RETTER AUS TITAN Fünf Zentimeter Durchmesser hat das »Kunstherz«, zwei Zentimeter ist es hoch. Mit der Pumpe können schwer Herzkranke jahrelang überleben, manche sogar wieder arbeiten 112 MEDIZIN E I N L E B E N AUF P U M P Daniel Baals’ Herz drohte zu versagen. Ein »Kunstherz« rettete ihn – wie inzwischen jährlich Hunderte Patienten, die auf ein Spenderorgan warten. Seither lebt er mit einer Metallpumpe in der Brust, per Kabel stets an zwei Akkus angeschlossen GEO 03 2017 Text: Susanne Paulsen, Fotos: Gordon Welters 113 GROSSES AUFGEBOT IM OP Routiniert bewältigt das Team aus einem Dutzend Schwestern, Pflegern, Ärzten den zweieinhalbstündigen Eingriff. Das Herzzentrum Berlin hat weltweit die meisten Kunstherzen eingepflanzt – mehr als 3000 N NACH HAUSE ZU GEHEN, DAFÜR ist es jetzt zu spät, oder?“, flüstert Daniel Baals. „Ja“, antwortet der Pfleger und stoppt das Rollbett vor dem OP. „Das ziehen wir jetzt durch.“ Daniel Baals verstummt. Er hat Angst, was sonst. Anfang September 2015: Seit zwei Tagen weiß der massige 38-Jährige, dass sein Herz bald aufhören wird zu schlagen. Ein fremdes Herz, das es ersetzen könnte, kann er nicht bekommen. Ihm bleibt le diglich, wie die Ärzte hier am Deutschen Herzzentrum in Berlin sagen, die zweit beste Lösung. „Wenn Sie Ihren nächsten Geburtstag erleben wollen“, hatte ihm eine Kardiologin nüchtern und freundlich mitgeteilt, „dann lassen Sie uns möglichst schnell eine Pumpe implantieren.“ Auf ihrem Schreibtisch glänzte ein Ansichtsexemplar. „Linksherzunterstützungssystem“, sagte sie. „Left Ventricular Assist Device, LVAD.“ „El-Wad“ hörte Baals zunächst und verstand nicht. Er nahm das Gerät in die Hand, spürte die Kühle des Metalls und seinen Lebenswillen. Er hatte sich die Hilfe für sein kaputtes Herz groß und weich vorgestellt, eine gut gefüllte, pulsierende Plastiktüte. Diese Pumpe war klein und hart. 114 E S K L I N G T F U T U R I S T I S C H , was Chirurgen bei einer LVAD-Implan tation tun: eine künstliche auf die lebendige Pumpe setzen, sodass eine biologischtechnische Einheit entsteht. Ein Mischorgan. Doch diese Operation wird, ohne dass dies in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen wäre, seit den 1990er Jahren an großen Herzzentren ausgeführt, etwa in den USA und in Deutschland. Die Emp fänger – meist männlich und zwischen 50 und 65 Jahre alt – leiden an Herzschwäche im Endstadium. Leben auf Abruf. Noch sind die Fallzahlen gering: In Deutschland setzen Chirurgen jährlich knapp 1000 solcher im Körper lokalisierten „Herzunterstützungssysteme“ ein. Patienten wie Mediziner sagen meist: Kunstherzen. Die Zahl der Implantationen nimmt allerdings seit einigen Jahren zu, immer mehr Kliniken nehmen den Eingriff in ihr Programm auf, weil sich Operationstechnik und Nachsorge verbessert haben. Schon denken Ärzte darüber nach, auch weniger kranke Patienten mit den Pum pen auszustatten. Bald könnte es zu einem extremen Anstieg der Operationszahlen kommen – die intime Verschmelzung von Mensch und Maschine würde alltägliche Erfahrung in den Kliniken. An einem grundsätzlichen Problem wird das nichts ändern: Eine mechanische Herzunterstützung verbessert die Blutversorgung des Organismus und kann das Leben verlängern. Doch sie ist und bleibt ein – wie es in der Fachsprache heißt – „aggressiver Eingriff“: Sie verändert den Körper beträchtlich. Sie gelingt nicht immer. Und sie kann früher oder später schwere Komplikationen nach sich ziehen. „Wüssten wir nur vorher“, sagt einer der LVAD-Techniker am Herzzentrum, „wem wir mit der Implantation einen Ge fallen tun und wem nicht ...“ B im Operationssaal 3. Auf Brust und Bauch glänzt orangefarbene Desinfektionslösung. Zwölf blaugrün gekleidete Schwestern, Pfleger und Ärzte stehen um ihn herum, blicken auf Überwachungsmonitore, auf Skalpelle, Tupfer, Klammern, auf den OPTisch mit dem Patienten. Sein Gesicht ist entspannt. Der kleine harte Zug um die Mundwinkel hat sich gelöst. Er war in den Stunden vor der Operation immer sichtbar, als Baals die Fassung gewahrt, Witzchen gerissen – und zurück geblickt hatte. Er lebte mit seiner Freundin und sei nen beiden Kindern zusammen, war Telekommunikationstechniker in Berlin und AALS SCHLÄFT JETZT, GEO 03 2017 F EIN STARBEI T AM OF FENEN HERZEN Akribisch befestigt der Chirurg mit zwölf Fäden einen Anschlussring auf der linken Herzwand. Auf ihn wird die Pumpe gesteckt, die schon bereitliegt 115 MIT MACHT MITTEN INS HERZ Ist alles bereit, bohrt der Chirurg mit dem Stanzmesser ein Loch in den Herzmuskel. Durch die Öffnung schiebt er das Ansaugrohr der Mini-Pumpe in die linke Herzkammer froh in seinem Beruf: Netzausbau. Mobil funkantennen ausrichten, kontrollieren. 2011 machte eine Kette von Herzin unfähig. Auslöser der Attacken war eine Herzschwäche; hinter der wiederum steck te wahrscheinlich eine verschleppte Grip pe, kombiniert mit einer angeborenen Stoffwechselstörung. Baals’ starkes Über gewicht verstärkte den Krankheitsprozess. Er geriet in einen Teufelskreis: Die Herzschwäche raubte ihm den Atem, er schwerte jede Art von Bewegung. Sport, der dringend nötig gewesen wäre, um ab zunehmen, war daher nur äußerst einge schränkt möglich. Baals tröstete sich mit Schweinegulasch, Rouladen, Sauerbraten. Sein Herz schwand dahin. Die Wut über sein Schicksal wuchs und brach sich Bahn, bis sein vertrautes Leben endgültig kollabierte: Die Freundin ertrug die Situ ation nicht länger und verließ ihn mit den Kindern. Er zog zu seiner Mutter in ihre Hochhauswohnung in Spandau. Wollte jemanden um sich haben, der jederzeit den Notarzt alarmieren könnte, einen Men schen gegen die Angst. Evgenij Potapov setzt auf der Linie oberhalb der rechten Brustwarze zwischen dritter und vierter Rippe das Elektroskal pell an. Langsam zieht er es durch Haut, Muskeln, Fett. Wenig später riecht es nach verbrann tem Fleisch. In einem ovalen, zwölf Zen timeter langen Loch in Baals’ Brustkorb, offen gehalten von einer metallenen, sche renartigen Klammer, liegt am oberen Ende des pumpenden Herzens die Aorta, die große Körperschlagader. Der zweite Chirurg, Thomas Kra batsch, schiebt derweil zwei Drähte von der linken Leistenbeuge durch die Venen und die Arterien fast bis zum Herzen – um darüber im Notfall eine Herz Lungen Maschine anschließen zu können. Dann schneidet auch er. Unterhalb der linken Brustwarze, zwischen Rippe sechs und sieben, öffnet sich ein weiteres Loch. Dort fleisch: die Wand der linken Herzkammer. Nur vier Minuten später stockt die Bewegung dort. Ein dunkler Alarmton erfüllt den Saal, schwillt auf und ab. „Der flimmert“, sagt Krabatsch leise: Baals’ Herz ist aus dem Takt geraten. Allerhöchste Le I N C H I R U R G steht nun rechts von bensgefahr. Eine Rhythmusstörung ist auf Baals, einer links. Zwei blaue Linien getreten. Über einen Katheter fließen Me haben sie auf den Brustkorb in ihrer Mitte dikamente in Baals’ Körper. Nach einem gezeichnet. Moment bangen Wartens findet das Herz E 116 wieder seinen Rhythmus. Exitus verhin dert, Glück gehabt. Die beiden Chirurgen fahren fort, als sei nichts geschehen: Potapov näht die Gefäßprothese, einen kurzen Kunststoff schlauch, an die Hauptschlagader. Bedäch tig und unendlich akribisch. Er nimmt sich über eine Stunde für die 20 Stiche Naht. Krabatsch befestigt derweil mit zwölf blauen Fäden einen Anschlussring an der linken Herzwand, nahe der Herzspitze. Sitzt ein Faden – sechs bis zehnmal ge knotet – fest, lässt er ihn, beschwert mit einer scherenartigen Klemme, aus dem Brustkorb hängen. Seitlich von Baals’ Kör per hüpfen die Klemmen im Rhythmus des Herzschlags auf und ab, ein wilder kleiner Tanz. Schließlich sitzt der Ring. Krabatsch kappt die Fäden, führt vom Herzen aus ein Kabel durch Brustkorb und Unterleib durch einen kleinen Schnitt links neben dem Bauchnabel ins Freie: Baals’ An schluss an die Batterien, die er künftig stets mit sich wird tragen müssen. Nun ist alles bereit fürs Finale. Potapov hält die Pumpe. Sie ist so groß wie eine kleine Bonbondose: fünf Zentimeter im Durchmesser, zwei Zenti meter hoch. Krabatsch hat ein Stanzmes ser gefasst. Für einen Moment stehen die beiden Chirurgen ganz still. Dann stoppt GEO 03 2017 ANATOMIE EINES MISCHORGANS Aorta linke Herzkammer Gefäßprothese Pumprichtung Stromzufuhr Herzpumpe Das Kunstherz, im Fachjargon »mechanisches Kreislaufunterstützungssystem« genannt, saugt das Blut aus der linken Herzkammer und drückt es über eine Gefäßprothese in die Aorta. Seine Energie bezieht es über ein Kabel, das aus der Bauchdecke herauskommt Daniel Baals’ Herz. Diesmal geplant. Medikamente lassen es für kurze Zeit flimmern statt schlagen. Sofort bohrt Krabatsch sein Messer in Baals’ linke Herzkammer und sticht den Anschlussring innen aus. Eine rote Fontä ne steigt auf. Das Blut spritzt auf Messer, Handschuhe, Kittel, Plastikpantoffeln – und versiegt wieder: Potapov hat blitzschnell – „wie ein Hütchenspieler“, sagt er später – den Anschlusszapfen der Pumpe in den Ring gesteckt. Das Herz kommt wieder in Gang. Das LVAD läuft an. 500, 1000, 3000 Umdrehungen zeigt der Monitor. Krabatsch drückt Pumpe samt Herzspitze ein wenig nach unten; sie verschwinden unter den Rippen. J die Gelegenheit, abzunehmen“, sagt Krabatsch, nachdem Baals’ Brustkorb wieder vernäht ist. Dass der Chirurg noch im Operationssaal an die überzähligen Pfunde seines Patienten denkt, liegt an dem Szenario, das die Ärzte am Herzzentrum für Baals’ Zukunft entworfen haben: ein Plan, wie er sich – mit Glück – möglichst viel Lebenszeit verschaffen könnte. Zunächst muss er die kritischen Wo chen nach der schweren Operation über stehen. Dann wieder mehr Atem und mehr ETZT HÄTTE ER GEO 03 2017 Kraft schöpfen. Die neue Vitalität nach Vorstellung der Ärzte nutzen – und sich 40, 50 Kilo abhungern und abtrainieren. Nur mit einem Gewicht um die 100 Kilo bestünde für Baals die Möglichkeit, statt der mechanischen Pumpe ein Spen derherz zu bekommen. Denn der Gewichtsunterschied zwischen Herzspender und -empfänger darf maximal zehn Prozent betragen, damit das neue Herz den Körper ausreichend mit Blut versorgen kann. Herztransplantierte erwartet – statis tisch gesehen – ein vergleichsweise langes Leben: Zehn Jahre nach der Transplanta tion sind noch zwischen 40 und 50 Prozent der Empfänger am Leben. Bekommt ein junger Patient ein passendes und vitales Organ, funktioniert dieses zuweilen sogar mehr als 25 Jahre. Bleibt dagegen eine Mini-Pumpe dauerhaft im Körper, statt lediglich die Zeit bis zu einer Transplantation zu überbrücken, ist die Überlebensspanne wesentlich knapper bemessen: Es geht um einige Jahre. Der geringere Gewinn an Lebenszeit liegt allerdings auch daran, dass die meisten dieser Patienten, die keine Aussicht auf ein Spenderherz haben, bereits recht alt sind. Fünf Jahre nach einem „auf Dauer“ angelegten Einbau eines LVAD lebt noch die Hälfte der Betroffenen. Einige wenige (WEITER AUF SEITE 121) Patienten hielten sogar zwölf bis 14 Jahre durch. Bei ihnen musste allerdings, wie Experten berichten, die Pumpe ausgewechselt werden. I N DEN SCHWEREN WOCHEN nach der großen Operation horcht Baals manchmal in sich hinein und erwartet, Dankbarkeit zu finden. Oder aber Wut, dass die Ärzte ihm so viel Schmerzen, so viel Schwäche zumuten. Doch da ist nichts. Er fühlt sich leer. Unermüdlich zieht sein LVAD Blut aus dem Loch, das Krabatsch in seine linke Herzkammer gestanzt hat. Bis zu 3000 Umdrehungen des Rotors in der Pumpe fördern sechs bis sieben Liter pro Minute ins Auslassrohr, drücken sie über Potapovs Gefäßprothese in die Aorta und den Kör per. Gleichmäßig wie Gießwasser aus einem Gartenschlauch strömt das Blut; kein Puls ist mehr zu spüren. Mit dem Stethoskop ist in Daniel Baals’ Brustkorb ein leicht auf- und abschwellendes Wellenrauschen zu hören: der monotone Pumpen-Blutstrom, zu dem immer dann eine kleine Menge ExtraBlut hinzukommt, wenn die schwache linke Herzkammer sich zusammenzieht. Sie könnte jetzt ganz schlappmachen – Baals würde weiteratmen, denken, sich bewegen, als wäre nichts geschehen. Immer 117 V O RSO RG E Wehret den Plaques! und Kinder alle zwei Jahre untersucht und befragt haben. So konnten Mediziner die Faktoren identifizieren, Herzkrankheiten entwickeln sich meist schleichend und unmerklich. Inzwischen können Ärzte frühzeitig erkennen, wie es um ein Herz steht. Und sie wissen, wie sich Infarkt und Schlaganfall am besten vorbeugen lassen den beim Vorsorgetermin vom Arzt abgefragt. Selbsttests im Internet, Text: Susanne Paulsen, Illustrationen: Illuteam43 (www.herzstiftung.de) anbietet, beruhen auf dem gleichen Prinzip. die dem Herzen zusetzen. Sie wer- wie sie etwa die Deutsche Herzstiftung In die Berechnung fließen ein: • Alter. Das Herzrisiko steigt mit den Jahren. Wie lässt sich das eigene Herz schützen? Wie vorsorgen, dass der Körpermotor nicht ins Stottern gerät? Eigentlich ist es Jahren mehr als halbiert. Medizinsta - ganz einfach: durch einen gesunden Lebensstil. Nicht rauchen, Übergewicht tistiker sind sicher: 50 bis 75 Prozent des Rückgangs sind auf gesundheits - vermeiden, sich regelmäßig bewegen bewussteres Verhalten zurückzuführen. und sich ausgewogen ernähren – wer diesen Empfehlungen folgt, kann sein Der Rest geht auf das Konto einer besseren medizinischen Versorgung. Dass die Strategie im Prinzip funktio Risiko einer koronaren Herzkrankheit, Aber wie lässt sich herausfinden, also von Engstellen oder Verschlüssen wie es um das eigene Herz aktuell steht? der Herzarterien, drastisch verringern. „Wissenschaftliche Studien be- Bevor sich ein Drücken oder Brennen im Brustkorb bemerkbar macht. legen, dass 75 Prozent der Herzinfarkte • Geschlecht. Frauen erkranken meist - erst in höherem Alter; im Durchschnitt etwa zehn Jahre später als Männer. niert, zeigt die Zahl der Todesfälle durch Herzinfarkt. Sie hat sich seit den 1980er Sterbefälle durch akuten Herzinfarkt je 100 000 Einwohner (altersstandardisiert, in Deutschland) 200 119 Denn wie es dem Herzen wirklich durch einen falschen Lebensstil oder durch unzureichende medikamentöse geht, lässt sich nicht unbedingt spüren. Grund dafür ist vor allem, dass die Therapie bedingt sind“, sagt Thomas weitaus meisten Herzerkrankungen Voigtländer, Kardiologe am BethanienKrankenhaus in Frankfurt am Main. unmerklich, über Jahre und Jahrzehnte hinweg entstehen – aufgrund einer 0 Gefäßverkalkung genannt. Dabei entwickeln sich „Plaques“ in den Arterien, verengen sie oder setzen sie 1000 Ernährung. • Herzerkrankungen bei Eltern und Geschwistern. Sie können auf Gene Der „Motor“ verliert seine Pumpkraft. Der Betroffene kann irgendwann nur noch mit einer Herzunterstützungs pumpe oder dank einer Herztransplan Wie hoch das Risiko ist, einen Herzinfarkt zu erleiden, lässt sich heute 260 immerhin annähernd genau berechnen. Ein Kunstherz kann Patienten mit einer fatalen Herzschwäche das Leben retten – bis womöglich ein Spenderorgan gefunden ist 2015 hindeuten, die einen Infarkt begünsti gen – etwa indem sie eine Fettstoff - tation überleben. 2010 Bewegungsmangel, allzu fettreiche - störungen oder einer schweren fortschreitenden Herzschwäche führen: 500 118 2015 Rauchen, starkes Übergewicht, langfristig zu ernsten Herzrhythmus 915 2006 2010 Blutdruck, erhöhter Cholesterin spiegel, eine Diabeteserkrankung, Als Folge kann ein Herzinfarkt 555 0 2005 56 • Herzschädliche Faktoren wie erhöhter sogar zu. 750 250 1998 69 Den Rückgang der tödlichen Herzinfarkte führen Ärzte zu mehr als 50 Prozent auf gesundheitsbewussteres Verhalten zurück Arteriosklerose, umgangssprachlich Implantierte Herzpumpen in Deutschland 85 100 Die Grundlage dafür haben große Beobachtungsstudien geliefert – etwa die Framingham-Herzstudie, in der US-amerikanische Wissenschaftler seit 1948 mehr als 15 000 Männer, Frauen - - wechselkrankheit entstehen lassen. Besonders kritisch: Ein Herzleiden tritt bei nahen Verwandten im Alter von unter 60 Jahren auf. Aus diesen Informationen wird die Wahrscheinlichkeit bestimmt, binnen der nächsten zehn Jahre an einem Herzinfarkt oder einem anderen Gefäßleiden wie etwa einem Schlag - anfall zu sterben. GEO 03 2017 Die Chance dafür beträgt weniger leichter verklumpt. Sie wirken auch auf als ein Prozent, wenn der Test ein „niedriges Risiko“ anzeigt. Das heißt: das vegetative Nervensystem, das Anspannung und Entspannung (und Weniger als einer von 100 Menschen damit die Herzfrequenz) regelt. wird durch eine Herz Kreislauf Erkran kung zu Tode kommen. Ein „sehr hohes“ Aber wie lässt sich ermessen, ob man in gefährlichem Maße „unter Strom“ Risiko überschreitet zehn Prozent. steht? „Manche Menschen haben ein Sterbefälle durch Krankheiten des Kreislaufsystems je 100 000 Einwohner (altersstandardisiert, in Deutschland) 700 gutes Gespür für sich selbst“, sagt Chris toph Herrmann lichen Risikofaktoren wirkt sich psychische Belastung auf das Herz aus. Sie lässt sich schwieriger loge am Universitätsklinikum Göttingen. 656 600 „Sie versuchen, Stress zu reduzieren, wenn sie etwa einen verspannten Nacken haben, schlecht schlafen und konsum. Deshalb bleibt sie bei Herz krankheit Risikoberechnungen oft unberücksichtigt oder fließt eher 512 500 im Alltag merken, dass ihre innere negative Reaktion häufig stärker ist als der äußere Anlass.“ pauschal ein („Arbeiten Sie dauernd 439 397 400 Vielen sei jedoch ihr eigener unter Zeitdruck oder Stress?“). Studien haben indes ergeben, dass vor allem Depressionen, übermäßi ger Stress und das sogenannte Typ A Verhalten (konkurrenzbetont, feindselig, Stresslevel völlig unklar. Ihnen helfen Psychokardiologen zuweilen mit Messgeräten auf die Sprünge: Sie hän gen ihre Patienten zum Beispiel ans 24 Stunden EKG und lassen sie die reizbar) das Herz angreifen können. Ereignisse des betreffenden Tages auf Zum Teil geschieht dies indirekt: Die schreiben. So zeigt sich, bei welchen Betroffenen rauchen vermehrt und bewegen sich selten. Sie ernähren sich Aktivitäten oder Gefühlen der Puls sich übermäßig beschleunigt. 300 1998 2005 2010 Die jährliche Zahl der an Herz Kreislauf Krankheiten Gestorbenen sinkt. Dennoch sind diese Leiden Todesursache Nummer eins rotische Veränderungen vorhanden bzw. wie weit sie fortgeschritten sind. frequenz Variabilität (HRV). Sie verrät, ob das Herz flexibel schlägt. Oder ob Aber zur Massenprävention eignen sie sich nicht. Aufgrund der Kosten es – was ein Indikator für eine stressbe dingte Überlastung sein kann – gleich förmig pocht, als sei es eine Maschine. oder möglicher Strahlenbelastung Faktoren den Körper direkt. Sie beeinflussen etwa den Hormonhaushalt, sodass das Blut „klebriger“ wird und Der Effekt zeigt sich allerdings nicht ptome aufweisen. Dabei sind „Kardio bei jedem. CTs, also die Computertomografen speziell für das Herz, in jüngster Zeit Wissenschaftler haben intensiv nach weiteren Möglichkeiten gesucht, das Herzrisiko präziser als bisher zu beziffern. Sie haben deutlich leistungsfähiger geworden“, die Vorhersagekraft bestimmter Gene getestet, haben Biomarker im Blut stellen auch die Gefäßwand dar, in der sich Plaques bilden.“ (etwa gegen Bluthochdruck) nicht regelmäßig ein. Zusätzlich schädigen psychische Herztransplantationen in Deutschland 557 562 500 untersucht: vom „C 412 400 300 286 200 100 0 1981 1991 1997 2006 Ärzte transplantieren weniger Herzen: weil es an Spenderorganen mangelt, aber auch wegen des Einsatzes von Herzpumpen GEO 03 2017 2015 reaktiven Protein“ kommen die Verfahren vor allem für sagt Thomas Voigtländer. „Sie bilden nicht nur das Gefäßinnere ab wie eine Herzkatheteruntersuchung, sondern Inzwischen hat sich gezeigt, dass CRP (zeigt Entzündungen an) über die neuen Herz nung) bis hin zu Homocystein (schädigt Patienten mit unbestimmten Beschwer den im Brustbereich helfen können, CTs besonders bei die Gefäßinnenwand). besser als bisher über die Therapie zu Das Fazit aus Tausenden von Studien ist bislang allerdings ernüch entscheiden. Ist es möglich, weitge hend oder sogar ganz auf Medikamente ternd: Keiner der neuen Ansätze liefert zu verzichten? Oder muss intensiv deutlich bessere Ergebnisse als das klassische Abfrageverfahren. therapiert werden, um einem Infarkt vorzubeugen? Dazu, den Zustand des Herzens sichtbar zu machen, bieten sich auch Verfahren der medizinischen Bildge Quellen: Statistisches Bundesamt, Eurotransplant, DGTHG ungesund und nehmen Medikamente 600 2015 „Der beste Weg ist aber“, sagt Voigtländer, „es gar nicht so weit kom men zu lassen.“ 119 ZU RÜ CK AUS DER N A R KOSE Langsam kommt Daniel Baals nach der Operation wieder zu sich. Derweil pumpt sein metallenes Herz mit bis zu 3000 Umdrehungen pro Minute das Blut durch den Körper 120 DAS VOR DR INGLICHE ZIEL: PFUNDE VERLIEREN Fünf Monate nach der Operation beginnt Daniel Baals im Reha-Zentrum zu trainieren. Er weiß: Nur wenn er drastisch abnimmt, hat er eine Chance, vielleicht doch noch ein Spenderherz zu erhalten per Bauchkabel ans Stromnetz angeschlossen. Oder mit der schwarzen Tasche verbunden, in der sich die Steuereinheit und Akkus für die Pumpe befinden. Schwach, hilfsbedürftig, verwirrt. Ihm verschwimmen die Tage. Ein Ereignis aus der Zeit direkt nach der Ope ration aber steht ihm überdeutlich im Gedächtnis – Krabatsch an seinem Bett, der ihn ansieht und sagt: „Es war wirklich höchste Zeit für Ihr Herz.“ Denkt Baals an diesen Satz, erscheint ihm der triste Krankenhausalltag licht. N erholt er sich. Er übt sitzen und aufstehen. Empfindet er sich nun als Cyborg? Als futuristisches Mensch-Maschine-Mischwesen? Manche LVAD-Träger bezeichnen sich so. Nein, sagt Baals. Für ihn sei die Pumpe schlicht Hilfsmittel, Titan hoffentlich zuverlässiger als sein Muskelfleisch, er nach wie vor nur Mensch. Allerdings einer, dem die Situation zunehmend über den Kopf wachse. Die tapfer verdrängten Gefühle des Schwerkranken, um dessen Leben gekämpft wird – Ausgeliefertsein, Todesangst –, haben sich vor einigen Tagen in einer Halluzination Bahn gebrochen. Baals weiß, dass sie ein Trugbild war. Aber die Erinnerung erscheint unglaublich real. UR LANGSAM GEO 03 2017 Man habe ihn gewaltsam aus dem Kran kenbett in den Rumpf eines weißen, schäbigen Schiffs transportiert. Ganz nach unten. Ihn dort heimlich mit einer dop pelten Medikamentendosis betäubt, ihm viel Geld gestohlen und vor allem eine schwarze, private Tasche. „Sie ist weg“, flüstert er. Er wird lauter, wirkt verzweifelt und wütend, ein Mensch am Akku, der noch immer keinen Schritt ohne Rollator gehen kann. „Wenn ich den Kutter erwische mit den Leuten, den zer leg ich ...“ Schön wäre es, von wiedergewonnener sprudelnder Lebenskraft zu berichten. Von der durch das Kunstherz eröffneten Aussicht auf eine lange, eindeutig frohe zusätzliche Zeit. Es gibt solche Fälle. Einzelne in Berlin operierte Pumpenträger sind einen Drittelmarathon gewalkt, im Tandem Fall schirm gesprungen, in den kambodschanischen Regenwald gereist. Andere fühlen sich zwei, drei Monate nach der Opera tion immerhin relativ fit; sie müssen das Krankenhaus nur noch zu den vierteljährlichen Kontrolluntersuchungen aufsuchen. Einige, denen es derart gut geht, beginnen wieder zu arbeiten, zumindest halbtags. Dabei wird von bestimmten Berufen abgeraten, zum Beispiel dem des Erziehers: Die Kinder könnten versehentlich am le - benserhaltenden Kabel ziehen. Bürojobs aber lassen sich auch mit LVAD in der Brust erledigen. In seltenen Fällen erholt sich ein durch die Pumpe entlastetes Organ. Dann entfernen die Ärzte das LVAD eventuell nach Monaten oder Jahren; das Herz hält den Kreislauf dann wieder aus eigener Kraft aufrecht. S O R U N D U M positiv verläuft Baals’ Geschichte jedoch nicht. Zwar spürt er, dass die Pumpe ihn unterstützt und stärkt, seine Atemnot etwa hat abgenom men – doch er kämpft mit Komplikationen, wie viele andere LVAD-Patienten auch. Im Oktober 2015 steht er eine der gefürchteten Pumpeninfektionen durch: Bakterien steigen entlang des Kabels auf und besiedeln das Kunstherz. Das Fieber steigt bedrohlich. Ein „Horror“ für Baals. Er sieht die Chance schwinden, sich kräftig Pfunde abzutrainieren, damit auf ein Spenderherz und ein weit längeres Leben hinzuarbeiten. Das ist nur schwer zu ertragen. Wie schwer, gesteht er sich nicht ein. Doch als die Ärzte seinem 63-jährigen Zimmer nachbarn im Krankenhaus eröffnen, dass er wegen seines Alters und seines Gesundheitszustandes nicht zur Transplantation gelistet werden wird – und folglich mit seinem LVAD leben und sterben muss –, 121 EXISTENZ AM DRAHT Die Umhängetasche mit dem Steuergerät der Mini-Pumpe und den Akkus ist stets dabei. Seit die Technik besser geworden ist, erwägen Ärzte, auch weniger kranken Patienten das Kunstherz einzupflanzen CHOLESTERINSENKER Wer soll sie schlucken? Derzeit ist eine hitzige Debatte über Statine entbrannt, eine Gruppe von Medikamenten, die den Spiegel des sogenannten LDL-Cholesterins im Blut senken und wahrscheinlich auch entzündungshemmend wirken: So schützen sie vor Herzinfarkten und Schlaganfällen. Seit Jahrzehnten schon argu mentieren einzelne Mediziner mit Schlagworten wie „Cholesterin-Lüge“ gegen jede Therapie mit Cholesterin senkern. Sie verunsichern Betroffene beträchtlich – vertreten jedoch eine Außenseitermeinung. Nicht einmal pharmakritische Ärzte teilen diese radikale Ablehnung. Der aktuelle Streit dreht sich vielmehr um die Abwägung von Nutzen und Risiko: Welche Patienten profi tieren so stark von den Statinen, dass es sinnvoll erscheint, die Nebenwir kungen in Kauf zu nehmen? Immerhin können die Präparate Muskelschmerzen und Müdigkeit verursachen. Darüber hinaus auch Diabetes auslösen. Oder die Muskeln lebensgefährlich schädigen, falls sie 122 bei sehr starken Schmerzen nicht abgesetzt werden. Selten verursachen sie Gehirnblutungen, die Schlaganfälle auslösen . Deren Zahl liegt jedoch deutlich niedriger als die Zahl der Schlaganfälle, die Statine verhüten. Medizinische Fachgesellschaften in den USA verfolgen einen radikalen Pro-Statin-Kurs. Sie empfehlen eine Dauertherapie unter anderem für jeden über 40-Jährigen, dessen Zehnjahresrisiko für eine Komplikation des Herz-Kreislauf-Systems über Würden die Richtlinien vollständig umgesetzt, müsste nahezu die Hälfte der 40- bis 75-jährigen US-Amerikaner Cholesterinsenker schlucken. Diese Medikation nach dem „Gießkannenprinzip“ auch weil die meisten Autoren der Leitlinien Verbindungen zur Pharma industrie haben. Europäische Ärzte verordnen Cholesterinsenker generell vorsichtiger. In Deutschland etwa werden Statine ab einem Zehnjahres-Herzinfarktrisiko von über 20 Prozent empfohlen. Doch auch hierzulande wird diskutiert, ob die Pharmaindustrie – die an vielen klinischen Studien beteiligt ist – deren Schutzwirkung allzu positiv dargestellt und Nebenwirkungen nicht sorgfältig genug registriert hat. Gut möglich, dass Mediziner die Medikamente nach einer Neubewertung noch zurückhal tender verordnen werden. Derweil bleibt Betroffenen nur, was die Leitlinien ohnehin vorsehen: gemeinsam mit ihrem Arzt eine für sie passende Entscheidung zu treffen. Bei Patienten, die bislang keine Herz-Kreislauf-Komplikationen erlitten haben, sollte dabei zunächst geklärt werden, ob sie sich durch Rauchstopp, Blutdruckkontrolle, Ernährungs umstellung und Bewegung genügend schützen können. In ihre Entscheidung pro oder kontra Cholesterinsenker darf auch einfließen, ob sie eine jahrelange vorbeugende Tabletteneinnahme für sich persönlich gutheißen. Bei Patienten, die bereits einen Herzinfarkt hatten, sind sich Experten dagegen einig: Ihnen ist eine StatinTherapie durchweg zu empfehlen. GEO 03 2017 MOMENTE DES AUFATMENS In der Reha genießt es Daniel Baals, endlich aus dem Krankenhaus heraus zu sein. Seine Entlassung hatte sich immer wieder verzögert: Mehrfach musste er eine der gefürchteten Pumpeninfektionen durchstehen hat er das Gefühl, den Älteren um jeden Preis verteidigen zu müssen. Er rastet aus. „Wer sind Sie denn, dass Sie über Leben und Tod entscheiden?“, schreit er die Mediziner an. Die verlassen schweigend den Raum; statt ihrer kommen Psychologen. Irgendwann akzeptiert Baals die angebotenen Beruhigungstabletten; sprechen will er über die Angelegenheit nicht. Abends weint der Zimmernachbar, der psychologische Betreuung ebenfalls abgelehnt hat; Baals versucht zu trösten. D I E M O N A T E V E R G E H E N . Baals arrangiert sich mit seiner Situation, spürt ein wenig mehr Lebenskraft. Nur im Krankenhaus mag er nicht mehr sein. „Wenn sie mich nicht wenigstens Weihnachten für einen Tag nach Hause lassen“, sagt er entschlossen im Dezember, „dann packe ich zwei Akkus und einen Ladestecker ein und türme.“ Er wird beurlaubt, obwohl sein Gesundheitszustand schlecht ist. Darf zum ersten Mal nach der Operation einige Stunden im privaten Umfeld verbringen, erlebt Glanzstunden auf dem Sofa mit Mutter, Geschwistern, Nichten, Neffen. Im Februar 2016 – er hat eine weitere schwere Pumpeninfektion hinter sich – schafft er es endlich in das Reha-Zentrum GEO 03 2017 Berlin-Seehof. Dort tritt er das Ergometer, übt Treppensteigen, lässt sich in gesunder Ernährung und Kabelhygiene schulen. Nach drei Wochen zieht er wieder zu seiner Mutter, erleidet weitere drei Wochen später auf dem Weg zum Supermarkt einen Schlaganfall, stürzt ins Gebüsch, wird gefunden und behandelt, kommt mit ge ringen Schäden davon. Schlaganfälle werden oft durch Blutgerinnsel ausgelöst, die zum Gehirn geschwemmt werden und sich dort festsetzen. Am LVAD – wo das Blut über kantiges Metall strömt – bilden sich solche gefährlichen Gerinnsel besonders leicht. Ärzte und Techniker arbeiten daran, diese Gefahr durch die Konstruktion der Pumpen und durch Medikamente möglichst klein zu halten. Dennoch kann die absurde Situation entstehen, dass ein Kunstherz zunächst die Muskelkraft stärkt, vielleicht sogar einen angegriffenen Geist aufblühen lässt, da das Gehirn wieder besser durchblutet wird – und dann die zurückgewonnenen Fähig keiten durch Schlaganfälle wieder zerstört. Baals’ Schlaganfall ist glimpflich ver laufen. Aber jetzt noch die Selbstoptimierung starten? Trainieren und fasten? Auf eine Herzspende hoffen, bei der geringen Chance, die so etwas hat, mit Aussicht auf eine weitere große Operation? Er hat all das aufgegeben. Traut es sich einfach nicht zu. „Vorm Sterben habe ich keine Angst mehr“, sagt er, „nach allem, was ich durchgemacht habe.“ Wie so manche andere Medizintech nik auch, führt die Herzpumpe die Patien ten auf einen schmalen Grat. Sie gewährt Lebensmonate, -jahre, zugleich beschwert sie die gewonnene Zeit, frisst Lebensenergie. Aber für den, der vor der Entscheidung für oder gegen die Operation steht, bleibt immer die Hoffnung, dass er selbst zu denen gehört, die von dem kleinen Gerät profitieren. Im August 2016 feiert Daniel Baals seinen 39. Geburtstag. „Geschafft“, denkt er morgens beim Aufwachen. Sein Plan ist jetzt: einfach leben. Oft mit Groll, sicher. Gegen die Krankheit, die Ärzte, die Welt. Manchmal jedoch, minutenweise, schiebt sich etwas wie Licht zwischen seine dunklen Gedanken: Das sei, sagt er, wohl schlicht Dankbarkeit – für sein fragiles, gerettetes Dasein. Die Autorin S U S A N N E P A U L S E N und der Fotograf GORDON WELTERS waren beide schwer beeindruckt von der ruhigen Routine des Operationsteams, auch in heiklen Momenten. 123