2 EPIDEMIOLOGIE UND PANDEMIEPLANUNG

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Epidemiologie und Pandemieplanung, B. Jansen
2
EPIDEMIOLOGIE UND PANDEMIEPLANUNG
2.1
Einleitung
2.2
2.2.1
2.2.2
2.2.3
Pandemien durch Influenzaviren
Geschichtlicher Überblick über Influenzapandemien
Die Pandemie von 1918 bis 1919
Weitere Pandemien im 20. Jahrhundert
2.3
2.3.1
2.3.2
2.3.3
Die aktuelle H1N1-Pandemie
Chronologischer Verlauf
Infektionen durch Schweineinfluenzaviren
Epidemiologische
Besonderheiten
des
A/H1N1/2009
2.4
2.4.1
2.4.2
Pandemieplanung
Entwicklung von internationalen und nationalen Pandemieplänen
Wesentliche Elemente des nationalen Pandemieplans
2.5
Ausblick
2.6
Literatur
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
neuen
Influenzavirus
Epidemiologie und Pandemieplanung, B. Jansen
2.1
Einleitung
Im April 2009 wurden erstmals Fälle von akuten respiratorischen Erkrankungen in
Mexiko bekannt, bei denen ein zu diesem Zeitpunkt nicht klassifizierbares und bis
dahin nicht bekanntes Influenza-A-Virus nachgewiesen wurde, das sich später als
Influenzavirus mit genomischen Anteilen von Schweine-, Vogel- und menschlichen
Influenzaviren (triple reassortant) herausstellte [1]. Am 15. sowie am 17. April 2009
wurden in Kalifornien (USA) zwei epidemiologisch nicht zusammenhängende
Influenzafälle mit diesem neuen Virus entdeckt. Ende April traten auch in Europa
und Deutschland Fälle auf. Aufgrund dieser Entwicklung erklärte die WHO am
29. April 2009, dass die zweithöchste Pandemiestufe 5 erreicht sei. Mit weiter
zunehmenden Fallzahlen und dem Auftreten von autochthonen Erkrankungen mit
dem neuen Virus in mehreren WHO-Regionen rief die WHO schließlich am
11. Juni 2009 die höchste Pandemiestufe 6 aus.
Mittlerweile (Stand 27.9.2009) hat sich das Influenzavirus A/H1N1/2009 in
191 Ländern verbreitet, mit über 340.000 laborbestätigten Erkrankungsfällen und
4248 Todesfällen [2]. In Deutschland sind dem Robert-Koch-Institut mit Datenstand
vom 30.9.2009 insgesamt 21.129 Fälle übermittelt worden, mit starkem Anstieg der
autochthonen Fälle; ein Todesfall steht in Zusammenhang mit der neuen Influenza [3].
Die meisten Erkrankungen, auch in Deutschland, verlaufen zurzeit nach wie vor
milde. Schwere Verläufe mit z. T. letalen Ausgängen werden v. a. bei
Risikogruppen (z. B. chronische Grunderkrankungen, Adipositas, Schwangerschaft, Kinder<2 Jahre) und in der Altersgruppe von 20–50 Jahren vermehrt
festgestellt. In der südlichen Hemisphäre, in der gerade die Wintersaison zu Ende
gegangen ist, hat das Influenzavirus A/H1N1/2009 bereits die zirkulierenden
saisonalen Grippeviren verdrängt [4]. Um zu verstehen, welche Entwicklung dieses
Virus in der bevorstehenden Grippesaison in der nördlichen Hemisphäre nehmen
kann, soll zunächst ein (auch historischer) Rückblick auf zurückliegende
Pandemien durch Influenzaviren erfolgen.
2.2
Pandemien durch Influenzaviren
Die Influenzaviren werden in 3 serologisch unterschiedliche Subtypen (A, B und C)
entsprechend der verschiedenen antigenetischen Struktur des Nukleoproteins und
der Matrixproteine unterteilt. Influenzavirustypen B und C sind humanspezifisch,
wohingegen Influenza-A-Viren ihr endemisches Reservoir in Wasservögeln wie
Enten, Gänsen und Seevögeln haben, die gewöhnlich an der Infektion nicht
symptomatisch erkranken. Bei den Influenza-A-Viren werden 16 verschiedene
Hämagglutinine (H1–H16) und 9 verschiedene Neuraminidasetypen (N1–N9)
unterschieden, die theoretisch zu 16x9=144 serologischen Subtypen führen. Bisher
sind 105 Influenza-A-Virus-Subtypen bekannt, die alle in Wasservögeln endemisch
sind. Außer in ihrem Hauptreservoir (Wasservögel), kommen Influenza-A-Viren
aber auch beim Menschen und anderen Säugetieren (v. a. bei Schweinen, aber
auch bei Pferden, Nerzen, Robben und Walen) vor. Eine besondere Eigenschaft
der Influenzaviren ist ihre Fähigkeit, einzelne Abschnitte ihres Genoms
auszutauschen, wobei sie die Wirtsspezies überschreiten können. Dieser
Austausch von einzelnen Genomsegmenten wird als antigenic shift bezeichnet.
Voraussetzung hierfür ist, dass Virusstämme mit verschiedenen H- und NSubtypen gleichzeitig in einem Organismus in denselben Zellen vorliegen. Am
Ende des Replikationszyklus können dann aus 2 unterschiedlichen Viren (z. B.
Schwein und Mensch) Virusreassortanten entstehen, die ein Gemisch der
verschiedenen Genomsegmente enthalten und somit neue Eigenschaften besitzen
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können. Dieses Phänomen des Reassortment wird als ein wesentlicher
Mechanismus zur Entstehung von Pandemien angesehen.
Eine Influenzapandemie ist die weltweite Verbreitung eines bestimmten
Influenzavirus mit nachfolgender Infektion großer Anteile der menschlichen
Bevölkerung. Das Ausmaß einer Pandemie hängt u. a. von der Virulenz des Virus,
der Immunitätslage in der Bevölkerung sowie dem Vorhandensein von kreuzprotektiven Antikörpern, die durch saisonale oder frühere pandemische Influenzainfektionen zustande kommen, ab. Die bisher bekannten Influenzapandemien sind
durch 3 Influenza-A-Subtypen zustande gekommen: H1N1, H2N2 sowie H3N2.
2.2.1
Geschichtlicher Überblick über Influenzapandemien [5–11]
Erste Berichte über mögliche Influenzaerkrankungen werden in frühen
griechischen Schriften etwa 400 v. Chr. überliefert. Die erste Influenzapandemie
ereignete sich wahrscheinlich um 1580. Sie hatte ihren Ursprung in Asien,
erreichte dann Afrika und später Europa über Kleinasien bzw. Nordwest-Afrika.
Innerhalb von 6 Monaten wurden weite Teile der europäischen Bevölkerung mit
Influenzaviren infiziert. Die Infektion sprang dann nach Amerika über. Eine weitere
Influenzapandemie (1729) hatte ihren Ursprung in Russland im Frühjahr und
erreichte dann Europa, wo die Epidemie 6 Monate andauerte. Später manifestierte
sie sich weltweit über eine Dreijahresperiode mit hohen Todesraten.
Die nächste Pandemie ereignete sich nach einer Zeitspanne von 40 Jahren,
zwischen 1781 und 1782. Es wird angenommen, dass die Pandemie im Herbst in
China ihren Ursprung nahm und sich dann weiter nach Russland, Europa und
Nordamerika ausbreitete. Besonders junge Erwachsene waren anfällig für die
Erkrankung: Auf der Höhe der Pandemie wurden z. B. in St. Petersburg
30.000 Neuerkrankungen pro Tag beobachtet. Zwei Drittel der Bevölkerung von
Rom soll an der Influenza erkrankt gewesen sein. Wiederum etwa 50 Jahre später
ereignete sich eine Pandemie, die im Winter 1830 von China ausging und
zunächst die Philippinen, Indien und Indonesien erreichte, bevor sie dann über
Russland Europa erreichte. In den Jahren 1831 und 1832 sprang die Pandemie
auf Nordamerika über und kehrte 1832 bis 1833 nach Europa zurück. Auch
während dieser Pandemie erkrankten 20–25 % der Bevölkerung. Eine weitere
Pandemie im 19. Jahrhundert ereignete sich von 1889 bis 1891.
2.2.2
Die Pandemie von 1918 bis 1919
Die Influenzapandemie von 1918 („Spanische Grippe“) war eines der
dramatischsten Ereignisse in der Medizingeschichte. Der Ursprung dieser
Pandemie ist bis heute nicht genau bekannt. China wird als mögliches
Ursprungsland angesehen, allerdings wurden zeitgleich auch erste Ausbrüche mit
Influenzaviren in Nordamerika beobachtet. Es wird geschätzt, dass nahezu 30 %
der Weltbevölkerung (rund 500 Millionen Menschen) während der Pandemie an
Grippe erkrankten. Die Sterblichkeitsraten unter den manifest klinisch Erkrankten
lagen z. T. über 2,5 %, und die Gesamtzahl der Todesfälle wird mit mindestens
20–50 Millionen angegeben. Einige Autoren gehen sogar von noch höheren
Zahlen bis hin zu 100 Millionen Toten aus. Die Influenzapandemie von 1918 bis
1919 trat in Form von 3 zeitlich unterschiedlichen Influenzawellen auf. Die erste
Welle, die von März bis Juli 1918 auftrat, verlief relativ milde, und es wurden keine
– im Vergleich zu vergangenen Epidemien – ungewöhnlich hohen
Sterblichkeitsraten festgestellt. Die zweite Welle von September bis
November 1918 hingegen wies eine 10-fach erhöhte Sterblichkeitsrate bei den
Erkrankten auf. Es wird geschätzt, dass etwa 675.000 Amerikaner dieser zweiten
Welle zum Opfer fielen. Eine dritte Influenzawelle trat schließlich 1919/1920 auf.
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
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Neben Nordamerika und Europa waren auch Australien, Indien und andere
asiatische Länder stark betroffen.
In Deutschland erreichte die Grippepandemie im Oktober 1918 einen Höhepunkt.
Wahrscheinlich erkrankten rund 10 Millionen Menschen an der Grippe, also etwa
15 % der Bevölkerung. Im statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich sind für
das Jahr 1918 insgesamt 186 Grippetote verzeichnet.
Die meisten Todesopfer der Grippepandemie starben vermutlich an einer
sekundären bakteriellen Pneumonie. Ein Teil verstarb allerdings auch innerhalb
kurzer Zeit an massiven Lungenblutungen oder Lungenödemen, was auf das Vorliegen einer primären Viruspneumonie schließen lässt. Ein weiteres Charakteristikum der Pandemie von 1918 war, dass vor allen Dingen die Gruppe der jungen
Erwachsenen (20–40 Jahre) betroffen waren. Es wird angenommen, dass etwa
50 % aller Todesfälle in der Altersgruppe zwischen 20 und 40 Jahren auftraten.
Bemerkenswert ist weiterhin, dass 1918 erstmals Influenzainfektionen beim
Menschen und bei Schweinen beobachtet wurden. Nach 1918 breitete sich die
Influenza in Schweineherden im mittleren Westen der USA weiter aus. Das erste
Influenza-A-Virus, das im Labor isoliert werden konnte, war ebenfalls ein
Schweineinfluenzavirus (A/swine/Iowa/30). Die erste Isolierung eines menschlichen Influenzavirus (A/ws/33) gelang erst 3 Jahre später.
Molekularbiologische Untersuchungen der letzten Jahre [8] haben ergeben, dass
das für die Pandemie von 1918 verantwortliche Influenzavirus höchstwahrscheinlich seinen Ursprung in Vögeln hatte und dass dieser aviäre
Vorläuferstamm vor 1918 nicht in größerem Umfang in menschlicher oder
Schweinepopulation zirkulierte. Weiter wird angenommen, dass wahrscheinlich 2
unterschiedliche H1N1-Influenzavirusstämme mit deutlich unterschiedlichen
Rezeptorbindungseigenschaften in 1918 zirkulierten. Dies ist eine mögliche
Erklärung für den unterschiedlichen klinischen Verlauf der ersten bzw. der zweiten
und dritten Welle.
2.2.3
Weitere Pandemien im 20. Jahrhundert
Die „Asiatische Grippe“ von 1957 bis 1958 nahm ihren Ursprung in der Provinz
Junang in China. Während einer zeitlichen Periode von 6 Monaten breitete sich die
Pandemie weltweit aus. In Nordamerika und Europa erreichte sie im Oktober 1957
ihren Höhepunkt. Eine zweite Welle wurde 1958 in unterschiedlichen Regionen
Europas, Nordamerikas, der ehemaligen UDSSR und Japan beobachtet.
Insgesamt waren 40–50 % der Bevölkerung von der Pandemie betroffen, 25–30 %
erkrankten manifest. Todesfälle ereigneten sich überwiegend auf Grund
sekundärer bakterieller Pneumonien. Die Sterblichkeitsrate wurde auf etwa 1:4.000
beziffert. Im Gegensatz zur Pandemie von 1918 wurden Todesfälle überwiegend
bei sehr jungen und sehr alten Patienten beobachtet. Weltweit wird von einer
Gesamtzahl von mindestens 1 Million Todesfälle (Schätzungen reichen bis zu
4 Millionen) ausgegangen. Im Gegensatz zu dem H1N1-Influenzavirus, das die
Pandemie von 1918 auslöste und bei dem es sich um ein neues Virus aviären
Ursprungs handelte, das vorher nicht in größerem Umfang in der Bevölkerung
zirkulierte, wurde die „Asiatische Grippe“ durch ein H2N2-Influenza-A-Virus
hervorgerufen, das durch genetisches Reassortment entstand. Mit dem Auftreten
des neuen H2N2-Pandemievirus verschwand interessanter Weise H1N1 für etwa
20 Jahre von der Bildfläche.
Eine weitere Pandemie ereignete sich in den Jahren 1968/69 („Hongkong-Grippe“).
In den USA wurde der Höhepunkt dieser Grippe im Dezember 1968 und Januar
1969 festgestellt, mit einer Anzahl von knapp 100.000 Todesfällen, die auf diese
Grippeinfektionen zurückzuführen waren. Weltweit wird von einer Anzahl von etwa
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1 Million Todesfällen durch die „Hongkong-Grippe“ ausgegangen. Der Erreger
dieser Pandemie war ein Influenzavirus A/H3N2, das mit dieser Pandemie das
A/H2N2-Virus ablöste, welches bis heute nicht wieder aufgetreten ist. Im
Gegensatz dazu trat das H1N1-Virus im Jahr 1977 in Russland wieder auf und
führte zu einer schweren Epidemie. Seit diesem Jahr werden die weltweiten
saisonalen Grippeepidemien sowohl durch H3N2 wie auch durch H1N1 sowie zu
einem kleineren Anteil durch Influenza B hervorgerufen.
2.3
Die aktuelle H1N1-Pandemie
2.3.1
Chronologischer Verlauf
Mitte Februar 2009 begann ein Ausbruch respiratorischer grippeähnlicher
Erkrankungen (ILI: influenza-like-illness) in der kleinen Stadt La Gloria in der
mexikanischen Provinz Veracruz, bei dem 616 Personen von einer Gesamtpopulation von 1575 betroffen waren [12]. Insgesamt 61 % der Erkrankten waren
jünger als 15 Jahre. In einem Fall konnte die Infektion dem neuen Influenzavirus
A/H1N1/2009 zugeschrieben werden. Obwohl wahrscheinlich auch andere
saisonale Grippeviren zirkulierten, wird angenommen, dass es sich in der Mehrzahl
der dort aufgetretenen Fälle um Infektionen mit dem neuen Virus handelte. Anfang
April informierten die Gesundheitsbehörden aus Mexiko die Pan American Health
Organisation (PAHO) über einen möglichen Ausbruch.
Am 28. März 2009 traten bei einem 9-jährigen Mädchen in Imperial County,
Kalifornien, Fieber und Husten auf. Zwei Tage später wurde sie in einer Klinik
vorstellig, die an einem Projekt zur Influenza-Surveillance (Überwachung)
teilnahm. Im nasopharyngealen Abstrich der Patientin wurde ein nicht
klassifizierbares Influenza-A-Virus detektiert. Am 30. März 2009 erkrankte ein 10jähriger Junge mit bekanntem Asthma in der Vorgeschichte in San Diego County,
Kalifornien, mit Husten, Fieber und Erbrechen. Er wurde 1 Woche über eine
Notfallklinik behandelt und erholte sich anschließend vollständig. Im Rahmen der
Evaluation eines diagnostischen Tests wurde auch ihm ein nasopharyngealer
Abstrich entnommen und ebenfalls ein zu diesem Zeitpunkt nicht klassifizierbares
Influenza-A-Virus nachgewiesen.
Die Isolate beider Patienten wurden am 15. bzw. 17. April 2009 zum amerikanischen Centers for Disease Control (CDC) geschickt, das in beiden Fällen
einen neuen Typ von Influenzavirus A/H1N1/2009 identifizieren konnte, der Gensegmente aus bekannten Triple-Reassortant-Viren enthält, die in nordamerikanischen Schweinen zirkulieren, darüber hinaus aber auch 2 Gensegmente wie
sie bei eurasischen Schweinen vorkommen. Ein derartiges Virus war bis zu diesem
Zeitpunkt nicht nachgewiesen worden. Ein epidemiologischer Zusammenhang
zwischen den beiden Patienten konnte nicht hergestellt werden, ebenso wenig
bestand ein Kontakt der Patienten zu Schweinen. Beide Fälle wurden der WHO am
17. April 2009 gemeldet.
Am 21. April informierte das CDC die Ärzteschaft über die Virusvariante und gab
am 23. April die erste Pressemitteilung heraus. Am gleichen Tag wurden in
Kanada erste Fälle der neuen Influenza bekannt. Ebenfalls am 23. April wurden in
Mexiko Fälle schwerer respiratorischer Erkrankungen im Labor als Infektionen mit
dem neuen Influenzavirus A/H1N1/2009 identifiziert. Die WHO gab erstmals am
24. April eine entsprechende Mitteilung heraus. Am 27. April wurden erste Fälle in
Spanien und Großbritannien erkannt, woraufhin die WHO die Pandemiestufe von 3
auf 4 erhöhte. Neue Fälle wurden am 28. April aus Neuseeland und Israel gemeldet, alle bei Mexiko-Rückkehrern. Einen Tag später traten erste Fälle in
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Deutschland auf; die WHO erhöhte abermals die Pandemiestufe von 4 auf 5. Der
erste Todesfall durch die neue Influenza außerhalb Mexikos trat in Texas auf. Im
Mai breitete sich die Erkrankung weltweit weiter aus und am 11. Juni waren rund
30.000 Infektionen in 74 Ländern registriert, wobei die Anzahl der Todesfälle bei
über 140 lag. Am selben Tag wurde von der WHO die höchste Pandemiestufe 6
ausgerufen.
2.3.2
Infektionen durch Schweineinfluenzaviren [13–18]
Wie bereits im Abschnitt über vergangene Pandemien (2.2) dargelegt, wurde die
Influenza bei Schweinen erstmals 1918 beschrieben, und der erste
Influenzavirusstamm, der im Labor isoliert werden konnte, war ein H1N1-Subtyp
derselben Linie wie das Pandemievirus von 1918. Dieses sog. „klassische“
Schweineinfluenzavirus H1N1 zirkulierte fortan als vorherrschendes Influenzavirus
in der nordamerikanischen Schweinepopulation bis zum Jahre 1998, in welchem
2 unterschiedliche H3N2-Influenzaviren von Schweinen, die an einer schweren
grippeähnlichen Erkrankung (ILI) litten, isoliert wurden. Dabei handelte es sich um
eine Doppel- und um eine Tripel-Reassortante. Die Tripel-Reassortante enthielt
3 Gensegmente,
die
von
menschlichen
Influenzaviren
abstammten,
3 Gensegmente, die vom klassischen Schweineinfluenzavirus herrührten sowie
2 Gensegmente eines aviären Influenzavirus. Diese Tripel-Reasortante etablierte
sich in der nordamerikanischen Schweinepopulation, wo sie seitdem zirkulierte.
Neben der H3N2-Tripel-Reassortante sind auch andere Virussubtypen wie H3N1
oder H2N3 in der Schweinepopulation nachgewiesen, sie haben aber nicht die
Verbreitung wie H3N2 erlangt.
In Europa wurde erstmals 1976 die Influenza bei Schweinen beobachtet, als das
„klassische“ Schweineinfluenzavirus H1N1 bei Schweinen in Italien entdeckt
wurde. Ungefähr zur selben Zeit trat auch ein H3N2-Virus in der europäischen
Schweinepopulation auf. Zudem wurde ein aviäres Influenzavirus H1N1 bei
Schweinen in Italien nachgewiesen. Die meisten der europäischen
Schweineinfluenzaviren zirkulieren auch in Asien, darüber hinaus gibt es dort auch
eigene Influenzasubtypen, die in Europa bislang nicht vorkommen. Weltweit sind
mittlerweile eine ganze Reihe unterschiedlicher Influenzasubtypen wie H1N2,
H1N7 oder H3N1, H3N2, H1N1 und H1N2 in Schweinen nachgewiesen worden.
Auch Influenzaviren aviären Ursprungs sind vorübergehend in Schweinepopulationen detektiert worden, so z. B. H1N1, H9N2, H4N6 sowie H5N2. Die
hochpathogenen H5N1-Viren sind ebenfalls gelegentlich in Schweinen beobachtet
worden, eine Übertragung von Schwein zu Schwein scheint epidemiologisch
allerdings keine Rolle zu spielen.
Von 1974 bis 2005 sind 43 bestätigte Fälle der Übertragung von Influenza-A-Viren
von Schweinen auf den Menschen berichtet worden, mit 6 tödlichen Ausgängen.
Die meisten dieser Fälle konnten auf einen direkten Kontakt mit Schweinen bzw.
auf eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung innerhalb von Familien zurückgeführt
werden. Bemerkenswert ist ein Ausbruch von 1976 mit einem Schweineinfluenzavirus H1N1, der sich in Fort Dix im Bundesstaat New Jersey ereignete.
Dort erkrankten 13 Soldaten schwer, einer von ihnen verstarb. Weitere
serologische Untersuchungen zeigten später, dass insgesamt weit über
200 Infektionen bei diesem Ausbruch stattfanden. Weil befürchtet wurde, dass
dieses Schweineinfluenzavirus eine neue Pandemie auslösen könnte, wurde
innerhalb weniger Monate ein Impfstoff entwickelt und ein nationales
Impfprogramm in den USA gestartet. Nachdem etwa 40 Millionen Personen
geimpft waren, wurde eine erhöhte Rate des Auftretens eines Guillain-BarréSyndroms bei Erwachsenen festgestellt (Häufigkeit etwa 1/100.000 Geimpfte). Das
Impfprogramm wurde gestoppt, auch weil das Virus aus der Zirkulation
verschwand. Im Zeitraum Dezember 2005 bis Februar 2009 sind dem CDC
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11 Fälle von Infektionen beim Menschen mit Schweineinfluenzaviren gemeldet
worden. Erreger war in allen Fällen eine Triple-Reassortante vom Subtyp H1N1
oder H1N2. Seit April 2009 verbreitet sich eine neue Variante, die sich von der
H1N1-Tripel-Reassortante
dahingehend
unterscheidet,
das
sie
das
Neuraminidase-Gen und das M-Protein-Gen von eurasischen Schweinen enthalten
(„neues Influenzavirus A/H1N1/2009“).
2.3.3
Epidemiologische Besonderheiten des neuen Influenzavirus
A/H1N1/2009
Das neue Influenzavirus A/H1N1 ruft – im Unterschied zu den saisonal
zirkulierenden Influenzaviren – Infektionen überwiegend in der Altersgruppe der
18- bis 50-Jährigen hervor. Eine kürzlich durchgeführte Analyse der ersten
10.000 Fälle in Deutschland ergab, dass 77 % in der Altersgruppe von 10 und
29 Jahren und 17 % zwischen 30 und 59 Jahren auftraten [19]. Mit einer Inzidenz
von 90 Fällen auf 100.000 Einwohner waren v. a. die 15- bis 19-Jährigen betroffen,
allerdings mit einem hohen Anteil an Reiserückkehrern aus Spanien, die die
Erkrankung importierten. Autochthone Erkrankungen ereigneten sich in 22 % der
Fälle. Aus den USA werden höhere Erkrankungsraten bei Kindern bis 5 Jahre
berichtet, bei ähnlich geringen Inzidenzen in der Altersgruppe der über 60Jährigen.
Bei den Symptomen standen Fieber und Husten im Vordergrund; Halsschmerzen,
Diarrhoe und Erbrechen können ebenfalls auftreten. Eine Pneumonie trat in 0,4 %
der Fälle auf. Eine stationäre Einweisung erfolgte in 7 % der Erkrankungsfälle,
wobei viele Erkrankte zur Verhinderung einer Virustransmission stationär
aufgenommen wurden, ohne dass ein krankenhauspflichtiger Zustand vorlag.
Eine Analyse von 574 gut dokumentierten Todesfällen an Infektionen durch das
neue Influenzavirus A/H1N1/2009 zeigte ebenfalls eine deutliche Präferenz der
Altersgruppe von 20 bis 49 Jahren (51 % der Todesfälle), wenngleich die
Streubreite in den unterschiedlichen Altersgruppen länder- oder kontinentabhängig
relativ hoch war [20]. Insgesamt 90 % aller auswertbaren Fälle wiesen
Grunderkrankungen als Risikofaktor auf (chronische Lungenerkrankungen,
Diabetes, starkes Übergewicht mit BMI>30, Immunschwäche, neurologische oder
kardiovaskuläre Erkrankungen), in 10 % der Fälle waren keine prädisponierenden
Grunderkrankungen eruierbar. In der Altersgruppe der 0- bis 9-Jährigen wiesen
27 % und in der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen 22 % keine
Grunderkrankungen auf. Von 16 verstorbenen Schwangeren konnte bei
8 Todesfällen zusätzliche Risikofaktoren durch zugrundeliegende Erkrankungen
ermittelt werden. Insgesamt wird die Sterblichkeitsrate zurzeit mit 0,4 % beziffert
und liegt damit leicht über der der saisonalen Influenza.
2.4
Pandemieplanung
2.4.1
Entwicklung von internationalen und nationalen Pandemieplänen
Die letzte große Influenzapandemie liegt mittlerweile 50 Jahre zurück (1968,
„Hongkong-Grippe“). Da die Vergangenheit gezeigt hat, dass Influenzapandemien
in den letzten Jahrhunderten in bestimmten Zeitabständen aufgetreten sind, wird
von Experten schon seit längerem die Entstehung einer neuen Grippepandemie
befürchtet. Bei einem Treffen der Groupe d`Etude et d`Information sur la Grippe
(GEIG) in Berlin 1993 wurde erstmals die Forderung nach einer weltweiten
Influenzapandemieplanung erhoben [21]. Seit 1997 wird v. a. eine
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Influenzapandemie mit neuen Influenza-A-Subtypen aviären Ursprungs befürchtet.
Im Jahr 1997 erkrankten in Hongkong 18 Menschen an einer Infektion mit dem
Vogelgrippevirus A/H5N1, wobei 6 Patienten verstarben. Die Übertragung erfolgte
durch direkten Kontakt mit infiziertem Hausgeflügel; das A/H5N1-Virus konnte also
die Speziesbarriere überwinden. Seit Dezember 2003 begann ausgehend von
Asien die weltweite Verbreitung der aviären Influenza A/H1N1 v. a. bei Geflügel in
einem bisher nicht gekannten Ausmaß.
Erkrankungen beim Menschen traten meist in den Ländern auf, in denen aufgrund
der Lebensbedingungen ein enger Kontakt der Bevölkerung zu Hausgeflügel
bestand. Die Infektion durch Influenza A/H5N1 zeichnet sich durch eine hohe
Letalität von etwa 60 % aus. Glücklicherweise breitet sich die Erkrankung im
Regelfall nicht von Mensch zu Mensch aus, nur in Einzelfällen wurde von
Übertragungen bei engem Kontakt von Familienmitgliedern berichtet. Zurzeit sind
weltweit in 15 Ländern 442 Fälle bei Menschen von der WHO bestätigt worden,
darunter 262 Todesfälle (Stand: 24.9.2009). Seit dem Auftreten der humanen
A/H5N1-Infektionen hat man auch in Deutschland intensiv mit Vorbereitungen für
eine mögliche Influenzapandemie begonnen.
Die WHO hat im Jahre 1999 einen Rahmenpandemieplan veröffentlicht, der die
wesentlichen Elemente einer nationalen Pandemieplanung enthält und den
Mitgliedsstaaten als Grundlage dienen soll. Dieser WHO-Pandemieplan wurde
2005 und aktuell in 2009 überarbeitet [22]. Der Rahmenplan enthält Überlegungen
zur Surveillance der Influenza, zur Planung und Koordination von Maßnahmen für
die medizinische Versorgung und Notfallmanagement, zur Massenimpfung der
Bevölkerung sowie zur Verwendung antiviraler Arzneimittel und für die Entwicklung
von Kommunikationsstrategien, v. a. für die Information der Bevölkerung. Nach
Vorarbeiten durch die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Seuchenschutz wurde am
Robert-Koch-Institut 2001 eine Expertengruppe Influenzapandemieplanung
gegründet, die im Jahre 2005 einen dreiteiligen nationalen Pandemieplan
publizierte. Eine Aktualisierung dieses Plans erfolgte im Mai 2007 [23]. Ziele des
Pandemieplans,
der
auf
Grundlage
des
WHO-Pandemieplans
und
Pandemieplänen anderer Industrieländer erarbeitet wurde, sind
•
Reduktion der Morbidität und Mortalität in der Gesamtbevölkerung,
•
Sicherstellung der Versorgung erkrankter Personen,
•
Aufrechterhaltung essentieller öffentlicher Dienstleistungen,
•
Zuverlässige und zeitnahe Informationen für politische Entscheidungsträger, Fachpersonal, Öffentlichkeit und Medien.
In diesem Zusammenhang ist auch die Aufrechterhaltung einer adäquaten
Gesundheitsversorgung und der öffentlichen Ordnung und Infrastruktur von hoher
Bedeutung, da essentielle Dienstleistungen wie Versorgung mit Trinkwasser und
Nahrungsmitteln, Energie, Kommunikation, Information, Transportwesen sowie
innere und äußere Sicherheit durch pandemiebedingten Personalausfall gefährdet
sind.
Teil 1 des nationalen Pandemieplans enthält einen generellen Überblick über die
während einer Pandemie zu ergreifenden Maßnahmen. Dort sind auch die
Strukturen
des
Krisenmanagements
im
Pandemiefall
dargestellt.
Teil 2 des Pandemieplans enthält phasenorientierte Aufgaben und Handlungsempfehlungen, abgestuft entsprechend den unterschiedlichen Pandemiephasen.
Handlungsempfehlungen werden für die interpandemische Periode (Phase 1 und
2), für die pandemische Warnperiode (Phase 3 und 4) sowie für die Phasen 5 und
6 gegeben. Dabei wird noch zwischen Handlungsempfehlungen für den Bund,
gemeinsamen Handlungsempfehlungen für Bund und Länder sowie
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Handlungsempfehlungen für die Länder und Kommunen unterschieden.
Im Teil 3 sind schließlich die wissenschaftlichen Zusammenhänge der Pandemieplanung wiedergegeben. Wesentliche Elemente des Pandemieplans sind Aufbau
und Unterhaltung einer Influenza-Surveillance, strategische Überlegungen zur
Impfung mit saisonalen und pandemischen Impfstoffen und zur Bevorratung von
antiviralen Arzneimitteln. Darüber hinaus befasst sich der Pandemieplan mit
Fragen des Expositionsschutzes der Bevölkerung (antiepidemische Maßnahmen),
Beschränkungen im Reiseverkehr sowie Aspekte zum Pandemiemanagement in
der ambulanten und stationären Versorgung.
Aufbauend auf dem nationalen Pandemieplan haben die Bundesländer
Umsetzungsempfehlungen veröffentlicht („Länder-Pandemiepläne“), in denen die
landesspezifischen Rahmenbedingungen festgelegt werden, auf deren Grundlage
kommunale Pandemiepläne erstellt werden können. Die Zuständigkeit für die
regionalen Planungen und deren Umsetzungen liegt bei den Kreisverwaltungen
und Verwaltungen der kreisfreien Städte. Die Gesundheitsämter koordinieren in
Abstimmung mit allen Beteiligten der medizinischen Versorgung und des Katastrophenschutz die Planungen. Zur Unterstützung hat das Gesundheitsministerium
diesen Behörden 2005 eine Empfehlung zur Bekämpfung übertragbarer
Krankheiten in Form eines Rahmen-, Alarm- und Einsatzplans („RAEP Seuchen“)
zur Verfügung gestellt. Im Dezember 2007 wurde eine große Bund-Länder-Übung
(LÜKEX 2007) zur Erprobung des Ernstfalles einer Pandemie durchgeführt.
2.4.2
Wesentliche Elemente des nationalen Pandemieplans
Ein wichtiges Element des Pandemieplans ist die Surveillance (Überwachung) der
Influenzaepidemiologie. Weltweit existiert das Global Influenza Surveillance
Network der WHO, an dem 4 WHO Collaboration Centers und 112 Institutionen in
83 Ländern als nationale Referenzzentren mitarbeiten. Auf der Grundlage der
Daten dieser Netzwerke werden auch die jährlich aktualisierten saisonalen
Impfstoffe hergestellt. In Deutschland basiert die Influenza-Surveillance auf
3 Säulen:
•
Labordiagnostischer
Direktnachweis
(§ 7 Infektionsschutzgesetz),
•
Analyse von diagnostischen Proben und Virusisolaten durch das nationale
Referenzzentrum für Influenza am RKI,
•
Daten aus dem Sentinel-Surveillance-Netzwerk der Arbeitsgemeinschaft
Influenza (AGI) zu akuten respiratorischen Erkrankungen.
von
Influenzaviren
Die
im
Pandemieplan
vorgesehene
stetige
Weiterentwicklung
des
Früherkennungssystems obliegt im Wesentlichen dem Robert-Koch-Institut in
Abstimmung mit den Ländern. So wurde in Rheinland-Pfalz seit 2007 eine
Surveillance in Kindergärten (ARE-KITA Surveillance) implementiert, die in nahezu
allen Landkreisen umgesetzt wurde und in der den Gesundheitsämtern
wöchentlich von ausgewählten Kindergärten die Anzahl der wegen
Atemwegserkrankungen fehlenden Kindern gemeldet wird.
Als Grundlage der Planung im Pandemiefall z. B. für die Herstellung eines
pandemischen Impfstoffs und die Durchführung von Massenimpfungen, die
Bevorratung und Verteilung von antiviralen Medikamenten sowie die Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung im ambulanten und stationären Bereich wird
von einem Szenario ausgegangen, in dem eine Erkrankungsrate von etwa 30 %
der Bevölkerung während einer Pandemie auftritt. Bei einer solchen
Erkrankungsrate ohne präventive Intervention ist nach epidemiologischen ModellBerechnungen mit etwa 13 Millionen zusätzlichen Arztbesuchen, 360.000
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
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Krankenhauseinweisungen und 96.000 Todesfällen zu rechnen. Weitere Hochrechnungen wurden für Erkrankungsraten von 50 % bzw. 15 % vorgenommen;
beide Annahmen werden allerdings für Deutschland eher als unrealistisch
eingeschätzt.
Als wichtigste Bekämpfungsmaßnahme der Pandemie gilt die Schutzimpfung mit
einem entsprechend wirksamen Impfstoff (s. hierzu auch den entsprechenden
Abschnitt Prävention/Impfen). Bereits in der interpandemischen Phase, in der v. a.
eine mögliche Pandemie mit dem Vogelgrippevirus A/H5N1 im Fokus stand, wurde
mit der Entwicklung eines präpandemischen Impfstoffes auf der Basis von H5N1
begonnen, der im letzten Jahr auch zugelassen wurde. Im Verlauf der aktuellen
Pandemie durch das neue Influenzavirus A/H1N1/2009 wurde relativ bald nach
Charakterisierung des Erregers von der WHO ein Saatvirus für die Produktion von
spezifischem pandemischen Impfstoff auf H1N1-Basis zur Verfügung gestellt.
Deutschland hat bisher bei Impfstoffherstellern insgesamt 50 Millionen
Impfstoffdosen geordert, die voraussichtlich im Laufe des Oktobers ausgeliefert
werden können, sofern die behördliche Zulassung zu diesem Zeitpunkt vorliegt.
Bezüglich der Menge der georderten Impfstoffdosen ist man zum einen von der
Vorstellung ausgegangen, dass 2 Impfungen im Abstand von etwa 3 Wochen
notwendig sind und zum anderen, dass es wegen einer zu erwartenden
Impfstoffknappheit (nicht für alle in Deutschland lebenden Personen wird Impfstoff
verfügbar sein) eine Priorisierung bei der Impfstoffverabreichung geben wird. Diese
Priorisierung sieht vor, dass
1.
beruflich besonders exponierte Personen wie pharmazeutisches und
medizinisches Personal im akuten ambulanten und stationären Bereich,
Ermittlungspersonal der Gesundheitsämter sowie Schlüsselpersonal zur
Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung
2.
Risikogruppen in der Allgemeinbevölkerung, d. h. Personen mit besonders
hohem Risiko für einen tödlichen Ausgang durch die Infektion mit dem
Pandemievirus
primär geimpft werden sollten.
Anschließende Impfungen können dann für die übrige Allgemeinbevölkerung
bereitgestellt werden. Die erste Gruppe wird hierbei durch die betriebsärztlichen
Dienste geimpft werden, die weiteren Gruppen in Gesundheitsämtern und
höchstwahrscheinlich auch bei niedergelassenen Ärzten. Mittlerweile sind erste
Arbeiten erschienen, die darauf hinweisen, dass die demnächst verfügbaren, durch
ein modernes Adjuvans verstärkten Impfstoffe auf A/H1N1-Basis, möglicherweise
auch bei nur einmaliger Impfung zu einer schützenden Immunantwort führen, die
sich nicht wesentlich von der Immunantwort nach zweimaliger Impfung
unterscheidet [24, 25]. Mittlerweile hat die Ständige Impfkommission (STIKO) am
Robert-Koch-Institut auf der Basis dieser Überlegungen Empfehlungen zur
Impfung gegen die neue Influenza A (H1N1) veröffentlicht [26]. Neben der
grundsätzlichen Aussage, dass alle Bevölkerungsgruppen von einer Impfung
profitieren können, empfiehlt die STIKO bei Verfügbarkeit des Impfstoffes zunächst
folgende Gruppen zu impfen:
1.
Beschäftigte in Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege mit Kontakt zu
Patienten oder infektiösem Material,
2.
Personen ab einem Alter von 6 Monaten mit erhöhter gesundheitlicher
Gefährdung infolge eines Grundleidens wie z. B.: chronische
Erkrankungen der Atmungsorgane, chronische Herz-Kreislauf-, Leber-, und
Nierenkrankheiten, Malignome, Diabetes und andere Stoffwechselkrankheiten, neurologische und neuromuskuläre Grundkrankheiten,
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
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angeborene oder erworbene Immundefekte mit T- oder B-zellulärer
Restfunktion, HIV-Infektion,
3.
Schwangere (vorzugsweise ab dem 2. Trimenon) und Wöchnerinnen.
Schwangere sollten möglichst mit nichtadjuvantiertem Impfstoff geimpft werden.
Zur Impfung weiterer Bevölkerungsgruppen (Haushaltskontaktpersonen, die eine
Infektionsquelle für Risikopersonen darstellen können sowie die übrige
Bevölkerung abgestuft nach Altersgruppen) will die STIKO spätestens 4 Wochen
nach Beginn der ersten Impfungen Stellung nehmen.
Für die Therapie und Prophylaxe von Influenzainfektionen, auch im Pandemiefall,
eignen sich nach heutigem Kenntnisstand v. a. die Neuraminidasehemmer
Oseltamivir und Zanamivir. Studien zufolge wäre – falls diese Substanzen zur
Verfügung gestanden hätten – eine Bevorratung für 20 % der Bevölkerung in den
letzten 3 Influenzapandemien (1918, 1957, 1968) ausreichend gewesen, um alle
erkrankten Personen behandeln zu können. Aus dieser Überlegung heraus wird im
Pandemieplan eine Bevorratungsquote von 20 % für die einzelnen Bundesländer
empfohlen. Diese werden bis zum Auftreten einer Pandemie zentral gelagert und
im Bedarfsfall aus Zentrallagern in den einzelnen Bundesländern gemeinsam mit
den Landesapothekenkammern und bestimmten Schlüsselapotheken verteilt. Eine
antivirale Prophylaxe ist nicht Bestandteil des Pandemieplans. Hierfür sind der
jeweilige Arbeitgeber zuständig (z. B. Krankenhäuser, Arztpraxen).
Ausgehend von dem Szenario einer 30 %igen Erkrankungsrate wird in der ersten
Pandemiewelle (bei einer angenommenen Dauer von etwa 6 bis 8 Wochen) eine
erhebliche Zunahme der ambulanten Arztkontakte erwartet. Die Aufrechterhaltung
einer gut funktionierenden ambulanten Versorgung ist im Pandemiefall besonders
wichtig, v. a. auch vor dem Hintergrund, dass nur Patienten, die dringend einer
stationären Behandlung bedürfen, aufgenommen werden sollen, um den
Krankenhausbetrieb nicht zum Erliegen zu bringen. Sinnvoll ist hierbei die
Einbeziehung aller niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sowie die Etablierung
von Sprechstundenkernzeiten bei z. B. Hausarzt-, Internisten- und Kinderarztpraxen, während derer ausschließlich Personen mit akuten respiratorischen
Erkrankungen behandelt werden sollen. Weiterhin muss erwogen werden, ob
ambulante Ärzteteams, zur Versorgung von Gemeinschaftseinrichtungen wie
Alten- und Pflegeheimen und zur Unterstützung von zugeordneten Arztpraxen bei
Hausbesuchen geschaffen werden. Das hierfür zusätzlich benötigte Personal
könnte auch aus Ärzten im Ruhestand und freiwilligen Mitgliedern der
Landesärztekammern rekrutiert werden, wenn erforderlich evtl. auch aus
betriebsärztlichen Einrichtungen, mit Ärzten aus der freien Wirtschaft, aus Kur- und
Rehabilitationseinrichtungen und aus der Verwaltung. Weiterhin kann die
Einrichtung sog.
Fieberambulanzen sinnvoll
sein.
Die
notwendigen
Schutzmaßnahmen für das dann tätige medizinische Personal sind in Einklang mit
den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts und mit den Beschlüssen des
Ausschusses für Biologische Arbeitsstoffe (ABAS) in Hygieneplänen festzulegen.
Für die Planung der stationären Versorgung ist im nationalen Influenzapandemieplan eine Checkliste etabliert worden, anhand derer die Krankenhäuser
eigene, für ihre Institution spezifische Pandemiepläne erstellen können. Wichtig ist,
dass die infrage kommenden Krankenhäuser zur Versorgung von kontagiösen
Patienten im Pandemiefall den Gesundheitsämtern ihre Bettenkapazitäten für
Pandemiekranke mitteilen, einschließlich der Bereitstellung von zusätzlichen
Betten durch kurzfristig zu organisierenden Freilenkung und die Aussetzung von
z. B. elektiven Eingriffen. Da im Pandemiefall auch verstärkt mit schweren
Verläufen gerechnet wird, die einer intensivmedizinischen Behandlung bedürfen,
müssen auch zur Verfügung stehende Intensivbereiche und die Kapazitäten an
Beatmungsbetten erfasst werden [27]. Je nach Struktur der Regionalversorgung
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kann es auch sinnvoll sein, Schwerpunktkrankenhäuser für die Versorgung von
Influenzapandemieerkrankten zu benennen. Rechtzeitig, d. h. in der interpandemischen Phase, muss auch dafür gesorgt werden, dass genügend Material
für die persönliche Schutzausrüstung der Mitarbeiter (Bevorratung von Schutzkitteln, Atemmasken, Handschuhen, Desinfektionsmittel etc.) zur Verfügung
gestellt werden. Über die Bevorratung von antiviralen Medikamenten hinaus
müssen im Pandemiefall auch genügend Antibiotika zur Behandlung von z. B.
sekundären bakteriellen Pneumonien sowie Antitussiva, Antipyretika, Antiemetika
und Infusionslösungen für die Behandlung von Influenzakranken zur Verfügung
stehen. Hier wird z. B. eine Aufstockung des normalen Bestandes um etwa 50 %
empfohlen.
Die im Laufe einer Pandemie notwendig werdenden antiepidemischen Maßnahmen wie die Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen, Versammlungsverbot, Beobachtungs-, Absonderungs- und Quarantänemaßnahmen sowie z. B.
Aussprechen von Besuchsverboten obliegt den Gesundheitsämtern gemäß
Infektionsschutzgesetz. Zentrales Element der Abstimmung und Koordinierung
solcher Maßnahmen im Pandemiefall ist die zur Bewältigung länderübergreifender
Gefahren und Schadenslagen bestehende interministerielle Koordinierungsgruppe
(IMKo), in der alle Länder und die betroffenen Bundesressorts vertreten sind und
die durch ein Fachgremium des RKI unterstützt wird. In den Ministerien der Länder
werden Lagezentren errichtet, die in engem Kontakt mit dieser Gruppe stehen und
im Bedarfsfall die Gesundheitsämter über die notwendigen von ihnen durchzuführenden antiepidemischen Maßnahmen informieren. Ein weiterer wichtiger Punkt
ist eine abgestimmte Bevölkerungsinformation und die Vermittlung infektionshygienischer und antiepidemischer Empfehlungen. Im Pandemiefall sollte die
Federführung der Pressearbeit in den Bundesländern bei der jeweiligen
Pressestelle des Gesundheitsministeriums verankert sein.
2.5
Ausblick
Von April bis September 2009 hat sich das neue Influenzavirus A/H1N1/2009
weltweit ausgebreitet und bisher über 340.000 Erkrankungsfälle mit mehr als
4200 Todesfällen hervorgerufen. Eine starke Zunahme von Erkrankungsfällen war
in der gerade zurückliegenden Influenzasaison in Ländern der südlichen
Hemisphäre zu beobachten (Südamerika, Australien, Neuseeland), mit
Verdrängung der saisonalen Influenzaviren durch das neue Influenzavirus.
Gegenwärtig – am Beginn der Influenzasaison in den gemäßigten Zonen der
nördlichen Hemisphäre – werden Zunahmen an influenzaähnlichen Erkrankungen
(ILI) aus den USA und Großbritannien gemeldet. Die meisten Experten gehen von
einem generellen Anstieg der Infektionen mit dem neuen Influenzavirus
A/H1N1/2009 aus, verbunden mit einer Zunahme von schweren Verläufen und
auch Todesfällen. Ob die Infektionen, wie bisher beobachtet, überwiegend mild
verlaufen werden und die Sterblichkeitsrate relativ gering bleibt, kann allerdings
aufgrund der gegenwärtigen Datenlage nicht beantwortet werden. So ist es
zumindest theoretisch denkbar, dass sich das Virus durch Mutation verändert bzw.
es durch Co-Infektion mit anderen zirkulierenden Viren zu einem erneuten
Reassortment kommt. Ein Worst-Case-Szenario wäre hier etwa der Austausch von
Gensegmenten mit oseltamivirresistenten humanen H1N1-Subtypen oder mit
hochpathogenen aviären H5N1-Influenzaviren [28]. Im Gegenzug sind seit einigen
Jahren weltweit erhebliche Anstrengungen für den Pandemiefall unternommen
worden. Ein Beispiel dafür ist die rasche Entwicklung des in Kürze zur Verfügung
stehenden Pandemieimpfstoffes, der hoffentlich erheblich dazu beitragen wird, die
gegenwärtige Ausbreitung einzudämmen. Es scheint, als ob wir für die Pandemie
gerüstet wären, aber es gilt wachsam zu bleiben.
Besonders wichtige Arbeiten sind im Text und im Literaturverzeichnis fett gedruckt.
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Epidemiologie und Pandemieplanung, B. Jansen
2.6
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