Bürgerbeteligung in Europa 7. »Wahlalter 16« - eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit? D&E-Interview mit Dr. Jan Kercher, Universität Stuttgart-Hohenheim B 52 ei den Kommunalwahlen 2014 sollen in Baden-Württemberg erstmals 16- und 17-Jährige wählen können. Die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg hat nach Auskunft des Ministerpräsidenten Kretschmann (Grüne) am 6.11.2012 eine Senkung des Mindestwahlalters bei Kommunalwahlen von 18 auf 16 Jahre beschlossen.Laut Innenminister Reinhold Gall (SPD) können nach Inkrafttreten der Gesetzesänderungen in zwei Jahren 212.000 Jugendliche erstmals über die Besetzung von Gemeinderäten oder Kreistagen abstimmen. Kretschmann sagte, durch die Senkung des Wahlalters bekämen Jugendliche künftig mehr Einfluss auf die Gestaltung ihres unmittelbaren Lebensumfeldes. Die Grünen setzen damit eines ihrer Wahlziele um, wie zuvor schon in sechs anderen Bundesländern. In Bremen konnte die Ökopartei vor zwei Jahren eine entsprechende Wahlrechtsreform sogar für Abb. 1 Poliktikverständnis und Wahlater, Studie Jan Kercher. die Wahl zur Bürgerschaft durchsetzen. Am 22. Interesse = Durchschnittliche Selbsteinstufung der Teilnehmer auf einer Skala von 0 bis 10 (WichMai 2011 durften deshalb in Bremen zum ersten tigkeit von Politik für das eigene Leben, Häufigkeit der Mediennutzung als politische InformatiMal auch 16- und 17- Jährige an einer Wahl auf onsquelle, Häufigkeit von Gesprächen über Politik). ** sig. = Gruppenunterschiede sind statistisch Landesebene teilnehmen. Eine Senkung des signifikant, n.s. = nicht signifikant © Jan Kercher: Politikverständnis und Wahlalter Wahlalters auf Bundesebene, die ebenfalls von den Grünen beantragt worden war, scheiterte daschen Vorbereitung gekommen sind, wenn sie ihr Wahlrecht ergeben schon zweimal an der Mehrheit des Bunlangen. destages, zuletzt am 2. Juli 2009. D&E befragte dazu den Leider habe ich den Eindruck, dass diesem Vorbereitungsaspekt Kommunikationswissenschaftler Dr. Jan Kercher von der Univon der Politik häufig zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, versität Stuttgart-Hohenheim, der sich bereits mit dem vermutlich auch, weil er mit sehr viel mehr Aufwand verbunden ist Thema in verschiedenen Studien beschäftigt hat. als eine einfache Gesetzesänderung zum Wahlalter. Das führt D&E: In Baden-Württemberg hat die grün-rote Landesregierung die Hedann zu einem Ergebnis wie in Österreich, wo der SPÖ-Politiker rabsetzung des aktiven Wahlalters für die Kommunalwahl 2014 auf 16 Walter Steidl nach der Wahl zugab, dass man die Vorbereitung Jahren in Gang gebracht. In Österreich gilt diese Regelung auch bei Natider Jugendlichen verschlafen habe. Wenn man in Deutschland onalratswahlen seit 2008. Andere Bundesländer in Deutschland wie z.B. Bremen, NRW, Niedersachsen, Schleswig-Holstein oder Rheinland- Pfalz kennen diese Regelung ebenfalls. Sehen Sie persönlich darin eine Möglichkeit, junge Menschen näher an das parlamentarische System heranzuführen? Jan Kercher: Potenziell ja. Allerdings sollte man bei der Einführung solcher Regelungen sehr bedacht und keinesfalls überstürzt vorgehen. Sonst fühlen sich viele Jugendliche überfordert von der neuen Verantwortung. Das war zum Beispiel in Österreich so. In einer Studie, die anlässlich der Wahlalter-Senkung dort durchgeführt wurde, stellte sich heraus, dass die Jugendlichen von der Schule erwarten, auf ihr Wahlrecht vorbereitet zu werden. Denn die Schule wurde von den befragten Jugendlichen als ein Ort für eine sachliche Informationsvermittlung wahrgenommen. Gleichzeitig stellte sich jedoch heraus, dass die Jugendlichen nicht zufrieden waren mit der schulischen Vorbereitung auf ihre erste Wahlteilnahme, weil das Thema zu wenig oder zu spät im Unterricht behandelt wurde. Es zeigte sich auch, dass damit eine wichtige Chance vertan wurde, denn Schülerinnen und Schüler, die im Unterricht über die Wahl diskutiert hatten, gingen signifikant häufiger zur Wahl als andere Schülerinnen und Schüler. Für mich ergibt sich als Fazit aus diesen Befunden, dass man einer Wahlalter-Senkung eine entsprechende Änderung der Bildungspläne voranstellen sollte. Damit diejenigen Jugendlichen, die es betrifft, dann auch schon in den Genuss einer entsprechenden schuli- »Schüler erwarten von der Schule, auf ihr Wahlrecht vorbereitet zu werden.« aus diesen Fehlern lernt und die Jugendlichen umfassend vorbereitet, dann sehe ich eine Wahlalter-Senkung allerdings durchaus als Chance an, jugendliche Menschen an politische Themen heranzuführen. Denn wenn einem durch die Schule vermittelt wird, wie wichtig politische Teilhabe ist und man dann auch noch während seiner Schulzeit das Wahlrecht erlangt, dann ist das bestimmt eine gute Grundlage für eine positiv geprägte politische Sozialisation. D&E: Sie haben das Politikverständnis, d.h. das politische Interesse, das politische Wissen sowie die Fähigkeit junger Menschen, politische Zusammenhänge in Politikerreden zu erfassen, bei unter 18- sowie über 18-jährigen empirisch untersucht und analysiert. Was ist denn eine »Experimentalanalyse“ eigentlich genau und warum haben Sie diese durchgeführt? Jan Kercher: Eine Experimentaluntersuchung ist eine Untersuchung, bei der die Versuchsbedingungen gezielt manipuliert oder kontrolliert werden, um ihren Einfluss besser untersuchen zu »Wa hl a lt er 16 « - eine Ch a n ce z ur Überw ind un g d er P o l it ik v erd ro s se nheit ? D&E Heft 65 · 2013 können als in einer natürlichen Situation, bei der immer sehr viele Störfaktoren vorhanden sind. Wenn sich Menschen z.B. zu Hause eine politische TalkShow anschauen, dann sind sie vielleicht abgelenkt, weil nebenher jemand redet. Wenn man ihnen dann Verständnisfragen zur Talkshow stellen würde, dann würden sie vermutlich ziemlich schlecht abschneiden. Das muss aber nicht daran gelegen haben, dass sie die Politiker wirklich nicht verstehen konnten, sondern vielleicht einfach nur daran, dass sie abgelenkt wurden. Deshalb kontrolAbb. 2 Politisches Wissen von Jugendlichen, Rheinland-Pfalz 2005 © Jens Tenscher / Philipp Scherer (2012): Jugend, Politik und liert man die VersuchsbeMedien. Politische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in Rheinland-Pfalz. Münster, S. 86 dingungen in einem Experiment und sorgt zum Beispiel dafür, dass solche wir sie dann gefragt, wie verständlich sie die Podcasts subjektiv Ablenkungsfaktoren nicht vorhanden sind. Wenn dann immer fanden und ihnen auch noch Verständnisfragen zu den Inhalten noch Verständnisprobleme auftreten, dann ist es sehr wahrder Videos gestellt. Dabei haben wir auch erfasst, wie sicher sich scheinlich, dass diese wirklich dadurch zu erklären sind, dass sich die Befragten bei ihren Antworten waren. Entscheidend war, dass die Politiker nicht verständlich genug ausdrücken. Oder dadurch, wir bei der Auswahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gezielt dass die Zuschauer zu wenig Vorwissen haben, das kommt auf unterschiedliche Bildungsgrade und Altersstufen abgedeckt den Standpunkt an. haben. Zum einen haben wir 16- und 17-jährige Neuntklässler auf Das ist im Übrigen ein grundlegendes Problem beim Thema Polider Hauptschule und im Gymnasium befragt. Und zum anderen tik und Verständlichkeit: Wem gibt man die Schuld, wenn man auf 18- bis 21-jährige Berufsschüler und Studienanfänger. Verständnisprobleme trifft? Den Bürgern, die zu wenig Vorwissen Betrachtet man unsere Ergebnisse, so stellt sich heraus, dass das haben oder den Politikern, die sich nicht verständlich genug ausdrücken? Die Bürger selbst neigen natürlich dazu, den Politikern die Schuld zu geben, während diese häufig das Gefühl haben, sich gar nicht anders ausdrücken zu können, ohne das Thema zu stark zu vereinfachen. Das nennt man übrigens den „Fluch des Wissens“. Wenn man sehr viel über ein Thema gelernt hat und dieses Wissen auch schon eine ganze Weile besitzt, dann wird es immer schwieriger, sich noch in andere Leute hinein zu versetzen, die nicht dasselbe Vorwissen haben. In der Sprache führt das dann dazu, dass schwierige Wörter nicht mehr als solche wahrgenommen werden. Das ist aber ein ganz natürlicher Prozess und Alter tatsächlich einen deutlichen Einfluss auf das Abschneiden passiert nicht nur Politikern, sondern zum Beispiel auch Wissender Befragten bei den Wissens- und Verständnisfragen hatte. schaftlern oder sonstigen Experten. Besonders problematisch ist Und zwar unabhängig vom Bildungsgrad. Sowohl die volljährigen das dann, wenn man nicht direkt mit den eigentlichen Adressaten Berufsschüler als auch die Studienanfänger schnitten sehr viel der eigenen Botschaften konfrontiert ist, wie eben in einer Talkbesser ab als die Neuntklässler in der Hauptschule und auf dem show. Da richten sich die Teilnehmer ja eigentlich an die FernsehGymnasium. Das ist unserer Interpretation nach eine Folge der zuschauer, nicht an die anderen Gäste. Aber von den Fernsehzubisherigen Bildungspläne in Baden-Württemberg, die den Großschauern kann ja niemand nachfragen, wenn er oder sie etwas teil der politischen Bildung erst in den höheren Schulstufen vornicht versteht. Allerdings: Das trauen sich viele auch dann nicht, sehen und nicht schon vor Erreichen des 16. Lebensjahres. Mit wenn der Politiker oder die Politikerin direkt vor einem steht. Man anderen Worten: Sie sind offensichtlich ausgerichtet auf ein will dann eben lieber nicht zugeben, dass einem viele Begriffe Wahlrecht ab 18, das ja bislang in Baden-Württemberg auch so nicht geläufig sind und ärgert sich doch gleichzeitig über den abgilt. Interessant war für uns aber auch, dass es beim politischen gehobenen Sprachstil des Politikers. Interesse zwischen den älteren und den jüngeren Befragten kaum Unterschiede gab. Die Jüngeren interessierten sich also fast geD&E: Wie sah Ihre Untersuchung denn genau aus und zu welchen Ergebnauso stark für Politik wie die Älteren. Das bedeutet, dass sich die nissen sind Sie darin gekommen? 16- und 17-Jährigen durchaus für Politik interessieren, aber bislang offensichtlich deutlich weniger von Politik verstehen als vollJan Kercher: Wir haben 134 junge Stuttgarterinnen und Stuttgarjährige Schüler und Studienanfänger. ter im Alter von 16 bis 21 Jahren befragt und sie mit kurzen Politiker-Reden konfrontiert. Das waren etwa fünfminütige Video-PoD&E: Können Sie aus den Ergebnissen Ihrer Studie auch Konsequenzen dcasts von Angela Merkel, Kurt Beck, Guido Westerwelle und für die politische Bildung junger Menschen sowie für die Bildungspläne Oskar Lafontaine. Vor dem Anschauen der Videos haben wir das der Schulen ableiten? politische Interesse und Wissen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer erfasst. Und nach dem Anschauen jedes Videos haben »Einer Wahlaltersenkung sollte man eine Änderung der Bildungspläne voranstellen.« D&E Heft 65 · 2013 »Wa hl a lt er 16 « - eine Ch a n ce z ur Überw ind un g d er P o l it ik v erd ro s se nheit ? 53 D&E-Interview mit Dr. Jan Kercher, Universität Stuttgart-Hohenheim 54 die Mehrheit nach dem Austausch aller relevanten Argumente für sinnvoll hält. Früher lag das Wahlalter ja mal bei 21 Jahren. Dann kam Willy Brandt und überzeugte die Deutschen, dass es sinnvoll sei, »mehr Demokratie zu wagen«. Daraufhin wurde das Wahlalter auf 18 Jahre gesenkt, erst das aktive Wahlalter und dann auch das passive Wahlalter. Aktuell beobachten wir eine ähnliche Entwicklung hin zum Wahlalter ab 16. Allerdings hat sich bislang kein ähnlich prominenter und einflussreicher Bundespolitiker wie damals Willy Brandt für solch eine WahlalterSenkung ausgesprochen. Und deshalb dauert das Ganze deutlich länger als damals. Außerdem betrifft die DiskusAbb. 3 Nationalratswahl in Österreich: Wahlverhalten nach Alter sion bislang auch kaum die Bundes© Sora-Studie »Wählen mit 16« - Eine Post Election Study zur Nationalratswahl 2008 ebene, sondern vor allem die Landesund Kommunalebene. Die Grünen haben zwar auch schon entsprechende Jan Kercher: Ja. An unseren Ergebnissen lässt sich ja recht deutGesetzesentwürfe in den Bundestag eingebracht, aber die sind lich der Effekt der bisherigen Bildungspläne in Baden-Württembislang sehr klar gescheitert, weil sie von fast allen anderen Parberg ablesen. Da liegt die Vermutung sehr nahe, dass ein Vorzieteien abgelehnt wurden. Was mich wundert, ist, dass bislang – hen der politischen Bildung in den Schulen – und zwar in allen anders als zur Zeit von Willy Brandt – kaum über eine Senkung weiterführenden Schulen – dazu führen würde, dass sich die Aldes passiven Wahlalters gesprochen wird. Das bedeutet, dass jetersunterschiede, die wir in unserer Studie feststellen konnten, mand mit 16 Jahren zwar in der Lage sein soll, eine Partei zu wähdeutlich verringern würden. Auf diese Weise könnte man eine len, aber noch nicht in der Lage sein soll, als Kandidat für eine Überforderung vieler Jugendlicher, wie man sie in Österreich bePartei anzutretn. Das kann man ja durchaus so richtig finden. Nur obachten konnte, vermutlich vermeiden. sollte man das dann auch entsprechend diskutieren und begrünIch finde, dass man das Ganze recht gut mit der Diskussion über den. Und das kommt mir in der aktuellen Diskussion zu kurz. die Einführung des Euro verleichen kann. Damals gab es zwei Lager, die Anhänger der sogenannten »Lokomotiv-Theorie« und die Anhänger der »Kronen-Theorie«. Die Anhänger der Lokomotiv-Theorie, die sich letztlich auch durchgesetzt haben, argumentierten, dass der Euro die finanzpolitische Integration Europas unterstützen und beschleunigen würde und deshalb ein wichtiger erster Schritt hierfür sei. Dem hielten die Anhänger der Kronen-Theorie entgegen, dass es unverantwortlich sei, eine gemeinsame Währung einzuführen, bevor die Finanzpolitik der Europäischen Union nicht stärker vereinheitlicht sei. Blickt man Aber um noch einmal auf Ihre Frage zurückzukommen: Juniorheute zurück und betrachtet die Schulden-Krise, mit der wir es wahlen sind natürlich eine sehr gute Möglichkeit der Vorbereigerade zu tun haben, dann wirkt es, als hätten die Anhänger der tung auf das »echte« Wahlrecht. Aber sie werden natürlich immer Kronen-Theorie vielleicht doch Recht gehabt. Und aus meiner eine Simulation sein und haben letztlich keinen Einfluss auf die Sicht gibt es viele gute Gründe, auch bei der Wahlalter-Senkung Zusammensetzung der Parlamente. Bestimmt kann man auch auf eine Kronen-Strategie zu wählen. Das heißt: Erst die Änderung diese Weise Jugendliche für Politik begeistern. Aber das zentrale der Bildungspläne, dann die Wahlalter-Senkung. Nicht andersheArgument der Befürworter einer Wahlalter-Senkung lautet ja gerum. rade, dass nur ein echtes Wahlrecht eine Verantwortung mit sich bringt, die dann auch zu einer größeren Relevanz der Politik im D&E: Seit einigen Jahren organisiert der Berliner Verein »Kumulus e.V.«, Alltag der Jugendlichen führt. Deshalb würde ich Juniorwahlen zum Teil mit großer Unterstützung der jeweiligen Kultusbürokratie vor und Wahlalter-Senkung nicht als Alternativen sehen, sondern zentralen Europa-, Bundestags- oder Landtagswahlen mit der »Junioreher als zwei Ansätze, die sich gegenseitig gut ergänzen können: wahl« Wahlsimulationen vor dem tatsächlichen Wahlgang. Reichen solDenn Juniorwahlen könnten ja gerade für 14- und 15-Jährige eine che oder andere Initiativen nicht völlig aus, muss es gleich die Herabsengute Vorbereitung auf ein Wahlrecht ab 16 sein. kung des Wahlalters auf 16, oder wie der Bundes- sowie zahlreiche Landesjugendringe fordern, gar auf 14 Jahre sein? D&E: In Rheinland-Pfalz gab es detaillierte Schülerbefragungen zum Thema Wahlalter mit 16, die in dem Band »Jugend, Politik und Medien« Jan Kercher: Das ist letztlich eine Frage, die die Politik entscheivon Jens Tenscher und Philipp Scherer 2012 veröffentlicht wurden. Was den muss, nicht die Wissenschaft. Wir als Wissenschaftler könsind Ihrer Meinung nach die zentralen Befunde der Befragung und was nen nur darauf hinweisen, dass es aktuell deutliche Wissens- und ziehen Sie daraus für Schlüsse? Verständnisunterschiede zwischen heutigen Erstwählern und potenziellen zukünftigen Erstwählern gibt. Gleichzeitig aber kaum Jan Kercher: Die Befragungen bestätigten zunächst einmal einen Unterschiede beim politischen Interesse. Befund, den wir schon bei vielen anderen Wahl-Umfragen mit JuIch persönlich bin der Meinung, dass jedes Wahlalter letztlich gendlichen oder Juniorwahlen beobachten konnten: Jugendliche willkürlich ist. Ob nun 18 Jahre, 16 Jahre, 14 Jahre, 12 Jahre oder tendieren häufiger zu den Grünen und leider auch häufiger zu vielleicht sogar 0 Jahre, wie es die Grüne Jugend fordert: Niemand rechtsradikalen Parteien als ältere Wählerinnen und Wäher. So kann sagen, was „objektiv“ das richtige Wahlalter ist. Das muss lag der Anteil derjenigen, die eine Wahlpräferenz für DVU, Repubman gesellschaftlich diskutieren und dann so festlegen, wie es likaner oder NPD äußerten bei den 14- bis 18-jährigen Befragten »Eine Wahlaltersenkung bietet die Chance, jugendliche Menschen an politische Themen heranzuführen.« »Wa hl a lt er 16 « - eine Ch a n ce z ur Überw ind un g d er P o l it ik v erd ro s se nheit ? D&E Heft 65 · 2013 bei insgesamt 5,3 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2005, die etwa zeitgleich stattfand, lag der Anteil dieser drei Parteien zusammengenommen jedoch nur bei 2,4 Prozent. Also weniger als halb so hoch. Was sich ebenfalls bestätigte, waren die großen Wissensunterschiede zwischen den verschiedenen Altersgruppen. So stieg das politische Wissen in den Befragungen von Jens Tenscher und Philipp Scherer zwischen 14 und 18 Jahren jedes Jahr deutlich an. Der größte Sprung beim Wissen lag jedoch zwischen dem 15. und dem 16. Lebensjahr. Das könnte man aus Sicht der Befürworter einer Wahlalter-Senkung als Zeichen dafür interpretieren, dass 16 möglicherweise wirklich ein sinnvolles Wahlalter darstellt. Allerdings bräuchte man hierfür möglichst noch weitere Befunde, die zu ähnlichen Erkenntnissen kommen. Denn wie ich bereits gesagt habe, hängt die Entwicklung des politischen Wissens ja vor allem auch mit den jeweiligen Bildungsplänen Abb. 4 Politkverständnis und Wahlalter, Experimentaluntersuchung zusammen. Und diese sahen in Rheinland-Pfalz, © Jan Kercher, Universität Hohenheim, 2012 wo die Befragung von Tenscher und Scherer durchgeführt wurde, natürlich etwas anders aus Blick auf die bisherigen Wahlergebnisse in Österreich oder auf die betrofals in Baden-Württemberg, wo wir unsere Untersuchung durchfenen Bundesländer in Deutschland werfen? geführt haben. Hätte man vergleichbare Studien aus mehreren Bundesländern, könnte man auf deren Basis natürlich auch besJan Kercher: Ich finde es zunächst einmal erfreulich, wenn offen ser beurteilen, welche Form von politischer Bildung zu welchem darüber gesprochen wird, dass die Parteien mit einer WahlalterErgebnis führt. Leider ist dies aber bislang nicht der Fall, was für Senkung natürlich nicht nur selbstlose Motive verfolgen, sondern mich auch wieder zeigt, dass dem Bildungs- und Vorbereitungsaspekt bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die dritte wichtige Erkenntnis aus der »Jugend, Politik und Medien«-Studie ist, dass es nur bei den 14-jährigen Befragten eine Mehrheit für ein Wahlrecht ab 16 gab. Und die fiel auch noch sehr knapp aus: 38,2 Prozent waren für ein Wahlrecht ab 16 und 37,6 Prozent waren für ein Wahlrecht ab 18 – also die Beibehaltung des jetzigen Zustands. In allen anderen Altersgruppen, also zwischen 15 und 18 Jahren, gab es eine Mehrheit für das Wahlrecht ab 18 – erstaunlicherweise also auch bei den 16- und 17-Jähsehr wohl auch darauf achten, wie sich solch eine Gesetzesänderigen, die ja von der Wahlalter-Senkung direkt betroffen wären. rung auf ihre Stimmenanteile auswirken würde. In Bezug auf die Bei den 16-Jährigen sprachen sich aber 51,7 Prozent für ein WahlGrünen hätte eine Wahlalter-Senkung wohl auch tatsächlich posirecht ab 18 aus, bei den 17-Jährigen sogar 60,4 Prozent. Für ein tive Auswirkungen für die Wahlergebnisse. Denn die Grünen erWahlrecht ab 16 plädierten hingegen nur 38,4 bzw. 32,0 Prozent. zielen bei Umfragen unter 16- bis 17-Jährigen, bei Juniorwahlen Man sieht also, dass die Zustimmung zu einer Wahlalter-Senkung und auch bei tatsächlichen Wählern im Alter von 16 und 17 Jahren zwar mit sinkendem Alter zunimmt. Aber trotzdem lehnt eine immer deutlich bessere Ergebnisse als beim Rest der WählerMehrheit der 15- bis 18-Jährigen eine Senkung des Wahlalters auf schaft. Das war übrigens auch in Österreich so. Und in Baden16 Jahre ab. Das fand ich schon sehr überraschend. Und ich finde, Württemberg haben die Grünen bei der Juniorwahl 2011 stolze dass man darüber mit den Befürwortern einer Wahlalter-Senkung 34,0 Prozent erzielt, im Vergleich zu 24,2 Prozent bei der eigentlisprechen muss. Denn diese argumentieren ja gerade damit, dass chen Landtagswahl. Ähnlich sah es in Bremen 2011 aus: Hier lagen sie sich für die Interessen der Jugendlichen einsetzen, die bislang die Grünen insgesamt bei 22,5 Prozent. Laut einer Wahltagsbenoch kein Wahlrecht besitzen, weil sie diese ernst nehmen wolfragung der Forschungsgruppe Wahlen lag ihr Stimmenanteil bei len. Wenn man sich die Umfrage-Ergebnisse aus Rheinland-Pfalz den 16- und 17-Jährigen aber bei 33,0 Prozent. aber anschaut, dann würde ein Ernstnehmen der Befragten eher Ich unterstelle den Grünen zwar keineswegs, dass sie aus rein zu dem Ergebnis führen, dass man das mit der Wahlalter-Senkung wahltaktischen Gründen für eine Wahlalter-Senkung sind. Dagelieber sein lässt. Denn möglicherweise würde man da etwas eingen spricht schon allein die geringe Zahl der 16- und 17-Jährigen, führen, was die Mehrheit der Betroffenen gar nicht will. Zumindie nur zu einer relativ geringen Änderung der Wahlergebnisse dest bislang noch nicht. Um dies zu ändern, müssen die Befrworführen würde. Aber ich denke andererseits auch, dass es kein Zuter vermutlich noch deutlich mehr Überzeugungsarbeit bei den fall ist, dass sich mit den Grünen eine Partei besonders für eine betroffenen leisten - gerade, um diese ernst zu nehmen und der Wahlalter-Senkung einsetzt, die auch in besonderem Maße davon Wahlalter-Senkung damit auch eine breitere legitimationsbasis profitieren würde. Genauso wie ich denke, dass es kein Zufall ist, zu verschaffen. dass sich die CDU bislang vehement gegen solch eine Gesetzesänderung sperrt. Denn sie schneidet bei den 16- und 17-Jährigen D&E: Kritische Stimmen aus dem Unionslager und aus der FDP in Badenregelmäßig deutlich schlechter ab als im Rest der Wählerschaft. Württemberg betonen, die grün-rote Landesregierung möchte das WahlGenauso, wie CDU und FDP also dem rot-grünen Lager vorweralter vor allem deshalb senken, um sich bei zukünftigen Wahlen Vorteile fen, sich nur aus Eigeninteresse für eine Wahlalter-Senkung einzu verschaffen. Bei der Landtagswahl werde dies deshalb in Baden-Würtzusetzen, könnte man ihnen vorwerfen, sich nur aus Eigenintertemberg nicht möglich sein, weil dazu die Verfassung mit 2/3 Mehrheit esse gegen eine Wahlalter-Senkung einzusetzen. Letztlich ist es geändert werden müsste. Teilen Sie diese Bedenken, wenn Sie z.B. einen vermutlich bei allen Parteien eine Mischung aus echtem Interesse »Die Entwicklung des politischen Wissens hängt vor allem mit den jeweiligen Bildungsplänen zusammen.« D&E Heft 65 · 2013 »Wa hl a lt er 16 « - eine Ch a n ce z ur Überw ind un g d er P o l it ik v erd ro s se nheit ? 55 D&E-Interview mit Dr. Jan Kercher, Universität Stuttgart-Hohenheim 56 4,5 Prozent fast exakt dreimal so hoch war wie bei allen Wählerinnen und Wählern. Ich habe mir daraufhin die verschiedenen Projekte noch einmal genauer angeschaut. Und musste feststellen, dass zwar durchaus der Wille vorhanden war, die Jugendlichen auf ihr Wahlrecht vorzubereiten. Dass diese Vorbereitungen aber fast ausnahmslos wenige Wochen oder sogar Tage vor der Wahl starteten. Auch hier wurde also keine langfristige Vorbereitung anhand der Bildungspläne vorgenommen, sondern eine recht kurzfristige Vorbereitung anhand verschiedener, außerplanmäßiger Schulprojekte. Das ist zwar durchaus löblich und teilweise durchaus erfolgreich – was v.a. die hohe Wahlbeteiligung bei den Jungwählern Abb. 5 Landtagswahl 2011 in Baden- Württemberg und U-18 Wahl des Landesjugendrings Ba-Wü zeigt. Trotzdem sollte man sich angesichts © Landeswahlleiter Baden-Württemberg, Landesjugendring Baden-Württemberg e.V. der Ergebnisse der Wahltagsbefragung Gedanken darüber machen, ob solche kurzfristigen und außerplanmäßigen Projekte oder Desinteresse an der Beteiligung der Jugend und einer gewiswirklich eine ausreichende Begleitung einer so tiefgreifenden sen Portion Eigeninteresse, die die Haltung zur Wahlalter-SenVeränderung des Wahlsystems sind. kung bestimmt. Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens v.a. das VerD&E: Forschungen im Bereich des Wertewandels in modernen Gesellhalten der SPD. Denn die SPD kann nach den bisherigen Erkenntschaften betonen häufig den an postmateriellen Werten ausgerichteten nissen keinesfalls mit einer Erhöhung ihrer Stimmenanteile durch Wunsch insbesondere junger Menschen nach mehr Möglichkeiten der poeine Wahlalter-Senkung rechnen. Eher im Gegenteil: In Bremen litischen Partizipation. Ist diese Tendenz nach wie vor stabil und gibt es lag sie bei den 16- und 17-Jährigen bei 28,5 Prozent, insgesamt Unterschiede, was die soziale Herkunft, die besuchte Schulform bzw. den erreichten Bildungsabschluss sowie das Geschlecht betreffen? »Es ist kein Zufall, dass sich mit den Grünen eine Partei besonders für eine Wahlalter-Senkung einsetzt, die auch in besonderem Maße davon profitieren würde.« aber bei 38,6 Prozent. Anders als bei Grünen und CDU kann man hier also eigentlich kein Eigeninteresse unterstellen. Trotzdem unterstützt die SPD auf Landes- und Kommunalebene meistens die Initiativen der Grünen für eine Senkung des Wahlalters. Es handelt sich dabei also entweder um echte Überzeugung – die sogar so groß ist, dass dafür mögliche Verluste bei den Stimmanteilen in Kauf genommen werden – oder um große Solidarität mit dem bevorzugten Koalitionspartner. D&E: Kritiker sagen auch, dass insbesondere männliche Jugendliche mit einer Wahl ab 16 »ihr Mütchen kühlen« wollten und rechtsradikal wählten. Sind solche Tendenzen zu befürchten? Jan Kercher: Wenn auf eine angemessene Vorbereitung der Jugendlichen verzichtet wird, auf jeden Fall. Das zeigen die Wahlergebnisse aus Österreich und die Juniorwahl-Ergebnisse aus Baden-Württemberg recht deutlich. Betrachtet man die Ergebnisse der Befragungen von Jens Tenscher und Philipp Scherer, so zeigt sich, dass die vergleichweise hohen Anteile der rechtsradikalen Parteien bei den Jungwählern fast ausschließlich auf die Präferenzen der männlichen Jugendlichen zurückzuführen sind. Hier lag der Anteil von DVU, Republikanern und NPD bei 8%., bei den weiblichen Jugendlichen hingegen nur bei 2%. Gerade die männlichen Jugendlichen müsste man im Vorfeld einer Wahlalter-Senkung also verstärkt in den Blickpunkt nehmen. Was ich dabei besorgniserregend finde, ist, dass selbst in Bremen, wo zahlreiche Projekte zur Vorbereitung der Jugendlichen durchgeführt wurden, der Stimmenanteil der NPD bei den 16- und 17-Jährigen mit Jan Kercher: Bei den prominenten und teilweise privat finanzierten Jugendstudien, die immer wieder in den Medien diskutiert werden, muss man sehr vorsichtig sein. Teilweise hapert es da ganz erheblich bei der Erhebungsmethodik und teilweise lösen sich die angeblichen Besonderheiten bei den politischen Einstellungen von Jugendlichen bei genauerem Hinsehen in Luft auf. Nicht umsonst haben Edeltraud Roller, Frank Brettschneider und Jan W. van Deth ihrem Sammelband zum Thema »Jugend und Politik«, der den Beitrag der politischen Soziologie zur Jugendforschung untersucht, den Titel »Voll normal!« gegeben. Denn was man bei einer seriösen Auswertung der vorhandenen Daten immer wieder feststellt, ist, dass sich die Jugendlichen in ihren Einstellungen gar nicht so sehr von den Älteren unterscheiden. So handelt es sich bei vielen Veränderungen, die sich bei den Jugendlichen im Zeitverlauf zeigen um allgemeine Veränderungen, die auch für die gesamte Bevölkerung nachweisbar sind. Die drei erwähnten Forscher kommen also zu dem Ergebnis, dass die jugendspezifischen Muster, wie sie vielfach auf der Basis von Jugendstudien ermittelt werden, offenbar wegen des fehlenden Vergleichs über alle Altersgruppen und über die Zeit überschätzt werden. Zum Thema Wertewandel: Was sich nach Roller und Kollegen ebenfalls feststellen lässt, ist, dass im Zuge allgemeiner gesellschaftlicher Wandlungsprozesse in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren in Deutschland eine neue Generation von Jugendlichen herangewachsen ist, die sich von den Jugendlichen der 1970er und 1980er Jahre unterscheidet. Nach der Theorie des postmaterialistischen Wertewandels von Inglehart sind Jugendliche ja vor allem postmaterialistisch orientiert, präferieren Themen und Positionen der Neuen Politik, wählen grün-alternative Parteien und sind politisch aktiv. Dieses Bild der Jugend ist in der Politischen Soziologie auch heute noch sehr verbreitet. Es trifft aber offenbar nicht mehr uneingeschränkt auf die heutige Jugend zu. Der Trend zeigt sogar in eine andere Richtung. Die Jugend von heute unterscheidet sich von der Jugend der 1970er und 1980er Jahre zum Beispiel dadurch, dass sie eine höhere politische Kompetenz besitzt, in geringerem Ausmaß postmaterialistisch orientiert ist und Gleichheit als rechtfertigende Gerechtigkeitsideologie befürwortet. »Wa hl a lt er 16 « - eine Ch a n ce z ur Überw ind un g d er P o l it ik v erd ro s se nheit ? D&E Heft 65 · 2013 Zudem zeichnet sie sich durch eine geringere Wahlbeteiligung aus, identifiziert sich weniger häufig mit einer politischen Partei und wählt auch seltener die Grünen als früher. Zusammenfassend lässt sich also feststellen: Die heutige Jugend ist im Vergleich zu ihren Vorgängergenerationen politisch kompetenter, konservativer in ihren Wertorientierungen und ihrer Wahlentscheidung, weniger stark an politische Parteien gebunden und geht seltener zur Wahl. Was die Einflüsse von Geschlecht, sozialer Herkunft und Bildung angeht: Generell lässt sich sagen – und das zeigt sich auch in der bereits erwähnten Untersuchung von Tenscher und Scherer –, dass männliche und höher gebildete Jugendliche mehr Interesse an Politik und politischer Partizipation bekunden als weibliche Abb. 6 Einstellungen zum Wahlalter, Rheinland-Pfalz 2005 und geringer gebildete Jugendliche. Auch das © Jens Tenscher / Philipp Scherer (2012): Jugend, Politik und Medien. Popolitische Interesse der Eltern spielt eine sehr litische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in Rheinland-Pfalz. Münster, S. 177 wichtige Rolle: Je stärker sich die Eltern für Politik interessieren, desto höher fällt auch das politische Interesse ihrer Kinder aus. Die politische chen sich alle Parteien als Mitmach-Parteien darzustellen, um Sozialisation ist also sehr stark von Geschlecht, sozialer Herkunft neue Anhänger und Mitglieder zu gewinnen. Dieser Prozess und dem Bildungsweg abhängig. Zum Beispiel zeigen sich auch wurde durch die Piratenpartei sicherlich stark beschleunigt. deutliche Bildungseinflüsse bei der Frage, welche Ebenen von PoDenn bei der Piratenpartei kann – oder konnte man zumindest litik für die Jugendlichen interessant sind. Gymnasiasten bekunbis vor Kurzem – auch als Neumitglied relativ schnell wichtige den hier deutlich häufiger ein Interesse an internationaler Politik Funktionen übernehmen. Das sieht bei den etablierten Parteien als Hauptschüler, die sich dafür mehr für kommunale Politik inteanders aus, schon allein aufgrund der größeren Mitgliederzahl. ressieren als Gymnasiasten. Auch die subjektive politische KomDa muss man sich im Normalfall erstmal einige Jahre beweisen petenz, die sich die Jugendlichen selbst zumessen, nimmt mit und hocharbeiten, bevor man eine hervorgehobene Position eindem Bildungsgrad eindeutig zu. Zudem schätzen sich Jungen hier nehmen kann. Und das schreckt viele Jugendliche ab. Bei der Pimeistens deutlich höher ein als Mädchen. Bezüglich der Wertoriratenpartei funktionierte das hingegen bis vor Kurzem eher wie entierungen lässt sich sagen, dass männliche Jugendliche häufig bei einer Bürgerinitiative: Wer genügend Engagement mitetwas materialistischer orientiert sind als weibliche Jugendliche brachte, der konnte ganz schnell Sprecher oder Vorsitzender sein. und dass die materialistischen Orientierungen mit zunehmendem Bildungsgrad eher abnehmen. Aber auch hier gilt: Das kann man ebenso im Rest der Gesellschaft beobachten. Die Jugendlichen sind letztlich also wirklich „voll normal“. D&E: Welche weiteren Partizipationsformen als das aktive Wahlrecht bevorzugen denn Jugendliche und junge Erwachsene? Wächst gerade eine aktive Generation, die eine moderne Zivilgesellschaft erst möglich macht, heran? Jan Kercher: Die heutigen Jugendlichen weisen eine deutlich geringere Bereitschaft auf, sich langfristig an institutionalisierte Formen der politischen Partizipation zu binden. Das betrifft zum Beispiel Partei-Mitgliedschaften oder auch die Wahlbeteiligung. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass weniger politisch partizipiert wird. Sondern eben vor allem weniger institutionell, sondern eher spontan, kurzfristig und anlassbezogen. Zum Beispiel durch die Teilnahme an Online-Petitionen, durch Flashmobs oder Shitstorms. Auch die Occupy-Bewegung ist für mich ein Beispiel dafür, dass institutionelle Formen der politischen Partizipation für viele jüngere Menschen keine attraktive Option mehr sind. Denn die Idee der Occupy-Bewegung war ja gerade, dass sie keine festen Strukturen und vor allem auch kein Führungspersonal hat. Für die Parteien bedeutet das natürlich, dass es immer schwieriger wird, neue Mitglieder zu gewinnen, die auch langfristig aktiv bleiben. Das sieht man ja an den sinkenden Mitgliederzahlen fast aller Parteien: Die ausscheidenden Mitglieder können schon lange nicht mehr durch neue Mitglieder kompensiert werden – wie das früher immer der Fall war. Das führt dazu, dass die Parteien hier umdenken müssen – auch, um ihre Finanzierungsbasis zu sichern, die ja zu einem großen Teil auf den Mitgliedsbeiträgen aufgebaut ist. Das Aufkommen der Piratenpartei hat die etablierten Parteien hier zusätzlich aufgescheucht: Im gerade beginnenden Bundestagswahlkampf kann man das ganz deutlich sehen. Nun versu- D&E Heft 65 · 2013 » Die heutigen Jugendlichen weisen eine deutlich geringere Bereitschaft auf, sich langfristig an institutionalisierte Formen der politischen Partizipation zu binden.« Mittlerweile stößt die Partei hier aber auch an gewisse Grenzen, was man gerade beim letzten Parteitag in Bochum miterleben konnte. Denn wenn alle immer überall mitmachen und mitreden dürfen, dann führt das zwangsläufig zu Problemen bei der Effizienz. Und die ist bei einer so schnell wachsenden Organisation auch nicht ganz unwichtig. Andererseits zeigt die Piratenpartei ja gerade, dass institutionalisierte Formen der politischen Partizipation auch heute noch junge Menschen ansprechen können – wenn sie zeitgemäß organisiert sind, eine hohe Offenheit ausstrahlen und auch unverbindlichere Partizipationsmöglichkeiten – quasi als „Schnupperkurs“ – anbieten. Mein Gefühl ist, dass die Attraktivität der Piraten für Jugendliche vor allem durch ihr offenes und unarrogantes Auftreten zu erklären ist. Damit meine ich vor allem die Ehrlichkeit, auch zuzugeben, wenn man zu einem Thema einmal nichts oder noch nichts zu sagen hat. Natürlich kann man das gerade bei zentralen politischen Themen nicht ewig so machen. Aber gerade bei Problemen, die neu auftreten und vielleicht auch noch sehr komplex sind, ist es ja häufig ehrlicher, als Politiker auch einmal zuzugeben, dass man dazu noch keine fundierte Meinung hat. Das erlebt man bei den etablierten Parteien aber sehr selten. Stattdessen flüchten sich deren Politiker dann häufig in Wortwolken, abgedroschene Phrasen oder Politiker-Chine- »Wa hl a lt er 16 « - eine Ch a n ce z ur Überw ind un g d er P o l it ik v erd ro s se nheit ? 57 D&E-Interview mit Dr. Jan Kercher, Universität Stuttgart-Hohenheim 58 sisch, häufig gepaart mit einem sehr arroganten und selbstgewissen Auftreten. Und genau das wirkt meiner Einschätzung nach auf viele Jugendliche sehr abschreckend. Insofern hat die Piratenpartei hier sicherlich schon einen positiven Beitrag zur Veränderung der politischen Kultur geleistet – auch bei den etablierten Parteien. D&E: Was könnte und sollte die politische Bildung außerhalb des Schulunterrichts für Angebote zur Stärkung der Partizipationsbereitschaft Jugendlicher machen und wie kann sie am besten Jugendliche erreichen? Jan Kercher: Ein guter und vor allem ansprechender Politik-Unterricht in der Schule ist für mich nach wie vor das beste Mittel, um Jugendlichen die Bedeutung von politischer Partizipation näherzubringen. Denn die Schule ist der einzige Ort, an dem man alle Jugendlichen erreichen kann. Und sie genießt bei den Jugendlichen nachweislich einen Ruf als Ort für eine objektive Informationsvermittlung. Weshalb die Jugendlichen von der Schule auch erwarten, dass sie ihnen die Informationen und Fähigkeiten vermittelt, die für ein Verständnis der politischen Prozesse und Beteiligungsformen nötig sind. Darüber hinaus halte ich Projekte, wie sie zum Beispiel zur Vorbereitung der WahlalterSenkung in Bremen durchgeführt wurden, für sehr begrüßenswert. Also etwa Juniorwahlen, Workshops, Projekttage, Planspiele oder auch Podiumsdiskussionen, die sich speziell an Jugendliche richten. Gerade die Methode des Planspiels halte ich für sehr gut geeignet, um Jugendlichen die komplexen Prozesse zu vermitteln, die im politischen Alltag relevant sind. Ich war selbst früher als Teamer im »Juniorteam Europa« aktiv, einem Peer-Group-Education-Projekt, das von der LMU München ins Leben gerufen wurde. Die Idee ist hier, dass junge Menschen anderen jungen Menschen die Bedeutung der europäischen Institutionen vermitteln. Und zwar vor allem durch die Teilnahme an Planspielen, in denen unterschiedliche europäische Szenarien durchgespielt werden. Meine Erfahrungen mit dieser Methode waren immer sehr positiv. Nach der Teilnahme an den Planspielen konnten die Jugendlichen sehr viel besser verstehen, was Politik im Alltag häufig so mühsam macht und warum am Ende eben oft »nur« Kompromisse herauskommen, die auf den ersten Blick vielleicht unbefriedigend erscheinen. Durch die Teilnahme an einem Planspiel lernt man nämlich relativ schnell, dass solche Kompromisse ein Wesensmerkmal von demokratischen oder partizipativen Abstimmungsprozessen sind und beurteilt sie deshalb dann nicht mehr so negativ wie davor. Und: Man kann danach auch sehr viel besser einschätzen, was Politiker täglich leisten. Auch die Politik- oder Politikerverdrossenheit kann also auf diese Weise – zumindest bei einigen Jugendlichen – gesenkt werden. D&E: Die Universität Stuttgart-Hohenheim, an der Sie bisher gearbeitet haben, hat verschiedene Untersuchungen zu Verständlichkeit von Politikersprache und Wahlprogrammen gemacht. Neigen nicht gerade junge Menschen dazu, für personalisierte und emotionalisierte Wahlkämpfe, vielleicht nach us-amerikanischem Vorbild, besonders empfänglich zu sein? Anders ausgedrückt: Droht nicht das Niveau der Wahlkampfauseinandersetzung durch die Senkung des Wahlalters noch weiter herabzusinken? Jan Kercher: Zunächst einmal: Die Jugendlichen im Alter von 16 und 17 Jahren würden bei einer Wahlalter-Senkung nur einen sehr kleinen Teil der Wählerschaft ausmachen. Es ist also kaum zu erwarten, dass die Entwicklung der Wahlkampfführung durch solch eine Änderung entscheidend beeinflusst würde. Auch die Themen der Wahlkämpfe werden sich deshalb meiner Einschätzung nach nicht grundlegend ändern. Denn die Masse der Wähler befände sich auch nach einer Wahlalter-Senkung noch immer im älteren Teil der Bevölkerung. Und diese Masse beeinflusst – zumindest bei den beiden Volksparteien – natürlich in erster Linie die Themensetzung. Kleinere Parteien wie die Grünen oder die Piraten wenden sich hingegen mit ihrer Themensetzung heute schon häufiger auch an jüngere Wählergruppen – auch da würde sich also nur bedingt etwas ändern. Am ehesten wären aus meiner Sicht also Änderungen bei den Themensetzungen der FDP und der Linken zu erwarten. Denn beides sind Parteien, die sich bislang nicht durch eine gezielte Ansprache von Jungwählern hervorgetan haben, bei denen aber gleichzeitig auch kleinere Wählergruppen wie die 16- und 17-Jährigen durchaus wahlentscheidende Bedeutung haben können. Selbiges gilt leider auch für die rechtsradikalen Parteien. Was mich hier besonders nachdenklich stimmt, sind die Befunde aus der bereits erwänten Sora-Studie zur österreichischen Nationalratswahl 2008, die u.a. vom Bundeskanzleramt und vom österreichischen Parlament in Auftrag gegeben wurde. Nach den Befunden dieser Studie bewerteten die befragten Jugendlichen schon allein das Herausstellen eines klaren, von der Mehrheits- » Die Methode des Planspiels halte ich für sehr gut geeignet, um Jugendlichen die komplexen Prozesse zu vermitteln, die im politischen Alltag relevant sind.« meinung abweichenden Standpunktes durch eine Partei positiv. Selbst dann, wenn dieser Standpunkt von der eigenen Meinung abweicht. So lehnte zum Beispiel eine Mehrheit der befragten Jugendlichen die Standpunkt der FPÖ zur Einwanderungspolitik ab - bewertete aber gleichzeitig die klare Selbst-Positionierung der Partei in dieser Frage positiv. Eventuell sind es also gar nicht unbedingt immer die Themen selbst, die entscheidend sind für die Ansprache jüngerer Wähler – sondern v.a. auch die Art und Weise, wie diese Standpunkte kommuniziert und vertreten werden. Die österreichischen Forscher stellten nämlich auch fest, dass die Themen, die von den beiden Rechtsparteien FPÖ und BZÖ propagiert wurden, auf der Prioritätenliste der Jugendlichen eigentlich ganz unten standen. Trotzdem wurden sie gerade von den 16-Jährigen überproportional gewählt. Das ist aus meiner Sicht auch nicht ganz überraschend: Für jemanden, der gerade erst beginnt, sich mit dem Thema Politik auseinanderzusetzen, kann das typische Auftreten von Parteien und Politikern sehr leicht abschreckend wirken. Teilweise, weil man die Sprache einfach nicht versteht und teilweise vielleicht auch, weil man das Gefühl hat, dass die Politiker vieles unnötig verkomplizieren. Denn auf den ersten Blick wirkt die Lösung vieler Probleme ja sehr einfach – erst auf den zweiten Blick merkt man dann häufig, dass es nicht ganz so einfach ist. Leider gibt es aber Parteien, die den Wählerinnen und Wählern vorgaukeln wollen, dass es sehr wohl so einfach ist. Und diese bewegen sich eben meistens an den politischen Rändern. Gerade hier sehe ich also eine Hauptaufgabe der politischen Bildung. Also darin, den Jugendlichen zu vermitteln, dass das Auftreten einer Partei nie wichtiger sein sollte als deren politische Ziele. Und dass man immer misstrauisch sein sollte, wenn eine Partei allzu einfache Lösungen verspricht. Denn in unserer heutigen, hoch entwickelten und pluralistischen Gesellschaft gibt es nur noch für wenige politische Probleme wirklich einfache Lösungen. Eine klare und einfache Politikersprache ist deshalb natürlich nicht falsch – ganz im Gegenteil. Ich halte es gerade für die Ansprache von Jugendlichen für sehr wichtig, sich nicht in unnötigem Politiker-Chinesisch zu ergehen. Aber die klare Sprache sollte eben nicht einhergehen mit einer unzulässigen Simplifizierung politischer Zusammenhänge. Denn auch komplexe Zusammenhänge lassen sich meistens mit recht einfacher Sprache beschreiben, wenn man sich entsprechend bemüht. Bei links- und rechtsradikalen Parteien geht die einfache Sprache aber häufig »Wa hl a lt er 16 « - eine Ch a n ce z ur Überw ind un g d er P o l it ik v erd ro s se nheit ? D&E Heft 65 · 2013 mit einer unzulässigen Vereinfachung der politischen Probleme einher. Und das muss man Jugendlichen innerhalb und außerhalb der Schule vermitteln. D&E: Häufig heißt es, dass sich Jugendliche von elektronischen Medien, wozu neben den privaten TV-Stationen insbesondere auch die digitalen Angebote des Internets zählen, sehr stark manipulativ bestimmen ließen. Denken Sie, dass über die Herabsenkung des Wahlalters sowie eine verstärkte verpflichtende politische Bildung in den Schulen dieser Tendenz Einhalt geboten werden kann und Jugendliche in ihrem Alter bereits erkennen können, wann eine politische Frage Zukunftsthemen aufwirft, um die im GG (Art. 20 a) als Staatsziel geforderte Generationengerechtigkeit umzusetzen? Jan Kercher: Meiner Einschätzung nach sollte Abb. 7 Landtagswahlen 2011 in Bremen, nach Wahlalter © Jan Kercher, Daten Landeswahlleiter man von mit einer Absenkung des Wahlalters keine unrealistischen Erwartungen verbintischen Bildung von jungen Menschen trotzdem versuchen, die den. Häufig wird zum Beispiel behauptet, »versteckte« Bedeutung bestimmter Themen zu vermitteln, eine Wahlalter-Senkung würde zu einem Anstieg der Wahlbeteilideren konkrete Auswirkungen sich für die heutigen Jugendliche gung führen – was nicht stimmt. Natürlich wird durch eine Wahlvielleicht erst in vielen Jahren oder Jahrzehnten bemerkbar maalter-Senkung die absolute Zahl der abgegebenen Stimmen steichen. Das ist aus meiner Sicht aber eine generelle Aufgabe von gen – woraus man möglicherweise eine stärkere politischer Bildung und nicht etwas, das ich in erster Linie von Legitimationsfunktion der Wahl ableiten kann, weil ein größerer einer Wahlalter-Senkung erwarte. Teil der Bevölkerung durch die Wahl repräsentiert wird. Aber relaWenn man sie richtig und mit dem nötigen Vorlauf umsetzt, dann tiv betrachtet wird sich kaum etwas an der Wahlbeteiligung ändenke ich, dass eine Wahlalter-Senkung ein wichtiger Beitrag sein dern, weil auch bei den neuen Erstwählern keine höheren Beteilikann, um Jugendliche bereits vor dem Verlassen der Schule an pogungsraten zu erwarten sind als bei den heutigen Erstwählern. litische Themen heranzuführen und ihnen die Relevanz politiDas sieht man ganz deutlich, wenn man sich einmal Wahlen anscher Prozesse und politischer Diskussionen – auch für ihr eigeschaut, bei denen das Wahlalter bereits gesenkt wurde. nes Leben – zu verdeutlichen. Wenn das gelingen würde, dann Was die Beeinflussbarkeit von Jugendlichen betrifft: Auch mit wäre das schon einmal sehr erfreulich. Denn solche frühen, posieinem niedrigeren Wahlalter und verstärkter politischer Bildung tiven Erfahrungen prägen die politische Sozialisation auf entwerden Jugendliche immer etwas leichter zu beeinflussen sein als scheidende Weise und haben auch eine sehr langfristige Wirkung ältere Menschen. Das ist auch vollkommen natürlich: Als junger auf das generelle politische Interesse. Sie werden sich also auch Mensch verfügt man einfach über einen sehr viel geringeren Erdann noch bemerkbar machen, wenn die heutigen Jugendlichen fahrungsschatz – sowohl im politischen Bereich als auch im uneinmal nicht mehr ganz so jung sind. Auf diese Weise könnte sich politischen Bereich – als ältere Menschen und auch über weniger - ebenfalls langfristig betrachtet - auch die gesellschaftliche gefestigte Einstellungen. Das macht zwangsläufig anfälliger für Wahrnehmung von Politik insgesamt verbessern. Mit anderen Worten: Die »Politikverdrossenheit«, von der heute so oft zu lesen ist, könnte möglicherweise gesenkt werden. Das bedeutet im Umkehrschluss übrigens auch, dass sich die Politik dann auf eine anspruchsvollere und beteiligungsstärkere Bürgerschaft einstellen sollte. Man kann ja nicht erwarten, dass die Leute sich mehr für Politik interessieren, aber trotzdem immer alles brav abnicken, was die Regierenden beschließen. Diese indirekten und langfristigen Wirkungen einer WahlalterSenkung sollte man meiner Meinung nach aber mit gewisser Vorsicht behandeln. Denn ob und wann sie wirklich eintreffen, lässt Beeinflussung durch persuasive Kommunikation – sei es nun sich heute noch nicht sagen. durch Parteien oder die kommerzielle Werbeindustrie. Natürlich kann man Jugendliche durch entsprechende politische Bildung auf solche Beeinflussungs- oder Manipulationstechniken vorbeLiteraturhinweise reiten und sie damit auch etwas besser schützen als dies bislang der Fall ist. Aber den Effekt der Lebenserfahrung wird man damit Kercher, Jan: Fit fürs Wählen. Ergebnisse einer experimentellen Studie zum natürlich nicht komplett kompensieren können. Das wäre zu viel Wahlrecht ab 16. www.politische-bildung-rlp.de/fileadmin/download/ erwartet. Schupp-Kuehl/Vortrag_LpB_RLP_mit_Zusatzauswertungen.pdf Ebenfalls zu viel erwartet wäre aus meiner Sicht deshalb übrigens auch die Wunschvorstellung, dass sich Jugendliche durch eine Kozeluh, Ulrike, u.a. (2009): »Wählen mit 16« - Eine Post Election Study zur Wahlalter-Senkung von heute auf morgen brennend für RentenNationalratswahl 2008. Befragung – Fokusgruppen – Tiefeninterviews. politik interessieren werden. Denn es ist schlicht und einfach http://images.derstandard.at/2009/05/15/studie.pdf menschlich, dass man sich – angesichts eines begrenzten ZeitTenscher, Jens / Philipp Scherer, Philipp (2012): Jugend, Politik und Medien. budgets – zunächst einmal mit den Dingen beschäftigt, die einen Politische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in Rheinaktuell betreffen – und nicht erst in 40 oder 50 Jahren. Daran wird land-Pfalz. LIT Verlag, Münster u.a. man auch durch noch so frühe politische Bildung nur bedingt etwas ändern können. Natürlich kann und sollte man in der poli- »Man sollte mit einer Absenkung des Wahlalters keine unrealistischen Erwartungen verbinden« D&E Heft 65 · 2013 »Wa hl a lt er 16 « - eine Ch a n ce z ur Überw ind un g d er P o l it ik v erd ro s se nheit ? 59 MATERIALIEN M 1 Christoph Faisst: »Konsequenter Schritt« Wählen mit 16? Aber selbstverständlich. Denn was die grün-rote Landesregierung zunächst für das Kommunalwahlrecht und später auch für die Landtagswahl plant, ist angesichts der gesellschaftlichen Veränderung nur konsequent: Jugendliche werden schneller durch die Schule getrieben, um so früh wie ihre Konkurrenten aus anderen europäischen Ländern auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt anzukommen. Sie dürfen mit 17 ans Steuer eines Kraftfahrzeugs. Sie werden, ob sie es wollen oder nicht, fit gemacht für eine Leistungsgesellschaft, die sich ihrer künftigen MitM 3 Vertreter des Landesjugendrings vor dem Stuttgarter Landtag © LJR Ba-Wü, 2012 glieder immer früher bemächtigt. Sie müssen überall mithalten – doch die entsprechende politische Teilhabe bleibt ihnen verwehrt. • Eine Absenkung des Wahlalters ist mit einer Steigerung der ReDie Debatte wird nicht lange auf sich warten lassen: Wie steht es levanz von politischer Bildung verbunden. Damit bekommt z.B. um die politische Reife dieser jungen Wähler? Kann es sein, dass der Gemeinschaftskundeunterricht eine andere Dimension, weil Menschen, die noch nicht unbeschränkt geschäftsfähig sind, er mit stattfindenden Wahlen verbunden werden kann, an denen mitentscheiden, wenn es um die Zusammensetzung gesetzgesich die Jugendlichen beteiligen können. Auch in der außerschulibender Organe geht? Solche Fragen sind verständlich, doch ein schen Jugendbildung gäbe es einen direkteren Anlass, mit Juwenig Gelassenheit ist angebracht. Schließlich werden wir heute gendlichen über das Wahlsystem und die Auswirkungen einer auch ganz selbstverständlich mit 18 Jahren volljährig, bis immerWahlentscheidung zu kommunizieren. Dadurch würden Jugendlihin 1975 waren es noch 21 Jahre. che besser in unser demokratisches System hinein wachsen. Die Umstellen müssen sich dagegen die Parteien, die sich verstärkt Auswertung der Beteiligung bei der Bundestagswahl zeigt, dass mit der Lebenswelt junger Menschen beschäftigen müssen – dies dringend nötig ist. (...) wollen sie nicht riskieren, per Wahlrechtsänderung mit leichter • Das Argument, dass viele junge Menschen zu wenig Ahnung von Hand den Piraten 20 Prozent zuzuschanzen. politischen Themen haben, spricht für die Notwendigkeit einer besseren politischen Bildung. Es spricht aber nicht gegen eine (c) Christoph Faisst, Südwetpresse Ulm, Online-Dienst, 1.11.2012 Absenkung des Wahlalters. In jeder Altersstufe gibt es Menschen, die an Politik interessiert sind und solche, die sich nicht für Politik interessieren. Auch die Möglichkeit der Beeinflussung der M 2 Beschluss der Vollversammlung des Landesjugendrings Wahlberechtigten durch die Parteien ist in allen Generationen Baden-Württemberg am 25. März 2006 gegeben. Die wahlkämpfenden Parteien geben ja nicht umsonst viel Geld dafür aus, Menschen zu beeinflussen. (...) Dass viele JuDer Landesjugendring Baden-Württemberg fordert eine Absengendliche sich selber als noch nicht reif zum Wählen einschätzen, kung des aktiven Wahlalters für Kommunal- und Landtagswahbringt deren Respekt vor der Wichtigkeit und Ernsthaftigkeit von len auf 14 Jahre. Diese Absenkung des Wahlalters muss von einer Wahlen zum Ausdruck und kann nicht gegen eine Absenkung des Verstärkung der schulischen und außerschulischen politischen Wahlalters vorgebracht werden. Es geht darum, dass junge MenBildung flankiert und durch eine Verbesserung der gesellschaftschen überhaupt die Möglichkeit haben, sich an Wahlen zu beteilichen Partizipation junger Menschen ergänzt werden. (...) ligen. (...) Eine Absenkung des Wahlalters ist aus mehreren Gründen drin• Jede Altersgrenze ist beliebig und bringt neue Ungerechtigkeigend geboten. Als Interessensvertretung von Kindern und Juten mit sich. Für die Altersgrenze bei 14 Jahren spricht, dass sich gendlichen trägt der Landesjugendring mit einer solchen Fordebereits jetzt an dieser Altersschwelle einige gesetzlichen Rechte rung dazu bei, mehr Gerechtigkeit zu Gunsten der jungen und Pflichten ändern. Mit diesem Alter beginnt die Religions- und Generation herzustellen und gleichzeitig zu einem größeren Strafmündigkeit. Das bedeutet, dass der Staat Menschen in dieGleichgewicht zwischen den Generationen beizutragen. sem Alter schon viel zutraut. Mit anderen Worten: Wem zugetraut Darüber hinaus bewirkt eine Absenkung des Wahlalters auch, wird, dass er/sie die Religionszugehörigkeit frei wählen kann und dass junge Menschen die Möglichkeit haben, sich am politiVerantwortung für das eigene Handeln übernehmen muss, ist schen Willenbildungsprozess zu beteiligen. Diese Beteiligung auch in der Lage, eine politische Wahlentscheidung zu treffen. halten wir für wichtig – nicht nur, aber auch bei Wahlen. Nicht • Dies wird unterstützt durch entwicklungspsychologische Erzuletzt können junge Menschen dadurch besser in demokratikenntnisse in den Sozialwissenschaften. Ab dem Alter von 12 Jahsche Strukturen hineinwachsen. (...) ren geht der Blick über das eigene enge Lebensumfeld hinaus, die • Durch die demographische Entwicklung werden junge MenUrteilsfähigkeit auch über Vorgänge, die einen nicht selbst direkt schen immer mehr zur Minderheit. Für Baden-Württemberg probetreffen, wächst. In den letzten Jahren wird beobachtet, dass gnostiziert das Statistische Landesamt, dass der Anteil der unter Jugendliche über diese Fähigkeiten immer früher verfügen. Nicht 20jährigen bis 2050 von 22% auf 16% fallen wird, während umsonst nehmen Kinder und Jugendliche in vielen Jugendverbängleichzeitig der Anteil der über 60jährigen von heute 23% auf den schon viel früher an den innerverbandlichen Entscheidungsgut 36% steigen wird. Dadurch werden Wahlen in Zukunft noch prozessen teil. stärker als bisher von älteren Menschen entschieden. Es besteht (c) Beschlossen von der Vollversammlung des Landesjugendrings Baden-Württemberg e.V. die Gefahr, dass sich Politik deshalb zunehmend an den Interesam 25. März 2006. sen der älteren Generation orientiert. (...) M 4 Stefan Eisel: Wahlrecht, Volljährigkeit und Politikinteresse ? Immer wieder wird in Deutschland über eine Absenkung des Wahlalters als Mittel gegen eine angenommene »Politikverdrossenheit« bei Jugendlichen diskutiert. Zuletzt hat der Landtag in Brandenburg im Dezember 2011 mit den Stimmen von SPD, LINKEN, Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU das Wahlalter auf 16 Jahre festgelegt. Der oft emotional geführten Debatte mangelt es allerdings meist an einer nüchternen Bewertung der Fakten. Insbesondere sind bei der Entscheidung über das Wahlalter folgende Gesichtspunkte zu beachten (...): Artikel 38 des Grundgesetzes legt in Absatz 2 zur Wahlberechtigung für die Wahlen zum Deutschen Bundestag fest: »Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.« Für eine Änderung dieser Regelung wäre ein 2/3-Mehrheit im Deutschen Bundestag erM 5 » ... Jugendliche reifen heute wesentlich früher ...« © Gerhard Mester, 2012 forderlich. Zwar können die Bundesländer das jeweiligen Landtags- und Kommunalwahlrecht 16 -Jährige dürfen in Deutschland Mofa fahren, aber nicht ohne grundsätzlich autonom regeln, aber sie orientieren sich meist am Begleitung eines Erwachsenen ein Auto lenken. Sie dürfen in der Bundestagswahlrecht. Zwölf von 16 Bundesländern regeln das Öffentlichkeit Bier trinken, aber keine hochprozentigen AlkohoWahlalter für Landtagswahlen und landesweite Volksabstimmunlika. Ohne Erlaubnis der Eltern dürfen sie eine Diskothek nur bis gen in ihren Landesverfassungen. Das diese nur mit einer Mitternacht besuchen. Bei Gesetzesverstößen fallen 16-Jährige 2/3-Mehrheit bzw. teilweise nur durch Volksabstimmungen geänunter das Jugendstrafrecht. Heiraten darf man zwar ab 16, aber dert werden können, ist eine Änderung des Wahlrechtes vor parnur wenn ein Familiengericht dazu die Genehmigung erteilt und teitaktischen Überlegungen geschützt. In den Landesverfassunder Ehepartner bereits volljährig ist. Kaufverträge, die von Jugen von Bayern (Art 14), Baden-Württemberg (Art. 73), Berlin (Art. gendlichen unter 18 Jahren ohne Zustimmung des gesetzlichen 39), Hessen (Art. 73), Niedersachsen (Art. 8), Nordrhein-WestfaVertreters geschlossen werden – zum Beispiel der Kauf eines len (Art. 30), Rheinland-Pfalz (Art. 76), dem Saarland (Art. 64), Computers – sind nur wirksam, wenn sie aus Mitteln bezahlt werSachsen (Art. 4) Sachsen-Anhalt (Art. 42) und Thüringen (Art. 46), den, die ihnen vom gesetzlichen Vertreter oder mit dessen Zuist das Wahlalter ausdrücklich auf die Vollendung des 18. Lebensstimmung von einem Dritten überlassen worden sind. jahres festgelegt. (...) Dieser sog. »Taschengeldparagraph« (§ 110 des Bürgerlichen GeAuch im europäischen Ausland gilt generell die Wahlberechtisetzbuches) gilt bis zur vollen Geschäftsfähigkeit mit Erreichen gung ab 18 Jahren – mit Ausnahme von Österreich, wo 2007 das des 18. Lebensjahres. Wahlalter bei nationalen Wahlen auf 16 Jahre gesenkt wurde. InEs ist auffällig, dass auch die Befürworter einer Absenkung des ternational lassen bisher außerdem lediglich Brasilien, Nicaragua Wahlalters nicht vorschlagen, dass an diesen Alterseinschränkunund Kuba (wo man von Wahlen gar nicht sprechen kann) ein gen etwas geändert wird. Sie plädieren nicht für eine Absenkung Wahlrecht ab 16 Jahren zu. (...) der Volljährigkeit. So gesehen ist die Wahlberechtigung für MinDie Forderung nach einer Senkung des Wahlalters wirft die Frage derjährige ein Widerspruch in sich, weil es das Wahlrecht von der auf, nach welchen Kriterien das Wahlalter festgelegt werden soll. Lebens- und Rechtswirklichkeit abkoppelt. Bisher galt das Erreichen der Volljährigkeit dafür als entscheidenWenn das Wahlrecht von der Volljährigkeit entkoppelt wird, sind der Maßstab. So kündigte Bundeskanzler Willy Brandt in seiner andere Altersgrenzen willkürlich, weil sie an kein objektives KriteRegierungserklärung »Mehr Demokratie wagen« vom 28. Oktorium geknüpft sind. Nach der Volljährigkeit ist im deutschen ber 1969 miteinander verbunden Gesetzesinitiativen zur AbsenRechtssystem allenfalls die Strafmündigkeit ab dem 14. Lebenskung des Wahlalters und der Volljährigkeit an. Die Umsetzung jahr (§ 19 Strafgesetzbuch) ein wesentlicher Einschnitt. Mit dem erfolgte zur Bundestagswahl 1972 mit der Absenkung des aktiven Erreichen des 16. Lebensjahres werden hingegen nur einige EinWahlalters und (wegen der Vielzahl rechtlicher Folgeregelungen schränkungen des Jugendschutzes gelockert (z. B. Ausgang ohne zeitlich verzögert) 1975 mit der Herabsetzung der Volljährigkeit Erwachsenenbegleitung bis 24 Uhr). (...) (und damit der passiven Wahlberechtigung) auf 18 Jahre. Oft wird als Begründung für eine Senkung des Wahlalters das verDer Vorschlag nach einer weiteren Senkung des Wahlalters wird meintlich hohe Politikinteresse von minderjährigen Jugendlichen allerdings nicht mit der Forderung nach einer weiteren Absenangeführt. Dafür gibt es keine empirischen Belege. Im Gegenteil kung der Volljährigkeitsgrenze verbunden. Die sich daraus ergestimmen die vorliegenden Studien darin überein, dass das Politibende Entkoppelung von Wahlberechtigung und Volljährigkeit kinteresse von 16/17-Jährigen deutlich geringer ausgeprägt ist als führt zur grundsätzlichen Problematik, ob Bürgerrechte wie das das von älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Wahlrecht nicht an die Bürgerpflichten gebunden sein sollten, (c) Stefan Eisel: Wahlrecht, Volljährigkeit und Politikinteresse ?, (Konrad-Adenauer-Stfdie zur Volljährigkeit gehören. tung), www.kas.de/wf/de/33.29980/ Der innere Zusammenhang zwischen Wahlalter und Volljährigkeit konkretisiert sich in der Frage, warum jemand über die Geschicke der Gesellschaft mitentscheiden soll, den diese Gesellschaft noch nicht für reif genug hält, seine eigenen Lebensverhältnisse zu regeln: D&E Heft 65 · 2013 »Wa hl a lt er 16 « - eine Ch a n ce z ur Überw ind un g d er P o l it ik v erd ro s se nheit ? 61 Fit für‘s Wählen? Ergebnisse einer experimentellen Studie zum Wahlrecht ab 16 Dr. Jan Kercher Universität Hohenheim Studie: Politikverständnis und Wahlalter Übersicht 1. Vorbemerkung: Zur Entstehung der Studie 2. Forschungsfrage & Untersuchungsdesign 3. Ausgewählte Ergebnisse 4. Fallbeispiele: Befunde zum Wahlverhalten von Jungwählern in Österreich und Bremen 5. Schlussfolgerungen 6. Zusatzauswertungen Jan Kercher Studie: Politikverständnis und Wahlalter Vorbemerkung: Zur Entstehung der Studie Idee: von Studierenden, entstand im Rahmen eines Seminars zur Verständlichkeit von deutschen Politikern Keine Auftragsstudie, sondern unabhängige wissenschaftliche Studie, finanziert durch Lehrstuhl-Mittel Jan Kercher Studie: Politikverständnis und Wahlalter Forschungsfrage: Bestehen signifikante Unterschiede zwischen heutigen Erstwählern (18 bis 21 Jahre) und Jugendlichen im Alter von 16 bis 17 Jahren in Bezug auf das politische Wissen und Verständnis? Hintergrund: In Deutschland wird immer wieder eine Herabsetzung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre bei Landtags- und Bundestagswahlen diskutiert. Nachbarland Österreich: Hier gilt seit der Nationalratswahl 2008 ein Wahlalter von 16 Jahren. In Bremen wurde 2009 das Wahlalter bei Landtagswahlen auf 16 Jahre abgesenkt (erste Wahl: 2011), Brandenburg folgte 2011. Jan Kercher Studie: Politikverständnis und Wahlalter Untersuchungsdesign Durchführung eines Experiments mit 171 Schülern und Studierenden. (Berücksichtigt wurden bei der Auswertung dann jedoch nur die 134 deutschen Muttersprachler, um Verständnisprobleme aufgrund von mangelnden Sprachkenntnissen ausschließen zu können.) 1. Vorbefragung zu politischem Interesse und politischem Wissen 2. Darbietung von vier kurzen Politiker-Ansprachen (von Merkel, Beck, Westerwelle, Lafontaine) 3. Nach der Darbietung der Politiker-Reden: Verständnistest Drei zentrale Vergleichsvariablen: Politisches Interesse Politisches Wissen Verständnis der Politiker-Reden Jan Kercher Studie: Politikverständnis und Wahlalter Exkurs: Experimentaluntersuchungen & Fallzahlen Experimentaluntersuchungen streben – im Gegensatz zu repräsentativen Untersuchungen – keine Repräsentativität an. Stattdessen sollen kausale Beziehungen zwischen bestimmten Merkmalen (z.B. Alter, Bildung, politisches Wissen) untersucht werden. Für die Untersuchung dieser Zusammenhänge sind keine repräsentativen Stichproben nötig, häufig wären diese sogar eher hinderlich. Stattdessen wird meistens versucht, über Quotierungen alle relevanten Merkmale in allen relevanten Ausprägungen (z.B. unter 18 vs. über 18 Jahre) in ausreichender Fallzahl (~ min. 30 Personen pro Gruppe) in der Stichprobe abzubilden. Jan Kercher Studie: Politikverständnis und Wahlalter Ergebnisse: Politisches Interesse (0-10) 10 5,6 5,9 5,1 5,2 Unter 18 3,4 n.s.** 0 4,0 n.s.** n.s.** N=134 N=134 N=134 Persönl. Bedeutung von Politik Informationsorientierte Mediennutzung Gespräche über Politik Interesse = Durchschnittliche Selbsteinstufung der Teilnehmer auf einer Skala von 0 bis 10 (Wichtigkeit von Politik für das eigene Leben, Häufigkeit der Mediennutzung als politische Informationsquelle, Häufigkeit von Gesprächen über Politik). 18 und älter Jan Kercher Studie: Politikverständnis und Wahlalter Ergebnisse: Politisches Wissen (in %) 100% 76,1 56,4 Unter 18 34,9 36,2 41,1 18 und älter 30,3 sig.** sig.** sig.** N=134 N=80 N=56 Alle Gymn./Studienanf. Haupts./Berufs. 0% Objektives Wissen = Anteil der im Wissenstest erzielten Punkte an allen Punkten (0-16 mögliche Punkte), unter Berücksichtigung einer Ratekorrektur. ** sig. = Gruppenunterschiede sind statistisch signifikant, n.s. = nicht signifikant Jan Kercher Studie: Politikverständnis und Wahlalter Ergebnisse: Politiker-Verständnis (in %) 100% 76,2 64,4 69,9 67,8 64,9 52,7 Unter 18 18 und älter sig.** sig.** sig.** N=134 N=80 N=56 Alle Gymn./Studienanf. Haupts./Berufs. 0% Objektives Verständnis = Anteil der in den Verständnistests erzielten Punkte an allen Punkten (0-19,5 mögliche Punkte), unter Berücksichtigung einer Ratekorrektur. ** sig. = Gruppenunterschiede sind statistisch signifikant, n.s. = nicht signifikant Jan Kercher Studie: Politikverständnis und Wahlalter Zusammenfassung Die TeilnehmerInnen unter 18 Jahren hatten in beiden Bildungsgruppen ein deutlich und signifikant geringeres politisches Wissen. Auch das Verständnis der Politiker-Reden fiel bei den TeilnehmerInnen unter 18 Jahren in beiden Bildungsgruppen signifikant geringer aus. Beim politischen Interesse waren hingegen keine signifikanten Unterschiede zwischen den Altersgruppen feststellbar. Jan Kercher Studie: Politikverständnis und Wahlalter Schlussfolgerungen Die nachgewiesenen Wissens- und Verständnisunterschiede können nicht auf das unterschiedliche politische Interesse in den beiden Altersgruppen zurückgeführt werden. Es ist deshalb anzunehmen, dass gerade die politische Bildung in den Berufsschulen und der gymnasialen Oberstufe zu einem signifikanten Anstieg beim politischen Wissen und Verstehen führt. Daraus folgt, dass sich die Wissens- und Verständnisunterschiede zwischen beiden Altersgruppen durch ein Vorziehen politischer Bildungsinhalte in der schulischen Ausbildung verringern ließen – unabhängig vom jeweiligen Bildungsweg. Um zu vermeiden, dass eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre für einen Großteil der neuen Erstwähler eine Überforderung darstellt, sollte im Vorfeld eine entsprechende Anpassung der Lehrpläne stattfinden (vgl. „Kronentheorie“ vs. „Lokomotivtheorie“). Jan Kercher Fallbeispiele: Österreich & Bremen Österreich 2008 Problem: Mangelnde Vorbereitung der Jungwähler „Normaler Weise wäre der erste Schritt nämlich die Vorbereitung der jungen Menschen auf diese Situation. Und das hat man etwas verschlafen.“ Walter Steidl, Vorsitzender der SPÖ-Fraktion im Nationalrat Jan Kercher Fallbeispiele: Österreich & Bremen Nationalratswahl Österreich 2008: Wahlverhalten nach Alter 9 9 17 29,3 22 27 17 SPÖ 11 15 17 26 12 21 24 Grüne FPÖ 21 10 1 ÖVP 10,4 BZÖ Sonstige 3 6 5 17,5 23 23 10,7 keine Angabe 6,1 16-jährige Befragte 17-jährige Befragte 18-jährige Befragte Wahlergebnis Jan Kercher Quelle: Sora-Studie „Wählen mit 16“ - Eine Post Election Study zur Nationalratswahl 2008 Fallbeispiele: Österreich & Bremen Nationalratswahl Österreich 2008: Wahlbeteiligung nach Alter 78,8 77,0 Alle 16- und 17-Jährige Jan Kercher Quellen: Österreichisches Bundesministerium für Inneres, Sora-Studie „Wählen mit 16“ - Eine Post Election Study zur Nationalratswahl 2008 Fallbeispiele: Österreich & Bremen Bremen 2011: Intensive Vorbereitung der Jungwähler Juniorwahl des Berliner Vereins Kumulus e.V.: Teilnehmer: 84 Schulen mit insgesamt 13.384 Schülerinnen und Schülern der Klassenstufen 7 bis 13 Vier Wochen vor der Wahl: Behandlung des Themas „Wahlen und Demokratie“ im Unterricht ( 6,6 Schulstunden) Eine Woche vor der Wahl: möglichst realitätsnahe Simulation der Wahl in jeder Schule Projekt „Demokratie macht Schule“ des Vereins Mehr Demokratie e.V. (Workshops & Planspiele) „Wahlwette“: 25 Klassen gegen Fußballer Sebastian Prödl Gewinnung von jungen Wahlhelfer/innen (25 % SchülerInnen) Kommunikationskampagne „Neues Wahlrecht“ Jan Kercher Quelle: Landeswahlleiter Bremen Fallbeispiele: Österreich & Bremen Bremen 2011: Intensive Vorbereitung der Jungwähler Jan Kercher Quelle: Landeswahlleiter Bremen Fallbeispiele: Österreich & Bremen Landtagswahl 2011 in Bremen: Wahlverhalten nach Alter 38,6 33,0 28,5 22,5 20,3 11,2 5,6 7,3 2,4 SPD CDU Grüne Linke 4,2 FDP Alle 6,0 3,7 2,0 BIW 1,9 Piraten 4,5 1,6 NPD 3,4 3,3 Sonstige 16-17-Jährige Jan Kercher Quelle: Landeswahlleiter Bremen Fallbeispiele: Österreich & Bremen Zum Vergleich: Baden-Württemberg 2011 39,0 34,0 23,1 23,0 24,2 17,2 8,7 5,3 4,4 CDU SPD B' 90 / Die Grünen FDP Landtagswahl 2,8 3,4 2,1 Die Linke Piraten 3,9 1,0 NPD 5,4 2,5 Sonstige U18-Wahl Jan Kercher Quellen: Landeswahlleiter Baden-Württemberg, Landesjugendring BadenWürttemberg e.V. Fallbeispiele: Österreich & Bremen Landtagswahl 2011 in Bremen: Wahlbeteiligung nach Alter Alle 51,0 16-17 48,6 16-20 48,6 21-24 39,8 25-29 40,4 30-34 35-39 40-44 45-49 50-59 43,6 50,5 53,1 52,2 55,1 60-69 70+ 60,0 52,1 Jan Kercher Quelle: Landeswahlleiter Bremen Fallbeispiele: Österreich & Bremen Zum Vergeich: Landtagswahl Baden-Württemberg 2011 Alle 67,3 18-20 56,4 21-24 47,0 25-29 46,5 30-34 35-39 40-44 45-49 50-59 50,0 56,8 62,3 65,1 67,3 60-69 70+ 74,1 67,3 Jan Kercher Quelle: Landeswahlleiter Baden-Württemberg Fallbeispiele: Österreich & Bremen Fazit Sowohl in Österreich als auch in Bremen lag die Wahlbeteiligung der jüngsten Wähler nicht viel niedriger als bei allen Wählern. Sowohl in Österreich als auch in Bremen wählten die die jüngsten Wähler mit höherer Wahrscheinlichkeit eine rechtsradikale Partei als alle Wähler. Das bedeutet: Trotz der intensiven Wahl-Vorbereitung der Jungwähler in Bremen konnte nicht verhindert werden, dass diese deutlich häufiger die NPD wählten als ältere Wähler. Zwei Schlussfolgerungen: Eventuell war die Vorbereitung der Jungwähler in Bremen zu kurzfristig („Wahl-Crashkurs“). In Bundesländern, in denen rechtsradikale Parteien in der Nähe der Fünf-Prozent-Hürde liegen, könnte eine Absenkung des Wahlalters diesen durchaus zusätzliche Sitze im Parlament bescheren. Jan Kercher Zusatzauswertungen Diskussion Im Rahmen der Diskussion der vorangegangenen Vortragsinhalte wurde u.a. die Frage gestellt, wie das Wahlverhalten der gesamten Jungwähler im Vergleich zu den 16- und 17-Jährigen bei der Landtagswahl in Bremen 2011 ausgesehen habe. Die repräsentative Wahlstatistik des Bremer Wahlleiters gibt als jüngste Altersgruppe die Wählergruppe von 16 bis 14 Jahren aus. Deren Wahlverhalten wird in der folgenden Abbildung mit der Gruppe der 16- bis 17-Jährigen verglichen.* Wie sich hierbei zeigt, kommt es zwischen diesen beiden Gruppen v.a. bei SPD, Linke, FDP und BIW zu größeren Unterschieden. Bei der NPD hingegen zeigen sich kaum Unterschiede zwischen beiden Gruppen. Mit anderen Worten: Die 16-17-Jährigen tendierten in Bremen – wenn überhaupt – nur geringfügig stärker zur NPD als die Gesamtgruppe der 16-24-Jährigen. Es kann vermutet werden, dass dieses Ergebnis eine Folge der intensiven Vorbereitung der 16- und 17-Jährigen auf die Landtagswahl ist (vgl. vorige Folien). Hierbei ist anzumerken, dass es sich bei den Daten zu den 16- bis 24-Jährigen um Daten der repräsentativen Wahlstatistik handelt, während es sich bei den Daten zu den 16- bis 17-Jährigen um Daten aus sog. „Exit Polls“ handelt. Jan Kercher Zusatzauswertungen Bremen 2011: 16-17-Jährige vs. 16-24-Jährige 34,4 33,0 30,3 28,5 11,2 11,3 7,3 5,9 4,5 4,2 2,3 SPD CDU Grüne Linke FDP 16-17-Jährige 6,0 5,6 4,5 4,2 2,0 BIW 3,3 1,5 Piraten NPD Sonstige 16-24-Jährige Quelle: Elisabeth Vierhaus, Stellvertretende Landeswahlleiterin der Stadt Bremen: Anhörung der Enquete-Kommission 16/2 „Bürgerbeteiligung“ zum Thema „Kinder- und Jugendbeteiligung/Mitbestimmung in der Schule“ (S. 8). Jan Kercher Zusatzauswertungen Buch: „Jugend, Politik und Medien“ Vor dem Beginn der Veranstaltung wies Frau Rohde auf das soeben neu erschienene Buch „Jugend, Politik und Medien“ von Jens Tenscher und Philipp Scherer hin. Hierbei handelt es sich um eine Befragungsstudie mit 1.714 Jugendlichen aus Rheinland-Pfalz im Alter von 14 bis 18 Jahren, die im Jahr 2005 durchgeführt wurde. Die Studie enthält einige Befunde, die auch für die Diskussion zur Wahlalter-Senkung relevant sind. Diese sollen im Folgenden vorgestellt werden. Quellen: Jens Tenscher / Philipp Scherer (2012): Jugend, Politik und Medien: Politische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in RheinlandPfalz. Münster: LIT-Verlag. Jan Kercher Zusatzauswertungen Parteipräferenzen der Jugendlichen (Sonntagsfrage) Im Rahmen der Befragung wurden die Jugendlichen auch gefragt, welche Partei sie wählen würden, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahlen wären und sie wahlberechtigt wären (Sonntagsfrage). Vergleicht man diese Ergebnisse mit dem tatsächlichen Wahlergebnis zur Bundestagswahl 2005 in Rheinland-Pfalz (vgl. nächste Folie), so fällt auf, dass es v.a. bei den kleineren Parteien zu deutlichen Abweichungen zwischen allen Wählern und den befragten Jugendlichen kommt. So schneiden Bündnis 90 / Die Grünen bei den Jugendlichen deutlich besser ab als beim tatsächlichen Wahlergebnis, die FDP und PDS/Die Linke hingegen deutlich schlechter. Allerdings schneiden auch die rechtsradikalen Parteien bei den Jugendlichen deutlich besser ab (5,3 Prozent) als beim tatsächlichen Wahlergebnis (2,4 Prozent).* Wie sich bei einem Geschlechtervergleich zeigt, liegt dies v.a. an einer starken Tendenz der männlichen Jugendlichen zu rechtsradikalen Parteien (8,0 Prozent vs. 2,0 Prozent bei den weiblichen Jugendlichen). * Hierbei muss jedoch angemerkt werden, dass die DVU bei der Bundestagswahl nicht antrat, bei der Befragung der Jugendlichen aber abgefragt wurde. Bei den Ergebnissen der Befragung ist jedoch nur das Gesamtergebnis für alle drei rechtsradikalen Parteien angegeben. Jan Kercher Zusatzauswertungen RLP 2005: 14-18-Jährige vs. Wahlergebnis bei der BTW 2005 39,1 36,9 34,6 32,1 15,8 11,7 7,3 5,6 3,4 CDU SPD Grüne FDP Alle 5,3 1,5 Linke/PDS 2,4 1,5 NPD/DVU/REP Sonstige 14-18-Jährige Quellen: Jens Tenscher / Philipp Scherer (2012): Jugend, Politik und Medien: Politische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in RheinlandPfalz. Münster: LIT-Verlag (S. 178). / Bundeswahlleiter 2,8 Jan Kercher Zusatzauswertungen RLP 2005: 14-18-Jährige, Jungen vs. Mädchen 40,7 36,6 37,2 28,4 17,4 14,5 8,0 3,8 SPD CDU Grüne 14-18-jährige Jungen 2,9 FDP 1,7 2,0 1,3 WASG/PDS NPD/DVU/REP 2,9 Sonstige 14-18-jährige Mädchen Quellen: Jens Tenscher / Philipp Scherer (2012): Jugend, Politik und Medien: Politische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in RheinlandPfalz. Münster: LIT-Verlag (S. 178). / Landeswahlleiter Rheinland-Pfalz 2,6 Jan Kercher Zusatzauswertungen Politisches Wissen & Einstellungen zum Wahlalter In der Befragung der Jugendlichen aus Rheinland-Pfalz wurde auch deren politisches (Fakten-)Wissen erfasst (anhand von 14 Wissensfragen). Wie sich hierbei sehr deutlich zeigt, steigt das politische Wissen der jugendlichen mit jedem Lebensjahr stetig an. Während der Anteil der Jugendlichen, die 75 Prozent oder mehr der Fragen korrekt beantworteten, bei den 14-Jährigen noch bei lediglich 16,9 Prozent liegt, steigt er über die folgenden Altersgruppen bis auf 77,8 Prozent bei den 18-Jährigen. Der größte Anstieg ist hier zwischen 15 und 16 Jahren zu verzeichnen (Steigerung des Anteils um 64 Prozent). Die Zustimmung zu einem Wahlrecht ab 16 Jahren sinkt hingegen mit zunehmendem Alter: Von 38,2 Prozent bei den 14-Jährigen auf 23,3 Prozent bei den 18-Jährigen. Damit hat das Wahlrecht ab 16 Jahren im Vergleich zum Wahlrecht ab 18 Jahren nur bei den 14-Jährigen eine relative Mehrheit, in allen anderen Altersgruppen findet das Wahlrecht ab 18 Jahren eine höhere Zustimmung. Quelle: Jens Tenscher / Philipp Scherer (2012): Jugend, Politik und Medien: Politische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in RheinlandPfalz. Münster: LIT-Verlag (S. 85f.). Jan Kercher Zusatzauswertungen Rheinland-Pfalz 2005: Politisches Wissen von Jugendlichen 14,7 10,7 8,4 2,7 2,9 17,7 35,5 47,7 bis 25% 62,1 25% - 50% 67,2 50% - 75% 77,8 über 75% 61,5 42,9 1.714 Befragte 26,1 16,9 14 Jahre 15 Jahre 16 Jahre 17 Jahre 18 Jahre Quelle: Jens Tenscher / Philipp Scherer (2012): Jugend, Politik und Medien: Politische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in RheinlandPfalz. Münster: LIT-Verlag (S. 86). Jan Kercher Zusatzauswertungen Rheinland-Pfalz 2005: Einstellungen zum Wahlalter 12,2 7,1 2,5 * 32 37,2 23,3 38,4 38,2 ab 14 Jahren ab 16 Jahren 60,4 37,6 45 69,4 ab 18 Jahren ist mir egal 51,7 1.714 Befragte 10,4 9,1 5,3 7,1 5,8 14 Jahre 15 Jahre 16 Jahre 17 Jahre 18 Jahre Jan Kercher Quelle: Jens Tenscher / Philipp Scherer (2012): Jugend, Politik und Medien: Politische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in RheinlandPfalz. Münster: LIT-Verlag (S. 177). (* Zahl geschätzt, in Quelle nicht genau angegeben). Kontakt / Ansprechpartner Dr. Jan Kercher Universität Hohenheim Fachgebiet für Kommunikationswissenschaft (540c) Fruwirthstr. 46 70599 Stuttgart Tel.: 0711 / 459-22287 E-Mail: [email protected] Homepage: komm.uni-hohenheim.de/kercher Jan Kercher