einen In Vienn an
Wesenden Comico. Monsieur stranützkü minu [?]. In: Joseph Anton Stranitzky [Verfasserschaft ungesichert]: Wiener Haupt- und Staatsaktionen. Eingeleitet und hrsg. von Rudolf
Payer von Thurn. Bd. 2. Wien: Verlag des Literarischen Vereins in Wien 1910. (= Schriften
des Literarischen Vereins in Wien. 13.) S. 1–62, hier S. 20.
50 Ebenda, S. 9.
51 Der Großmüthige Überwinder Seiner selbst mit HW: den übl belohnten Liebhaber vieller
Weibsbilder oder Hw der Meister, böse Weiber gutt zu machen. Mehrers wird die Action
selbst dem geneigten Leser vorstellen. In Wienn den 7 August 1724. In: Joseph Anton Stranitzky [Verfasserschaft ungesichert]: Wiener Haupt- und Staatsaktionen. Eingeleitet und
hrsg. von Rudolf Payer von Thurn. Bd. 1. Wien: Verlag des Literarischen Vereins in Wien
1908. (= Schriften des Literarischen Vereins in Wien. 10.) S. 403–457, hier S. 432. I. d. F.
zitiert als: Cosroes.
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ihre hanswurstische Funktion erfüllen kann, muss sie nicht unbedingt schön, in
jedem Fall jedoch jung, wohlfeil und geschwind zu besteigen sein. Trifft letzteres
zu, so sieht Hanswurst über mancherlei hinweg, denn: „de gustibus ist nicht zu Disputirn, es leckt wohl öffter die Kuhe ihren schmirigen Hintern ab und schmeckt ihr
wohl, destwegen ist ein Fleisch so gutt als das andre.“52 In der gemäßigteren Diktion
von Hafners Hannswurst heißt dies: „Mir ist das alls eins, wanns nur ein Weibsbild
ist, die mich aushalt, das andre besteht so nur in der Einbildung; und man gewohnt
die Wilde so gut als die Schöne“.53 Infolge vergeblicher Werbungs- und Liebesmüh
gar den Tod zu suchen, ist dem Narren der Gipfel an Närrischkeit.54 Trotz oder gerade wegen seiner reichhaltigen Sachkenntnis hat sich Hafners Hannswurst nie zur
Ehe entschließen können,
„ich hab allzeit ein Hagen und ein Nisi gefunden; bald war eine zu wild, bald
eine zu schön, eine war mir zu groß, eine zu klein, eine zu freundlich, die andere
zu trutzig, eine hat gar ein kindisches Gesicht gehabt, die andere wieder einen
Bart, wie ein Kutscher, eine jede hat halt ein Nisi gehabt“.55
So großzügig der Wurstel über Fehler und Mängel seiner Gespielin hinwegsehen
mag (zumindest wenn diese ihn nicht halten oder heiraten will), bei einem versteht
er keinen Spaß: ihrem Alter. Eine in die Jahre gekommene Frau auf Männerschau
ist ihm ein „runselte[r] Baurenstiffl“,56 eine vertrocknete „Saublumen“,57 ein „alte[r]
52 Nicht diesem, den es zugedacht, Sondern dem daß Glücke lacht oder Der großmüthige
Frauenwechsel unter Königlichen Personen mit Hanß Wurst den verrathenen Intriganten
und übel belohnten Liebs-Envoye. Viennae Die 21 Julij Anno MDCCXXIV. In: Wiener
Haupt- und Staatsaktionen (hrsg. von Payer von Thurn), Bd. 1, S. 203–261, hier S. 233.
I. d. F. zitiert als: Pyrrhus.
53 Philipp Hafner: Der förchterlichen Hexe Megära zweyter Theil; unter dem Titel: die in eine
dauerhaffte Freundschaft sich verwandelnde Rache. Von Philipp Hafner. Aufgeführt auf
dem k. k. Theater. Wien: Kurtzböcken 1765. In: Philipp Hafners Gesammelte Werke. Eingeleitet und hrsg. von Ernst Baum. Bd. 2. Wien: Verlag des Literarischen Vereins in Wien
1915. (= Schriften des Literarischen Vereins in Wien. 21.) S. 5–101, hier S. 24.
54 Waß sein soll Daß schickt sich wohl oder Die unvergleichliche Beständigkeit zeyer Verliebten Mit HW: den seltsamen Großmütigen und übl belohnten Kupler. In: Wiener Hauptund Staatsaktionen (hrsg. von Payer von Thurn), Bd. 2, S. 319–378, hier S. 376.
55 Hafner, Mägera II, S. 25.
56 Der Tempel DIANAE oder Der Spiegl wahrer und treuer Freundschafft mit H:W: Den sehr
übl geplagten Jungengesellen von zwey alten Weiberen Componirt Von eInen In Vienn an
WesenDen CoMICo. ����������������������������������������������������������������
Monsieur stranützkü minu [?]. ����������������������������������
In: Wiener Haupt- und Staatsaktionen (hrsg. von Payer von Thurn), Bd. 2, S. 1–62, hier S. 20.
57 Der Besiegte Obsieger Adalbertus König in Wälschlandt oder Die Wurckungen deß Betruchs bey gezwungener Liebe Mit HW: Den betrogenen breutigam, verwihrten Auffstecher, übl belohnten alten Weiber Spotter, gezwungenen Ehmann, Allamodischen Ambasadeur, sehenden Blinden und hörenden Tauben ec. ec. Componirt Ao+ 1724 von einem
Comico. In: Wiener Haupt- und Staatsaktionen (hrsg. von Payer von Thurn), Bd. 2, S. 185–
250, hier S. 207.
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Beatrix Müller-Kampel: Kasperl unter Kontrolle
Fuchsbalck“,58 ein „altes Madratzenmuster“59 oder ein „alter Backofen“60 – allesamt
sind sie schlichtweg „verfluchte Teufflviecher“.61 Gerade unter den angejahrten Ammen, Erzieherinnen und Kammermädchen erfreut sich Hanswurst jedoch größter
Beliebtheit. Gerät er dennoch in die Lage, ein solches Exemplum zur Frau nehmen
zu müssen, stößt er gefährliche Drohungen aus oder denkt an Selbstmord: Wenn
„der Thorwärtl Thamerl“ einen „Heuraths Contract“ für die Ehe mit der alten Dorella aufsetze, werde er „ihm in 1000 Stück zerhaue[n]“;62 er „schwerd“, die dann
Angetraute „täglich 9mahl zu brüglen und einmahl zu frsßen geben“,63 er wolle
lieber „hängen“ oder „sterben als sie heurathen“,64 lasse sich „lieber zwicken, und
braten, so komm ich doch einmal aus der Welt. [...] Eh ich einen solchen EhstandsPartikel ins Haus nehm, stirbt der Kaspar Larifari den Tod eines Helden.“65
Ob schön oder häßlich, jung oder alt, ob bei Stranitzky, Kurz oder Hafner: Hanswurst
gilt es als unumstößliches Faktum, „daß ein Weibsbild [...] ein Diabulus dulcis, und
58 Triumph Römischer Tugendt und Tapferkeit oder GORDIANUS der Grosse Mit Hanß
Wurst den lächerlichen Liebes-Ambaßadeur, curieusen Befelchshaber, vermeinten Todten,
ungeschickten Mörder, gezwungenen Spion ec. und waß noch mehr die Comoedie selbsten
erkhlaren wirdt. Componirt In diesen 1724 Jahr, den 23 Jenner. In: Wiener Haupt- und
Staatsaktionen (hrsg. von Payer von Thurn), Bd. 1, S. 1–67, hier S. 66.
59 Adalbertus, S. 246.
60 Karl Friedrich Hensler: Das Donauweibchen. Erster Theil. Ein romantisch-komisches
Volksmährchen mit Gesang in drey Aufzügen, nach einer Sage der Vorzeit für die k. k.
priv. Marinellische Schaubühne. Die Musik ist von Herrn Ferdinand Kauer, Musikdirektor. Wien: Kamesina 1798. In: Rommel [Hrsg.], Die romantisch-komischen Volksmärchen,
S. 97–158, hier S. 119.
61 Adalbertus, S. 209.
62 Ifigenia, S. 7.
63 Ebenda, S. 61.
64 Gordianus, S. 65. Vgl. auch Cosroes, S. 433.
65 Hensler, Das Donauweibchen, S. 15.
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necessarius“66 oder ein „animal variabile“ ist.67 Ganz generell gelten dem Wurstel die
Frauen als verlogen, scheinheilig, hinterlistig und verschlagen – und die den Stücken
eingeschriebene Geschlechtsrollentypik gibt ihm darin durchaus recht. Die „Verstellung“ sei „generis foeminini“,68 „die Weiber seind falsch und betrügerisch“,69 „Foemina grande malum, ein Weibsbild ist wie ein Cameleon, der alle Augenblick seine
Färben verändert.“70 „Heyrathen? Ey!“ reimt sich in Kurz’ Neuem Krummen Teufel auf
„Narredey“,71 „copuliren“ gar auf auf „crepiren“.72 Eine Aria des vom Johannistrieb geplagten Lustgreises Arnoldus klärt über die Gründe für ein solch abgrundtiefes Misstrauen gegenüber Frau, Liebe und Ehe auf: Fazit: „Der eim Weib traut, ist ein Narr.“73
Namentlich gilt dies in Dingen sexueller oder ehelicher Treue, in der „die Weibsbilder so unbeständig als wie ein Thurnfänhl.“74 Die unweigerliche und unabwendbare
Untreue der Frau ist auf ihre beständige sexuelle Begehrlichkeit zurückzuführen.
66 Philipp Hafner: Ein neues Zauberlustspiel, betitelt: Mägera, die förchterliche Hexe, oder das
bezauberte Schloß des Herrn von Einhorn. Verfaßt von Philipp Hafner, aufgeführt auf dem
kaiserl. königl. Theater. Auf vielfältiges Verlangen im Druck gegeben. Wien: Kurtzböck
[1764]. In: Philipp Hafners Gesammelte Werke. Eingeleitet und hrsg. von Ernst Baum.
Bd. 1. Wien: Verlag des Literarischen Vereins in Wien 1914. (= Schriften des Literarischen
Vereins in Wien. 19.) S. 115–212, hier S. 118.
67 Philipp Hafner: Die Bürgerliche Dame, oder die bezämmten Ausschweiffungen eines zügellosen Eheweibes, mit Hannswurst und Colombina, zweyen Mustern heutiger Dienstbothen. Aufgeführt in dem k. k. privilegirten Theater. Wien: Kurzböcken 1763. In: Philipp
Hafners Gesammelte Werke. Eingeleitet und hrsg. von Ernst Baum. Bd. 2. Wien: Verlag
des Literarischen Vereins in Wien 1915. (= Schriften des Literarischen Vereins in Wien. 21.)
S. 279–363, hier S. 308.
68 Hafner, Mägera I, S. 120.
69 Adalbertus, S. 213.
70 Die Verfolgung auß Liebe oder Die grausame Königin der Tegeanten Atalanta Mit Hanß
Wurscht Den lächerlichen Liebs-Ambasadeur, betrognen Curiositäten-Seher, einfältigen
Meichlmörder, Intressirten Kammerdiener, übl belohnten Beederachsltrager, unschuldigen
Arrestanten, Intresirten Aufstecher, wohl exercirten Soldaten und Inspector über die bey
Hoff auf der Stiegen Esßende Gallantomo. ec. ec. Im Jahr 1724, den 10 July. In: Wiener
Haupt- und Staatsaktionen (hrsg. von Payer von Thurn), Bd. 1, S. 133–201, hier S. 147.
71 Johann Joseph Felix von Kurz: Der neue Krumme Teufel. Eine Opera-Comique von
zwey Aufzügen; nebst einer Kinder-Pantomime, betitult: Arlequin, der neue Abgott Ram
in America. In: J.J.F.v.K.: Das Komödienwerk. Historisch-Kritische Edition. Hrsg. von
Andrea Brandner-Kapfer. Graz, Univ., Diss. 2007, S. 93–130, hier S. 102.
72 Ebenda, S. 100.
73 Johann Joseph Felix von Kurz: Der aufs neue begeisterte und belebte Bernardon. Nebst
Zweyen Pantomimischen Kinder-Balletten: Der durch Magische Kraft und durch Würkung der Göttin Lachasis wieder aufs neue belebte Bernardon. Das wankelmütige Frauenzimmer oder: La Fille Coquette. In: Kurz, Das Komödienwerk (hrsg. von BrandnerKapfer), S. 166–176, hier S. 175.
74 Pyrrhus, S. 220. Vgl. auch Adalbertus, S. 213.
120
Beatrix Müller-Kampel: Kasperl unter Kontrolle
Ein Mann, bekennt Colombine in Hafners zweitem Teil der Mägera, sei ihr „so lieb
als das tägliche Brod“,75 weshalb dessen Mangel sie in Verzweiflung stürzt: „keinen
Mann hab ich nicht, keinen Mann krieg ich nicht, und eh ich mich auslachen laß,
will ich lieber crepiren.“76 Letztlich trösten sich die „Weibspersonen“77 immer rasch,
denn „wer Teufel soll wegen einen Amanten so viel Verdruß leiden, es giebt ja tausend Mannsbilder auf der Welt“.78
Zu alledem sind Hanswursts „Menscher“ geschwätzig, faul, erbarmungslos und gewalttätig. „[E]in Weibsbildermaul und eine Windmihl schweigen nicht leichtlich
still, wann sie nur eine Ursach haben.“79 Im Lügen und Betrügen, Ärgern und Quälen, Schimpfen und Schelten: darin gefallen sich die „Menscher“ Hanswursts, und
darin besteht ihre Natur. Freilich stehen die Mannsbilder den Frauen in Treulosigkeit, Falschheit und „Maulmacherey“ um nichts nach.
Geschlechtlichkeit, Geschlechterrollen und Geschlechterkonzeptionen
Zurück zum Repertoire des Kasperls Johann Josef La Roche um 1800. Die stets
sexuell-sexistische Affektivität, mit der Hanswurst einst textlich / sprachlich agiert
hatte, haben sich um 1800 verflüchtigt und mit ihr die Komik, die vorwiegend
mit Geschlechtlichkeit und Geschlechterrollen gespielt hatte. Karl Marinelli freilich, der wie erwähnt einer anderen, früheren Generation angehört als Eberl, Huber,
Hensler, Perinet und auch der Komponist Wenzel Müller (* 1767), bietet in seinen
Komödien durchaus noch Lustige Figuren, Komik und auch Affekte, die in eine
andere, weniger empfindsame, weniger aufgeklärte, weniger moralische Komödienpoetik zurückreichen. Dies gilt beispielshalber für die zwei Stücke aus den frühen
1780ern: Die Liebesgeschichte in Hirschau, oder Kasperle in sechserley Gestalten und
Dom Juan, oder Der steinerne Gast. Die Liebesgeschichte hält sich dramaturgisch an
das klassische Muster der Posse mit Reihungen aus komischen Verwechslungen,
Verkleidungen und raschen Situationswechseln. Es überwiegen eindeutig die Situationskomik und die damit einhergehende, vor allem auf Kleiderwechsel basierende Typenkomik. Obwohl die beiden Diener Kasperl und Jackel herausragende
komische Parts innehaben, sind sie nicht als Zentralfiguren anzusprechen; vielmehr
haben ausnahmslos alle Figuren komische Funktionen inne – wie überhaupt das
Setting, stofflich und dramaturgisch, auf alte Muster der Commedia dell’arte zurückgeht, vor allem den Pantalone, dem der lächerliche alte Gockel Kilian gleicht.
75 Hafner, Mägera II, S. 9.
76 Ebenda, S. 10.
77 Hafner, Mägera I, S. 171.
78 Ebenda, S. 193.
79 Cosroes, S. 417.
121
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Dramaturgie und Choreographie sind auf hohes Tempo hin angelegt; es wird viel
von der Bühne und auf die Bühne gerannt, viel geschimpft und geschrieen und
Schabernack getrieben, so dass der Schreiber Partelme am Ende nicht weiß, „bin
ich gesotten, oder gebratten.“80 Kasperl tritt in sechserley Gestalten auf – als Scherenschleifer, Rauchfangkehrer, Bettlerin, Wickelkind, Herr von Schweinburg, Winter
mit Glutpfanne –, nur Liebeshändel pflegt er merkwürdigerweise nicht. Auch in
Marinellis Dom Juan überlässt der Kasperl diese seinem Herrn, dem gleichsam größten Experten dafür – allerdings graut ihm jedesmal vor den immer gleichen, den
tödlichen Folgen: „Schöner Auftrag“, beschwert sich Kasperl, als er wieder einmal
eine von Don Juans Leichen wegräumen muss, „mein Herr kuriert die Leut zu tod,
und ich soll der Todtengraber sein“.81 Mögen Marinellis Komik und Dramaturgie von jener von Eberl, Hensler, Huber und Perinet abweichen – auch hier spielt
der Kasperl keine so große Rolle mehr wie der Hanswurst von einst. Auf Leidenschaften, und seien sie auch nur gespielt, lässt er sich nicht ein – nicht einmal auf
Gspusis, die ihm pekuniär oder gastronomisch etwas bringen könnten (wie dies an
Hanswursts einstiger Vorliebe für reiche Witwen und für Köchinnen zu beobachten
war). Grosso modo ist er weniger zügellos und hemmungslos als weinerlich und
beschränkt, eher ungeschickt als boshaft,82 eher guten Willens als giftig und gallig:
„Ich will mich bessern,“, verspricht er seinem Herrn – und will auch fleißig flunkern
dafür.83
Geschlechtlichkeit, Geschlechterrollen und Geschlechterkonzeptionen standen neben der Gewalt (will sagen: seriellen Wutausbrüchen und Prügeleien) im Mittelpunkt der früheren hanswurstischen Komik. In den Komödien um 1800 sind die
Geschlechterkonflikte mit der Komik, die von Kasperl (zumindest laut den „Bücheln“) abgezogen scheint, keineswegs verschwunden. Sie werden sogar integrale
Bestandteile des Konzepts – das, bis auf die beiden Beispiele von Marinelli, kein rein
komisches mehr ist –, und des Fabula docet – das, wenn es die Komödien schon
nicht überformt, diese doch vielfach durchwächst. Arbeit, Fleiß und Sparsamkeit,
Gehorsam und Bescheidenheit: das sind die Tugenden, denen entlang die textlich
weitestgehend komiklosen Liebes- und Heiratskonflikte konstruiert sind. Den Platz
des Störenfrieds im narrativen Schema von Kennenlernen / Verlieben – Hindernisse – Beseitigung der Hindernisse / Happy End nehmen konzeptionell ganze
bestimmte Laster und figural, ein bemerkenswerter Befund, meist die Mütter der
heiratsfähigen (und durchaus heiratswilligen) Töchter ein. Oft verhätscheln sie die
Kinder bis zur Charakterlosigkeit, wählen grundfalsche Schwiegersöhne aus (nämlich nach Maßgabe allein des Geldes und des Standes) und nehmen sich außerdem
noch befremdende Freiheiten heraus – die den Ehemann in Verzweiflung stürzen
80 Marinelli, Liebesgeschichte, [10 v], S. 30.
81 Marinelli, Dom Juan, S. 83.
82 Vgl. ebenda, S. 87.
83 Ebenda, S. 58.
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Beatrix Müller-Kampel: Kasperl unter Kontrolle
und die Familie zu zerstören drohen. In Eberls Limonadehütte soll die Tochter an
einen reichen Nichtsnutz verkuppelt werden:
„Flor. Die Heurath betrifft die Tochter; ein Mädchen von ungefähr 15 Jahren – die man an einen reichen Schafskopf zu verhandeln sucht; und ihr unter
dem Worte Ehe das Privilegium für jede Art von Ausschweifung versichert. [...]
Das ganze Hauswesen ist zerrüttet, die Gläubger stürmen täglich Thüren und
Fenster – und mit jeder aufgehenden Sonne stehen Juden und Geldmäkler auf
jeden Wink bereit, die letzten Hoffnungen dieser Dame zu verschlingen“.84
Was in einem solchen Kopf und Herzen vorgeht, spricht die eingebildete Salonnière
Frau von Altenbach in einem Aparte aus:
„Wahrhaftig ich muß für Sonderlich gelten – das geb ich der Welt gerne zu –
original ist wenig in unsern Tagen, der Gedanke, daß ein Weib die Präsidentinn eines Zirkels schöner Geister – und junger Männer seyn will – sie zucken
die Achseln, sie machen Anmerkungen – aber was hat all dies Gewäsche auf
mein System für Einfluß – Sie beschuldigen mich der Cokketterie, und es ist
doch heller purer Zeitvertreib – den ich mir mit den possirlichen Püpchens
mache“.85
In Henslers Männerschwäche führt der mütterliche Hang zu Großtuerei und Verschwendung beinahe zu dem, was im zweigliedrigen Titel als Zweites angeführt
ist: zur Krida, dem (hier durch Verschwendung herbeigeführten) Bankrott des Familienunternehmens, einer Seidenfabrik. Ferdinand, der Schwiegersohn des alten
Fabrikanten, weiß nicht aus noch ein:
„Ferdinand. Gestern noch bezahlte ich einen halbjährigen Conto an die Putzhändlerin von 480 fl. für dich und deine Mutter; minder stärkere von dem
Schuster und Schneider liegen auf dem Komtoir, unsere Handlung ist in dem
schlechtesten Zustand, so, daß ich zweifle, ob wir uns noch 3 Tage halten können.
Soph[ie]. Gott! ich bin verlohren.
Ferd[inand]. Du siehst Sophie, ich gehe in diesem schlichten Rock einher,
um ein ehrlicher Mann zu bleiben; des Morgens um 7 Uhr gehe ich an meine
Arbeit, und des Abends bin ich der Letzte auf dem Komtoir, du hältst auf Anstiften dieser Dame, [ihrer Mutter] Bediente, Kammermädchen, Kindweiber
und Kutscher; erhebst dich um 11 Uhr aus dem Bett, und sitzest bis um 2 Uhr
an der Toilette.
Soph[ie]. Halt ein Ferdinand!
Ferd[inand]. Bekümmerst dich nur um deine Kinder, wenn sie über ihren
Stand nach der neuesten Mode gekleidet seyn sollen, um ja nicht den Zeitpunkt
zu versäumen, die Knaben recht früh zu Taugenichts, und die Mädchen zu
84 Eberl, Limonadehütte, S. 51.
85 Ebenda, S. 26–27.
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Puppen zu bilden, vergißt darüber die süßesten Pflichten, die würdigste Bestimmung, die die Natur in das Herz des Weibes schrieb, Mutter zu seyn Pause.
F[rau] v[on] B[rugge]. Hat jetzt der Herr Sohn genug philosophirt? hat er
vielleicht noch mehr zu sagen?
Ferd[inand] geht zu ihr hin, ergreift ihre Hand. Nichts mehr, als das; daß wir
durch sie, durch sie, morgen Bettler sind.“86
Auch Gretl, Kasperls Schatz aus Hubers Kasperl der lustige Schaafhirt, hat ähnliche
Flausen im Kopf:
„Mein Kasperl ist ein grober Schroll,
Der gnädige Herr ist fein –
Und ich, die schöne Gretl soll
Des Kasperls Weib noch seyn?
Nein, nein! ich werde gnädige Frau,
Dann gaft [!] man mich wohl an –
Dann brüßt’ ich mich trotz einem Pfau,
Dann ruft, wer rufen kann –
Da geht die schöne gnädige Frau –
Da seht die Gretl an.“87
In Marinellis Liebesgeschichte in Hirschau hat sich der alte Gockel Kilian mit Jungfer Bonaventura, seiner Wirtschafterin, einen veritablen Weibsteufel eingehandelt.
Diesen „altgebackene[n] Rindskopf“ und „Hauskruntzer“, wie Kasperl ihn nennt,88
muss man von seiner Torheit gründlich kurieren:
„Margreth: Uh über die graue Zärtlichkeit! Die läst dem Jüngling besser,
als Einen für das Grab reifen. Klotz! doch solche Narren müssen geschraubet
werden, damit Sie die Folgen ihrer Thorheit einsehen lernen.“89
„Jackel. Courage! Courage! Courage! Wer einen alten Gecken die Braut wegfischt, der ist ein gescheider Kerl, und die ganze Welt hilft ihn [!] lachen.“90
Auch Branntweinbrenner Schindel aus Kasperl’s neu errichtetes Kaffehaus von Joachim Perinet ist ein solcher Pantoffelheld – und seine Wirtschafterin Nannette der
im Titel angesprochene Hausteufel. Den lieben langen Tag schreit und streitet sie
mit Schindels Arbeitern herum, schnupft Tabak und stößt Drohungen aus: „wann
sie [gemeint ist ihr Bräutigam Schindel] keine höflicheren, und hübschern Gesellen
86 Hensler, Männerschwäche, S. 100.
87 Huber, Kasperl der lustige Schaafhirt, S. 16.
88 Marinelli, Liebesgeschichte, [8r], S. 22 und [10v], S. 29.
89 Ebenda, [2v], S. 8.
90 Ebenda, [2r], S. 5.
124
Beatrix Müller-Kampel: Kasperl unter Kontrolle
in’s Hauß bringen, so geh ich“, denn „ich muß wen haben, mit dem ich kommandiren kann, und das müssen die Gesellen seyn“.91 Unausgesetzt fühlt sie sich angegriffen – auch wenn Schindel sich nur darum sorgt, sie möge ordentlich essen, sonst
würde sie „vom Fleisch fallen“.
„Nann[ette]. O sie grober impertinenter Socius! ich so dürr, wie ein Weinstecken? – glauben sie etwa, ich soll auch so ein Kleiderausklopfer wie sie seyn, he?
schnupft Tabak. Das ist einmahl wahr, sie haben ihren Nahmen in der That: so
zaundürr wie ein Schindel, und roth wie ein Ziegel – so ein geselchter Postpapier-Bogen, so ein Skelet mit seinen zwey Elfern, der die Lungensucht, und die
Hektika selbst ist, so ein Windhund, durch den man, wie durch eine Hausenblatter durchschauen kann, glaubt etwa, ich soll so dürre werden, wie ein Weinstecken – ach! wann ich nur keinen so kurzen Athem hätte, ich wollte sie schon
auf den Glanz herstellen, daß kein Hund einen Bissen Brod von ihnen nähme!
sinkt wieder auf den Sessel, nachdem sie dieß fast in einem Athem her schrie.“92
Aus einer späteren Äußerung geht hervor, dass sich sowohl Schindel als auch die
vermeintlich Angegriffene keine Sorgen zu machen brauchen über die Rundungen
Nannettes, denn die Wirtschafterin ist ein „dicke[r] Mosthäfen“.93 Schindel weiß
sich nicht zu helfen:
„Was nüzt’s mich [!], wenn ich beiß und knirsch?
Ich bin ein’ gute Seel.
Ich bin verliebt, als wie ein Hirsch;
In meine Haus-Mamsell.
Ich hab kein Willen, und kein Kraft
Bin niemand da im Haus,
Und, wann mir’s Bodenreiben schaft,
Reib’ ich in Gott’snahm’ aus.
––
Mit lauter Brandtwein handl’ ich zwar;
Doch ist kein Feu’r in mir.
Ich weiß, ich bin ein armer Narr,
Und häng ganz ab von ihr.
Zu sagen trau ich mir kein Wort,
Weil ich kein Hausrecht hab.
Wie’n Nudeltaig zieh ich mich fort,
Und hatsch ganz langsam ab.“94
Alle die kupplerischen, verschwenderischen, dünkelhaften, genuss- und streitsüchtigen Mütter, treulosen und zänkischen Bräute, notorisch genas geführten Liebha91 Perinet, Kasperl’s neu errichtetes Kaffeehaus, S. 6.
92 Ebenda, S. 8.
93 Ebenda, S. 20.
94 Ebenda, S. 14. 125
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ber und pantoffelheldischen „Hörnertrager“ stammen theater- wie auch komikgeschichtlich aus dem Fundus des europäischen Lachtheaters, der Commedia dell’arte,
dem alten Théâtre Italien und der hanswurstischen Haupt- und Staatsaktion. Dass
sie zugleich Personifikationen von Geschlechterkonzeptionen sind – und höchst sexistische dazu –, liegt auf der Hand. Weit interessanter als die üblichen Genderaspekte scheint, dass hier um 1800 selbst in die Komödie der Ernst und damit die
Moral Einzug halten. An die alte karikierende Komisierung der patriarchalischen
Geschlechterkonstruktionen erinnern noch Marinellis Liebesgeschichte in Hirschau
wie auch Perinets Hausteufel, in denen die verkappten Pantalones, Colombines und
Arlecchinos Macht und Ohnmacht, Mann und Frau, Jung und Alt spielerisch verkreuzten, verkehrten, durcheinanderwirbelten. Indessen sind bei Eberl, Hensler und
Huber die Lektionen, die auf der Bühne den haltlosen Frauen und den nachgiebigen Männern erteilt werden, durchaus ernst grundiert und als Moral gedacht. Am
aller erstaunlichsten scheint, dass die Moral, wie sie hier theatralisiert ist, in ihrer
Verteilung von Gut und Schlecht eindeutig sexistischer und prüder verfährt als die
alte Komödie, in der die Männer den Frauen und die Frauen den Männern nichts
schuldig bleiben. Weiblich, das sind in der Wiener Komödie um 1800 an Lastern die
alten Attribute Herrschsucht, Verschwendung, Geschwätzigkeit und Treulosigkeit;
an männlichen bleibt bloß die sträfliche Nachsicht, mit der der Vater, Ehemann,
Bräutigam den Frauen alles durchgehen lassen. In den Worten des Justizrats Flor
aus Eberls Limonadehütte:
„Wenn wir so die Hand auf’s Herzlegen wollten, und so ganz redlich fragen
möchten, wer ist an den Ausschweifungen der Weiber am meisten Schuld? ...
so dürft es wohl heißen, wir Männer selbst – O! es ist ein großes Studium um
das menschliche Herz.“95
Zwischenfazit (2)
Dass im Repertoire des Leopoldstädter Theaters um 1800 die Hüter der (christlichbürgerlichen) Moral ausschließlich die Väter und Ehemänner sind und die Gefährdung der Moral stets von den Müttern und Ehefrauen ausgeht, erklärt die textliche
Zurückdrängung der Kasperl-Komik nur zum Teil. Einesteils scheint klar, dass,
wenn mit Geschlechterrollen und ‑konzeptionen kein Spaß mehr betrieben wird,
auch jene Figur entbehrlich ist, deren komische Funktion eben darin bestand. Andrerseits hielten die einstigen Hanswürste und Harlekine noch ganz andre komische Trümpfe in der Hinterhand; die neben den Obszönitäten zweitwichtigsten: das
Schimpfen, das Drohen und das Prügeln. Noch in den 1780ern zählen sie zum Verhaltensrepetoire des Leopoldstädter Kasperls La Roche – doch auch davon sind in
den Komödien um 1800 kaum mehr als kümmerliche Reste zu fassen: Als eifersüch-
95 Eberl, Limonadehütte, S. 20–21.
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Beatrix Müller-Kampel: Kasperl unter Kontrolle
tiger Schuster prügelt er bei Leopold Huber sein Weib, ergeht sich in Schimpftiraden – „Lumpenpack“, „sauberer Lindwurm“, „Strick“, „Schöps“, „unchristlicher Bärenhäuter“, „boshaftes Krautmanderl“, „Regenwurm“, „Raabenaas“, „eingeschrumpftes Bärnfell“, „Spitzbuben“, „die alte Kelchpletschen“, „Hundsknecht“,
„schwerenoths Kalbskopf“ –,96 droht seinem Lehrbuben: „ich schlag dir’s Kreuz beim
Wadel ab!“97 und greift zum deftigen Vergleich, wenn es um schlechten Schnaps
geht: „Wird wohl ’n saubers Gesäuff seyn, daß man’s Gedärmreissen kriegt, und ’s
Beuschel abbricht?“98 Es ist die einzige Komödie aus dem Textcorpus überhaupt, in
welcher sprachlich und metaphorisch mit der komischen Fallhöhe zwischen Hoch
und Niedrig, Erhaben und Banal, Fein und Brachial operiert wird. Alles in allem ist
Otto Rommel zuzustimmen, dass in der Welt dieser „starkdrähtigen Rührstücke“
der Kasperl „weder gedeihen noch sich wohlfühlen“ konnte, und dass „der allgemeine Tugendfanatismus auch Kasperl zur Ehrbarkeit“ drängte und seine Komik ganz
entschieden „paralysierte“. „Seine Rollen werden immer kleiner und farbloser.“99
Mit den Frauen und seinem Prügel, so ließe sich als zweites Zwischenfazit formulieren, kommt dem Kasperl um 1800 das Komische abhanden – und dieser selber der
Bühne beziehungsweise dem Text.
Methodologische Zwischenbemerkung (2)
Der Verharmlosung, Zähmung, Rationalisierung, Pädagogisierung des affektiv aufgeladenen Hanswurst zum besinnlichen Kasperl wird man sich je nach Erkenntnisinteresse mit unterschiedlichen methodisch-theoretischen Instrumentarien nähern können; die m. E. am zielführendsten: die politische Geschichte einerseits und
andrerseits die Historische Soziologie (mit der Betonung auf Emotionssoziologie,
Feld- und Habitustheorie, Zivilisationstheorie100 und Diskurstheorie). Emotionssoziologisch bedeutsam scheint, dass sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
die Regeln, nach denen auf der Bühne mit Affekten gespielt, damit das Lachen
96 Huber, Der eifersüchtige Schuster, S. 16, 18, 20, 37, 40, 47, 58, 77, 34.
97 Ebenda, S. 77.
98 Ebenda, S. 49.
99 Rommel, Alt-Wiener Volkskomödie, S. 444–445.
100 Am Instrumentarium von Norbert Elias führt hier kein Weg vorbei; zur Zivilisationsgeschichte des Hanswurst bzw. Kasperl vgl. Johann Sonnleitner: Hanswurst, Bernardon,
Kasperl und Staberl. In: Hanswurstiaden. Ein Jahrhundert Wiener Komödie. Hrsg. und
mit einem Nachwort von J. S. Salzburg, Wien: Residenz 1996. (= Eine österreichische Bibliothek.) S. 331–382; Müller-Kampel, Hanswurst, Bernardon, Kasperl, bes. S. 187–193; Beatrix Müller-Kampel: Sinnengekröse statt Seelengetöse. Hanswursts halsbrecherische Hatz
auf das Glück. In: Das glückliche Leben – und die Schwierigkeit, es darzustellen. Glückskonzeptionen in der österreichischen Literatur. Beiträge des 14. Österreich-Polnischen
Germanistentreffens Salzburg 2000. Hrsg. von Ulrike Tanzer, Eduard Beutner und Hans
Höller. Wien: Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus
2002. (= ZIRKULAR. Sondernummer 61.) S. 193–208.
127
LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
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und mit ihm auch Emotionen im Publikum erzeugt wurden, vergleichsweise schnell
verändert haben müssen – zumindest im süddeutsch-österreichischen Raum, für
den hier die Stücke des Leopoldstädter Theaters stehen. Mit der Feld- und Habitustheorie Pierre Bourdieus sind nicht nur die unterschiedlichen Positionen und
Positionierungen von Theatern, Repertoires, Komik- und Spielformen innerhalb
von übergeordneten Feldern, beispielsweise in jenen der Bildung, Unterhaltung, des
Politischen, der gesamten Kultur überhaupt, zu verstehen, sondern auch die Sonderwege, die das Alt-Wiener Spaßtheater im Vergleich mit der deutsch-deutschen
Komödie einschlug. Im Sinne der theoretischen Ansätze von Norbert Elias wiederum scheint bemerkenswert, dass die Veränderung des brachialen Hanswurst zum
Kasperl durchaus ein Phänomen der Zivilisierung, aber auch der zivilisatorischen
Verspätung genannt werden kann – und überdies auch, diskurstheoretisch nach Michel Foucault formuliert, ein Phänomen der Disziplinierung und Normalisierung
der Sexualitäten auf dem Theater.
An einem Fragenkomplex müssten diese Ansätze alle scheitern: Warum ein Theater
als Lachtheater beliebt und berühmt sein konnte, in dem es, zumindest über die
aufgeschriebenen / konrollierten Mono- und Dialoge, immer weniger zum Lachen
gab, warum das allseits als „Kasperl-Theater“ genannte Leopoldstädter Theater immer seltener den Kasperl gab und warum das Publikum dennoch eifrig und lauthals
lachte darin. Dies erklärt sich nur aus der politischen Geschichte – nämlich aus der
Zensur.
Kasperl unter Kontrolle
1776, also in jenem Jahr, in dem Josef II. „Spektakelfreiheit“ gewährt hatte, boten
die Straßen Wiens ein buntes Bild geschäftig-theatralen Treibens:
„Sie sollten itzt einmal unser Wien sehen und mit mir an einem öffentlichen
Platze stehen. Eine Feenwelt. Hier stellet sich Ihrem Auge eine ganze papierne Mauer voller geistigen ergötzenden Schauspiele dar. Da pralet ein Feuerwerkszeddel Wind und Heldenthaten. Hier steht Wäsers Klavigo neben der
verkehrten Welt und einer Opera pantomime des Harlekin; hinter dieser hüpft
das venetianische Karneval mit allerley Verzierungen – & cetera, & cetera.
Da prangt die schöne Wienerin neben dem 30jährigen Abcschützen; und von
der Gerdeckischen Truppe der Bettler neben der Koppischen Gesellschaft des
beschäftigten Hausregenten. Da kriecht eine Seiltänzernachricht neben dem
Edelknaben von der Hebetingerschen Gesellschaft hervor; dort glänzt ein wälsches Singspiel mit guter Musik und guten Sängern. Hier liegen alle Theatermusen unter einander geworfen, unter ihrer Gesellschaft hat sich Nonsensé,
Farze, Skaramutz, Kasperl, Land Dorf und Stadtabenteuer – gedränget – hi
ha – vous allez voir ce que vous allez voir, hi ha!“101
101 Wiener Realzeitung vom 16. Juli 1776, S. 462–463. Für den Beleg danke ich Matthias J. Pernerstorfer.
128
Beatrix Müller-Kampel: Kasperl unter Kontrolle
In Erwägung, dass in der Habsburger Monarchie zu der Zeit alles Schriftliche, das
auch nur irgendwie als öffentlich zu interpretieren war, und selbstredend auch obiger Artikel strengster Zensur unterlag, hat man es wohl eher mit binnenexotischkultureller Genremalerei zu tun als mit einer Reportage. Im Visier der Zensoren
standen nicht zuletzt die genannten Figuren und Typen: der von der Wäserschen
Truppe gegebene Klavigo (von Goethe) wie der Harlekin, die Schöne Wienerin aus
Paul Weidmanns eben uraufgeführtem Lustspiel wie der bereits ältere 30jährige
ABC-Schütz des Joseph Felix von Kurz, Der beschäftigte Hausregent von Philipp
Hafner wie auch die „Nonsensé, Farze, Skaramutz, Kasperl“. Gerade einmal sechs
Jahre zuvor war die Zensur, v. a. auf Betreiben von Joseph von Sonnenfels, dem
wirkmächtigsten reformabsolutistischen Berater von Maria Theresia und Josef II.,
wieder verschärft worden.
Nach dem Bankrott der Direktion Joseph Karl Bender im Jahre 1770 wollte die
Theaterimpresa das deutsche Schauspiel am Kärntnertortheater durch den neuerlichen Rückgriff auf die – an sich seit 1751 verbotene – extemporierte Volksposse alten Stils sanieren.102 Joseph Felix von Kurz, nach der von ihm kreierten Figur KurzBernardon genannt (1717–1784) und gleichsam Personifikation der extemporierten,
revue-artigen Nonsense-Komödie, wurde 1770 nach Wien zurückgeholt. Man trat
auch mit der in der Provinz und in den Wiener Vorstädten spielenden „Badnerischen
Truppe“ unter Prinzipal Menninger über Gastspiele in Verhandlungen – unter den
Spielern befand sich auch der Kasperl-Darsteller La Roche.103 Dagegen schritt nun
Joseph von Sonnenfels mit einem barschen Promemoria ein, das vom Dramatiker
Stephanie dem Älteren unterzeichnet wurde und an Maria Theresia weitergegeben
werden sollte. Zugleich reichte Sonnenfels – in eigenem Namen – eine Resolution
Über die Nothwendigkeit, das Extemporieren abzustellen bei Hofe ein und ließ sie
in der Brünner Zeitung einrücken.104 Sonnenfels wurde schließlich 1770 mit der
Reorganisation der Theaterzensur beauftragt – und war damit zum mächtigsten
Mann im Wiener Theaterwesen aufgestiegen,105 der die Schauspieler bei der ersten
Übertretung der Zensurvorschriften in den Arrest schicken und bei der zweiten ein
102 Vgl. i. d. F. Müller-Kampel, Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 159–164, und Gustav
Zechmeister: Die Wiener Theater nächst der Burg und nächst dem Kärntnerthor. Wien:
Böhlau 1971. (= Theatergeschichte Österreichs. 3.) S. 90.
103 Vgl. Hilde Haider-Pregler: Nachwort. In: �����������������������������������������������
Joseph von Sonnenfels: Briefe über die Wienerische Schaubühne. Hrsg. von Hilde Haider-Pregler. Graz: Akademische Druck- und Verlagsanstalt 1988. (= Wiener Neudrucke. 9.) S. 347–428, hier S. 409.
104 Vgl. Hilde Haider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert. München: Jugend und Volk 1980,
S. 344–345.
105 Vgl. ebenda, S. 345.
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LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
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Berufsverbot verhängen konnte.106 Damit nicht genug, wollte Sonnenfels bereits im
Monat seiner Bestellung zum Theatralzensor die Bestimmungen auch auf die Wandertruppen und die Theater der Vorstädte ausdehnen, was allerdings von Josef II.
mit einem schlichten „Reponatur!“ abgewiesen wurde.107 Bereits nach einem halben
Jahr wurde Sonnenfels aus bis heute ungeklärten Gründen aus seinem Zensorenamt
entlassen. Sonnenfels’ Abberufung bedeutete freilich keineswegs eine Lockerung der
Zensur, berichtete doch dessen Nachfolger Franz Karl Hägelin (1735–1809) über
seinen Aufgabenbereich, dass er neben den deutschsprachigen Schauspielen auch
alle Oratorien, Neujahrswünsche sowie Anschlagzettel von „Spektakeln“, Tierhetzen und Feuerwerken zu zensurieren hatte.108
Nach wie vor enthielten sich die zeitgenössischen Wiener Theater – es soll bis zu
80, darunter auch private Liebhabertheater, gegeben haben109 – der ausschließlich
vernünftigen Nachahmung der Natur, des moralisierenden Blicks in das bürgerliche Heim. Statt dessen wurden Maschinenkomödie und Zauberstück – die sich
per definitionem dem geltenden Rationalismus versagen und auf der Existenz vieler
Welten beharren110 – mit aufklärerischen Motiven versetzt und der Hanswurst zum
Kasperl gezähmt. Den aufklärerischen josefinischen Kritikern war dies der Versittlichung und Vernunft nicht genug. In einer 1782 erschienenen Theaterkronik von der
Sündfluth bis auf den grossen Kasperle in der Leopoldstadt, einem gottschedianischen
Querfeldeinlauf durch die Theatergeschichte, wird Kasperl einmal mehr als Schädling des guten Geschmacks denunziert:
„Deutschland, und besonders Wien ist jetzt auf ihre Nationalschaubühne stolz.
Empfindung, Geschmak und Einsicht vereinbaren sich hier bei jedem Spielenden, obwohl die Ehre des wiener Geschmaks durch erniedrigende Furien eines
Kasperltheaters bei Gelehrten ziemlich leidet. Den Sommer hindurch genießen
wir Wiener keineswegs die Ehre ihres Daseins, aber nach einer gewissen Versicherung sollte es noch einmal geschehen, dann Gnade uns Gott, was wir da
sehen werden. Diese Leute verhunzen noch obendrein die beßten Stücke mit
106 Siehe das im Wortlaut abgedruckte Promemoria in: Müller-Kampel, Hanswurst, Bernardon, Kasperl, S. 227–228.
107 Vgl. Haider-Pregler, Nachwort, S. 415.
108 Vgl. Zechmeister, Die Wiener Theater, S. 49–50.
109 Vgl. Jürgen Hein: Das Wiener Volkstheater. Raimund und Nestroy. 2., aktualisierte und
bibliographisch ergänzte Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991. (= Erträge der Forschung. 100.) S. 17.
110 Vgl. Hugo Aust, Peter Haida und Jürgen Hein: Volksstück. Vom Hanswurstspiel zum sozialen Drama der Gegenwart. Hrsg. von J. H. München: Beck 1989. (= Arbeitsbücher zur
Literaturgeschichte.) S. 108.
130
Beatrix Müller-Kampel: Kasperl unter Kontrolle
der launichten Person ihres Kasperls, denn aber (Gott seis Dank) der dritte Stok
nicht mehr lang aushalten kann“.111
Schärfer verfahren zwei Anti-Kasperl-Broschüren aus dem Jahre 1781, Kasperl das
Insekt unseres Zeitalters und Etwas für Kasperls Gönner, in ihren Schmähungen der
Lustigen Figur. Im Kasperl-Theater nähre das Publikum seine Seelen an Bildern,
„die aus dem zerronnenen und matten Gehirne“ eines „albernen Gauklers“ herrührten.112 Kasperl, in dem man „mehr ein Ungeheuer als einen witzigen Schalken
erblicken“ müsse,113 und der „den neuen Geschmack unserer Nation verpestet und
unsere Mauern mit tollem Getümmel erfüllet“,114 „dieser elende Possenreisser“115
beleidige die Menschen durch seine Worte,116 die in nichts anderem bestünden als
„Vernunft und Anstand entehrende[m] Gezeug“.117 Es stehe außer Zweifel, „daß es
gut gesitteten Menschen nicht anstehe, an einem so verderblichen und häßlichen
Abenteuer, wie euer Kasperl ist, ein Vergnügen zu finden.“118 Dem Kasperl abzuschwören sei zum sittlichen Wohle des Staates, denn der
„große Einfluß, den die Schauspiele auf die Sitten des Volkes haben, ist sehr
beträchtlich. Man braucht nur richtige Vernunft und weniger dem Kasperl zugetan sein, so wird man weit über alle Vorurteile erkennen, daß die NationalSchaubühne, welche der weiseste Monarch, dessen einzige Absicht das Glück
seiner Völker ist, zum Besten der Nation in jenen Stand gesetzt hat, daß sie eine
Schule der edlen Sitten und des guten Geschmacks ist“.119
111 Joseph Krepler: Theaterkronik von der Sündfluth bis auf den grossen [!] Kasperle in der
Leopoldstadt. Hrsg. von J. K. Wien: Hartl 1782, S. 18.
112 Kasperl das Insekt unseres Zeitalters. Nebst einer Wahrnung an seine Gönner. Wien: [o. V.]
1781. In: Gustav Gugitz: Der Weiland Kasperl (Johann La Roche). Ein Beitrag zur Theater- und Sittengeschichte Alt-Wiens. Wien, Prag und Leipzig: Strache 1920, S. 75–82, hier
S. 77.
113 Ebenda, S. 80.
114 Ebenda, S. 81.
115 Etwas für Kasperls Gönner. Wien: Hartl 1781. In: Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 83–98,
hier S. 85.
116 Vgl. Kasperl das Insekt unseres Zeitalters, S. 80.
117 Etwas für Kasperls Gönner, S. 87.
118 Kasperl das Insekt unseres Zeitalters, S. 77.
119 Etwas für Kasperls Gönner, S. 97.
131
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Unter dem Motto „Chacun à son goût“ schreitet die Kurze Antwort auf die beyden Schmähschriften120 an Kasperl-La Roches Verteidigung. „Kasperl mag manchen
übertrieben, abgeschmackt scheinen, aber viele andere ergötzen sich an ihm. Man
lasse jedem seinen freien Willen.“121 Indessen scheinen die Sittlichkeitsgrenzen bereits so weit vorgedrungen zu sein, dass im Plädoyer für den Kasperl dessen (angeblich bereits vollzogene) Obrigkeits- und Sittengemäßheit ins Treffen geführt wird:
„Was ist Böses an Kasperl! Wann hat er je etwas Schmutziges oder eine Zote gesagt?
Sind nicht alle Stücke vorgeschrieben, censuriert? Wacht nicht das Ohr der Polizei,
um über jeden Vorfall der hohen Stelle Bericht davon zu geben?“122 Karl Marinelli
hatte bereits 1774 von der Bühne aus beteuern lassen, dass alles, „was ohne Beleidigung der Sitten und des Wohlstandes Beifall und Wohlgefallen verschafft, [...] dem
Zuspruch unsrer Gönner unterworfen sein“ möge.123
Von 1770 bis 1805 war der genannte Franz Karl Hägelin als spezieller Theaterzensor
eingesetzt; er hatte den Handlungsverlauf der Theaterstücke ebenso zu überprüfen
wie deren ästhetische Qualitäten.124 Am Beginn seiner Tätigkeit hatte als einzige
Richtlinie gegolten, „daß auf dem Theater nichts extemporirt werde, keine Prügeleien stattfänden, auch keine schmutzigen Possen und Grobheiten passirt, sondern
der Residenzstadt würdige Spiele aufgeführt werden“.125 Hägelins Zensur umfasste
nicht nur das Hofthater, sondern auch die Darstellungen der Nebenbühnen und der
verschiedenen Truppen, denen Josef II. das Kärntnertortheater überlassen hatte.126
In den ersten Jahren nach dem Tod Josefs II. 1790 erhielten die Lustigen Figuren auf
dem Theater wieder größeren Freilauf – zwar regierte die Politik mit eiserner Hand,
hielt sich jedoch bei Spaß und Spielen fürs Volk ein wenig zurück.127 Mit dem von
der Französischen Revolution geradezu traumatisierten Kaiser Franz II./I. war es
damit schon wieder vorbei. Mehrere kaiserliche Handschreiben aus den Jahren 1795
120 Kurze Antwort auf die beyden Schmähschriften. I. Kasperl das Insekt unseres Zeitalters.
II. Etwas für Kasperls Gönner. Wien: [o. V.] 1781. In: Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 99–
107, hier S. 106.
121 Ebenda, S. 102.
122 Ebenda, S. 102–104.
123 Karl von Marinelli: Der Anfang muß empfehlen. Ein Vorspiel in einem Aufzuge. Wien:
Schulzische Schriften [1774]. In: Gugitz, Der Weiland Kasperl, S. 5–29, hier S. 9.
124 Vgl. i. d .F. Norbert Bachleitner: The Habsburg Monarchy. In: The Frightful Stage. Political Censorship of the Theater in Nineteenth-Century Europe. Hrsg. von Robert Justin
Goldstein. New York, Oxford: Berghahn Books 2009, S. 228‑264 und Carl Glossy: Zur
Geschichte der Wiener Theaterzensur. I. In: Jahrbuch der Grillparzergesellschaft 7 (1897),
S. 238–340.
125 Zit. nach Glossy, Zur Geschichte der Wiener Theaterzensur, S. 275.
126 Vgl. ebenda, S. 276.
127 Vgl. ebenda, S. 292–293.
132
Beatrix Müller-Kampel: Kasperl unter Kontrolle
und 1796 mahnten die Theaterunternehmer v. a. der Provinzen und der Vorstadttheater auf Einhaltung der Vorzensur wie des Extemporierverbots. Inhaltlich standen im Mittelpunkt: die „guten Sitten“, die einzuhalten, sowie etwaige „gefährliche
Grundsätze in Rücksicht auf die gute Ordnung und das Wohl des Staates“, die zu
unterlassen waren.128 Dieser Zusatz zu einem Handschreiben Franz’ II./I. brachte
die Theaterzensur nach und nach in völlige Abhängigkeit von der Polizei, der alle
für die Vorstadtbühnen zensurierten Stücke zur Revision vorgelegt werden mussten. Man ging sogar daran, auch ältere, von Josef II. zugelassene Schriften sowie
die unter ihm erschienenen zu „rezensurieren“. Im Zuge dieser „Rezensurierung“
sollen insgesamt 2500 Bücher verboten worden sein. Bezeichnend scheint, dass der
1803 für die Zensoren erstellte Leitfaden als Internum nicht veröffentlich wurde.129
Binnen weniger Jahre hatte Franz II./I. eines der strengsten Zensursysteme in ganz
Europa etabliert.
Aus einem Denkschreiben130 des Zensors Franz Karl Hägelin für die Zensur in Ungarn aus dem Jahr 1795 (nebenbei ohne es zu wollen eine Normpoetik staats-, konfessions- und sittenkonformer Dichtung) geht hervor, wie weit die Überwachung
ging: Kontrolliert wurden Stoff, Handlung und „Dialog“ (i. e. Stil, Lexik); geahndet wurden in allen drei Bereichen „Gebrechen wider die Religion“, „Gebrechen in
politischer Hinsicht, oder wider den Staat“, „Gebrechen in Absicht auf die Sitten“,
wobei das „Gebrechen“ auch in einer Huldigung an das vaterländische Kaiserhaus
bestehen konnte – da das Publikum dies als Satire hätte auffassen können; oder
in der Figur eines katholischen Priesters – da Religion in keinem Detail Gegenstand des Theaters zu sein hatte; oder in Ausrufen wie „Mein Gott!“ oder „Heiliger
Bimbam“ etc., für die Hägelin politisch korrekte Äquivalenzvorschläge einbrachte;
oder darin, dass schlicht ein junger Mann und eine junge Frau gemeinsam von der
Bühne gehen – um nicht im Zuschauer entsprechende erotische Bilder aufkommen
zu lassen. Gellerts Kontrollphantasien von einem „geschickten und edelgesinnten
Aufseher [...], dessen Urtheile sie [die Autoren] alle Stücke unterwerfen müßten“,
war in schrecklicher Weise wahr geworden. Gellert hatte sich einen solchen Sittenund Dichtungswächter nämlich so imaginiert:
„Dieser vernünftige Mann und Kenner des Theaters würde kein mittelmäßiges
Stück, keine närrischen Possenspiele, auf das Theater lassen. Er würde sogar
in den guten Stücken die freyen und anstößigen Stellen wegwerfen, und also
sorgen, daß beide Geschlechter ohne Gefahr alle Comödien anhören könnten,
128 Ebenda, S. 295.
129 Vgl. Julius Marx: Die österreichische Zensur im Vormärz. Wien: Verlag für Geschichte und
Politik 1959. (= Schriften des Arbeitskreises für österreichische Geschichte.) S. 12.
130 Vgl. i. d. F. Glossy, Zur Geschichte der Wiener Theaterzensur, S. 299–327.
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und nie die einen bey dem Händeklatschen der andern die Augen niederschlagen dürften.“131
Was hatte auf einer solchen Bühne der alte Lotterbube Kasperl eigentlich noch zu
suchen außer weitestgehend schweigend moralisch zu sein?
Selbst das Leopoldstädter Theater war um 1800 als des sittlichen Bürgers Abendschule
(Hilde Haider-Pregler)132 formiert – zumindest in und nach den uns vorliegenden
Texten. Was der Zensor Hägelin ausformuliert und seine Kommissäre im Theater exekutieren, entspricht einerseits dem nunmehr auch in Wien gültigen Diskurs
bürgerlich-rationaler Forderungen nach sittlicher Vernunft. Alles deutet darauf hin,
dass darin auch ein zivilisatorischer Prozess der Affektregulierung und der Affektdämpfung sichtbar wurde. Andrerseits übertrifft der zensorische Zwang zu Vernunft und Sittlichkeit unter Ausschluss des lauthalsen Lachens den Selbstzwang in
einem Ausmaß, dass er als repressives, diktatorisches, terroristisches und vor allem
geheimes Joch gefürchtet wird. Unter ihm beugten sich, wie das Leopoldstädter
Repertoire es zeigt, die Autoren und übten präventive Selbstzensur. Und der Kasperl
Johann Josef La Roche? Warum das Publikum dennoch weiter lachte über ihn, und
vermutlich mit Grund, erklären die auf uns gekommenen Texte nicht. In Zeiten der
Überwachung und Bestrafung zog sich Kasperls Komik vielleicht ins stumme Spiel
und den wortlosen Laut zurück. Was, wenn Kasperl-La Roche die Komik bei diesen
Zeitläuften wieder einmal ins Extempore verlegt hätte und sich dabei eins lachte?
Oder wenn sich La Roche und das über ihn lachende Publikum an überkommene komische Kanones von Gestik und Mimik gehalten hätten, die die zeitgenössischen Rollenfächer bereit hielten? Vielleicht brauchte La Roche körpersprachlich
auch nur er selber zu bleiben, mit jenem unverwechselbaren Bewegungsrepertoire,
das er sich für seinen Kasperl „im Prozeß ständiger selektiver Abschleifung durch
das Publikum“ über Jahrzehnte hinweg angeeignet hatte und das nun als unverwechselbare „Körperidentität“ zum Lachen brachte. Nach Daniela Weiss-Schletterer
„handelt und agiert der Schauspieler“ in einer solchen Körperidentität „häufig ein
Theaterleben lang, so daß im Idealfall der Name des Komödianten mit jenem des
verkörperten Typus gleichgesetzt und stets in einem Atemzug genannt wird. Harlekin Müller, Hanswurst Schuch oder Kurz-Bernardon sind einige, wenige Beispiele
im deutschsprachigen Theater des 18. Jahrhunderts, die diesen Grad an Popularität
erreichten.“133 Kasperl-La Roche auch. Doch ihrer aller komischen Körpergeschichten sind erst zu schreiben.
131 Christian Fürchtegott Gellert: Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten
Geschmacke in Briefen. Leipzig 1751. In: Ch. F. G.: Sämmtliche Schriften. Neue rechtmäßige Ausgabe. Bd. 4. Berlin: Weidmann 1840, S. 131–132.
132 Haider-Pregler, Des sittlichen Bürgers Abendschule.
133 Beides Daniela Weiss-Schletterer: Das Laster des Lachens. Ein Beitrag zur Genese der
Ernsthaftigkeit im deutschen Bürgertum des 18. Jahrhunderts. Wien, Köln und Weimar:
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betrogenen breutigam, verwihrten Auffstecher, übl belohnten alten Weiber Spotter,
gezwungenen Ehmann, Allamodischen Ambasadeur, sehenden Blinden und hörenden Tauben ec. ec. Componirt Ao+ 1724 von einem Comico. In: Wiener Hauptund Staatsaktionen (hrsg. von Rudolf Payer von Thurn), Bd. 2, S. 185–250.
[Stranitzky, Joseph Anton:] Der Großmüthige Überwinder Seiner selbst mit
HW: den übl belohnten Liebhaber vieller Weibsbilder oder Hw der Meister, böse
Weiber gutt zu machen. Mehrers wird die Action selbst dem geneigten Leser vorstellen. In Wienn den 7 August 1724. In: Wiener Haupt- und Staatsaktionen (hrsg.
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Glücke lacht oder Der großmüthige Frauenwechsel unter Königlichen Personen mit
Hanß Wurst den verrathenen Intriganten und übel belohnten Liebs-Envoye. Viennae Die 21 Julij Anno MDCCXXIV. In: Wiener Haupt- und Staatsaktionen (hrsg.
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alten Weiberen Componirt Von eInen In Vienn an WesenDen CoMICo. Monsieur
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[Stranitzky, Joseph Anton:] Triumph Römischer Tugendt und Tapferkeit oder
GORDIANVS der Grosse Mit Hanß Wurst den lächerlichen Liebes-Ambaßadeur,
curieusen Befelchshaber, vermeinten Todten, ungeschickten Mörder, gezwungenen
Spion ec. und waß noch mehr die Comoedie selbsten erkhlaren wirdt. Componirt
In diesen 1724 JAHR, den 23 Jenner. In: Wiener Haupt- und Staatsaktionen (hrsg.
von Rudolf Payer von Thurn), Bd. 1, S. 1–67.
[Stranitzky, Joseph Anton:] Die Verfolgung auß Liebe oder Die grausame Königin der Tegeanten ATALANTA Mit Hanß Wurscht Den lächerlichen Liebs-Ambasadeur, betrognen Curiositäten-Seher, einfältigen Meichlmörder, Intressirten Kammerdiener, übl belohnten Beederachsltrager, unschuldigen Arrestanten, Intresirten
Aufstecher, wohl exercirten Soldaten und Inspector über die bey Hoff auf der Stie141
LiTheS Sonderband Nr. 1 (Juni 2010)
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