3. Das Leben Augustinus Franz Kropfreiters

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Musiktheoretische Untersuchungen zu
ausgewählten a cappella-Motetten
Augustinus Franz Kropfreiters
aus seinen letzten Lebensjahren
Diplomarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades Magister artium
an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz
vorgelegt von
ANJA KANDLBAUER
Diese Arbeit wurde im Rahmen der Studienrichtung
Lehramtsstudium Musikerziehung
am Institut 1 für Komposition, Musiktheorie, Musikgeschichte und
Dirigieren unter der Betreuung von
Ass.Prof. Mag.art. Dr.phil. Johannes Steinwender
verfasst.
Graz, Juni 2013
_________________________________
________________
(Name in Blockbuchstaben)
(Matrikelnummer)
Erklärung
Hiermit bestätige ich, dass mir der Leitfaden für schriftliche Arbeiten an der KUG
bekannt ist und ich diese Richtlinien eingehalten habe.
Graz, den………………………………..
…………………………………………………
Unterschrift der Verfasserin / des Verfassers
Abstract
Deutsch
Die Motette als wichtige Gattung der Vokalmusik nahm ihren Ausgang um 1200 in
Paris und hielt sich bis in die Gegenwart. Diese Entwicklung wird in einem gesonderten
Kapitel dargestellt. Auch Augustinus Franz Kropfreiter, dessen wichtigste Stationen in
dieser Arbeit festgehalten werden, beschäftigte sich in seiner zweiten Lebenshälfte
zunehmend mit dieser Gattung. Zur Untersuchung wichtiger Kompositionsmerkmale
werden Motetten aus Kropfreiters letzten Lebensjahren analysiert. Er orientierte sich in
seiner musikalischen Umsetzung am sehr genau zusammengestellten Text und machte
diesen somit zum Ausgangspunkt seiner Kompositionen. Die Arbeit mit bevorzugten
Intervallen und stufenweisen Bewegungen, Vermeidung der Festlegung auf eine
Tonalität sowie häufige Taktwechsel sind nur einige der Merkmale von Kropfreiters Stil
in den untersuchten Motetten. Abgesehen von den Analysen beschäftigt sich diese
Arbeit auch mit den musikalischen Vorbildern Kropfreiters. Dazu gehören Anton
Heiller, Frank Martin, Paul Hindemith und Johann Nepomuk David. Anfangs orientierte
sich Kropfreiter an diesen, durch die Beschäftigung mit der Zwölftontechnik löste er
sich aber zunehmend von seinen Vorbildern und fand in der Polytonalität eines seiner
wichtigsten kompositorischen Mittel.
Englisch
The motet is one of the most significant categories of vocal music. It originated in Paris
in 1200 and continued to be in existence up to the present. This development is
described in a separate chapter. Augustinus Franz Kropfreiter, whose most relevant
stages of life will be explained, worked increasingly on the motet form in the second
half of his life. In order to investigate the characteristic features of his style of
composition, motets of Kropfreiter’s endmost years will be analyzed. In his musical
realization he focused on a precise text compilation, which served as the starting point
for his compositions. Working with preferred intervals, avoidance of tonality, gradual
movements and frequent bar changes mark some of the characteristic elements in
iii
Kropfreiter’s style of composition, which will become apparent in the motets analyzed.
Apart from the analyses, this paper provides an overview of Kropfreiter’s influencing
role models. These role models include Anton Heiller, Frank Martin, Paul Hindemith
and Johann Nepomuk David. In the beginning of Kropfreiter’s career he followed them
with regard to the style of his compositions. As soon as he started to use twelve-tone
technique, he deviated and finally turned to polytonality as one of his most prominent
compositional feature.
iv
Vorwort
Die Arbeit an einem unerforschten Themengebiet war für mich Neuland und somit eine
große Herausforderung. Sie war mir aber auch Motivation und Freude, durch meine
Untersuchungen einen neuen wissenschaftlichen Beitrag zu den Motetten Augustinus
Franz Kropfreiters zu leisten. Ich hoffe, durch meine Arbeit andere Menschen dazu
anzuregen, sich mit der Musik Kropfreiters näher zu beschäftigen und diese zu
verbreiten. Ein großes Dankeschön gilt in dieser Hinsicht meinem Betreuer Ass.Prof.
Mag.art. Dr.phil. Johannes Steinwender, der mich zu dieser Arbeit inspiriert hat und mir
während des Arbeitsprozesses hilfreich zur Seite stand. Ebenso möchte ich mich bei
MMag. Klaus Sonnleitner, Stiftsorganist und Gastmeister von St. Florian, bedanken, der
sich bereit erklärte, mir bei Fragen jederzeit weiterzuhelfen.
Das Notenmaterial für alle Analysen dieser Arbeit habe ich von Ass.Prof. Mag.art.
Dr.phil. Johannes Steinwender erhalten. Da die Noten lediglich als Manuskripte
vorlagen, wurden alle verwendeten Notenbeispiele von mir neu editiert.
v
Anmerkungen zur Lesbarkeit des Analyseteils
Die folgenden Zeichen sollen das Lesen der Notenbeispiele erleichtern, sodass im Text
Erwähntes im Notenbild sofort ersichtlich wird.
Akkord am Ende einzelner Abschnitte
Hervorhebung im Text erwähnter Motive (Tonfolgen)
Hervorhebung im Text erwähnter Motive (Tonfolgen)
Tonumfang in einzelnen Abschnitten
Sprünge in der Melodie (selten: stufenweise Bewegung)
Hervorhebung bestimmter Intervalle zwischen zwei Stimmen
Dreiklänge
Dreiklangzerlegung
Kennzeichnung von Vorhalten, Durchgangs- und Wechselnoten
vi
Inhaltsverzeichnis
Abstract……………………………………………………………………………….. iii
Vorwort………………………………………………………………………………… v
Anmerkungen zur Lesbarkeit des Analyseteils…………………………………….. vi
1.
Einleitung ................................................................................................................. 1
2.
Literaturbericht ....................................................................................................... 3
3.
Das Leben Augustinus Franz Kropfreiters ........................................................... 4
4.
Die Geschichte der Motette .................................................................................... 9
5.
4.1.
Die Entstehung der Motette........................................................................................... 9
4.2.
Die Motette im Mittelalter........................................................................................... 10
4.2.1.
Die Notre-Dame-Epoche .................................................................................................. 10
4.2.2.
Die Ars antiqua ................................................................................................................ 11
4.2.3.
Die Ars nova .................................................................................................................... 12
4.2.4.
Die Motette außerhalb Frankreichs .................................................................................. 13
4.3.
Die Motette in der Renaissance ................................................................................... 14
4.4.
Die Motette im 17. und 18. Jahrhundert...................................................................... 18
4.5.
Die Motette im 19. und 20. Jahrhundert...................................................................... 22
4.6.
Zusammenfassung ....................................................................................................... 26
Die Motette bei Augustinus Franz Kropfreiter .................................................. 28
5.1.
Der Stellenwert der Motette in Kropfreiters Werk ...................................................... 28
5.2.
Die Texte in Kropfreiters Motetten ............................................................................. 30
5.3.
Die Widmungen in Kropfreiters Motetten .................................................................. 32
5.4.
Zusammenfassung ....................................................................................................... 35
vii
6.
Analysen ................................................................................................................. 37
6.1.
6.1.1.
Allgemeine Informationen ............................................................................................... 37
6.1.2.
Textliche Analyse............................................................................................................. 38
6.1.3.
Formale Analyse .............................................................................................................. 39
6.1.4.
Musikalische Analyse ...................................................................................................... 40
6.1.5.
Zusammenfassung ............................................................................................................ 54
6.2.
Trachtet nach dem Reich Gottes ................................................................................. 55
6.2.1.
Allgemeine Informationen ............................................................................................... 55
6.2.2.
Textliche Analyse............................................................................................................. 55
6.2.3.
Formale Analyse .............................................................................................................. 58
6.2.4.
Musikalische Analyse ...................................................................................................... 58
6.2.5.
Zusammenfassung ............................................................................................................ 72
6.3.
Niemand zündet ein Licht an ...................................................................................... 73
6.3.1.
Allgemeine Informationen ............................................................................................... 73
6.3.2.
Textliche Analyse............................................................................................................. 73
6.3.3.
Formale Analyse .............................................................................................................. 75
6.3.4.
Musikalische Analyse ...................................................................................................... 75
6.3.5.
Zusammenfassung ............................................................................................................ 89
6.4.
7.
Es ist unmöglich .......................................................................................................... 37
Zusammenfassung ....................................................................................................... 90
Die Kompositionstechnik Kropfreiters ............................................................... 92
7.1.
Musikalische Vorbilder und Stileinflüsse ................................................................... 92
7.2.
Die Kompositionstechnik in den Motetten.................................................................. 96
7.3.
Zusammenfassung ..................................................................................................... 105
8.
Resümee................................................................................................................ 108
9.
Quellenverzeichnis .............................................................................................. 110
10. Anhang ................................................................................................................. 115
viii
1. Einleitung
Bald ist es zehn Jahre her, dass Augustinus Franz Kropfreiter in St. Florian verstarb.
Obwohl seitdem mittlerweile ein Jahrzehnt vergangen ist, ist seine Musik – bis auf
wenige Ausnahmen – noch immer unerforscht und bietet ein sehr überschaubares
Angebot an Literatur. Seine Motetten betreffend, auf die in dieser Arbeit der Fokus
gelegt
wird,
liegen
keine
früheren
Forschungsergebnisse
vor.
Mit
den
musiktheoretischen Untersuchungen zu dieser Gattung wird hier somit Neuland
betreten. Es ist ein Ziel dieser Arbeit, die Kenntnisse über die Motetten von Augustinus
Franz Kropfreiter zu erweitern und auf diese Weise einen Forschungsbeitrag zum Werk
dieses Komponisten zu leisten. Vor Beginn der Untersuchungen wurden Leitfragen
erstellt, die im Zuge der Arbeit beantwortet werden sollen. Das zentrale Anliegen ist das
Herausfiltern der Kompositionstechnik, die Kropfreiter in seinen Motetten aus den
letzten Lebensjahren anwandte. Da keine Erkenntnisse zu diesem Thema vorliegen,
werden die Analysen möglichst umfassend (Harmonik, Motivik, Textanalyse etc.)
durchgeführt. Auf diese Weise soll herausgefunden werden, ob es gewisse
Kompositionstechniken gibt, die Kropfreiter immer wieder angewandt hat oder ob sich
die untersuchten Motetten in ihrer Kompositionsweise voneinander unterscheiden.
Als Einführung in die Thematik folgt zu Beginn eine Darstellung der wichtigsten
Stationen im Leben Augustinus Franz Kropfreiters, um einen Überblick über sein
musikalisches Schaffen zu bekommen. Diese Darstellung soll aber auch dazu dienen,
mögliche später auftauchende Fragen durch Anhaltspunkte aus seiner Biographie
erklären zu können. Ein gesondertes Kapitel behandelt die Geschichte der Motette, da es
sich bei dieser Gattung um das zentrale Thema dieser Arbeit handelt. Zu klären sind
daher die Fragen, wie die Motette entstanden ist und wie sie sich im Laufe der
Musikgeschichte entwickelt hat. Im Anschluss daran wird der Fokus auf die Motetten
bei Augustinus Franz Kropfreiter gelegt. In diesem Kapitel soll zunächst
herausgefunden werden, welchen Stellenwert diese Gattung in seinem kompositorischen
Schaffen einnimmt. Weiters soll geklärt werden, woher er die Texte für seine Motetten
bezog und wem seine Werke gewidmet wurden. Dadurch soll eine Hinführung zum
eigentlichen Hauptteil – der Analyse – erfolgen.
1
Das zentrale Kapitel dieser Arbeit umfasst die Analysen zu den Motetten Es ist
unmöglich, Trachtet nach dem Reich Gottes und Niemand zündet ein Licht an. Es sind
dies Werke aus dem Jahr 1999 und somit gegen Ende seines Lebens entstanden.
Untersucht werden die Motetten in Bezug auf Besetzung, Text und formale Gliederung.
Die wichtigsten Untersuchungen erfolgen hier durch die musikalischen Analysen, die
sich auf Harmonik, Rhythmik, Motivik, Intervalle und dergleichen konzentrieren. Durch
diese Vorgehensweise soll die Frage zur Kompositionstechnik in Kropfreiters Motetten
geklärt werden. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen bilden aber auch den
Ausgangspunkt für das darauffolgende Kapitel, das sich mit der Kompositionstechnik
Kropfreiters auseinandersetzt. Hier erfolgt eine Zusammenfassung und Besprechung der
wichtigsten kompositorischen Merkmale in den Motetten. Ebenso gilt es die Frage zu
klären, an welchen musikalischen Vorbildern und Stilen sich Kropfreiter in seinem
Schaffen orientierte. Das abschließende Resümee bringt eine Zusammenfassung der
wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit.
2
2. Literaturbericht
Wie in der Einleitung bereits erwähnt wurde, bietet die Literatur zum gewählten Thema
ein sehr überschaubares Angebot. Eine gute Zusammenfassung des Lebens von
Augustinus Franz Kropfreiter bietet das Buch Augustinus Franz Kropfreiter von
Georgina Szeless aus dem Jahr 2006. Diese Veröffentlichung behandelt neben
wichtigen beruflichen Stationen auch Werke und private Aspekte dieses Komponisten.
Darüberhinaus ist relativ wenig Literatur zu finden. Ein von Wolfgang Kreuzhuber
durchgeführtes Interview mit Kropfreiter wurde im Beitrag Augustinus Franz
Kropfreiter – 40 Jahre Stiftsorganist von St. Florian in der Zeitschrift Singende Kirche
47 (Heft 3) im Jahr 2000 veröffentlicht. Darin ist der Schwerpunkt auf sein Schaffen
und Wirken als Stiftsorganist gelegt, bringt nebenher aber auch interessante Aspekte zu
seiner musikalischen Ausbildung und seinen kompositorischen Einflüssen.
Die Musikalische Dokumentation Augustinus Franz Kropfreiter, die von der
Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek 1999 herausgegeben wurde,
enthält Beiträge des Komponisten sowie von Kurt Neuhauser und Herbert Vogg. Hier
sind neben einer biographischen Zusammenfassung brauchbare Informationen zur
Kompositionstechnik zu finden. Die Diplomarbeit Augustinus Franz Kropfreiter. Musik
und Kultur während seiner Zeit im Stift St. Florian (1977) von Harald Pill behandelt
Kropfreiters Aufgaben im Stift St. Florian, beschäftigt sich aber auch mit seiner
Kompositionstechnik und einigen Werkbesprechungen. Das einzige Werk, das ein
musiktheoretisches Thema behandelt, ist die Diplomarbeit Das Orgelwerk von
Augustinus Franz Kropfreiter von Maria R. Helfgott aus dem Jahr 1999. Einzelne
Erkenntnisse aus dieser Arbeit konnten auch für das hier behandelte Thema
übernommen werden. Die Motetten von Augustinus Franz Kropfreiter wurden bisher
jedoch in keinster Weise musiktheoretisch untersucht, weshalb dazu keine Literatur
vorhanden ist.
3
3. Das Leben Augustinus Franz Kropfreiters
Franz Kropfreiter wurde am 9. September 1936 im oberösterreichischen Hargelsberg
geboren. Mit seinen Eltern Johann und Josefa Kropfreiter sowie mit seinen acht
Geschwistern wuchs er im Kreise der Familie auf. Im Alter von drei Jahren erkrankte
Franz Kropfreiter an einer Gehirnhautentzündung mit Genickstarre, die schließlich zur
vollständigen Ertaubung des rechten Ohres führte. Diese Taubheit beeinträchtigte sein
späteres musikalisches Schaffen jedoch in keinster Weise. Kropfreiter hatte eine starke
Bindung zu seinen Eltern, die ihm stets eine wichtige Stütze waren. Zum Vater Johann
Kropfreiter, der Klarinette und Violine spielte, verband ihn in erster Linie die Liebe zur
Musik. An der Tischlereiwerkstatt des Vaters hatte er hingegen kein Interesse. Im Jahr
1954 – als Kropfreiter bereits im Stift St. Florian war – nahm sich der Vater das Leben.
Ebenso wie Bruckner hatte auch Franz Kropfreiter eine enge Beziehung zu seiner
Mutter und interessierte sich sehr für ihre Kochkünste und die Gartenarbeit. Seinem
Elternhaus in Hargelsberg blieb er sein Leben lang verbunden und kam immer wieder
an den Ort seiner Kindheit zurück.1
Ab 1943 besuchte Franz Kropfreiter die Volksschule in Hargelsberg, wo er als braver
Schüler einen guten Eindruck hinterließ. Während der Volksschulzeit begann er auch
mit seiner musikalischen Ausbildung. Wie bereits seine Geschwister Pepi und Hansl
erhielt Franz Kropfreiter bei Fräulin Poylie seinen ersten Klavierunterricht. Die Musik
spielte im Hause Kropfreiter ohnehin eine bedeutende Rolle und so wurde zu Hause
regelmäßig gemeinsam musiziert. Kropfreiters Schwester Pepi wurde Organistin in
Hargelsberg und ermöglichte ihrem Bruder Franz im Alter von 11 Jahren erstmals auf
der Orgel zu spielen. Das Talent zu improvisieren wurde ihm in die Wiege gelegt und
so kam es, dass er bereits im Kindesalter – ohne darüber nachzudenken – zu
improvisieren begann.2
Nach
der
Volksschulzeit
wechselte
Franz
Kropfreiter
an
das
Bischöfliche
Privatgymnasium Kollegium Petrinum nach Urfahr. Während seiner Gymnasialzeit
1
Georgina Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter (OÖ Publikationen), St. Florian: Trauner Verlag 2006,
S. 12ff.
2
Ebd., S. 15ff.
4
stachen vor allem seine Leistungen und sein enormer Ehrgeiz im Fach Musik ins Auge.
1950 wurde Hermann Kronsteiner – ein bekannter Kirchenmusiker – Kropfreiters
Musikprofessor und ab diesem Zeitpunkt begann seine Laufbahn als Komponist.
Kropfreiter beeindruckte seinen Lehrer in den folgenden Jahren mit vierstimmigen
Kanons, komponierte Introitus und Communio zum Ostersonntag und vertonte
Gedichte. Neben diversen Kompositionen beschäftigte sich der eifrige Musikschüler
aber auch mit Modulationen, Formenlehre und Musikgeschichte. Mit dem zunehmenden
Interesse an Musik schwand aber das Interesse für die anderen Fächer und schließlich
verließ Kropfreiter vorzeitig das Petrinum.3
Das Jahr 1953 wurde durch den Eintritt in das Augustiner Chorherrenstift St. Florian zu
Franz Kropfreiters Schicksalsjahr. Der damals 17-jährige Kropfreiter war als Organist
an der Brucknerorgel vorgesehen und somit seinem Vorbild Anton Bruckner einen
Schritt näher gekommen. Kropfreiter hatte durch die Aufnahme in eine religiöse
Gemeinschaft dieselben Rechte wie die Chorherren, aber auch Verpflichtungen zu
erfüllen. Kropfreiters Gläubigkeit war der Musik verschrieben und so ist es nicht
verwunderlich, dass sich sein musikalisches Schaffen sein ganzes Leben lang in Gottes
Hand befand.4 Mit dem Eintreten in das Stift St. Florian erhielt Franz Kropfreiter den
Ordensnamen Augustinus, nach dem er im Laufe seines kompositorischen Schaffens
mehrere Kompositionen benannte.5 Die Zeit in St. Florian war für Augustinus Franz
Kropfreiter eine sehr lern- und lehrintensive Zeit. Durch das Zusammentreffen mit dem
damaligen Stiftsorganisten Johann Krichbaum konnte er sich für sein eigenes Schaffen
wertvolle Anregungen holen und von dessen Können profitieren. Ab 1954 erhielt
Kropfreiter Orgelunterricht bei Professor Walter Pach, der auch sein einziger
Orgellehrer blieb.6 Pach durfte zur damaligen Zeit wegen seiner Nazitätigkeit nicht an
der Akademie in Wien lehren und kam daher ein bis zwei Mal im Monat ins Stift St.
Florian, um Kropfreiter zu unterrichten.7 1955/56 studierte Kropfreiter beim
3
Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 17.
4
Ebd., S. 18f.
5
Ebd., S. 40.
6
Ebd., S. 19.
7
Wolfgang Kreuzhuber, Augustinus Franz Kropfreiter – 40 Jahre Stiftsorganist von St. Florian, in:
Singende Kirche 47, Heft 3 (2000), S. 153-155, hier S. 153.
5
Komponisten Helmut Eder am Bruckner-Konservatorium in Linz Tonsatz und konnte
bei einem Kompositionswettbewerb den ersten Preis gewinnen. Von 1956 bis 1960
absolvierte Augustinus Franz Kropfreiter sein Studium mit den Fächern Orgel, Choral,
Chorleitung und Musiktheorie an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in
Wien. Er beendete sein Studium 1960 als Jahrgangsbester und erhielt die Zuerkennung
zur „Künstlerischen Reife“.8 Kropfreiter wurde während seines Studiums von sehr
bedeutenden Lehrern betreut. Im Dirigieren war er Schüler von Dr. Hans Gillesberger,
der mit den Werken Anton Bruckners sehr vertraut war, sodass Kropfreiter vor allem
bei der Bruckner-Interpretation viel Wertvolles von Gillesberger lernen konnte.9 Der
Klavierlehrerin Hilde Seidlhofer blieb er ein Leben lang verbunden und wurde von ihr
auch zu Aufführungen seiner Werke begleitet.10
Nach der Beendigung des Studiums in Wien kam Kropfreiter als 24-Jähriger wieder
zurück nach St. Florian und übernahm Johann Krichbaums Stelle als Stiftsorganist an
der Brucknerorgel. Ab 1960 war Kropfreiter auch Lehrer am Institut der Florianer
Sängerknaben und somit mitverantwortlich für Erfolge des Chores im In- und Ausland.
Er nahm diese Aufgabe sehr ernst, musste durch die intensive Lehrtätigkeit auf das
Komponieren aber verzichten. Zusätzlich zur Lehrtätigkeit im Chor unterrichtete
Kropfreiter etwa 15 Schüler im Fach Klavier. 1964 wurde Kropfreiter Regens Chori in
St. Florian und war somit für die gesamte Kirchenmusik verantwortlich. Die Arbeit mit
den Sängerknaben war ein Teil von Kropfreiters Lebenswerk. 1983 übernahm
schließlich Franz Farnberger die künstlerische Leitung dieses Chores.11
Die Orgel war jenes Instrument, das Kropfreiter bereits als Kind in seinen Bann
gezogen hatte und ihn durch sein Wirken in St. Florian bis an sein Lebensende
begleitete. Mit dem Orgelbaumeister Helmut Kögler, mit dem Kropfreiter auch eine
enge Freundschaft verband, reiste er im In- und Ausland umher, um neue Orgeln mit
Konzerten einzuweihen.12 Soweit es die Arbeit zuließ, reiste Kropfreiter gerne in andere
8
Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 19f.
9
Kreuzhuber, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 154.
10
Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 20.
11
Ebd., S. 20f.
12
Ebd., S. 28f.
6
Länder und verarbeitete die dort gesammelten Eindrücke in seinen Werken. Italien –
insbesondere Venedig – zog Kropfreiter auf Reisen immer wieder an. Besonders
angetan war Kropfreiter in Venedig von der Basilika SS. Giovanni e Paolo, wo er vom
Gemälde des heiligen Sebastian von Giovanni Bellini beeindruckt war. Durch diese
Inspiration entstand 1994 schließlich Kropfreiters Trittico – Il mistero di San Sebastiano
für Violine, Klarinette und Violoncello. Auch in Südtirol verbrachte Kropfreiter viel
Zeit bei der befreundeten Familie Tiefenbrunner, denen er 1981 zwei Menuette für
Hackbrett, Zither, Gitarre und Kontrabass widmete. Auch Schweden und insbesondere
die Insel Torrö waren Inspirationsquelle für Kropfreiters Werke. Mit den Besitzern der
Insel Torrö – Familie Östbo – verband ihn eine jahrzehntelange Freundschaft und er
widmete ihnen das Stück Torrö. Auch in die Schweiz hatte Kropfreiter gute
Verbindungen. So verband ihn mit dem Gründer und Leiter der Festival Strings Lucerne
Rudolf Baumgartner eine gute Freundschaft und Kropfreiter wurde die Ehre zuteil, für
dieses weltberühmte Kammerorchester komponieren zu dürfen. 1991 wurde Kropfreiter
von Baumgartner zur Einweihung der Orgel in Castellina in Chianti (Toskana)
eingeladen, was Kropfreiters hohe Wertschätzung als Interpret und Improvisator
bestätigte.13
Augustinus Franz Kropfreiter besaß einen großen Freundeskreis, der sich aus Künstlern
seiner Zeit zusammensetzte. Ein treuer Freund Kropfreiters war Kurt Neuhauser, der für
Kropfreiter zu dessen 65. Geburtstag ein Konzert in der Stiftsbasilika St. Florian
veranstaltete. Freundschaften verbanden Kropfreiter aber auch mit der Dichterin Dora
Dunkl und mit dem Maler Fritz Feichtinger. Eine sehr herzliche und jahrelange
Freundschaft pflegte Kropfreiter zu Johannes Wetzler, der lange Zeit die
Kapellmeisterstelle am Landestheater in Linz inne hatte. Von 1973/74 bis 2001
dirigierte Wetzler die Aufführungen des Stiftschores in St. Florian während Kropfreiter
an seiner geliebten Bruckner-Orgel spielte. Mit Johannes Wetzler unternahm
Kropfreiter zahlreiche Reisen, besuchte Aufführungen seiner Werke und arbeitete mit
ihm an Instrumentierungen. Auch mit dem Leiter des Bachl-Chores – Harald Pill – war
Kropfreiter befreundet. Pill war bereits als Kind von Kropfreiters Musik und seinem
Orgelspiel begeistert und beendete sein Musikstudium in Salzburg mit einer
Diplomarbeit über Augustinus Franz Kropfreiter. Kropfreiter war stets musikalisches
13
Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 41ff.
7
Vorbild und Lehrmeister für Harald Pill und die beiden unternahmen auch gemeinsame
Reisen. Kropfreiter widmete seinem Freund Harald Pill und dem Bachl-Chor die
Passionsmotette Tenebrae factae sunt.14
Kropfreiters Arbeitswille war auch in den letzten Lebensjahren ungebrochen15. Seine
Gesundheit
war
allerdings
angeschlagen
und
so
musste
er
sich
Krankenhausaufenthalten, Kuren und Therapien unterziehen, um seinen Körper wieder
zu stärken.16 Während Kropfreiter in seinen jungen Jahren in ganz Europa, Japan und in
Südamerika umherreiste und Konzerte gab, sah er in den letzten Lebensjahren seine
Hauptarbeit im Komponieren und weniger im Konzertieren.17 Sein letztes Konzert fand
vermutlich 1996 mit dem Organisten Hans Haselböck statt, bei dem über Themen
Anton Bruckners improvisiert wurde. Mit der Verschlechterung von Kropfreiters
Gesundheit nahm auch seine Reiselust immer mehr ab. Im August 2003 unternahm er
jedoch eine Reise nach Einsiedeln in der Schweiz, um die Uraufführung seiner Fantasie
super ´Salve Regina´ per due Organi mitzuerleben. Es sollte dies die letzte
Uraufführung unter der Anwesenheit von Augustinus Franz Kropfreiter sein.
Kropfreiter verstarb schließlich am 26. September 2003 in seiner Wohnung in St.
Florian und wurde am dortigen Konventfriedhof begraben. Die Arbeit an seiner 4.
Symphonie und an einer vom Land Oberösterreich zum Florianjahr 2004 bestellten
Komposition konnte Kropfreiter nicht mehr beenden. Zweitere wurde aber von Dr.
Thomas Daniel Schlee, einem Freund Kropfreiters und bis 1998 Musikdirektor des
Brucknerhauses Linz, fertiggestellt und konnte am 24. Oktober 2004 in der
Stiftsbasilika uraufgeführt werden.18
14
Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 60ff.
15
Ebd., S. 76.
16
Ebd., S. 78.
17
Kreuzhuber, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 153.
18
Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 77ff.
8
4. Die Geschichte der Motette
4.1. Die Entstehung der Motette
Die Motette galt als die erste mehrstimmige Gattung der Musikgeschichte und
entwickelte sich im mittelalterlichen Frankreich. Die frühe Motette stellte aufgrund des
lateinischen Textes und der Zugehörigkeit zur Liturgie allerdings noch einen Grenzfall
dar, denn die Unabhängigkeit von der Liturgie, und somit der weltliche Text, waren
Voraussetzung für die musikalische Gattung der Motette. Die erste Entstehungstheorie
der Motette stammte vom Sprachwissenschaftler Wilhelm Meyer, weshalb es auch nicht
verwunderlich ist, dass er den Text als das gattungsbestimmende Merkmal ansah.19
Meyer war der Meinung, die Motette sei durch die Tropierung von Klauseln entstanden.
Dabei wurden den Oberstimmen im Nachhinein syllabische Texte unterlegt.20 An der
von Meyer entwickelten und von Friedrich Ludwig übernommen Entstehungstheorie
wurden aber zunehmend Zweifel laut. So stimmten etwa Hugo Riemann oder Wolf
Frobenius der Entstehungstheorie dieser beiden nicht zu.21
Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Entstehungsfrage der Motette nicht eindeutig zu
beantworten ist, und dass auch die Theorie von Meyer und Ludwig nicht haltbar ist.
Eine durchaus plausible These stammte von Christopher Page.22 Seiner Meinung nach
entwickelte sich die Motette unter den Notre-Dame-Sängern in Paris. Durch die
Kombination von mensuralen Techniken der Mehrstimmigkeit und weltlichem Liedgut
sei es zur Entstehung der Motette gekommen.23 Dieser Theorie zu Folge entstand die
19
Bernhold Schmid, Die Motette bis in das frühe 15. Jahrhundert, in: Handbuch der musikalischen
Gattungen. Messe und Motette, hrsg. v. Horst Leuchtmann und Siegfried Mauser (Band 9), Laaber:
Laaber-Verlag 1998, S. 15-57, hier S. 15.
20
N.N., Motette, in: Riemann Musiklexikon, hrsg. v. Wolfgang Ruf und Annette van Dyck-Hemming
(Band 3: Kano-Nirv), Mainz: Schott 2012, S. 405-408, hier S. 406.
21
Schmid, Die Motette, S. 16.
22
Ebd., S. 17.
23
Christopher Page, Discarding Images. Reflections on Music and Culture in Medieval France, in:
Bernhold Schmid, Die Motette bis in das frühe 15. Jahrhundert, in: Handbuch der musikalischen
Gattungen. Messe und Motette, hrsg. v. Horst Leuchtmann und Siegfried Mauser (Band 9), Laaber:
Laaber-Verlag 1998, S. 15-57, hier S. 17.
9
Motette als weltliche, volkssprachliche Gattung, die der Unterhaltung des städtischen
Publikums, das sowohl Laien als auch Kleriker umfasste, dienen sollte. Die lateinische
Motette entwickelte sich laut Page aus der weltlichen Motette heraus.24
Auch die Herkunft des Terminus ist nicht eindeutig geklärt. Vermutlich geht der Begriff
auf das altfranzösische Wort mot zurück, das Vers oder Strophe bedeutet. Das Wort
motet ist eine Diminutivform von mot und wurde bereits in der ersten Hälfte des 13.
Jahrhunderts verwendet.25 Etwa ab der Mitte des 13. Jahrhunderts tauchte in der musica
mensurabilis die lateinische Form (motetus) auf, die eine Gattung der Mehrstimmigkeit
bezeichnete, in der zu einer vorhandenen Stimme ein neu komponierte, textierte Stimme
– der sogenannte motetus – hinzukam.26
4.2. Die Motette im Mittelalter
Das erste Auftreten der Motette wurde um 1200 in der Notre-Dame-Epoche
angesiedelt.27 Die Pariser Notre-Dame-Handschriften enthalten Motetten, die sowohl in
lateinischer als auch in französischer Sprache verfasst und bereits bis zur
Dreistimmigkeit ausgeweitet wurden.28 Da sich die Motette – wie oben bereits erwähnt
– in Paris entwickelte, konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf die Motette
in Frankreich.
4.2.1. Die Notre-Dame-Epoche
Als charakteristisches Merkmal in der Motette zur Notre-Dame-Zeit galt die
Verbindung eines Choralausschnitts „mit einer oder mehreren neu komponierten
24
Karl Kügle, Motette, in: Messe und Motette, hrsg. v. Laurenz Lütteken (MGGprisma), Kassel u.a.:
Bärenreiter-Verlag 2002, S. 114-200, hier S. 116.
25
Ruf und van Dyck-Hemming (Hrsg.), Motette, S. 405.
26
Kügle, Motette, S. 114.
27
Ruf und van Dyck-Hemming (Hrsg.), Motette, S. 405.
28
Kügle, Motette, S. 117.
10
Oberstimmen.“ Neuere
Theorien
sprachen
von
einem
aus
der liturgischen
Mehrstimmigkeit stammenden Tenor, zu dem eine neue Oberstimme nach den Regeln
des discantus dazukomponiert wurde.29 Die Motette des frühen 13. Jahrhunderts wurde
durch eine Klausel oder Discantuspartie, der ein neuer Text unterlegt wurde, bestimmt.
Die Motetten dieser Zeit zeigten melodische Einflüsse aus den weltlichen Liedern, da
sich die Oberstimmen häufig an den Refrains solcher orientierten. In den Anfängen
dieser Gattung gab es noch einen engen inhaltlichen und auch kompositorischen
Zusammenhang mit dem Organum. Erst durch die Loslösung vom Organum wurde die
Motette zu einer selbstständigen Gattung und als in sich geschlossenes Werk
komponiert. Die Motetten der Notre-Dame-Epoche waren zunächst zweistimmig, gegen
Ende der Epoche wurden zum Tenor aber bereits zwei Oberstimmen textiert, sodass
vereinzelt auch schon dreistimmige Motetten zu finden waren.30 Thematisch befassten
sich diese Motetten sowohl mit Liebeslyrik als auch mit geistlichen oder politischen
Themen. Mit dem Erstarren der Notre-Dame-Epoche wurde die Motette zur zentralen
Gattung der Ars antiqua.31
4.2.2. Die Ars antiqua
Um etwa 1240 vollzog sich ein Stilwandel von der Notre-Dame-Epoche hin zur Ars
antiqua, die Grenzen verliefen hier fließend und sind nicht exakt abzugrenzen. Auch die
Motette, die die zentrale Gattung der Ars antiqua darstellte, entwickelte sich
kontinuierlich, sodass sie sich schlussendlich wesentlich von den frühen Motetten
unterschied. Die Motette der Ars antiqua war dreistimmig und mehrtextig. Sie wurde als
Doppelmotette komponiert, wobei die beiden Oberstimmen je einen eigenen Text
hatten. Im Regelfall wurden die beiden Oberstimmen gesungen, der Tenor von einem
Instrument gespielt. Die – wie anzunehmen ist – schwer verständliche Doppeltextigkeit
stellte keine große Hürde für das Publikum dar, denn im 13. Jahrhundert wurden die
Motetten nur im kleinen Kreis vor Kennern aufgeführt, die die Motetten kannten oder
29
Kügle, Motette, S. 117.
30
N.N., Europäische Musik in Schlaglichtern, hrsg. v. Peter Schnaus in Zusammenarbeit mit weiteren
Mitarbeitern und Meyers Lexikonredaktion, Mannheim u.a.: Meyers Lexikonverlag 1990, S. 100f.
31
Kügle, Motette, S. 118.
11
sogar bei deren Entstehung dabei waren.32 Die Texte beschäftigten sich weiterhin
vorwiegend mit weltlichen Inhalten und wurden sowohl in französischer als auch in
lateinischer Sprache verfasst.33 Einer der wenigen bekannten Motettenkomponisten
dieser Zeit war Adam de la Halle.34
Das Ende der Ars antiqua wurde vom Petrus-de-Cruce-Stil bestimmt. Charakteristisch
für diesen Stil waren die bis zu sieben, einzeln textierten Semibreven in der
Oberstimme, sodass es dadurch zu einer Verlangsamung der Unterstimmen gegenüber
dem Triplum kam. Diese Neuheit führte zu Notationsproblemen und in der
darauffolgenden Epoche schließlich zur Unterteilung der Brevis.35 Weiters kam es
gegen Ende der Ars antiqua auch zum Auftreten frei komponierter Tenormelodien und
zu einem Zurücktreten der Modalrhythmik. Diese Neuerungen bedeuteten das Ende der
Ars antiqua und führten in eine neue Epoche – die Ars nova.36
4.2.3. Die Ars nova
Ohne scharfe Einschnitte vollzog sich der Übergang von der Ars antiqua zur Ars nova,
die als Epochenbegriff für viele neue Kenntnisse in der Musik stand. Die Bezeichnung
bezog sich in erster Linie auf notationstechnische Neuerungen wie der Einführung
kleinerer Notenwerte und der Gleichstellung von perfekten und imperfekten Mensuren.
Durch die neuen Notationsmöglichkeiten war das Komponieren vielfältigerer und
komplexerer Rhythmen möglich, als dies noch in der Ars antiqua der Fall war.37 Für die
Motette bedeuteten diese Fortschritte neue satztechnische Möglichkeiten und somit das
Entstehen der isorhythmischen Motette.38
32
Schnaus (Hrsg.), Europäische Musik, S. 105ff.
33
Kügle, Motette, S. 119.
34
Ruf und van Dyck-Hemming (Hrsg.), Motette, S. 406.
35
Schmid, Die Motette bis in das frühe 15. Jahrhundert, S. 27ff.
36
Kügle, Motette, S. 120.
37
Schmid, Die Motette bis in das frühe 15. Jahrhundert, S. 29.
38
Kügle, Motette, S. 123.
12
Die isorhythmische Motette bestand weiterhin aus drei Stimmen und war doppeltextig.39
Der Begriff Isorhythmie bezeichnet eine „mehrmalige unveränderte Wiederholung einer
rhythmischen Struktur trotz sich ändernder Melodik.“40 Durch die Wiederholung einer
Tenormelodie und deren Rhythmus fand dieses Gestaltungsprinzip in der Motette
Anwendung.41 Weiters charakteristisch für die Motetten dieser Zeit war das Einbauen
von Hoquetuspassagen.42 Unter Hoquetus sind Musikstücke zu verstehen, bei denen
zwei Oberstimmen abwechselnd von Pausen durchsetzt sind, sodass jeweils eine
Stimme singt bzw. spielt, während die andere Stimme pausiert.43
Während in der Ars antiqua Motetten noch zu Familien zusammengefasst worden sind,
wurden sie in der Ars nova als Einzelstücke komponiert. Klauseln bildeten nicht mehr
den Ausgangspunkt von Kompositionen und die Tenores konnten auch frei erfunden
werden. In der Ars nova komponierten etwa Phillippe de Vitry und Guillaume de
Machaut Motetten.44
4.2.4. Die Motette außerhalb Frankreichs
Auf die Entwicklung der mittelalterlichen Motette im europäischen Bereich wird hier
nur kurz eingegangen. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass die Motette auch
außerhalb Frankreichs vorkam, ihre Entwicklung aber vielerorts von der französischen
Ars antiqua-Motette geprägt war. Trotz dieser Anlehnung an französische Werke kam
es im Laufe des Mittelalters zu eigenständigen Entwicklungen.45
39
Schnaus (Hrsg.), Europäische Musik, S. 119.
40
Reinhard Amon, Lexikon der musikalischen Form, Wien: Doblinger 2011, S. 170.
41
Ebd., S. 239.
42
Ruf und van Dyck-Hemming (Hrsg.), Motette, S. 406.
43
Schnaus (Hrsg.), Europäische Musik, S. 112.
44
Schmid, Die Motette bis in das frühe 15. Jahrhundert, S. 32.
45
Ebd., S. 37.
13
Durch kulturelle und politische Beziehungen zwischen Frankreich und England entstand
ein eigenes Motettenrepertoire in England.46 Beeinflusst wurde das Motettenschaffen in
England sowohl von den Motetten der französischen Ars antiqua als auch der Ars nova.
Diese Einflüsse waren vor allem in Bezug auf die Kompositionstechnik feststellbar,
eine eigenständige Entwicklung der Motetten vollzog sich in England hinsichtlich der
Klanglichkeit.47 Die Ars nova beeinflusste das englische Motettenschaffen ab der Mitte
des 14. Jahrhunderts durch seine typische Isorhythmie.48
Auch im kontinentalen Europa nahm das Motettenschaffen zu. Zum einen versuchten
die Länder die eigenen Traditionen zu bewahren, zum anderen fand eine Beeinflussung
von Seiten ausländischer Entwicklungen statt. Im deutschsprachigen Raum etwa
wurden vorgegebene Motetten umgestaltet, verwandelt und nach eigenen Vorstellungen
adaptiert. Häufig wurden französische Sätze in Bezug auf Rhythmus und Klang
vereinfacht oder die Stimmenzahl geändert. Die deutschen Motetten hatten vorwiegend
lateinische, geistliche Texte und wurden in Kirchen gesungen.49 Auch in Italien begann
ab dem 14. Jahrhundert die Entwicklung der Motette. Anknüpfend an die Ars antiquaMotette kam es in der Gegend um Padua und Venedig zu einer eigenständigen
Gattungsgeschichte. Die italienischen Motetten vermieden Isorhythmie, waren meistens
eintextig und imitierten häufig zwischen den Oberstimmen.50
4.3. Die Motette in der Renaissance
Bereits Ende des 13. Jahrhunderts mehrten sich kritische Stimmen mit der Ansicht, die
Motette habe sich zu weit von der Liturgie entfernt und gehöre verboten. 1324/25 kam
es schließlich dazu, dass Papst Johannes XXII. die Motette in der Kirche verbieten
46
Kügle, Motette, S. 126.
47
Schmid, Die Motette bis in das frühe 15. Jahrhundert, S. 39.
48
Ebd., S. 42.
49
Ebd., S. 43f, 49f.
50
Kügle, Motette, S. 126f.
14
ließ.51 Dieser Erlass galt allerdings nicht grundsätzlich der mehrstimmigen Musik in
Gottesdiensten, jedoch beschränkte er die Verwendung der Mehrstimmigkeit auf
einfache Satzformen.52 Aufgrund dieses Erlasses kam die Motette bis ins 16.
Jahrhundert hinein außerhalb der Liturgie zur Aufführung, wurde wieder lateinisch und
tendierte zur Eintextigkeit.53 Von 1544 bis 1563 fand das Konzil von Trient statt, das
neben der Beendigung des Religionsstreits und der Befreiung der Christen auch eine
Reform der Kirche und der dazugehörigen Kirchenmusik zum Ziel hatte. Gefordert
wurden
Textverständlichkeit
und
die
Fernhaltung
von
Weltlichem
in
der
Mehrstimmigkeit und der Orgelmusik.54
Im 15. und 16. Jahrhundert befand sich die Motette in einem Spannungsfeld zwischen
Liturgie und weltlicher Funktion.55 Die Kategorisierung der Motette zu dieser Zeit
gestaltete sich schwierig, da die Texte der meisten Motetten bereits geistlichen Inhalts
waren, ihre Funktion aber für den außerliturgischen Gebrauch bestimmt war. Die
Verwendung dieser Gattung außerhalb der Liturgie erfolgte beispielsweise bei
Andachten, Prozessionen, Trauungen, Taufen oder Begräbnissen. Bei politischen,
kirchlichen oder gesellschaftlichen Anlässen wurden die sogenannten Staatsmotetten
vorgetragen.56 Sie kamen in erster Linie gesungen zur Aufführung, die Begleitung von
Instrumenten war aber durchaus möglich.57
Die in der Ars nova aufgekommene isorhythmische Motette hielt sich bis ins 15.
Jahrhundert hinein und erlebte dort ihre Spätblüte. Isorhythmische Motetten aus dem
51
Franz Körndle, Die Motette vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, in: Handbuch der musikalischen
Gattungen. Messe und Motette, hrsg. v. Horst Leuchtmann und Siegfried Mauser (Band 9), Laaber:
Laaber-Verlag 1998, S. 91-153, hier S. 91.
52
Franz Körndle, Die Bulle „Docta sanctorum patrum“, in: Wolfgang Hochstein, Motette und vokale
Choralbearbeitung, in: Geschichte der Kirchenmusik, hrsg. v. Wolfgang Hochstein und Christoph
Krummacher (Band 1: Von den Anfängen bis zum Reformationsjahrhundert), Laaber: Laaber-Verlag
2011, S. 301-317, hier S. 301.
53
Wolfgang Hochstein, Motette und vokale Choralbearbeitung, in: Geschichte der Kirchenmusik, hrsg. v.
Wolfgang Hochstein und Christoph Krummacher (Band 1: Von den Anfängen bis zum
Reformationsjahrhundert), Laaber: Laaber-Verlag 2011, S. 301-317, hier S. 301.
54
Körndle, Die Motette vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, S. 106.
55
Ebd., S. 95.
56
Hochstein, Motette und vokale Choralbearbeitung, S. 302.
57
Ebd., S. 304.
15
15. Jahrhundert stammten unter anderem von John Dunstable und Guillaume Dufay. In
der Mitte desselben Jahrhunderts fand ein kompositorischer Bruch statt, der das
Verschwinden der isorhythmischen Motette und das Entstehen der Tenormotette
bewirkte.58 Im Normalfall war die Tenormotette fünfstimmig, wobei der aus der
Gregorianik stammende Cantus firmus im Tenor lag und von je zwei höheren und
tieferen Stimmen umgeben wurde.59 Die Texte der Tenormotetten wurden im
Normalfall neu gedichtet und eintextig gehalten. Frühe Tenormotetten stammten etwa
von Johannes Regis oder Loyset Compére, ihren Höhepunkt erreichte diese Gattung
allerdings im Schaffen von Josquin Desprez. Seine Motetten waren an den päpstlichen
Hof gebunden, eintextig und wurden auf bis zu sechs Stimmen erweitert.60
Als weiterer wichtiger Motettentyp in der Renaissancezeit ist die Psalmmotette zu
nennen.
Dabei
wurden
neben
vollständigen
Texten
auch
Einzelverse
oder
zusammengestellte Psalmen vertont. Eine wichtige Neuerung im Gegensatz zur
Tenormotette war die Loslösung von der typischen Cantus-firmus-Bindung. Auch für
die Musikgeschichte war der Verzicht auf die Bindung an einen Cantus firmus von
großer Bedeutung gewesen, denn dadurch begannen die Komponisten Motive frei zu
erfinden und ermöglichten in weiterer Folge die Entwicklung des frei durchimitierenden
Satzes.61 In den meisten Fällen wurden die Psalmmotetten bei außerliturgischen
Anlässen zur Aufführung gebracht,62 in der protestantischen Kirche waren sie aber
bereits fester Bestandteil des Gottesdienstes, sofern ihre Texte der Bibel entstammten.63
In der katholischen Kirche wurden mehrstimmige Psalmen erst nach dem
tridentinischen Konzil in die Gottesdienste aufgenommen.64
58
Laurenz Lütteken, Motette, in: Messe und Motette, hrsg. v. Laurenz Lütteken (MGGprisma), Kassel
u.a.: Bärenreiter-Verlag 2002, S. 114-200, hier S.132ff.
59
Hochstein, Motette und vokale Choralbearbeitung, S. 305.
60
Lütteken, Motette, S. 136f.
61
Hochstein, Motette und vokale Choralbearbeitung, S. 306.
62
Körndle, Die Motette vom 15. bis zum 17. Jahrhundert, S. 110.
63
W. Dehnhard, Die deutsche Psalmmotette in der Reformationszeit, in: Franz Körndle, Die Motette vom
15. bis zum 17. Jahrundert, in: Handbuch der musikalischen Gattungen. Messe und Motette, hrsg. v.
Horst Leuchtmann und Siegfried Mauser (Band 9), Laaber: Laaber-Verlag 1998, S. 91-153, hier S. 111.
64
K. Fischer, Die Psalmkompositionen in Rom, in: Franz Körndle, Die Motette vom 15. bis zum 17.
Jahrundert, in: Handbuch der musikalischen Gattungen. Messe und Motette, hrsg. v. Horst Leuchtmann
und Siegfried Mauser (Band 9), Laaber: Laaber-Verlag 1998, S. 91-153, hier S. 111.
16
Neben der Tenormotette und der Psalmmotette war die Evangelienmotette ein weiterer
Motettentyp des 15. und 16. Jahrhunderts. Wie der Begriff schon verrät, wurden bei
dieser Form die Evangelientexte vertont – jedoch nicht der gesamte Text, sondern
lediglich eine Auswahl der aussagekräftigsten Sätze. Im protestantischen Bereich
wurden zu dieser Zeit bereits deutschsprachige Texte verwendet.65
Im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts vollzog sich in der Motettenentwicklung eine
zunehmende Liturgisierung. Zusehends wurden die Werke auch im Rahmen der
Gottesdienste vorgetragen.66 Eine Einbindung der Motette in die Liturgie war in den
protestantischen Gottesdiensten früher möglich als bei den Katholiken, da die
Protestanten ein anderes Verständnis von Liturgie hatten. In der katholischen Kirche
vollzog sich die Liturgisierung der Motette erst ab der zweiten Hälfte des 16.
Jahrhunderts.67 In weiterer Folge kam es im 16. Jahrhundert zu einer Vereinheitlichung
der Motette, die somit zum Paradigma der geistlichen Musik wurde. Sie bestand
weiterhin aus vier bis acht Stimmen im polyphonen Satz und war in lateinischer
Sprache gehalten. Ihren Bestimmungsort fand diese Gattung schließlich in der
kirchlichen Liturgie.68
Abgesehen von den unterschiedlichen Motettentypen sollen auch wichtige Stilmerkmale
der Motetten des 15. und 16. Jahrhunderts hier ihren Platz finden. Die Basis der
Motettenkompositionen zu dieser Zeit war die Kontrapunktik, die auch für die übrigen
Gattungen der Renaissance das satztechnische Fundament darstellte. Die Klanglichkeit
betreffend, verloren die terzlosen Klänge gegenüber den vollständigen Dreiklängen an
Bedeutung. Heinrich Glarean erweiterte das System der Kirchentonarten in der ersten
Hälfte des 16. Jahrhunderts und legte somit den Grundstein für das spätere Dur-MollSystem. Die Motetten dieser Zeit waren im Regelfall vierstimmig, allerdings waren
Erweiterungen auf fünf, sechs oder mehrere Stimmen keine Ausnahme mehr. Ein
typisches Gestaltungsmerkmal der Motetten im 15. und 16. Jahrhundert war die
65
Hochstein, Motette und vokale Choralbearbeitung, S. 308.
66
Lütteken, Motette, S. 155.
67
Hochstein, Motette und vokale Choralbearbeitung, S. 303.
68
Lütteken, Motette, S. 155.
17
abschnittsweise Durchimitation.69 Dabei wurde der Text in sinnvolle Abschnitte
unterteilt und den einzelnen Passagen ein charakteristisches Motiv zugewiesen. Dieses
Motiv durchlief imitatorisch alle Stimmen und mündete in einen kadenzierenden
Abschluss, aus welchem heraus ein neues Motiv entstand und wiederum durchimitiert
wurde. In diesem Sinne war der Text ein wichtiges Kompositionsprinzip und förderte
die enge Verbindung von Text und Musik.70
4.4. Die Motette im 17. und 18. Jahrhundert
Nach der Hochblüte der Motette im 15. und 16. Jahrhundert kam es ab der Barockzeit
zu einem Bedeutungsverlust dieser Gattung. Der Grund für diese Entwicklung lag im
Aufkommen neuer Kunstideale und Kompositionstechniken wie dem Generalbass, der
Monodie und dem konzertierenden Prinzip. Die Motette nahm die neuen Ideale
teilweise auf und vermischte sich mit diesen Formen. In dieser Hinsicht spielte auch die
neue Gattung der Kantate – vor allem in Mittel- und Norddeutschland – eine wichtige
Rolle, da sie den Platz der Evangelienmotette im Gottesdienst einnahm und somit dazu
beitrug, dass die Motette ein geistliches Gelegenheitswerk wurde.71 Die Motette des 17.
Jahrhunderts wurde charakterisiert durch ihren Stilpluralismus und orientierte sich
satztechnisch
weiterhin
an
Palestrina.72
Verschiedene
Quellen
–
wie
etwa
Forchert/Finscher73 oder Braun74 – verweisen allerdings darauf, dass neben dem
italienischen Einfluss auch die niederländische Satztechnik um Orlando di Lasso
fortbestand und das Motettenschaffen dieser Zeit mitbestimmte. Im Gottesdienst fand
die Motette im 17. und 18. Jahrhundert in den freien Teilen der Liturgie ihren Platz.75
69
Hochstein, Motette und vokale Choralbearbeitung, S. 304.
70
Schnaus (Hrsg.), Europäische Musik, S. 155.
71
Klaus Hofmann, Johann Sebastian Bach. Die Motetten (Bärenreiter Werkeinführungen), Kassel u.a.:
Bärenreiter-Verlag 2003, S. 21.
72
Ruf und van Dyck-Hemming (Hrsg.), Motette, S. 407.
73
Arno Forchert (Ludwig Finscher), Motette, in: Messe und Motette, hrsg. v. Laurenz Lütteken
(MGGprisma), Kassel u.a.: Bärenreiter-Verlag 2002, S. 114-200, hier S. 167.
74
Werner Braun, Die Musik des 17. Jahrhunderts, in: Neues Handbuch der Musikwissenschaft, hrsg. v.
Carl Dahlhaus (Band 4), Wiesbaden: Laaber-Verlag 1981, S. 186.
75
Ebd., S. 186.
18
Venedig war im 16. Jahrhundert ein bedeutendes Zentrum der Musik und die
Geburtsstätte der Mehrchörigkeit. Dieses neue Prinzip hatte gegen Ende des
Jahrhunderts auch die Motette erfasst und die Komponisten wussten die Architektur des
Markusdom für ihre Musikstücke optimal zu nutzen. Das konzertierende Prinzip mit
Chor- und Solostimmen sowie selbstständigen Instrumenten erschien in Giovanni
Gabrielis Sacrae symphoniae von 1615 besonders deutlich. Dieses in Venedig neu
entstandene Prinzip beeinflusste in weiterer Folge auch die Motette des 17.
Jahrhunderts.76 So kam es, dass konzertierende Stimmen in die Motettensätze
miteinbezogen wurden77 und der Weg für die Entstehung der konzertierenden Motette
geebnet wurde. Die wichtigsten Impulse für die Entwicklung der konzertierenden
Motette stammten von norditalienischen Komponisten. Die Cento concerti ecclesiastici
von Lodovico Viadana fanden weite Verbreitung und viele Nachahmer auch außerhalb
Italiens.78 Zur Zeit Viadanas waren konzertierende Motetten für einstimmigen
Sologesang eher die Ausnahme. Durch Claudio Monteverdi und Alessandro Grandi
erfuhren
die
geringstimmigen
Generalbassmotetten
einen
Aufschwung
und
repräsentierten den neuen Kirchenmusikstil. Dadurch wurde der Generalbass melodisch
und rhythmisch selbstständig und die Solostimmen konnten durch ihre Loslösung vom
Kontrapunkt freier gestaltet werden.79 Die römische Kirchenmusik hingegen behielt den
Palestrinastil weiterhin bei.80 Der Höhepunkt der konzertierenden Motette als
bedeutende Gattung der Kirchenmusik kann in der Zeit von 1620 bis 1630 angesetzt
werden. Mit dem Aufkommen neuer Gattungen (Oper, Oratorium, Solokantate) um
1640 schwand die Bedeutung der Motette allmählich.81
Die Motetten des 17. und 18. Jahrhunderts ließen in Deutschland italienische Einflüsse
erkennen. Sowohl der polyphone Palestrinasatz, als auch die aus Venedig stammende
Mehrchörigkeit beeinflussten die Komponisten bei ihren Motettenkompositionen. In
katholischen Gebieten Deutschlands entwickelte sich aus der kleinbesetzten
76
Hochstein, Motette und vokale Choralbearbeitung, S. 310f.
77
Forchert (Finscher), Motette, S. 159.
78
Ebd., S. 161.
79
Ebd., S. 162.
80
Ebd., S. 164.
81
Ebd., S. 166.
19
Solomotette mit Generalbassbegleitung schon bald die Solokantate. Neben der
Solomotette bestand noch die Chormotette, welche aus dem großbesetzten Concerto des
17. Jahrhunderts entstanden ist und ihren Höhepunkt im 18. Jahrhundert erlebte.82 Diese
Form der Motette wurde vor allem in den evangelischen Kantoreien gepflegt. Bereits im
17. Jahrhundert komponierten Johann Hermann Schein, Samuel Scheidt und
insbesondere Heinrich Schütz Chormotetten. Auch die Motetten Johann Sebastian
Bachs entsprachen dieser Form.83 Nach ihrer Blütezeit entwickelte sich aus der
Chormotette schließlich die Chorkantate.84
Im protestantischen Deutschland ging die Motette nach ihrer anfänglichen Orientierung
an italienischen Vorbildern eigene Wege. Ein typisches Merkmal für die protestantische
Motette des 17. und 18. Jahrhunderts waren die deutschsprachigen Texte, welche die
lateinische Sprache immer mehr verdrängten.85 Die Texte zu den Motetten entstammten
sowohl den Psalmen als auch den Evangelien. Sehr beliebt in Deutschland waren
mehrchörige Motetten, die gemischt vokal-instrumental zur Aufführung kamen.
Besondere Werke auf diesem Gebiet stammten von Johann Hermann Schein und
Heinrich Schütz, die mit unterschiedlichen Besetzungen und Klangfarben arbeiteten.
Durch das Aufkommen der neuen Gattungen wurde die Motette auch im
protestantischen Bereich zur Gebrauchsmusik, die im Normalfall aus vier Stimmen
bestand. In Thüringen und Sachsen wurden Bibelspruch und Choral kombiniert und
führten zur Entstehung eines neuen Motettentyps, der in den Werken Johann Sebastian
Bachs voll ausgeprägt war.86
Als Kantor in Leipzig überließ Bach das Singen der Motetten in den Gottesdiensten
dem weniger geübten dritten Teilchor, was die zurückgetretene Bedeutung dieser
Gattung verdeutlichte. Bachs eigene Motetten zeichneten sich durch ihren teilweise sehr
82
Heinrich Hüschen, Die Motette, in: Das Musikwerk. Eine Beispielsammlung zur Musikgeschichte, hrsg.
v. Karl Gustav Fellerer (Nr. 47), Köln: Arno Volk Verlag 1974, S. 18.
83
Ruf und van Dyck-Hemming (Hrsg.), Motette, S. 407.
84
Hüschen, Die Motette, S. 18.
85
Ebd., S. 18f.
86
Walter Werbeck, Vokale Gattungen evangelischer Kirchenmusik, in: Geschichte der Kirchenmusik,
hrsg. v. Wolfgang Hochstein und Christoph Krummacher (Band 2: Das 17. und 18. Jahrhundert.
Kirchenmusik im Spannungsfeld der Konfessionen), Laaber: Laaber-Verlag 2012, S. 92-104, hier S. 97.
20
hohen Schwierigkeitsgrad und durch die große Chorbesetzung aus. Aufgrund dieser
Tatsachen wurden sie vermutlich nur zu besonderen Anlässen, bei denen der gesamte
Thomanerchor anwesend war, aufgeführt. Die Hauptwerke waren fünf, wahrscheinlich
in Leipzig entstandene, Motetten, hinzu kamen schließlich noch drei weitere Werke. Die
Texte entnahm Bach größtenteils der Bibel und dem Gesangsbuch, als Quellen dienten
aber auch zwei barocke Aria-Dichtungen.87 Bis zu Johann Sebastian Bach war das colla
parte der Instrumente bei der Ausführung der Motetten selbstverständlich, denn der a
cappella-Stil setzte sich erst in der Romantik durch.88
Neben Italien und Deutschland fanden die Motetten auch in Frankreich und England
weiterhin Verwendung. In Frankreich erlebte die geistliche Musik durch den
Absolutismus von Ludwig XIV. einen Aufschwung.89 Die Motette in Frankreich zeigte
zwei unterschiedliche Ausprägungen. Einerseits wurden die petit motets gepflegt, die
aus bis zu drei Vokalstimmen und Generalbass bestanden. Daneben gab es die mit Chor,
Solisten und Orchester besetzten grand motets,90 die als Hof- bzw. Kirchenmusik
eingesetzt wurden.91 In England hingegen wurde die Motette durch eine neue englische
Gattung, das Anthem, verdrängt. Diesem Anthem lag ein englischer Psalmtext zugrunde
und es trat in zwei unterschiedlichen Formen auf. Das Full Anthem war in seiner Form
und Satzart der Motette ähnlich und wurde meist a cappella zur Aufführung gebracht.
Im Verse Anthem wechselten Solo- und Chorpartien einander ab und es erinnerte in
seiner großen Anlage an das Oratorium. Die lateinische Motette spielte in England zu
dieser Zeit nur eine untergeordnete Rolle.92
87
Werner Breig, Johann Sebastian Bach, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine
Enzyklopädie der Musik begründet von Friedrich Blume, hrsg. v. Ludwig Finscher (Personenteil Band 1:
Aa-Bae), Kassel u.a.: Bärenreiter-Verlag 1999, S. 1397-1535, hier S. 1484f.
88
Ruf und van Dyck-Hemming (Hrsg.), Motette, S. 407.
89
Forchert (Finscher), Motette, S. 171.
90
Werbeck, Vokale Gattungen, S. 97.
91
Forchert (Finscher), Motette, S. 171.
92
Hüschen, Die Motette, S. 19f.
21
4.5. Die Motette im 19. und 20. Jahrhundert
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bewirkte die Schließung von vielen Kirchen und
Klöstern einen Bedeutungsverlust der Kirchenmusik. Damit verbunden war auch die
Verdrängung der Motette in den Hintergrund. Durch diese Entwicklung wurde die groß
besetzte Motette durch die a cappella-Motette, die gelegentlich von wenigen
Instrumenten begleitet werden konnte, verdrängt.93 Als geistliches, aber auch weltliches
Chorwerk konnte sich die Motette auch im 19. Jahrhundert weiterhin behaupten.
Komponisten wie zum Beispiel Robert Schumann, Felix Mendelssohn-Bartholdy,
Johannes Brahms oder Anton Bruckner nahmen sich dieser Gattung an.94
Die Motettenkomposition dieser Zeit besinnte sich auf Vorbilder vergangener
Jahrhunderte und sah zwei Stile als Ideale an: einerseits jenen von Palestrina bzw. der
Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts, andererseits gilt J.S. Bach mit dem barocken
Kontrapunkt als Vorbild.95 Vor allem die a cappella-Motette nach der Satztechnik
Palestrinas galt als unumstrittenes Ideal. Gemeinsam mit kirchenmusikalischen
Neuerungen führte die Rückbesinnung auf Größen des 15. bis 17. Jahrhunderts zu
einem Aufschwung der Motettenkomposition, wobei alte mit neuen Techniken
verbunden wurden.96 Die Verbindung von Tradition und zeitgenössischen Mitteln
vollzog sich besonders gut in der weltlichen Motette, die dadurch seit dem 16.
Jahrhundert erstmals wieder zu neuem Leben erwachte.97
Motetten kamen im 19. Jahrhundert sowohl in katholischen als auch in protestantischen
Gottesdiensten, bei Begräbnissen, Hochzeiten oder Prozessionen zur Aufführung.98 Da
93
Hüschen, Die Motette, S. 21.
94
Ruf und van Dyck-Hemming (Hrsg.), Motette, S. 407.
95
Winfried Kirsch, Zum Motetten-Ideal und zur Josquin-Rezeption im 19. Jahrhundert, in: Die Motette.
Beiträge zu ihrer Gattungsgeschichte, hrsg. v. Herbert Schneider und Heinz-Jürgen Winkler (Neue
Studien zur Musikwissenschaft, Band 5), Mainz u.a.: Schott 1991, S. 283-297, hier S. 283.
96
Ruf und van Dyck-Hemming (Hrsg.), Motette, S. 407.
97
Forchert (Finscher), Motette, S. 185.
98
Birgit Lodes, Das 19. Jahrhundert, in: Handbuch der musikalischen Gattungen. Messe und Motette,
hrsg. v. Horst Leuchtmann und Siegfried Mauser (Band 9), Laaber: Laaber-Verlag 1998, S. 270-332, hier
S. 320.
22
viele Motetten im 19. Jahrhundert keiner bestimmten liturgischen Funktion zugeordnet
waren, konnten sie sowohl in Gottesdiensten als auch außerhalb der Liturgie – zum
Beispiel bei Konzerten – eingesetzt werden.99 Viele Kirchenchöre wurden neu
gegründet oder umstrukturiert und gaben Motetten in Konzerten zum Besten. Durch die
neuen Aufführungsmöglichkeiten bestand für die Komponisten dieser Zeit nun wieder
ein größerer Ansporn zur Komposition anspruchsvoller Motetten. Im selben Jahrhundert
entwickelte sich das bürgerliche Chorwesen und somit ein neuer Aufführungsbereich
für diese Gattung. In regelmäßigen Abständen fanden Sänger- und Liederfeste statt, bei
denen auch Motetten vorgetragen wurden. Neben dieser Entwicklung stand die Bildung
von Singakademien und Singvereinen, die teilweise auf hohem Niveau musizierten.
Durch diese neu aufgekommene Motivation kam es zu neuen Motettenkompositionen
und -aufführungen, es wurden jedoch auch Werke aus vergangener Zeit gesungen.
Ausgehend von diesen neuen Entwicklungen im Chorwesen gelangte die Motette
schließlich in den Konzertsaal.100
Die Texte der Motetten waren in deutscher oder lateinischer Sprache gehalten und
liturgischen bzw. geistlichen Inhalts.101 Robert Schumann begann als erster damit,
anstelle von Bibeltexten auch literarische Texte zu vertonen. Diesem Vorbild folgten
nach ihm auch andere Komponisten.102 Als Aufführungsideal der Motette dieser Zeit
setzte sich immer mehr der a cappella-Stil durch. Dennoch war es noch möglich, dass
der Chor von Orgel oder einigen Bläsern begleitet wurde.103 Die ideale Motette des 19.
Jahrhunderts verband polyphone und homophone Abschnitte miteinander und nahm
sich auch der kontrapunktischen Verarbeitung (z.B. Fuge, Kanon) an.104
99
Wolfgang Hochstein, Te Deum, Stabat Mater, Psalmen und weitere kirchenmusikalische Gattungen, in:
Geschichte der Kirchenmusik, hrsg. v. Wolfgang Hochstein und Christoph Krummacher (Band 3: Das 19.
und frühe 20. Jahrhundert. Historisches Bewusstsein und neue Aufbrüche), Laaber: Laaber-Verlag 2013,
S. 123-140, hier S. 139.
100
Lodes, Das 19. Jahrhundert, S. 320f.
101
Ebd., S. 326.
102
Ebd., S. 323.
103
Ebd., S. 326.
104
Kirsch, Zum Motetten-Ideal, S. 287.
23
Anton Bruckner komponierte zahlreiche Kirchenmusikwerke, darunter zirka 40
Gradual- und Offertoriumsmotetten.105 Bruckner beschränkte sich in seinen Motetten
auf liturgische Texte und bevorzugte die rein vokale Aufführung, die Verwendung der
Orgel als Klangstütze war aber möglich. Die Werke wurden akkordisch angelegt und
orientierten sich in der Stimmführung an der Vokalpolyphonie. Auf eine Orientierung
am Stil J.S. Bachs verzichtete Bruckner, weshalb polyphone Elemente in seinen
Motetten so gut wie keine Verwendung fanden. Nicht viele Komponisten des 19.
Jahrhunderts schafften es wie Bruckner, trotz hoher Anforderungen an die
Aufführungen, liturgisch verwendbare a cappella-Motetten zu komponieren.106 Als
Höhepunkt dieses Schaffens sind die in Wien entstandenen Motetten Os justi, Locus
iste, Tota pulchra es, Christus factus est, Virga Jesse und Vexilla Regis anzusehen.107
Diese wurden vorwiegend für St. Florian und den Dom zu Linz komponiert.108
Im 20. Jahrhundert wurde die Entwicklung der Motette von einer protestantischen
Erneuerungsbewegung beeinflusst.109 Die Gottesdienste wurden als Feier der singenden
Glaubensgemeinde angesehen, weshalb zunehmend gebrauchsmusikalische Gattungen
zum Einsatz kamen und auf Messen eher verzichtet wurde. Hingegen wurden Werke für
kleine Chöre komponiert und vor allem die a cappella-Motette wurde neu belebt.
Sowohl in protestantischen als auch in katholischen Gottesdiensten basierten die
Motetten zunehmend auf deutschen Kirchenliedern. Vielfach wurden für die
Kompositionen Texte aus der Bibel verwendet und daher waren die Stücke in gewisser
Weise auch für die liturgische Verwendung vorgesehen. In vielen Fällen jedoch stand –
auch bei Verwendung von Bibeltexten – das persönliche Interesse an religiösen Fragen
im Vordergrund. Die neu komponierten Werke waren keinesfalls ausschließlich für
105
Winfried Kirsch, Anton Bruckner (1824-1896), in: Geschichte der Kirchenmusik, hrsg. v. Wolfgang
Hochstein und Christoph Krummacher (Band 3: Das 19. und frühe 20. Jahrhundert. Historisches
Bewusstsein und neue Aufbrüche), Laaber: Laaber-Verlag 2013, S. 204-207, hier S. 205.
106
Lodes, Das 19. Jahrhundert, S. 317ff.
107
Winfried Kirsch, Anton Bruckners Motetten der Wiener Zeit, in: Lodes, Das 19. Jahrhundert, in:
Handbuch der musikalischen Gattungen. Messe und Motette, hrsg. v. Horst Leuchtmann und Siegfried
Mauser (Band 9), Laaber: Laaber-Verlag 1998, S. 270-332, hier S. 320.
108
Lodes, Das 19. Jahrhundert, S. 320.
109
Forschert (Finscher), Motette, S. 185.
24
Gottesdienste gedacht, sondern wurden als geistliche Vokalwerke auch in Konzerten zur
Aufführung gebracht.110
Die Komponisten dieser Zeit sahen für die Motetten den Stil von Heinrich Schütz als
Ideal an. Durch die Rückbesinnung auf Schütz stand nun die Evangelien- und
Spruchmotette im Mittelpunkt der Entwicklung. Im Gegensatz zum gewandelten Ideal
aus dem 19. Jahrhundert wurde aber der a cappella-Stil weiterhin beibehalten.111
Zunehmend bemühten sich Komponisten auch darum, die Motetten mit neuen
Klangvorstellungen zu bereichern, unter ihnen zum Beispiel Paul Hindemith oder
Heinrich Kaminski.112 Trotz zahlreicher neuer Motettenkompositionen verlor die
Gattung aufgrund der schwindenden Bindung an die Liturgie an Bedeutung. Immer
öfter war es der Fall, dass Motetten in den Gottesdiensten durch Gemeindegesang oder
sonstige Musik ersetzt wurden. Diese Entwicklung war sowohl im katholischen als auch
im evangelischen Bereich festzustellen, wobei sich in letzterem die Motette länger
hielt.113 Diese fehlende Bindung an die Liturgie äußerte sich auch in der Tatsache, dass
sich die Komponisten neben Bibeltexten zunehmend literarischen Textvorlagen
bedienten, die jedoch durchaus religiös sein konnten.114 Nach dem 1. Weltkrieg
beschäftigten sich Johann Nepomuk David, Heinrich Kaminski oder Hugo Distler mit
dieser Gattung. Durch Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Ernst Krenek oder Anton
Heiller wurde die Motettenkomposition bis ins 20. Jahrhundert fortgesetzt.115
Nachdem bisher der Fokus auf die Motette im deutschsprachigen Raum gelegt wurde,
folgt nun ein kurzer Überblick über die Situation in Frankreich, England und Italien des
19. und 20. Jahrhunderts. In Frankreich kam es durch die Neubelebung der
110
Gustav A. Krieg, Lateinische und landessprachliche Kirchenmusik, in: Geschichte der Kirchenmusik,
hrsg. v. Wolfgang Hochstein und Christoph Krummacher (Band 3: Das 19. und frühe 20. Jahrhundert.
Historisches Bewusstsein und neue Aufbrüche), Laaber: Laaber-Verlag 2013, S. 307-334, hier S. 315ff.
111
Forchert (Finscher), Motette, S. 185.
112
Hüschen, Die Motette, S. 22.
113
Thomas Hochradner, Das 20. Jahrhundert, in: Handbuch der musikalischen Gattungen. Messe und
Motette, hrsg. v. Horst Leuchtmann und Siegfried Mauser (Band 9), Laaber: Laaber-Verlag 1998, S. 333376, hier S. 353.
114
Ebd., S. 355.
115
Ruf und van Dyck-Hemming (Hrsg.), Motette, S. 407.
25
Kirchenchöre zu einer Pflege der Kirchenmusik und somit auch der Motette. Viele
Komponisten nahmen sich dieser Gattung an und sicherten somit ihr Bestehen bis ins
20. Jahrhundert.116 Chormotetten und Motetten in a cappella-Besetzung kamen eher
selten
vor,
großer
Beliebtheit
erfreuten
sich
hingegen
Solomotetten
mit
Orgelbegleitung.117 In England spielte die Motette zu dieser Zeit nur eine
nebensächliche Rolle, viel beliebter waren hingegen Kantate und Oratorium. Weiterhin
sehr bedeutend war auch das Anthem.118 In Italien bestand auch weiterhin eine Bindung
der Motette an den Gottesdienst. Neben der Solomotette mit Orchesterbegleitung
wurden auch vereinzelt Chormotetten komponiert. Als Vorbild dieser Zeit wurde
Lorenzo Perosi angesehen.119
4.6. Zusammenfassung
Die Geschichte der Motette begann um 1200 an Notre-Dame in Paris, wo mehrstimmige
Mensuraltechniken mit weltlichem Liedgut kombiniert wurden. Die Motette entstand
als weltliche Gattung und diente zur Unterhaltung der Stadtbewohner. Den frühen
Motetten wurde ein neuer Text unterlegt und sie orientierten sich melodisch an
weltlichen Liedern. Anfangs waren die Werke noch zweistimmig, gegen Ende der
Notre-Dame-Epoche vereinzelt bereits dreistimmig. In der Ars antiqua wurde die
Dreistimmigkeit schließlich zur Regel und mit der Mehrtextigkeit verbunden. Die Texte
wurden in lateinischer oder französischer Sprache verfasst und waren weltlichen Inhalts.
Gegen Ende dieser Epoche wurden Tenormelodien bereits frei erfunden und die
Modalrhythmik verlor zunehmend an Bedeutung. Mit dem Beginn der Ars Nova
ergaben sich aufgrund notationstechnischer Neuerungen für die Motette andere
satztechnische Möglichkeiten und förderten somit das Entstehen der isorhythmischen
Motette. Mit der Ars nova endete das Mittelalter und die neu entstandene Gattung
wurde zu einer Gelegenheitskomposition.
116
Hüschen, Die Motette, S. 23.
117
Lodes, Das 19. Jahrhundert, S. 315.
118
Hüschen, Die Motette, S. 23.
119
Lodes, Das 19. Jahrhundert, S. 316.
26
Nach einer Beschränkung der Mehrstimmigkeit auf einfache Satzformen in den
Gottesdiensten zu Beginn der Renaissance kam die Motette zunächst außerhalb der
Liturgie zur Aufführung. Im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts fand jedoch eine
zunehmende Liturgisierung statt und so konnte sich diese Gattung als geistliche Musik
im Gottesdienst etablieren. Nachdem die isorhythmische Motette in der Renaissancezeit
allmählich verschwand, entstanden mit der Tenor-, Psalm- und Evangelienmotette drei
neue Typen dieser Gattung. Auch wenn lateinische Texte noch überwiegten, so wurde
im protestantischen Bereich bereits auch die deutsche Sprache akzeptiert. In der Regel
waren die Motetten der Renaissance vierstimmig, Erweiterungen auf bis zu sechs oder
mehr Stimmen waren aber möglich.
Nach der Hochblüte der Motette im 15. und 16. Jahrhundert wurde es aufgrund neuer
Kompositionstechniken und Gattungen immer schwieriger, sich ab dem 17. Jahrhundert
als Gattung zu behaupten. Das aus der Mehrchörigkeit hervorgegangene konzertierende
Prinzip wurde in die Motettenkomposition aufgenommen und führte zum Entstehen der
konzertierenden Motette. Die Komponisten dieser Zeit orientierten sich aber auch
weiterhin an Vorbildern wie Palestrina und Orlando di Lasso. Im Laufe des 17. und 18.
Jahrhunderts entstanden die Solo- und die Chormotette, die sich bald zur Solo- bzw.
Chorkantate weiterentwickelten.
Im 19. und 20. Jahrhundert entstanden keine neuen Motettentypen, es gab aber dennoch
Komponisten, die in dieser Gattung komponierten. Als satztechnische Vorbilder galten
zu dieser Zeit die Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts rund um Palestrina und ebenso
der Stil von J.S. Bach. Das Entstehen eines bürgerlichen Chorwesens leistete einen
wichtigen Beitrag zur Pflege dieser Gattung. Im 20. Jahrhundert rückte der Stil von
Heinrich Schütz in den Mittelpunkt des Interesses und wurde als Ideal angesehen. Die
Komponisten dieser Zeit versuchten diese traditionsreichen Vorbilder mit modernen
Techniken zu verbinden. Trotz dieser Bemühungen entfernte sich die Motette
zunehmend von ihrer liturgischen Bindung und rückte somit in den Hintergrund.
27
5. Die Motette bei Augustinus Franz Kropfreiter
5.1. Der Stellenwert der Motette in Kropfreiters Werk
Kropfreiters Werk umfasst mit Ausnahme der Oper und des Ballett alle musikalischen
Gattungen und zeugt daher von der Vielseitigkeit dieses Komponisten. Neben seinen
zahlreichen Orgelkompositionen schrieb er auch Messen, Kammermusik, Symphonien,
Klaviermusik und Vokalwerke.120 Aufgrund von Kropfreiters Werkverzeichnis in
Szeless121 und bei Music Austria122 kann festgestellt werden, dass auch die Motette
einen zentralen Stellenwert innerhalb seines musikalischen Schaffens einnimmt. Die
Konzentration auf diese Gattung war jedoch nicht in allen Lebensphasen gleich stark
ausgeprägt und stand in engem Zusammenhang mit seinen beruflichen Verpflichtungen.
Kropfreiter begann seine musikalische Tätigkeit als Organist (siehe Kapitel 3, S. 5f.)
und Improvisator und erlangte dadurch weltweite Anerkennung.123 Aus diesem
Hintergrund heraus ist es nicht verwunderlich, dass er sich zu Beginn seiner Laufbahn
als Komponist auf die Orgelmusik konzentrierte und in diesem Bereich zahlreiche
Werke herausbrachte. Zwar komponierte er bereits in seinen jungen Jahren Vokalmusik
– darunter auch schon vereinzelt Motetten – dennoch bevorzugte er zu dieser Zeit das
Komponieren von Orgelwerken. Erst in den 1970er-Jahren begann eine intensivere
Auseinandersetzung mit der Gattung Motette, die dadurch eine zunehmende Bedeutung
in seinem Schaffen einnahm.124 Doch welche Gründe haben Kropfreiter dazu bewogen,
sich mehr und mehr dieser Gattung zu widmen? 1960 übernahm Augustinus Franz
Kropfreiter die Leitung der Sängerknaben im Stift St. Florian und behielt diese bis 1983
120
Kreuzhuber, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 155.
121
Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 88ff.
122
Music Information Center Austria, Augustinus Franz Kropfreiter. Werke, http://www.musikaustria.at/,
letzter Zugriff: 21.5.2013.
123
Augustinus Franz Kropfreiter, Ich über mich. Ein Monolg, in: Musikalische Dokumentation.
Augustinus Franz Kropfreiter, hrsg. v. Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Institut
für Österreichische Musikdokumentation, Wien: 1999, S. 7-9, hier S. 9.
124
vgl. Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 88ff. und Music Information Center Austria, Augustinus
Franz Kropfreiter. Werke, http://www.musikaustria.at/, letzter Zugriff: 21.5.2013.
28
bei. Zusätzlich wurde er 1964 Regens Chori und war somit verantwortlich für die
gesamte Kirchenmusik in St. Florian (siehe Kapitel 3, S. 6). Diese beruflichen
Veränderungen führten vermutlich zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit der
Chormusik und somit auch mit der Gattung Motette. Nachdem er sich als Chorleiter
über viele Jahre hinweg mit Vokalwerken beschäftigt hatte, begann er ab etwa 1970
selbst vermehrt in dieser Gattung zu komponieren, sodass die Motette in seinem
Schaffen als Komponist immer wichtiger wurde (siehe Kapitel 5, S. 28).
Auch nachdem er die Leitung der Sängerknaben 1983 an Franz Farnberger übergeben
hatte (siehe Kapitel 3, S. 6), bedeutete das keinesfalls das Aus für sein
Motettenschaffen. Er beschäftigte sich weiterhin mit dieser Gattung und brachte viele
Kompositionen heraus. Besonders ab den 1990er-Jahren – im letzten Jahrzehnt seines
Lebens – widmete er sich nochmals intensiv der Chormusik und somit der Motette.125
Vermutlich hatte er aufgrund seiner Arbeit mit den Sängerknaben eine neue Gattung
kennengelernt, der er sich verbunden fühlte und in der er bis zum Ende seines Lebens
komponierte.
Nachdem festgestellt wurde, dass die Motette eine viel komponierte Gattung in
Kropfreiters Werkverzeichnis ist, soll weiters geklärt werden, welchen Stellenwert die
Motetten dieses Komponisten nach seinem Tod einnehmen. Anhaltspunkte dafür
könnten sein, ob viele Motetten gedruckt oder auf CDs aufgenommen wurden. Durch
seinen Berater Anton Heiller bekam Augustinus Franz Kropfreiter Kontakt zum Verlag
Doblinger.126 Tatsächlich ist neben sämtlichen Instrumentalwerken auch jede Menge
Vokalliteratur im Angebot des Verlags zu finden. Den größten Anteil an diesen
Vokalwerken nehmen Messen und Kirchenliedsätze ein, Motetten hingegen scheinen
fast gar nicht auf. Die folgenden Motetten sind im Angebot von Doblinger aufgelistet:
• Zwei Passionsmotetten für Oberchor (1967)
o Hoc corpus
o Ecce lignum crucis
• Ave crux, spes unica für gemischten Chor (1978/92)
125
vgl. Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 88ff. und Music Information Center Austria, Augustinus
Franz Kropfreiter. Werke, http://www.musikaustria.at/, letzter Zugriff: 21.5.2013.
126
Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 31.
29
• Kreuzmotette für gemischten Chor (1985)
• O heiliges Mahl für gemischten Chor (1992)
• Tota pulchra es, Maria für gemischten Chor (1977/1994)127
Obwohl Kropfreiters Werk ein umfangreiches Repertoire an Motetten bietet, werden
vom Verlag Doblinger lediglich sechs davon angeboten. Auffallend dabei ist auch, dass
die angebotenen Motetten sehr alt sind und Kropfreiter ja gerade gegen Ende seines
Lebens die meisten Werke in dieser Gattung komponierte. Die gedruckten Motetten
nehmen bei Doblinger im Gegensatz zu den Messen und Kirchenliedsätzen also nur
einen sehr geringen Stellenwert ein. In einer Publikation von Musica Rinata ist des
weiteren die Motette Der Englische Gruß – Veit Stoss zu St. Lorenz in Nürnberg aus
dem Jahr 2000 veröffentlicht. Ansonsten liegen die Motetten lediglich als Manuskripte
vor,128 sodass es den Anschein macht, als würden Kropfreiters Motetten zu wenig
nachgefragt werden. Besteht zehn Jahre nach seinem Tod tatsächlich zu wenig
Nachfrage, um neue Werke dieser Gattung herauszugeben? Aber nicht nur die
Notenausgaben seiner Motetten sind sehr rar, sondern auch die Auswahl an
Audioaufnahmen lässt zu wünschen übrig. In der Diskographieliste von Doblinger129
fehlen die Motetten sogar zur Gänze. In dieser Hinsicht besteht also dringend
Aufholbedarf, um Kropfreiters Vokalmusik bekannter zu machen. Vielleicht wäre es
eine Möglichkeit, in Zukunft vermehrt seine Motetten zur Aufführung zu bringen und
auf diese Weise die Öffentlichkeit auf das vorhandene Repertoire aufmerksam zu
machen.
5.2. Die Texte in Kropfreiters Motetten
In einer Laudatio für Augustinus Franz Kropfreiter nannte Kurt Neuhauser ein Zitat
dieses Musikers, das einen guten Ausgangspunkt für dieses Kapitels darstellt: „Der
127
Musikverlag Doblinger, Augustinus Franz Kropfreiter, Wien, http://www.doblingermusikverlag.at/dyn/kataloge/Kropfreiter_Prospekt.pdf, letzter Zugriff: 21.5.2013, S. 12ff.
128
Music Information Center Austria, Augustinus Franz Kropfreiter. Werke, http://www.musikaustria.at/,
letzter Zugriff: 21.5.2013.
129
Musikverlag Doblinger, Augustinus Franz Kropfreiter, http://www.doblingermusikverlag.at/dyn/kataloge/Kropfreiter_Prospekt.pdf, letzter Zugriff: 21.5.2013, S. 19.
30
Wortfluß muß mich zur Arbeit anregen, er darf mich nicht hindern.“130 Diese Worte
spielten für Kropfreiters Arbeitsweise eine sehr zentrale Rolle und waren vermutlich die
Grundlage für seine Motettentexte. Kropfreiter dürfte ein sehr sorgfältiger Komponist
gewesen sein, denn dieser Verdacht erhärtet sich bereits beim Betrachten des
Notenbildes, das sehr sauber und geordnet erscheint. Sorgsam und genau durchdacht
war auch sein Kompositionsstil – wie sich in Kapitel 6 noch zeigen wird.
Bis ins kleinste Detail hinein scheint Kropfreiter sich auch über die Texte seiner
Motetten Gedanken gemacht zu haben. Seine Werke basieren sowohl auf Bibeltexten
(z.B. Es ist unmöglich, Trachtet nach dem Reich Gottes) als auch auf literarischen
Vorlagen (z.B. Advent).131 Er folgte somit Robert Schumann, der als erster von der
Bibel als Textgrundlage abgewichen ist (siehe Kapitel 4, S. 23). Dass sich auch
Kropfreiter in seinen Motetten nicht ausschließlich an der Heiligen Schrift orientierte,
ist vermutlich auf sein literarisches Interesse zurückzuführen. Kropfreiter war mit vielen
Künstlern seiner Zeit befreundet, unter anderem mit der Dichterin Dora Dunkl (siehe
Kapitel 3, S. 7) und dem Lyriker Richard Billinger.132 Auch Kurt Neuhauser – ebenfalls
mit Kropfreiter befreundet (siehe Kapitel 3, S. 7) – äußerte sich in seiner Laudatio
darüber, wie sehr sich Kropfreiter in der Literatur auskannte.133 Für seine Motetten auf
Basis literarischer Werke nahm Augustinus Franz Kropfreiter sowohl Texte von
zeitgenössischen Dichtern als auch solche aus vergangenen Jahrhunderten zur Hand.
Als Textgrundlage dienten etwa Werke von Gertrud le Fort, Andreas Gryphius,
Friedrich Hölderlin, Angelus Silesius oder Thomas von Aquin.134
Kropfreiter war aber keinesfalls ein Komponist, der Texte in ihrer Gesamtheit übernahm
und danach seine Musik ausrichtete. Vielmehr dürfte er sich bereits bei der Textauswahl
130
Kurt Neuhauser, Laudatio für Augustinus Franz Kropfreiter, in: Musikalische Dokumentation.
Augustinus Franz Kropfreiter, hrsg. v. Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Institut
für Österreichische Musikdokumentation, Wien: 1999, S. 16-19, hier S. 18.
131
Music Information Center Austria, Augustinus Franz Kropfreiter. Werke, http://www.musikaustria.at/,
letzter Zugriff: 21.5.2013.
132
Kropfreiter, Ich über mich, S. 9.
133
Neuhauser, Laudatio, S. 18.
134
Music Information Center Austria, Augustinus Franz Kropfreiter. Werke, http://www.musikaustria.at/,
letzter Zugriff: 21.5.2013.
31
Gedanken zur Musik gemacht haben. In diesem Zusammenhang kann nochmals auf das
Eingangszitat dieses Kapitels verwiesen werden, wonach Kropfreiter meinte, dass ihn
der Text nicht am Komponieren hindern dürfte. Aus diesem Grund basieren seine
Motetten, die sich auf Texte aus der Heiligen Schrift beziehen, auf einer
Zusammenstellung verschiedener Bibelübersetzungen. Auf diese Weise war es ihm
möglich, die Worte so zusammenzustellen, dass sie sich bestmöglich für die Vertonung
eignen würden. Dabei kommt es – im Rahmen der in Kapitel 6 durchgeführten
Analysen – auch vor, dass gewisse Formulierungen in keiner Übersetzung zu finden
sind und somit der Schluss gezogen werden kann, dass er – wenn es notwendig war –
manche Wörter oder Phrasen selbst verfasste (siehe Kapitel 6, S. 38f., 56f., 74f.). In
jenen Texten, die der Bibel entnommen wurden, bezog er sich sowohl auf die
Evangelisten als auch auf Psalmen oder auf die Offenbarung.135 Kropfreiter
komponierte auch Motetten nach den Worten des Heiligen Augustinus,136 von dem er ja
seinen Ordensnamen Augustinus hatte (siehe Kapitel 3, S. 5).
5.3. Die Widmungen in Kropfreiters Motetten
Augustinus Franz Kropfreiter war ein Komponist, der mit Widmungen seiner Werke
nicht sparte, aber dennoch verteilte er diese nicht wahllos. Für wichtig empfand
Kropfreiter dabei, dass den Widmungen auch Aufführungen, von denen er sich viel
erwartete, folgten. Viele seiner Werke wurden Musikern gewidmet, zu denen er eine
besondere Beziehung hatte.137 Auch seine Motetten wurden verschiedensten
Musikerpersönlichkeiten gewidmet, aber ebenso Freunden außerhalb der Musik wie
zum Beispiel Angehörigen des Stiftes St. Florian.138 Für die Betrachtungen in diesem
Kapitel werden hauptsächlich die Motetten aus Kropfreiters letzten Lebensjahren
herangezogen.
135
Music Information Center Austria, Augustinus Franz Kropfreiter. Werke, http://www.musikaustria.at/,
letzter Zugriff: 21.5.2013.
136
Ebd.
137
Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 45, 49.
138
Music Information Center Austria, Augustinus Franz Kropfreiter. Werke, http://www.musikaustria.at/,
letzter Zugriff: 21.5.2013.
32
Neben Motetten für Einzelpersonen schrieb Kropfreiter auch immer wieder Werke für
Chöre. Dabei taucht der Name eines Chores – in Zusammenhang mit dem des
Chorleiters – immer wieder auf: der Bachl-Chor mit seinem Chorleiter Harald Pill.
Neben der Motette Tenebrae factae sunt aus dem Jahr 1996 und Es ist unmöglich
(1999) komponierte Kropfreiter – ebenfalls 1999 – im Auftrag des Bachl-Chores die
Motette Advent für das Linzer Adventsingen.139 Der Bachl-Chor blickt auf eine lange
Tradition zurück und wurde 1950 von Hans Bachl gegründet. Zunächst war es eine
Sing- und Spielgruppe oberösterreichischer Lehrer, die sich um die Pflege von neuer
und traditioneller Chorliteratur bemühte, ihre Aufgabe aber auch darin sah, das
österreichische Volkstum zu erhalten und über die Grenzen Österreichs hinaus zu
verbreiten. Der Bachl-Chor bemüht sich um den kulturellen Austausch mit anderen
Ländern, unternimmt regelmäßig Konzertreisen ins Ausland und konnte bereits gute
Platzierungen bei Chorwettbewerben erreichen.140 Nach dem Tod von Hans Bachl 1985
übernahm Harald Pill die Leitung des Chores und nannte die Sing- und Spielgruppe
oberösterreichischer Lehrer von nun an Bachl-Chor.141 Kropfreiters Interesse für den
Bachl-Chor kam nicht von irgendwo her. Harald Pill lernte im Alter von zehn Jahren
Augustinus Franz Kropfreiter kennen und zeigte sich von seiner Musik beeindruckt.
Aus diesem Zusammentreffen erwuchs eine lebenslange Freundschaft.142 Dadurch
erklären sich die mehrfachen Widmungen für Harald Pill und den Bachl-Chor von
selbst.
Hilde Seidlhofer war eine weitere Musikerin, zu der Kropfreiter eine lebenslange tiefe
Freundschaft verband. Sie selbst war früher Organistin und unterrichtete Kropfreiter an
der Akademie in Wien im Fach Klavier. Er selbst bezeichnete sie als „eine exzellente
Pädagogin“, die ihre Klavierschüler zum Orgelspiel hinführte. Kropfreiter sagte 1999
weiter „Geblieben ist bis heute eine beglückende Mutter-Sohn-Beziehung.“143 Aufgrund
dieser Worte ist es nicht überraschend, dass auch Hilde Seidlhofer in Kropfreiters
139
Music Information Center Austria, Augustinus Franz Kropfreiter. Werke, http://www.musikaustria.at/,
letzter Zugriff: 21.5.2013.
140
Dr. Christoph Aschaber u.a., Entwicklung, http://www.bachlchor.at/, letzter Zugriff: 21.5.2013.
141
Dr. Christoph Aschaber u.a., Harald Pill, http://www.bachlchor.at/, letzter Zugriff: 21.5.2013.
142
Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 65f.
143
Kropfreiter, Ich über mich, S. 8.
33
Widmungen berücksichtigt wurde. So schrieb er 1999 die Motette Und ich sah die
Toten für diese von ihm zutiefst geschätzte Person.144 Auch seiner in Wien lebenden
Nichte Silvia Kropfreiter, die er als „originäre Malerin mit metaphysischem Gespür“
bezeichnete und die für ihre Glasfenster bekannt ist,145 widmete er eine Motette:
Niemand zündet ein Licht an aus dem Jahr 1999.146
Durch sein Wirken im Stift St. Florian ist es nicht überraschend, dass Augustinus Franz
Kropfreiter einige Motetten seinen Mitbrüdern widmete. Darunter sind in den 1990erJahren mehrere Werke für em. Univ.-Prof. Dr. Ferdinand Reisinger und Prälat Wilhelm
Neuwirth zu finden.147 Dr. Ferdinand Reisinger ist Augustiner Chorherr im Stift St.
Florian und war von 1986 bis 2004 und von 2005 bis 2011 Stiftsdechant. Darüberhinaus
lehrte er als Professor an der Katholisch-Theologischen Privatuniversität in Linz. Er war
ein Musikkenner und -liebhaber und interessierte sich daher auch für die Arbeit
Kropfreiters.148 1999 wurden ihm die Motetten Trachtet nach dem Reich Gottes und In
medio Ecclesiae gewidmet.149 Interessant ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass
Dr. Reisinger seit 2011 Priester in Hargelsberg150 – also in Kropfreiters Geburtsort – ist
(siehe Kapitel 3, S. 4). Prälat Wilhelm Neuwirth war von 1977 bis 2005 Propst des
Augustiner Chorherrenstiftes St. Florian151 und von 1991 bis 1992 Priester in
Hargelsberg.152
Ebenso
wie
Dr.
Reisinger
ist
auch
Prälat
Neuwirth
ein
144
Music Information Center Austria, Augustinus Franz Kropfreiter. Werke, http://www.musikaustria.at/,
letzter Zugriff: 21.5.2013.
145
Kropfreiter, Ich über mich, S. 7
146
Music Information Center Austria, Augustinus Franz Kropfreiter. Werke, http://www.musikaustria.at/,
letzter Zugriff: 21.5.2013.
147
Ebd.
148
MMag. Klaus Sonnleitner, e-mail vom 10.5.2013.
149
Music Information Center Austria, Augustinus Franz Kropfreiter. Werke, http://www.musikaustria.at/,
letzter Zugriff: 21.5.2013.
150
Pfarramt Hargelsberg, Geschichte. Priester, http://www.dioezeselinz.at/redsys/index.php?action_new=read&Article_ID=120289&page_new=412017, letzter Zugriff:
21.5.2013.
151
Sonnleitner, e-mail.
152
Pfarramt Hargelsberg, Geschichte. Priester, http://www.dioezeselinz.at/redsys/index.php?action_new=read&Article_ID=120289&page_new=412017, letzter Zugriff:
21.5.2013.
34
kunstinteressierter Mensch und förderte die Arbeit Kropfreiters.153 Augustinus Franz
Kropfreiter widmete ihm 1991 – zum 50. Geburtstag – die Motette Sit vobis cor unum
und 1999 Es werden Zeichen gesetzt.154
5.4. Zusammenfassung
Augustinus Franz Kropfreiter konzentrierte sich in seinem musikalischen Schaffen
aufgrund seiner Tätigkeit als Organist zunächst auf die Orgelmusik. Durch seine
Tätigkeiten bei den Florianer Sängerknaben und als Regens Chori kam er aber immer
mehr mit der Chormusik und insbesondere mit der Motette in Berührung. Auch in
seiner Arbeit als Komponist setzte er sich intensiver mit dieser Gattung auseinander und
schrieb ab den 1970er-Jahren vermehrt Motetten. Die Motette wurde für Kropfreiter
immer wichtiger und nimmt einen zentralen Stellenwert – mit Schwerpunkt in der
zweiten Lebenshälfte – in seinem Werkverzeichnis ein. Trotz dieser Bedeutung wurden
nur wenige Motetten vom Verlag Doblinger herausgegeben, größtenteils sind die Werke
nur als Manuskripte verfügbar. Aber nicht nur bei den Notenausgaben besteht
Aufholbedarf, auch CD-Aufnahmen im Angebot von Doblinger lassen zu wünschen
übrig.
Die Basis für Kropfreiters Motettenvertonungen waren die Texte, die ihn in seiner
musikalischen Arbeit nicht hindern durften. Neben der Bibel zog er auch literarische
Werke als Textquellen heran und beschäftigte sich sehr genau mit deren
Zusammenstellung. Er griff daher auf verschiedene Übersetzungen der Heiligen Schrift
zurück, wählte die für ihn am besten geeigneten Formulierungen und ergänzte diese
gegebenenfalls durch eigene Wörter.
Augustinus Franz Kropfreiter war ein Komponist, der viele seiner Werke – auch die
Motetten – Personen, zu denen er eine besondere Beziehung hatte, widmete. Dieser
Personenkreis umfasste befreundete Musiker und Künstler ebenso wie Mitbrüder aus
153
Sonnleitner, e-mail.
154
Music Information Center Austria, Augustinus Franz Kropfreiter. Werke, http://www.musikaustria.at/,
letzter Zugriff: 21.5.2013.
35
dem Stift St. Florian. Befreundete Musiker waren etwa Harald Pill, der Leiter des
Bachl-Chores, oder seine Klavierlehrerin Hilde Seidlhofer. Diesen wurden ebenso
Motetten gewidmet wie seinen Mitbrüdern Dr. Ferdinand Reisinger und Prälat Wilhelm
Neuwirth.
36
6. Analysen
In diesem Kapitel werden die Motetten Es ist unmöglich, Trachtet nach dem Reich
Gottes und Niemand zündet ein Licht an in verschiedener Hinsicht untersucht. Zunächst
werden allgemeine Informationen zu Entstehungsdatum, Widmung und Besetzung
angesprochen. Im Anschluss daran werden die Motetten in textlicher, formaler und
musikalischer Hinsicht analysiert. Eine abschließende Zusammenfassung bringt noch
einmal die wichtigsten Informationen.
6.1. Es ist unmöglich
6.1.1. Allgemeine Informationen
Entstehungsdatum: 30.9.1999
Gewidmet: Harald Pill und dem Bachl-Chor
Besetzung:
Es ist unmöglich ist eine a cappella-Motette für vierstimmigen gemischten Chor. Im
Laufe des Stückes kommt es immer wieder zu kurzen Zweiteilungen in allen Stimmen –
zu jedoch unterschiedlichen Zeitpunkten. Nachdem die ersten 16 Takte vierstimmig
ausgeführt wurden, kommt es in den Takten 17 bis 21 zu einer Zweiteilung im Sopran.
Der Bass wird von Takt 25 bis 28 zweistimmig geführt, die Altstimme schließt sich
dieser Unterteilung in den Takten 26 bis 28 an. Somit entsteht erstmals in der Motette
ein sechsstimmiger Satz. Die Sechsstimmigkeit wird von Takt 29 bis 32 durch
Teilungen im Sopran und Tenor beibehalten. Die Altstimme bleibt sogar bis zum
Motettenende unterteilt.
37
6.1.2. Textliche Analyse
Es ist unmöglich ist eine Evangelienmotette mit der Vertonung der ersten beiden Verse
aus Lukas 17. In der folgenden Tabelle 6.1.1. wird Kropfreiters Motettentext mit
verschiedenen Bibelstellen verglichen, um herauszufinden, an welche Bibel sich
Kropfreiter beim Verfassen des Textes gehalten hat. Übereinstimmende Formulierungen
werden gelb hinterlegt.
Kropfreiter
Einheitsübersetzung155
„Er sprach zu seinen
Jüngern:
„Er sagte zu seinen
Jüngern:
Es ist unmöglich, daß
nicht Ärgernis,
Ärgernis kommen
werde.
Wehe aber dem,
durch welchen sie
kommen!
Es wäre ihm
nützlicher,
nützlicher, daß man
einen Mühlstein an
seinen Hals hengete
und würfe ihn ins
Meer!
Denn dieser Kleinen,
dieser Kleinen
ärgere.“
Es ist unvermeidlich,
dass Verführungen
kommen.
Luther Bibel156
„Er sprach aber zu
seinen Jüngern:
Es ist unmöglich,
dass keine
Verführungen
kommen;
Aber wehe dem, der sie aber weh dem,
verschuldet.
durch den sie
kommen!
Es wäre besser für ihn,
Es wäre besser für
man würde ihn mit
ihn, dass man einen
einem Mühlstein um den Mühlstein an
Hals ins Meer werfen,
seinen Hals hängte
und würfe ihn ins
Meer,
als dass er einen von
diesen Kleinen zum
Bösen verführt.“
als dass er einen
dieser Kleinen zum
Abfall verführt.“
Elberfelder
Bibel157
„Er sprach aber
zu seinen
Jüngern:
Es ist unmöglich,
dass nicht
Verführungen
kommen.
Wehe aber dem,
durch den sie
kommen!
Es wäre ihm
nützlicher, wenn
ein Mühlstein um
seinen Hals
gelegt und er ins
Meer geworfen
würde,
als dass er einem
dieser Kleinen
Anlass zur Sünde
gäbe!“
Tab. 6.1.1.: Textvergleich Es ist unmöglich
155
Katholische Bibelanstalt (Hrsg.), Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe.
Psalmen und Neues Testament. Ökumenischer Text, Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH
1999, S. 1168.
156
Deutsche Bibelgesellschaft, Das Evangelium nach Lukas. Von Verführung zum Abfall. Von der
Vergebung, Luther Bibel 1984, http://www.die-bibel.de/online-bibeln/luther-bibel1984/bibeltext/bibelstelle/Lk17,11-19/, letzter Zugriff: 21.5.2013.
157
Deutsche Bibelgesellschaft, Das Evangelium nach Lukas. Warnung vor Verführung zur Sünde –
Ermahnungen vom Vergeben, Glauben und Dienen, Elberfelder Bibel 2006, http://www.diebibel.de/online-bibeln/elberfelderbibel/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/52/170001/179999/ch/b540e5fab657bf5a7245c5bce7006749/, letzter
Zugriff: 21.5.2013.
38
Beim Vergleichen der verschiedenen Bibelübersetzungen mit dem Motettentext wird
schnell ersichtlich, dass Kropfreiter seinen Text nicht der Einheitsübersetzung
entnommen hat – zu unterschiedlich sind die Formulierungen der beiden Texte.
Vielmehr scheinen die Luther- und die Elberfelderübersetzung die Grundlage für die
Motette Es ist unmöglich zu sein. Während der erste Vers in beiden Übersetzungen mit
dem Kropfreitertext nahezu ident ist, scheint der zweite Vers – aufgrund der größeren
Übereinstimmung
–
der
Luther
Bibel
entnommen
zu
sein.
Trotz
vieler
Gemeinsamkeiten mit den analysierten Textstellen hat Kropfreiter nicht alle
Formulierungen übernommen. Er verwendet etwa anstatt des Wortes Verführung den
Begriff Ärgernis, das er sogar unmittelbar zweimal hintereinander schreibt, obwohl es
im Evangelientext keine Wortwiederholungen gibt. Dasselbe fällt bei Es wäre ihm
nützlicher, nützlicher auf, wo ein Wort ebenfalls zweimal vorkommt. Auffallend beim
Vergleich mit der Lutherübersetzung ist die Kropfreiter-Stelle daß man einen Mühlstein
an seinen Hals hengete und würfe ihn ins Meer! Diese Phrase ist komplett ident mit der
Luther Bibel, jedoch mit einer Ausnahme – dem Wort hengete. Es ist fraglich, warum
Kropfreiter nicht wie im Original hängte schrieb und stattdessen ein grammatikalisch
falsches Wort einbaute. Auch das Wort Mühlstein wird bei Kropfreiter unmittelbar
zweimal nacheinander wiederholt, obwohl es im Original nur einmal auftritt. Eine
textliche Veränderung bei Kropfreiter gibt es am Ende der Motette, indem er dieser
Kleinen wiederholt, ärgere anschließt und sich nur auf zwei Wörter konzentriert, die
ihm vermutlich am wichtigsten erscheinen.
6.1.3. Formale Analyse
Formal lässt sich diese Motette in fünf Hauptabschnitte untergliedern. Diese wiederum
sind teilweise nochmals in kleinere Einheiten zu unterteilen. Tab. 6.1.2. zeigt die
Aufteilung der Formteile nach Taktzahlen.
Takte
1-2
Hauptabschnitte
A
3-11
12-16
B
C
1
Unterabschnitte
17-32
32-40
D
E
1
B (T. 3-5)
D (T. 17-21)
B2 (T. 5-11)
D2 (T. 21-28)
D3 (T. 28-32)
Tab. 6.1.2.: Formale Gliederung Es ist unmöglich
39
6.1.4. Musikalische Analyse
Zu Beginn der musikalischen Analyse steht die Tonartbestimmung. Der Beginn der
Motette erweckt den Eindruck, das Stück stünde aufgrund des vorherrschenden Tones
g1/g in G-Dur. Auch der Schlussakkord lässt mit den Tönen g1/g und d2/d1 (jedoch mit
fehlender Terz) auf diese Vermutung schließen. Im ersten Takt der Motette überwiegt
der Ton g1/g in allen Stimmen. Der Bass allerdings bewegt sich am zweiten Schlag
dieses Taktes einen Halbton nach unten zum fis. Die Melodie im Sopran steigt über das
a1 weiter zum h1 und das Ohr würde an dieser Stelle (auf die zweite Viertel in Takt 2)
erstmals einen vollständigen G-Dur-Akkord zur Tonartbestätigung erwarten. Dem ist
allerdings nicht so, denn zum h1 aus dem Sopran kommen noch ein e1 im Alt, ein h im
Tenor und ein e im Bass hinzu, sodass zwei leere Quinten erklingen. Aufgrund dieses
unerwarteten Akkordes kann die G-Dur-Vermutung nicht bestätigt werden und die
Festlegung auf eine Haupttonart scheint somit nicht möglich zu sein (vgl. Nbsp. 6.1.1.).
Parallelen gibt es in diesen beiden ersten Takten zwischen Sopran und Tenor sowie
zwischen Alt und Bass. Die Sopranstimme in Takt 2 nimmt das h1 des zweiten Viertels
vorweg und bringt diesen Ton eine Achtelnote früher als der Tenor das h. Im Alt und
Bass erscheint eine andere Melodiefolge zeitlich versetzt: In der Bassstimme erklingt
nach drei Achtelnoten g bereits auf die zweite Viertel im ersten Takt zweimal das fis
und das e bereits auf der Eins des nächsten Taktes. Im Alt hingegen bleibt das g1 den
ganzen ersten Takt hindurch stehen und erst im zweiten Takt bringt diese Stimme das
fis1 sowie das e1. Auch in Bezug auf die Intervalle der Melodieführung ähneln sich die
beiden genannten Stimmpaare (Sopran und Tenor bzw. Alt und Bass). Sowohl im
Sopran als auch im Tenor beginnt die Melodie mit vier Primschritten, gefolgt von zwei
großen Sekundschritten. Der einzige Unterschied liegt in Takt 2, wo sich im Sopran
durch die Vorwegnahme des h1 ein zusätzlicher Primschritt zur zweiten Viertelnote
ergibt. In der Altstimme erklingen zu Beginn ebenso vier Primen, ehe eine kleine und
eine große Sekund folgen. Im Bass gibt es lediglich zwei Primschritte, eine kleine
Sekund hin zur zweiten Viertelnote, gefolgt von einer Prim. Die Fortschreitung in der
großen Sekund der Altstimme in Takt 2 vollzieht sich im Bass bereits am Übergang
vom ersten zum zweiten Takt und wird in Takt 2 von einer weiteren Prim beendet.
Beim Betrachten der Intervalle zwischen Anfangs- und Endton der ersten beiden Takte
40
ist feststellbar, dass in allen Stimmen das Intervall einer Terz überwunden wird. In der
Sopran- und Tenorstimme handelt es sich um eine große Terz aufwärts (vom g1/g zum
h1/h), in der Alt- und Bassstimme erklingt eine kleine Terz abwärts vom g1/g zum e1/e
(vgl. Nbsp. 6.1.1.).
große Terz
kleine Terz
große Terz
kleine Terz
Nbsp. 6.1.1.: Es ist unmöglich, Takt 1-2
Um zum Anfangston des Abschnitts B in Takt 3 zu gelangen, legen Sopran, Alt und
Tenor einen Aufwärtssprung im Umfang einer kleinen Terz zurück, der Bass bleibt auf
dem e. Bis zu diesem ersten Sprung in den drei oberen Stimmen, herrschten schrittweise
Bewegungen vor. Dieser stufenweisen Fortschreitung folgen die Alt- und Tenorstimme
auch in den Takten 3 bis 5: Der Alt bewegt sich – wie bereits in den ersten beiden
Takten – vom g1 eine kleine Terz nach unten zum e1. Der Tenor geht vom d1 über das c1
zum b (überwindet somit eine große Terz) und kehrt über das c1 schließlich wieder zum
Ausgangston (d1) zurück. In der Melodieführung der Takte 3 bis 5 sind im Tenor somit
ausschließlich große Sekundschritte zu finden. Im Alt hingegen erscheinen eine Prim,
sowie große und kleine Sekunden. Die Bassstimme bleibt in Takt 3 auf dem e liegen
und springt anschließend eine kleine Terz nach oben. Es folgen noch zwei große
Sekunden aufwärts, ehe der Bass im Zielton h mündet. Der Sopran bringt ab Takt 3
dreimal den Ton d2 und springt im darauffolgenden Takt eine Quart nach unten auf das
a1, das in Takt 5 nochmals erscheint. Der Sopran überwindet in diesen drei Takten
zwischen Anfangs- und Endton das Intervall einer reinen Quart nach unten, der Alt –
41
wie schon in den ersten beiden Takten – eine kleine Terz abwärts. Der Tenor beginnt
und endet auf demselben Ton (Prim), geht aber in diesen drei Takten eine große Terz
nach unten (zum b) während im Bass sogar erstmals eine Quint zwischen Anfangs- und
Endton dieser Phrase liegt. In Takt 5 endet der Abschnitt B1 mit dem Klang h – d1 – e1 –
a1. Bei genauerem Hinsehen und Umschichten ist erkennbar, dass es sich dabei um
einen Quartenakkord (h – e – a – d) handelt, dessen Gestalt durch die spezielle
Schichtung auf den ersten Blick verschleiert wurde (vgl. Nbsp. 6.1.2.).
reine Quart
r4
kleine Terz
große Terz
k3
reine Quint
Nbsp. 6.1.2.: Es ist unmöglich, Takt 3-5
Nach genauerem Betrachten der Takte 1 bis 5 kann festgehalten werden, dass – in
verschiedener Hinsicht – bisher lediglich folgende Intervalle vorkamen: Prim, Sekund,
Terz, Quart und Quint. Diese Konzentration auf wenige Intervalle beginnt bereits bei
der Melodieführung, die vorwiegend aus Primen und Sekunden aufgebaut ist und nur
durch viermalige Terz- und einen Quartsprung unterbrochen wird. Ebenso tauchen die
oben genannten Intervalle zwischen den Anfangs- und Endtönen der analysierten Takte
auf. Einen Quartsprung im Sopran notiert Kropfreiter ausgerechnet in Takt 4, und auch
der Akkord in Takt 5 wurde aus einem Quartenakkord konstruiert. Ebenso kommt die
Quint sowohl in der Melodieführung als auch in den leeren Quinten des
Schlussakkordes von Abschnitt A in Takt 2 vor. Die starke Verwendung von Primen
und Sekunden könnte mit den Versen 1-2 der Textstelle in Lukas 17 zusammenhängen.
Vielleicht wurde Kropfreiter von diesen Zahlen zu seinen bevorzugten Intervallen
42
beeinflusst. Auch die häufige Verwendung der Terz (1 + 2 = 3) könnte damit in
Zusammenhang stehen.
Takt 5 bildet neben dem Schlussakkord des Abschnitts B1 zugleich den Auftakt zu Teil
B2 in der Altstimme. Nach zwei Achtelnoten e1 folgt ein kleiner Terzsprung aufwärts
zum g1, das insgesamt dreimal hintereinander erklingt. In weiterer Folge überwindet der
Alt vier kleine Sekunden (Wechsel zwischen g1 und fis1), mit dem Fortschreiten vom g1
zum a1 folgen schließlich vier große Sekunden. Beendet wird dieser Abschnitt mit
einem kleinen Terzsprung nach unten zum e1, das zweimal erklingt. Somit endet diese
Stimme in Teil B2 auf demselben Ton, mit dem sie begonnen hat. Auch hier ist wieder –
mit Ausnahme der beiden Sprünge am Beginn und Ende dieser Phrase – eine eindeutige
Hinwendung zu Primen und Sekunden in der Melodieführung festzustellen. Das
charakteristische Motiv für diesen Abschnitt B2 ist allerdings in anderen Stimmen zu
finden. Erstmals erscheint es in der Altstimme in Takt 5 und wird vom Sopran im Takt
6 fortgeführt. Auch hier verwendet Kropfreiter keine neuen Intervalle: Prim – kleine
Terz – kleine Sekund – große Sekund – übermäßige Prim. Dieses Motiv endet mit dem
Ton h1 in Takt 7. Die Altstimme bringt eine Augmentation des zweiten Teils dieses
Motivs in den Takten 8 und 9: durch die Töne fis1 – g1 – a1 erklingt die Melodiefolge
nicht auf Originaltonhöhe, sondern einen Halbton tiefer (vgl. Nbsp. 6.1.3.).
g3
k3
k3
k3
k3
Nbsp. 6.1.3.: Es ist unmöglich, Takt 5-11, Sopran und Alt
Ein Ausschnitt dieses Motivs erklingt auch in Takt 7 in der Tenorstimme – jedoch ohne
den anfänglichen Terzsprung. Hier beginnt die Tonfolge mit dem g und schreitet – wie
vom Sopran her bekannt – bis zum h hinauf. Vollständig erscheint diese Melodie
nochmals im Bass in den Takten 8 bis 11. Die Unterschiede zum erstmaligen
Erscheinen dieses Motivs liegen im Rhythmus, der vor allem in der zweiten Motivhälfte
43
anders angelegt ist, und in der Tatsache, dass jeder Ton zweimal erklingt, bevor zum
nächsten weitergegangen wird. Die Intervallfortschreitungen bleiben – mit Ausnahme
der Tonwiederholungen – gleich wie in Takt 5 und 6 (vgl. Nbsp. 6.1.4.).
5
k3
k3
Nbsp. 6.1.4.: Es ist unmöglich, Takt 5-11, Tenor und Bass
Teil B endet in Takt 11 mit einem Akkord bestehend aus den Tönen h – d1 – e1 – a1.
Beim Vergleichen dieses Akkordes mit jenem aus Takt 5 fällt auf, dass es sich dabei um
denselben Akkord handelt. Kropfreiter muss seine Melodieführung ab Takt 5 also
bewusst so gewählt haben, um in Takt 11 wieder zu jenen Tönen zurückzukehren, von
denen er ausgegangen ist – nämlich seinem umgeschichteten Quartenakkord. Auch in
diesem Abschnitt überwiegen bis auf einige wenige Terzsprünge in allen Stimmen
stufenweise Fortschreitungen in der Melodie. Abschließend sollen noch die
Tonabstände betrachtet werden, die in den jeweiligen Stimmen überwunden werden.
Die Sopranstimme beginnt mit dem g1 und endet auf dem a1 – sie legt somit eine große
Sekund zurück. Allerdings ist der melodische Höhepunkt mit dem g2 in Takt 9 zu finden
und somit liegt dieser Ton eine Oktave höher als der Anfangston dieser Stimme.
Erstmals seit Beginn des Stückes taucht nun also eine Oktav auf. Die Altstimme geht
vom Ausgangston e1 eine Quart nach oben zum a1 in Takt 9, ehe sie wieder zum e1 in
Takt 11 zurückkehrt. Im Tenor und Bass wird jeweils eine Quint (g – d1 bzw. e – h)
zurückgelegt und somit sind auch hier bereits bekannte Intervalle zu finden. Wie in den
Takten 1 bis 5 beschränkt sich Kropfreiter auch in den Takten 5 bis 11 auf die Intervalle
Prim, Sekund, Terz, Quart und Quint und bringt lediglich einmal eine Oktav im Sopran
(vgl. Nbsp. 6.1.5.).
44
reine Oktav
g3
k3
k3
reine Quart
k3
k3
reine Quint
k3
k3
reine Quint
Nbsp. 6.1.5.: Es ist unmöglich, Takt 5-11
Takt 12 bildet den Beginn von Abschnitt C, in dem alle Stimmen im Unisono beginnen
und dynamisch erstmals ein forte auftritt. Ausgehend vom fis1/fis folgt ein Sprung im
Umfang einer verminderten Oktav nach oben, bevor sich die Stimmen zweiteilen. Der
Hörer nimmt dieses Intervall als große Septim und somit als sehr scharfklingende
Dissonanz wahr. Kropfreiter hat sich womöglich deshalb für dieses Intervall
entschieden, um den Text Wehe aber dem, durch welchen sie kommen! klanglich zu
unterstreichen und bereits den Beginn dieser Phrase bedrohlich klingen zu lassen.
Warum aber hat er sich dafür entschieden, eine verminderte Oktav und nicht eine große
Septim zu notieren? Das könnte darauf zurückzuführen sein, dass 8 (die Oktav) die
Summe aus 1 und 7 ist – also aus dem zitierten Lukaskapitel 17. Vielleicht hat er auch
gerade deshalb zuvor zwischen Takt 6 und 9 in der Sopranstimme das Intervall einer
Oktav gewählt (vgl. Nbsp. 6.1.6.).
Nach diesem bisher größten Sprung – zuvor waren es ja nur Terz- und Quartsprünge –
folgen wieder stufenweise Bewegungen aller vier Stimmen. Zu diesem Zweck gibt es
eine Zweiteilung und Sopran und Tenor bzw. Alt und Bass schreiten in Oktaven fort. In
den beiden Erstgenannten erklingt zunächst viermal das f2/f1, bis schließlich von Takt
13 auf 14 durch eine übermäßige Prim die Melodie um einen Halbton nach oben geht
45
und bis zum Ende der Phrase in Takt 16 auf diesem Ton bleibt. Anders sieht es in der
Alt- und Bassstimme aus, in denen eine absteigende Linie für mehr Bewegung sorgt.
Ausgehend vom f2/f1 schreitet die Melodie in folgenden Intervallen abwärts: kleine
Sekund – große Sekund – übermäßige Prim – kleine Sekund (2x) – große Sekund (4x) –
kleine Sekund – Prim. Auch in diesem Fall sind es die bereits vielfach verwendeten
Intervalle in der Melodieführung (vgl. Nbsp. 6.1.6.).
Neu sind jedoch die Intervalle zwischen Anfangs- und Endtönen dieser Phrase. Da der
Abschnitt C in allen vier Stimmen mit einem fis1/fis beginnt und ebenso mit einem
fis2/fis1 endet, ergeben sich lediglich Oktaven bzw. Primen. Aus diesem Grund ist es
interessanter, vom zweiten Ton – dem f2/f1 – auszugehen und von diesem aus den
Abstand zum letzten fis2/fis1 zu bestimmen. In der Sopran- und Tenorstimme ergibt sich
durch die liegende Melodiefolge eine übermäßige Prim, während im Alt und Tenor eine
verminderte Oktav auftritt. Kropfreiter verstärkt damit nochmals die Wirkung dieses
Intervalls und verdeutlicht, dass die Oktav ein wichtiger Bestandteil dieses Abschnitts
ist. Auch das Ende von Teil C in Takt 16 ist interessant, denn erstmals beenden alle vier
Stimmen eine Phrase mit demselben Ton – in diesem Fall mit dem fis2/fis1. Auch hier
kommt nochmals die Oktav zum Vorschein – diesmal jedoch als reines Intervall. Der
Tonabstand zwischen Sopran und Alt bzw. zwischen Tenor und Bass beträgt nämlich
exakt eine Oktav (vgl. Nbsp. 6.1.6.).
übermäßige Prim
verminderte Oktav
übermäßige Prim
verminderte Oktav
Nbsp. 6.1.6.: Es ist unmöglich, Takt 12-16
46
Takt 17 ist der Beginn eines neuen Abschnitts (D) und stellt erneut die Quint als ein
beliebtes Intervall in den Mittelpunkt. Erstmals ist der Sopran unterteilt und schreitet bis
zur ersten Viertel in Takt 19 in Quinten fort. Der 2. Sopran erinnert in Takt 18 und 19
(g1 – a1 – b1) an die Takte 1 und 2, jedoch nun mit einer großen und einer kleinen
Sekund. Um den Sopran in Quinten weiterzuführen wird hier diese kleine Änderung (b1
statt h1) notwendig gewesen sein. Eine Quint ergibt sich auch zwischen Alt und 2.
Sopran in Takt 17 (des1 und as1). Ebenso ist zwischen diesen beiden Stimmen im
darauffolgenden Takt auf die zweite Viertel erneut eine Quint zu finden. In Takt 18
setzt die Tenorstimme ein und bildet mit dem Ton a eine Quart zum Alt. Dieses
Intervall tritt im nächsten Takt sowohl im Sopran als auch im Alt auf. Der Alt springt
um eine Quart vom d1 zum g1, während der Sopran seine Quintfortführung unterbricht
und stattdessen auf die zweite Viertelnote eine Quart aufscheinen lässt. Bereits jetzt
wird deutlich, dass sich Kropfreiter in diesem Abschnitt auf dieselben Intervalle
konzentriert wie in den Takten 1 bis 5. Auch in den Takten 20 und 21 tauchen weitere
Quarten und Quinten auf. Die Sopranstimme bringt eine Quint auf die letzte Achtelnote
in Takt 20 und schließt diese Phrase mit einer Quart im darauffolgenden Takt. Eine
Quint ergibt sich auch zwischen 2. Sopran und Alt in Takt 21, im selben Takt erscheint
eine Quart zwischen Alt und Tenor und wiederum eine Quint zwischen Tenor und Bass
(vgl. Nbsp. 6.1.7.).
Zwei Besonderheiten sind in den beiden Sopranstimmen in Takt 20 zu finden, nämlich
zunächst eine verminderte Oktav und anschließend – erstmals – eine große Sext.
Abgesehen von diesen bevorzugten Intervallen bringt die Altstimme ein kurzes Motiv in
Takt 18, das noch weitere zwei Mal vorkommt. Es sind dies die Töne es1 – f1 – d1 und
somit die Intervalle große Sekund und kleine Terz auf das Wort nützlicher. In Takt 20
taucht dieses Motiv gleich zweimal nacheinander auf. Zuerst erscheinen im Tenor diese
beiden Intervalle – jedoch auf anderer Tonhöhe (des1 – es1 – c1) – ehe im Alt auf die
zweite Viertel dieses Taktes nochmals die Töne von Takt 18 erklingen. Eine
Besonderheit bringt Kropfreiter in der Tenorstimme im Takt 20 und 21 ein: durch die
absteigende Linie es1 – c1 – a ergibt sich ein verminderter Akkord. Welche Gründe
könnten für die Verwendung dieses Akkordes sprechen? Aus der bisherigen Analyse ist
bereits hervorgegangen, dass Kropfreiter eine gewisse Hinwendung zur kleinen Terz an
den Tag gelegt hat. Beim Betrachten der wenigen Sprünge, die bisher in der Melodie
aufgetaucht sind, fällt auf, dass es sich in den meisten Fällen um kleine Terzen handelt.
47
Daher erscheint es durchaus schlüssig, einen verminderten Akkord – bestehend aus zwei
kleinen Terzen – in die Motette einzubringen. Andererseits notierte Kropfreiter bereits
mehrmals die verminderte Oktav – zuletzt sogar im gleichen Takt im Sopran, also
erscheint auch ein verminderter Akkord keineswegs ausgeschlossen zu sein. Der
Abschnitt D1 endet schließlich mit leeren Quinten (d – a – d1 – a1 – d2) in Takt 21 (vgl.
Nbsp. 6.1.7.).
Nbsp. 6.1.7.: Es ist unmöglich, Takt 17-21
D2 beginnt in Takt 21 mit einem Auftakt des Basses (zweimal d1), der im nächsten Takt
eine große Septim nach unten zum es springt. Dieses Intervall kam in der bisherigen
Analyse noch nicht vor, allerdings brachten alle vier Stimmen eine verminderte Oktav
in Takt 12, die für den Hörer wie eine große Septim wahrgenommen wird. Somit
kommt es zu einer klanglichen Umkehrung des erwähnten Taktes und mit der
vorangehenden Prim ergibt sich die Zahl 17, die auf das Evangelienkapitel nach Lukas
Bezug nimmt. Die Summe dieser beiden Zahlen 1 und 7 ist 8, und somit steht diese
Stelle nicht nur klanglich, sondern auch von der Zahlensymbolik her in Zusammenhang
mit Takt 12. Der Text wird an dieser Stelle bedrohlicher, was durch die Dissonanz der
großen Septim auch klanglich verdeutlicht wird. Nach diesem markanten Sprung im
Bass bewegt sich die Melodie wieder schrittweise nach unten bis zum Ges. Ab Takt 25
kommt es in der Bassstimme zu einer Zweiteilung und die beiden Stimmen werden –
wie die beiden Sopranstimmen in Takt 17 bis 19 – bis zum Ende von Abschnitt D2
(Takt 28) in Quinten geführt (vgl. Nbsp. 6.1.8.).
48
Die Tenorstimme bewegt sich zu Beginn dieser Phrase wieder stufenweise und bringt
jeweils drei Töne, die an die Sopranstimme in Takt 6 erinnern. Es handelt sich dabei um
g1 – as1 – b1 (Sopran, Takt 6) und somit um die Intervalle kleine und große Terz. Der
Tenor in Takt 22 beginnt ebenfalls auf dem g, geht allerdings zuerst mit einer großen
und anschließend mit einer kleinen Sekund (g – a – b) weiter – also genau umgekehrt zu
Takt 6. In Takt 23 erklingt zwischen Tenor und Bass erneut zweimal hintereinander die
große Septim, was die Wichtigkeit dieses Intervalls in diesem Abschnitt unterstreicht. In
den Takten 25 und 26 kommt es im Tenor zu mehreren Sprüngen nacheinander und zu
einer Stimmführung, die Parallelen zum Sopran in Takt 25 aufweist (Sopran: siehe
Nbsp. 6.1.9., S. 50). Nachdem der Tenor in diesem Takt eine kleine Terz nach unten
springt, eine große Sekund nach unten geht und vom f aus eine Quart aufwärts springt,
landet diese Stimme auf dem b in Takt 26. Von hier aus folgt eine kleine Terz aufwärts,
eine kleine Terz abwärts und eine reine Quint aufwärts zum f1. Die Parallelstelle des
Soprans (Takt 25) zeigt eine reine Quint nach oben, eine kleine Terz abwärts und
wieder eine kleine Terz aufwärts. Der Tenor verhält sich von den Intervallen her
gesehen in Takt 26 umgekehrt zum Sopran aus Takt 25 – das heißt, er beginnt mit zwei
Terzsprüngen und endet mit der Quint, während der Sopran mit der Quint beginnt. Ab
Takt 27 schreitet die Tenorstimme wieder stufenweise fort, bringt zweimal die große
Sekund und schließt mit der kleinen Sekund zum e1 in Takt 28 an. Diese
Intervallabfolge ist dieselbe wie jene des Basses in Takt 15, jedoch auf einer anderen
Tonhöhe (vgl. Nbsp. 6.1.8.).
21
26
k3
g2
r5
k3
g2
k2
Nbsp. 6.1.8.: Es ist unmöglich, Takt 21-28, Tenor und Bass
49
Beim Einsetzen der Sopranstimme in Takt 24 erklingt nochmals die Abfolge von Prim
und großer Septim nach unten (wie im Bass in Takt 21 und 22) – diesmal ausgehend
vom g2. Im Gegensatz zur Bassstimme verzichtet Kropfreiter im Sopran auf die
stufenweise Fortschreitung und schließt dem Septimsprung eine reine Quint und drei
kleine Terzen an. Die Altstimme bewegt sich zu Beginn dieser Phrase (ab Takt 23)
stufenweise und bringt drei Töne, die an die Sopranstimme in Takt 6 (g1 – as1 – b1)
erinnern. Der Alt startet auf dem es1, gefolgt von f1 und g1 und damit erscheint zweimal
die große Sekund (in Takt 6 waren es eine kleine und große Sekund). Während Bass
und Tenor in den Takten 26 und 27 eigenständige Linien aufweisen, können Sopran und
Alt an dieser Stelle zusammengefasst werden. Zunächst fällt eine Zweiteilung des Alt
und die Quarten zwischen den beiden Altstimmen auf. Wird in die Betrachtung noch die
Sopranstimme eingeschlossen, so fällt auf, dass die Frauenstimmen zusammen
Quartsextakkorde und somit vollständige Harmonien ergeben. Die Akkorde werden
stufenweise weitergeführt und ergeben folgende Harmonien: As-Dur – Ges-Dur – FesDur – Ges-Dur – As-Dur – B-Dur (vgl. Nbsp. 6.1.9.).
r5
k3
k3
Ab
Gb
Fb
Gb
Ab
Bb
Nbsp. 6.1.9.: Es ist unmöglich, Takt 21-28, Sopran und Alt
50
Am Ende dieser Phrase stehen die Töne e/e1/e2 und h/h1 in Takt 28 – abermals als leere
Quinten (vgl. Nbsp. 6.1.10.).
r5
k3
k3
Ab
Gb
Fb
Gb
Ab
g2
r5
k3
k3
Bb
g2
k2
Nbsp. 6.1.10.: Es ist unmöglich, Takt 21-28
Ab der zweiten Viertel in Takt 28 beginnt Teil D3 und es findet eine Zweiteilung von
Sopran und Tenor statt, sodass sich ein sechsstimmiger Satz ergibt. Gleich zu Beginn
erklingen g – g1 – g2 und ergeben somit zweimal das Intervall einer Oktav – dies war
bereits in Takt 16 der Fall. In den folgenden drei Takten erscheint ein schon bekanntes
51
Stilmittel: 1. Sopran, Alt und die beiden Tenorstimmen verharren auf einem Ton und
gehen lediglich einen Sekundschritt zum Zielton a2/a1/a nach oben, während im 2.
Sopran und in der Bassstimme eine absteigende Melodielinie erklingt. Ausgehend von
der zweiten Viertel in Takt 28 schreiten diese beiden Stimmen in folgenden Intervallen
fort: große Sekund (3x) – kleine Sekund – große Sekund – kleine Sekund. Die
Bewegung erfolgt also wieder – wie auch bisher bevorzugt – stufenweise und der
Abschnitt endet in Takt 32 mit dem gleichen Ton in allen Stimmen. Diesmal sind durch
die Töne A – a – a1 – a2 gleich drei Oktaven übereinander geschichtet. Interessant sind
in diesem Abschnitt noch die zurückgelegten Intervalle zwischen dem Anfangs- und
Endton der Phrase – also zwischen Takt 28 und 31: 1. Sopran, Alt und die beiden
Tenorstimmen schreiten um eine große Sekund vom g2/g1/g auf das a2/a1/a. Der 2.
Sopran und der Bass beginnen mit dem g2/g und bewegen sich abwärts zum a1/A –
somit tritt abermals eine Septim auf, jedoch erstmals eine kleine. Die große Sekund und
die kleine Septim sind Komplementärintervalle und ergänzen sich zu einer Oktav, die
im Laufe der Motette bereits immer wieder aufgetreten ist und – wie auch schon
erwähnt – mit dem Kapitel 17 des Lukasevangeliums in Verbindung steht (vgl. Nbsp.
6.1.11.).
große Sekund
kleine Septim
große Sekund
große Sekund
große Sekund
kleine Septim
Nbsp. 6.1.11.: Es ist unmöglich, Takt 28-32
52
Der letzte Teil E beginnt in Takt 32 mit einem a1/a, wodurch abermals eine reine Oktav
erklingt. Kropfreiter beginnt auch diesen abschließenden Teil mit einem schon
bekannten Intervall, nämlich der Quint zwischen Bass und Tenor. Diese beiden
Stimmen wiederholen drei Takte lang (Takt 33 bis 35) denselben Ton und beenden
daraufhin den Quintklang. Es folgen – wie schon so oft – stufenweise Fortschreitungen,
die lediglich durch einen Quintsprung aufwärts im Tenor (Takt 39) unterbrochen
werden. Die beiden Altstimmen und der Sopran zeigen in diesem Abschnitt eine
bewegtere Melodieführung, die jedoch auch größtenteils stufenweise vorangeht (vgl.
Nbsp. 6.1.12.).
In den Takten 33 bis 37 können die beiden Frauenstimmen wieder zusammengefasst
werden und bilden dadurch erneut eine Kette aus Quartsextakkorden, die von zwei
Sektakkorden unterbrochen wird. Dabei werden folgende Harmonien gebildet: a-moll –
G-Dur – F-Dur – G-Dur – a-moll – B-Dur – Es-Dur (Sektakkord) – B-Dur – Des-Dur –
Des-Dur (Sextakkord). Die stufenweise Bewegung der Altstimmen wird in den Takten
36 bis 38 von drei aufeinanderfolgenden Sprüngen unterbrochen. Durch diese Sprünge
in der zweiten Altstimme ergibt sich ab Takt 37 durch die Töne as1 – f1 – d1 ein
verminderter Akkord auf d – zum zweiten Mal nach jenem aus Takt 20. Die Motette
endet schließlich mit den Tönen g – d1 – g1 – d2 und lässt somit erneut zwei leere
Quinten übereinander aufscheinen (vgl. Nbsp. 6.1.12.).
53
a
G
F
G
a
Bb
Eb6
Bb
Db6
Db
k3
k3
verm. Akk.
r5
Nbsp. 6.1.12.: Es ist unmöglich, Takt 32-40
6.1.5. Zusammenfassung
Kropfreiter konzentriert sich in der Melodieführung dieser Motette vorwiegend auf die
Fortschreitung in Primen und Sekunden und somit auf die stufenweise Bewegung der
einzelnen Stimmen. Durch diese bevorzugten Intervalle wird auch musikalisch ein
Bezug zur Textstelle (Vers 1-2) hergestellt. In der Melodie sind nur sehr vereinzelt
Sprünge zu finden, die meisten im Umfang einer Terz. Gelegentlich kommen aber auch
Quart-, Quint-, Septim- und Oktavsprünge vor. Dass Kropfreiter dabei sehr zur Terz
54
tendiert, könnte damit zusammenhängen, dass 3 die Summe aus 1 und 2 ist und sich
somit wieder auf das Lukasevangelium bezieht. Die Zahlensymbolik spielt für
Kropfreiter anscheinend eine große Rolle und wird auch durch die häufige Verwendung
der Oktav erneut bestätigt. 8 ist ja die Summe aus 1 und 7 und somit ein Hinweis auf
das Kapitel 17 nach Lukas. Dieses Intervall tritt sowohl bei Melodiesprüngen als auch
im Zusammenklang zwischen zwei Stimmen in der Motette immer wieder auf. An den
Phrasenenden notiert Kropfreiter häufig leere Quinten oder lässt sogar alle Stimmen auf
demselben Ton enden. Dadurch vermeidet er die Bestätigung einer bestimmten Tonart,
weshalb auch die Tonalität der Motette nicht festgelegt werden kann. Dennoch sind
einzelne Abschnitte zu finden, in denen zwei Stimmen vollständige Akkorde bringen,
während die anderen Stimmen sich unabhängig davon bewegen. Alles in allem ist der
Aufbau der Motette sehr durchdacht und nimmt durch die bevorzugte Verwendung
gewisser Intervalle ständig Bezug auf die Bibelstelle.
6.2. Trachtet nach dem Reich Gottes
6.2.1. Allgemeine Informationen
Entstehungsdatum: 3.10.1999
Gewidmet: Stiftsdechant Dr. Ferdinand Reisinger
Besetzung:
Diese Motette wurde für vierstimmigen gemischten a cappella-Chor komponiert. In den
Männerstimmen kommt es in den Takten 16 bis 19 bzw. 40 bis 44 zu Unterteilungen.
Von den Frauenstimmen teilt sich nur der Sopran im letzten Takt.
6.2.2. Textliche Analyse
Trachtet nach dem Reich Gottes ist eine Evangelienmotette, in der Kropfreiter den Text
aus Lukas 12, 32-34 entnahm. Zur Textanalyse dieser Motette werden wieder
verschiedene Übersetzungen herangezogen. Tab. 6.2.1. stellt die Quellen gegenüber.
55
Kropfreiter
„So spricht der
Herr:
Trachtet nach dem
Reich Gottes, so
wird euch alles
gegeben werden.
Fürchte dich nicht,
du kleine Herde,
denn es ist eures
Vaters
Wohlgefallen, euch
das Reich zu geben.
Schaffet euch einen
Schatz im Himmel,
der nimmer
abnimmt, den kein
Dieb stiehlt, den
keine Motten
fressen.
Denn wo euer
Schatz ist, da wird
auch euer Herz
sein.“
Einheitsübersetzung158
„Euch jedoch muss es
um sein Reich gehen;
dann wird euch das
andere dazugegeben.
(Vers 31)
Fürchte dich nicht, du
kleine Herde! Denn
euer Vater hat
beschlossen, euch das
Reich zu geben.
Verkauft euer Habe und
gebt den Erlös den
Armen! Macht euch
Geldbeutel, die nicht
zerreißen. Verschaffet
euch einen Schatz, der
nicht abnimmt, droben
im Himmel, wo kein
Dieb ihn findet und
keine Motte ihn frisst.
Denn wo euer Schatz
ist, da ist auch euer
Herz.“
Luther Bibel159
Elberfelder
Bibel160
„Trachtet vielmehr
nach seinem Reich,
so wird euch das
alles zufallen.
(Vers 31)
Fürchte dich nicht,
du kleine Herde!
Denn es hat eurem
Vater wohlgefallen,
euch das Reich zu
geben.
Verkauft, was ihr
habt, und gebt
Almosen. Macht
euch Geldbeutel, die
nicht veralten, einen
Schatz, der niemals
abnimmt, im
Himmel, wo kein
Dieb hinkommt, und
den keine Motten
fressen.
Denn wo euer
Schatz ist, da wird
auch euer Herz
sein.“
„Trachtet jedoch
nach seinem Reich!
Und dies wird euch
hinzugefügt werden.
(Vers 31)
Fürchte dich nicht,
du kleine Herde!
Denn es hat eurem
Vater wohlgefallen,
euch das Reich zu
geben.
Verkauft eure Habe
und gebt Almosen;
macht euch Beutel,
die nicht veralten,
einen
unvergänglichen
Schatz in den
Himmeln, wo kein
Dieb sich naht und
keine Motte
zerstört!
Denn wo euer
Schatz ist, da wird
auch euer Herz
sein.“
Tab. 6.2.1.: Textvergleich Trachtet nach dem Reich Gottes
158
Katholische Bibelanstalt (Hrsg.), Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe.
Psalmen und Neues Testament. Ökumenischer Text, Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH
1999, S. 1162.
159
Deutsche Bibelgesellschaft, Das Evangelium nach Lukas. Mahnung zum furchtlosen Bekennen. Vom
falschen und rechten Sorgen, Luther Bibel 1984, http://www.die-bibel.de/online-bibeln/luther-bibel1984/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/52/120001/129999/ch/21a6a2579fc242e2f916bfc762013b4d/, letzter
Zugriff: 21.5.2013.
160
Deutsche Bibelgesellschaft, Das Evangelium nach Lukas. Warnung vor Heuchelei – Ermutigung zu
furchtlosem Bekenntnis – Warnung vor Lästerung des Geistes. Warnung vor Sorgen, Elberfelder Bibel
2006, http://www.die-bibel.de/online-bibeln/elberfelderbibel/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/52/120001/129999/ch/21a6a2579fc242e2f916bfc762013b4d/,
Zugriff: 21.5.2013.
56
Beim Betrachten dieser Tabelle sticht sofort ins Auge, dass die Eingangsphrase So
spricht der Herr von Kropfreiter frei gewählt sein muss, da diese Formulierung in
keiner Übersetzung aufscheint. Für den restlichen Text scheinen aufgrund der
Übereinstimmungen (gelb hinterlegt) alle drei Übersetzungen als Grundlage in Frage zu
kommen. Entgegen Kropfreiters Vermerk Lk. 12, 32-34 verwendet er nicht nur die drei
angegebenen Verse für den Motettentext, sondern beginnt nach den einleitenden Worten
bereits bei Vers 31. Diese Stelle dürfte Kropfreiter aus der Luther Bibel übernommen
haben, da sich mit dieser am meisten Wortübereinstimmungen ergeben. Mit den Worten
Fürchte dich nicht, du kleine Herde! beginnt Vers 32 und stimmt wortwörtlich mit allen
drei untersuchten Übersetzungen überein. Die Fortführung des Textes dürfte der Luther
Bibel oder der Elberfelder Bibel entnommen worden sein. Aus denn es hat eurem Vater
wohlgefallen wird bei Kropfreiter denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, ansonsten
übernimmt er die Formulierungen aus der Bibel.
Im nun folgenden Abschnitt sind einige Unterschiede zwischen Kropfreiters Text und
den Bibelstellen zu erkennen. Kropfreiter lässt die beiden ersten Sätze aus Vers 33
komplett weg und steigt mit den Worten schaffet euch einen Schatz im Himmel ein. Die
weiteren Sätze hat Kropfreiter etwas umformuliert, von der Wortwahl her dürfte er
dabei auf die Einheitsübersetzung und die Luther Bibel Bezug genommen haben.
Interessant an diesem Vers ist Kropfreiters Text den kein Dieb stiehlt, denn das Wort
stehlen kommt in keiner der erwähnten Übersetzungen vor. Die Worte kein Dieb kann
ihn stehlen werden in der Übersetzung Neues Leben verwendet.161 Ob Kropfreiter
tatsächlich auf diese Quelle zurückgegriffen hat, ist fraglich, denn die restlichen
Formulierungen weichen zu sehr von seinem Motettentext ab. Der letzte Vers zeigt eine
vollständige Übereinstimmung mit der Luther Bibel und der Elberfelder Übersetzung,
aber auch die Einheitsübersetzung weicht nur gering von Kropfreiters Textanlage ab.
Bei dieser Textanalyse hat sich ebenso gezeigt, dass sich Kropfreiter keineswegs auf
eine einzige Übersetzung beschränkt, sondern verschiedene Bibeln vergleicht und die
für ihn passendste Formulierung übernimmt.
161
Deutsche Bibelgesellschaft, Lukas. Warnung vor Heuchelei. Lehre über Geld und Besitz, Neues
Leben, http://www.die-bibel.de/online-bibeln/neuesleben/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/52/120001/129999/ch/21a6a2579fc242e2f916bfc762013b4d/,
letzter Zugriff: 21.5.2013.
57
6.2.3. Formale Analyse
Trachtet nach dem Reich Gottes kann in fünf Hauptabschnitte untergliedert werden.
Vier dieser großen formalen Teile (B, C, D, E) lassen sich nochmals in kleinere
Einheiten unterteilen. Tab. 6.2.2. zeigt die Aufteilung der Motettenabschnitte.
Takte
1-2
Hauptabschnitte
A
3-7
B
1
Unterabschnitte
8-21
22-36
C
1
37-44
D
1
E
1
B (T. 3-4)
C (T. 8-13)
D (T. 22-26)
E (T. 37-40)
B2 (T. 5-7)
C2 (T. 14-19)
D2 (T. 27-31)
E2 (T. 40-44)
C3 (T. 20-21)
D3 (T. 32-36)
Tab. 6.2.2.: Formale Gliederung Trachtet nach dem Reich Gottes
6.2.4. Musikalische Analyse
Am Beginn dieser Motette erklingt in allen vier Stimmen das g1/g, welches auch der
dominierende Ton im ersten Takt bleibt. Alt- und Bassstimme bringen in Takt 1 dreimal
das g1/g und beenden Abschnitt A ebenfalls mit diesem Ton. Sopran und Tenor gehen
nach dem zweiten g1/g eine große Sekund zum a1/a und springen anschließend eine
reine Quart aufwärts, sodass die beiden Stimmen auf dem d2/d1 landen. Mit den Tönen
g1/g und d2/d1 erklingen in Takt 2 leere Quinten. In der Melodieabfolge der vier
Stimmen sind in den ersten zwei Takten – mit Ausnahme des Quartsprungs von Sopran
und Tenor – lediglich Prim- und Sekundschritte zu finden. Da im Alt und Tenor in Takt
1 und 2 nur das g1/g erscheint, legen diese somit das Intervall einer Prim zwischen
Anfangs- und Endton dieses Abschnitts zurück. Sopran und Tenor hingegen beginnen
auf dem g1/g und enden eine Quint höher auf dem d2/d1 (vgl. Nbsp. 6.2.1.).
58
reine Quint
r4
reine Prim
reine Quint
r4
reine Prim
Nbsp. 6.2.1.: Trachtet nach dem Reich Gottes, Takt 1-2
Teil B beginnt in allen Stimmen mit dem es2/es1/es und lässt somit zwei Oktaven
gleichzeitig erklingen. Alt und Bass erreichen ihren Anfangston durch einen
vorausgehenden Terzsprung abwärts und bleiben schließlich den gesamten Teil B über
auf dem es1/es. Dadurch ergibt sich in der Bassstimme ein Orgelpunkt. Sopran und
Tenor gehen von Takt 2 auf 3 um eine kleine Sekund nach oben und erreichen auf diese
Weise das es2/es1 als neuen Ausgangston. In diesen beiden Stimmen erklingt nun
dreimal das es2/es1, bevor die Melodie über d2/d1 – c2/c1 – d2/d1 und c2/c1 auf dem
Zielton b1/b landet und somit Abschnitt B1 abschließt. Auf die zweite Viertel in Takt 4
erklingen mit den Tönen es – b – es1 – b1 erneut zwei leere Quinten. Nun springen
Sopran und Tenor um eine Quint nach oben auf das f2/f1 und wiederholen in weiterer
Folge einen Teil eines bereits vorgestellten Motivs. Mit den Tönen es2/es1 – d2/d1 – c2/c1
– d2/d1 – c2/c1 – c2/c1 – b1/b erfolgt eine Wiederholung aus Takt 3 und 4 mit einer
kleinen Änderung: Anstatt einer Viertelnote c2/c1 (Takt 4) notiert Kropfreiter in Takt 6
zwei Achtelnoten. In Takt 7 ist mit den Tönen es – b – es1 – b1 das Ende von Teil B
erreicht und bereits zum dritten Mal innerhalb von sieben Takten erklingen leere
Quinten anstelle eines vollständigen Akkordes. Weiters ist dieser Akkord ident mit
jenem aus Takt 4 und stellt somit den Anfangs- und Endpunkt von Abschnitt B2 dar.
Der Tonabstand zwischen Anfangs- und Endton von Teil B beträgt in der Alt- und
Bassstimme – wie bereits in Teil A – eine Prim. Größere Abstände überwinden
hingegen Sopran und Tenor. Diese beiden Stimmen bewegen sich zwischen Takt 3 und
59
4 um eine reine Quart nach unten, zwischen Takt 5 und 7 liegt sogar eine reine Quint
(vgl. Nbsp. 6.2.2.).
reine Quint
reine Quart
r5
reine Prim
reine Prim
reine Quart
reine Quint
r5
reine Prim
reine Prim
Nbsp. 6.2.2.: Trachtet nach dem Reich Gottes, Takt 3-7
Typisch für die ersten sieben Takte sind stufenweise Bewegungen und die bevorzugten
Intervalle Prim und Sekund. Die Melodie wird nur durch wenige Sprünge in Terzen,
Quarten und Quinten unterbrochen. Auffallend ist auch, dass die Alt- und Bassstimme
bis jetzt nur zwei Töne – nämlich g1/g und es1/es – aufscheinen ließen und somit bis auf
einen einmaligen Terzsprung (Takt 2, 3) nur in Primen weitergingen. In den ersten
sieben Takten kamen ohnehin nur Primen, Sekunden, Terzen, Quarten und Quinten vor
und auch die Schlussakkorde der einzelnen Abschnitte zeigten lediglich leere Quinten
auf. Ebenso spielte die Oktav in der bisherigen Analyse eine gewisse Rolle, denn
aufgrund der Tatsache, dass Sopran und Tenor bzw. Alt und Bass in Oktaven
voranschreiten, ist auch dieses Intervall ständig präsent. Durch die häufige Verwendung
von leeren Quinten in den ersten Takten will Kropfreiter vermutlich die Festlegung auf
eine bestimmte Tonart vermeiden.
In Takt 8 verwendet Kropfreiter das Prinzip der Imitation. Zunächst beginnen die
beiden Männerstimmen im Einklang mit dem g. Der Bass behält diesen Ton von Takt 8
bis 13 bei und verwendet weiterhin keine neuen Töne. Somit ergibt sich auch in diesem
Abschnitt erneut ein Orgelpunkt in dieser Stimme. Im Tenor erklingt währenddessen
60
eine bewegte Melodielinie, die mit drei Achtelnoten beginnt. Durch die Töne g – a – c1
– d1 erinnert der Anfang der Tenormelodie an die ersten beiden Takte der Motette mit
den Tönen g – a – d1. Der einzige Unterschied liegt darin, dass nun in Takt 9 zusätzlich
ein c erklingt. Das e1 (Takt 10) bildet den melodischen Höhepunkt dieser Tenormelodie
und stellt gleichzeitig eine Spiegelachse dar, denn im darauffolgenden Takt steigt die
Melodie umgekehrt zu Takt 9, 10 wieder ab (d1 – c1 – a). Die beiden Frauenstimmen
setzen in Takt 9 mit dem g1 ein und bringen dieselben Töne wie die Männerstimmen
eine Oktav höher. Auffallend ist auch, dass im Bass und im Alt eine liegende Tonfolge
erklingt, während Tenor und Sopran für eine bewegte Gegenstimme sorgen. Dies war
bereits in Teil B der Fall. C1 endet in Takt 13 mit den Tönen g – a – g1 – a1 und somit
erstmals seit Beginn der Motette nicht mit leeren Quinten. Stattdessen bringt Kropfreiter
die Intervalle große Sekund – kleine Septim – große Sekund zum Erklingen – zwei
Komplementärintervalle, die sich zu einer Oktav ergänzen. Diese zwei Intervalle
kommen vermutlich dadurch zustande, dass die beiden Frauenstimmen einen Takt
verspätet einsetzen und dadurch einen Takt weniger Zeit zum Vorstellen dieses Motivs
haben. In der Sopran- und Tenorstimme wird der Melodieumfang in diesem Abschnitt
erweitert und somit liegt zwischen dem ersten Ton g1/g und dem höchsten Ton e2/e1
eine große Sext. Dieses Intervall bringt Kropfreiter in diesem Teil zum ersten Mal ein.
Der Stimmumfang von Alt und Tenor bleibt weiterhin eine Prim (vgl. Nbsp. 6.2.3.).
große Sext
k3
k3
reine Prim
große Sext
k3
k3
reine Prim
Nbsp. 6.2.3.: Trachtet nach dem Reich Gottes, Takt 8-13
61
Nachdem im Schlussakkord von Abschnitt C1 eine Septim vorkam, tritt dieses Intervall
auch zu Beginn von Takt 14 auf – nämlich zwischen Bass und Tenor und diesmal als
große Septim. Bass- und Altstimme beginnen in C2 mit schon bekannten Tönen – es im
Bass und g1 im Alt. Die Tenorstimme gelangt durch einen Quartsprung zum d1 in Takt
14 und wiederholt somit die Töne a – d1 aus Takt 1 und 2, der Sopran geht um eine
kleine Sekund vom a1 aufwärts zum b1. Nach zwei Viertelnoten b1 in Takt 14 springt
die Sopranstimme anschließend eine Quart aufwärts zum es2. Über zwei Achtelnoten f2
geht es weiter zum g2 – dem bisherigen melodischen Höhepunkt der Motette. Dieser
Ton erklingt zweimal und es folgt ein kleiner Terzsprung nach unten zum e2, das bis
Takt 19 beibehalten wird (vgl. Nbsp. 6.2.4.).
Die Altstimme bringt ab Takt 15 teilweise schon bekanntes Material. Die Töne as1 – b1
– c2 – d2 – c2 in den Takten 15 und 16 sind aus der Sopran- bzw. Tenorstimme in Takt 6
abgeleitet, erscheinen jetzt aber als Krebs. Ein weiterer kleiner Unterschied ist, dass das
c2 in Takt 6 zweimal hintereinander erklang, in Takt 15 und 16 aber keine
Tonwiederholungen vorkommen. Nach diesem bekannten Motiv geht der Alt zunächst
in Sekundschritten weiter und springt am Übergang von Takt 17 zu 18 eine Quart nach
oben und erreicht schließlich das h1. Von hier aus erklingen h1 – a1 – g1 – a1 und somit
drei große Sekunden. Die Intervalle dieser Tonfolge können aus Takt 15 und 16
abgeleitet werden: umgekehrt zu b1 – c2 – d2 – c2 erklingen nun zwei große Sekunden
abwärts und eine große Sekund aufwärts, allerdings auf anderer Tonhöhe (vgl. Nbsp.
6.2.4.).
Der Tenor bewegt sich ab Takt 14 nur in Primen und Sekunden fort und teilt sich in den
Takten 16 bis 19. Der 1. Tenor bringt in diesem Abschnitt drei Takte lang das e1 und
endet mit d1. Im 2. Tenor erklingt in Takt 16 die große Terz darunter, in Takt 17 die
kleine Terz und ab dem nächsten Takt folgt eine Achtelbewegung mit den Tönen h – a –
g – a. Diese Achtelbewegung ist dieselbe wie jene in der Altstimme desselben Taktes,
bloß eine Oktav tiefer. Die Tenorstimmen enden in Takt 19 mit einem Quartklang. Im
Bass nimmt Kropfreiter nach der stufenweisen Fortschreitung in den Takten 14 und 15
eine Zweiteilung vor und lässt die beiden Bassstimmen im Abstand einer Quint
erklingen. Der Bass beendet Abschnitt C2 mit den Tönen d und fis und somit mit einer
großen Terz (vgl. Nbsp. 6.2.4.).
62
r4
k3
r4
r4
k3
k3
Nbsp. 6.2.4.: Trachtet nach dem Reich Gottes, Takt 14-19
Dieser Teil lässt sich nicht nur linear analysieren, sondern ermöglicht auch eine
akkordische Analyse. Zu Beginn von Abschnitt C2 notiert Kropfreiter einen Es-DurDreiklang mit großer Septim, der auf der zweiten Viertel in Takt 14 beibehalten wird.
Im nächsten Takt folgt ein f-moll-Septakkord, auf die zweite Viertel erklingen
Durchgangsnoten: im Sopran zweimal die Oktav, im Alt Quart und Quint, in der
Tenorstimme erscheint mit zwei Achtelnoten d1 die Sext und der Bass bleibt auf dem f.
In Takt 16 folgt C-Dur mit Non, Oktav, großer Septim und Sext als Achteln in der
Altstimme. Der nächste Takt bringt einen A-Dur-Dreiklang und ist dem vorangehenden
Takt sehr ähnlich: denn auch jetzt erklingen im Alt Non, Oktav, große Septim und Sext
als Achtelnoten, während die übrigen Stimmen Viertelnoten haben. In Takt 18 notiert
Kropfreiter erneut C-Dur, diesmal erscheinen im Alt jedoch die große Septim, die Sext,
die Quint als Wechselnote und erneut die Sext. Dieselben Töne erklingen auch im 2.
Tenor eine Oktav tiefer als im Alt. Abgeschlossen wird dieser Abschnitt mit einem DDur-Akkord mit großer Non. Auffallend in diesen Takten ist, dass die Harmonien
taktweise wechseln und Sopran, Tenor (Ausnahme: Takt 18) und Bass den gleichen
Rhythmus haben. Die Achtellinie in der Altstimme ergibt sich aus den Vorhalten, sowie
aus den Durchgangs- bzw. Wechselnoten (vgl. Nbsp. 6.2.5.).
63
8
8
4
5
6
6
9
8
7
6
9
8
7
6
7
7
Ebmj7
Fm7
C9
8 mj7
6
A9
8 mj7
6
6
6
Cmj7
6
5
6
5
6
5
6
D9
Nbsp. 6.2.5.: Trachtet nach dem Reich Gottes, Takt 14-19
In den letzten beiden Takten von Abschnitt C bedient sich Kropfreiter eines
Kompositionsmittels, das bereits in den Takten 1 bis 7 Verwendung gefunden hat: er
lässt Sopran und Tenor bzw. Alt und Bass in parallelen Oktaven fortschreiten. Die
Sopran- und Tenorstimme bringen in Takt 20 viermal das a1/a und enden im nächsten
Takt einen Halbton höher auf dem b1/b, das zweimal erklingt. Auch Alt und Bass
beginnen mit dem a1/a, gehen aber auf die zweite Viertel in Takt 20 nach unten zum
g1/g und anschließend zum f1/f. Diese beiden Stimmen enden in Takt 21 mit zwei
Viertelnoten es1/es (vgl. Nbsp. 6.2.6.).
In diesem Abschnitt kommen in der Melodiefolge nur Primen und Sekunden vor.
Nachdem durch die Anfangstöne a1/a eine Oktav erklungen ist, ergeben sich am Ende
von Teil C durch es – b – es1 – b1 leere Quinten. Dieser Akkord entspricht genau jenen
aus den Takten 4 und 7. Von den Intervallen her gesehen überwinden Sopran und Tenor
vom a1/a zum b1/b eine kleine Sekund aufwärts, die beiden anderen Stimmen gehen um
eine übermäßige Quart nach unten zum es1/es. Dieses Intervall tritt hier zum ersten Mal
auf (vgl. Nbsp. 6.2.6.).
64
kleine Sekund
übermäßige Quart
kleine Sekund
übermäßige Quart
Nbsp. 6.2.6.: Trachtet nach dem Reich Gottes, Takt 20-21
Ab Takt 22 lässt Kropfreiter erneut Sopran und Tenor bzw. Alt und Bass in Oktaven
gehen und verwendet abermals – nach Takt 8 bis 13 – die Imitation als bestimmende
Technik dieses Abschnitts. Nun beginnen Sopran- und Tenorstimme mit einem schon
bekannten Motiv: g1/g – g1/g – a1/a – d2/d1. Diese Abfolge von Prim, großer Sekund und
Quartsprung kam bereits in Takt 1 und 2 auf derselben Tonhöhe vor. Geändert hat sich
in Takt 22 und 23 bloß der Rhythmus, da mit zwei Achtelnoten g1/g begonnen wird und
das abschließende d2/d1 als Viertelnote notiert ist. Auch die weitere Melodie in den
Takten 23 bis 25 scheint ein Rückgriff auf schon bekanntes Material zu sein. Die
genannten Takte haben starke Ähnlichkeit mit der Sopranstimme in den Takten 11 bis
13. Dort erklingen die Töne d2 – e2 – d2 – c2 – a1 – a1 und somit drei große Sekunden,
eine kleine Terz und abschließend eine Prim. Auch in den Takten 23 bis 25 kommen
nur diese Intervalle vor, es fällt lediglich die Prim am Schluss weg: d2/d1 – e2/e1 – d2/d1
– h1/h – a1/a – g1/g – a1/a. Abgesehen von den Intervallen gibt es einige kleine
Änderungen: der Terzsprung in Takt 24 geht vom d2/d1 zum h1/h und findet somit eine
Achtel früher statt als an der Originalstelle. Außerdem entfällt dadurch das c2/c1 –
stattdessen erklingt nun das h1/h. Auf die zweite Viertelnote im selben Takt notiert
Kropfreiter nun zwei Achtelnoten (statt einer Viertel a1/a) und baut somit das g1/g als
Wechselnote ein. Beide Stellen enden mit einer halben Note auf dem a1/a. Die beiden
anderen Stimmen (Alt und Bass) setzen einen Takt später ein (Takt 23) und bringen
65
dieselbe Tonfolge wie Sopran und Tenor. Lediglich in Takt 26 erklingen in Alt- und
Bassstimme zwei Viertelnoten anstelle einer Halben. Im selben Takt endet D1 und somit
erstmals ein Abschnitt mit dem gleichen Ton in allen Stimmen: a1 bzw. a. Dadurch
ergibt sich an dieser Stelle mit der Oktav ein Intervall, das auch im bisherigen Verlauf
der Motette immer wieder aufgetreten ist (vgl. Nbsp. 6.2.7.).
k3
k3
k3
k3
Nbsp. 6.2.7.: Trachtet nach dem Reich Gottes, Takt 22-26
Auch D2 bringt kein neues Material, sondern wiederholt Abschnitt C1 mit einigen
wenigen rhythmischen Veränderungen. Ebenso wie in Takt 8 beginnt nun auch der Bass
mit einem Orgelpunkt auf g, allerdings durchgehend in halben Noten. Der Alt imitiert
ab Takt 28 die Bassstimme, bringt neben Halben aber auch einen Takt mit Viertelnoten.
Auch im Alt erklingt den ganzen Abschnitt über das g1 – wie zuvor schon in Takt 8 bis
13. Der Tenor setzt eine Achtel nach dem Bass in Takt 27 ein und es erscheinen
dieselben Töne wie in Abschnitt C1. Die einzige Änderung findet in Takt 30 statt, in
dem das d1 und c1 als Viertelnote erklingen (in Takt 11 waren es Achtelnoten) und
somit das a entfällt. Dieses folgt aber im nächsten Takt als Halbe. Ab Takt 28 imitiert
der Sopran die Tenorstimme ausgehend vom g1 und nimmt daher auch auf C1 Bezug.
Dieser Abschnitt endet in Takt 31 – das a1 im Sopran aus Takt 32 eingeschlossen – mit
demselben Akkord wie in Takt 13: g – a – g1 – a1. Dieser Akkord ergibt sich erneut aus
dem um einen Takt verspäteten Einsatz der beiden Frauenstimmen (vgl. Nbsp. 6.2.8.).
66
k3
k3
k3
k3
Nbsp. 6.2.8.: Trachtet nach dem Reich Gottes, Takt 27-32
Ab Takt 32 gehen Alt und Bass bzw. Sopran und Tenor erneut in Oktaven. Zunächst
beginnen Alt- und Bassstimme und bringen neues melodisches Material. Durch die
Tonfolge g1/g – f1/f – as1/as – f1/f – es1/es – des1/des – es1/es ergeben sich folgende
Intervalle: große Sekund – kleine Terz – kleine Terz – große Sekund – große Sekund –
große Sekund. Auffallend bei dieser Abfolge ist, dass erstmals seit Beginn der Motette
zwei Sprünge unmittelbar nacheinander auftreten. Am ehesten besteht dabei ein
Zusammenhang mit der Bassstimme in den Takten 16 bis 18, denn auch an dieser Stelle
gibt es zwei Sprünge im Umfang einer kleinen Terz, die nur durch eine
Primfortschreitung getrennt sind. An dieser Stelle findet der erste Sprung abwärts und
der zweite aufwärts statt, in den Takten 32 und 33 ist dies umgekehrt. Abgesehen von
diesen zwei Sprüngen erklingt nur die große Sekund, die sich bereits im Laufe der
Analyse als ein bevorzugtes Intervall herausgestellt hat. Interessant wird es wieder in
Takt 34, wenn Sopran und Tenor mit ihrem Motiv einsetzen. Durch das a1/a in diesen
beiden Stimmen ergibt sich im Zusammenklang zwischen den beiden oberen und den
beiden unteren Stimmen zunächst eine übermäßige Quint und auf der zweiten Viertel
desselben Taktes eine übermäßige Quart. Zwischen den beiden Mittelstimmen erklingt
eine verminderte Quart und eine verminderte Quint. Von diesen Intervallen ist in der
Motette bisher nur eines vorgekommen, nämlich die übermäßige Quart in den Takten 20
bis 21 (vgl. Nbsp. 6.2.9.).
67
k3
k3
k3
k3
Nbsp. 6.2.9.: Trachtet nach dem Reich Gottes, Takt 32-36, Alt und Bass
Nachdem im Sopran und Tenor dreimal das a1/a erschienen ist, folgt ein kleiner
Terzsprung nach oben auf das c2/c1. Von dort aus erklingt das d2/d1 als Wechselnote und
vom c2/c1 schreitet die Melodie wieder um eine kleine Terz nach unten auf das a1/a.
Auch in diesen beiden Stimmen erklingt zweimal die kleine Terz, zwischen diesen
schreitet die Melodie aber in zwei großen Sekunden weiter. Dennoch handelt es sich bei
diesem Motiv um bekannte Töne, die möglicherweise der Sopranstimme aus den Takten
9 bis 12 entnommen wurden. Ein Hinweis darauf sind zunächst die drei Achtelnoten,
die in Takt 34 nicht als g1/g, sondern als a1/a erklingen. Dieser Ton kommt aber auch in
C1 vor, nämlich in Takt 10 als Viertelnote. Auch die weiteren Töne aus Takt 35 (c2/c1 –
d2/d1 – c2/c1 – a1/a) erinnern an die Stelle aus C1. In dieser Abfolge fehlt einzig das e2/e1
als melodischer Höhepunkt, die übrigen Töne wurden rhythmisch verändert (vgl. Nbsp.
6.2.10.)
k3
k3
k3
k3
Nbsp. 6.2.10.: Trachtet nach dem Reich Gottes, Takt 32-36, Sopran und Tenor
68
In Takt 36 endet schließlich der Abschnitt D mit den Tönen es – a – es1 – a1. Aufgrund
dieser Töne ergeben sich die Intervalle übermäßige Quart, verminderte Quint und eine
weitere übermäßige Quart. Diese Töne und auch die Intervalle sind in genau dieser
Anordnung bereits in Takt 34 aufgetreten. Dieser Takt kann daher als Ausgangspunkt
für ein kurzes Motiv angesehen werden, das mit demselben Akkord, mit dem es auch
begonnen hat, beendet wird (vgl. Nbsp. 6.2.11.).
k3
k3
k3
k3
k3
k3
k3
k3
Nbsp. 6.2.11.: Trachtet nach dem Reich Gottes, Takt 32-36
Im abschließenden Teil E greift Kropfreiter auf bekanntes Tonmaterial zurück. Er
wiederholt im letzten Abschnitt die Takte 14 bis 19, muss aber – vermutlich aufgrund
des Textes – kleine Änderungen vornehmen. In Takt 37 beginnen alle Stimmen gleich
wie in Takt 14, dadurch erklingt abermals die große Septim zwischen Tenor und Bass.
Bereits im nächsten Takt muss er neues Material einfügen, geht aber in Takt 39 mit den
gleichen Tönen weiter wie in Takt 15. Durch diesen neuen Takt 38 ergeben sich im
Sopran gleich drei Sprünge nacheinander – bis jetzt waren es lediglich zwei Sprünge im
Umfang einer kleinen Terz in Takt 32 und 33 im Bass. Auch nun sind es zwei kleine
Terzsprünge, denen ein Quartsprung vorausgeht. Ebenso erscheinen im Alt (große Terz)
und im Tenor (kleine Terz) durch die neu hinzugefügten Töne zwei Sprünge. Lediglich
der Bass bleibt auf dem Ton f (vgl. Nbsp. 6.2.12.).
Ab Takt 39 erklingt dieselbe Melodie wie in Takt 15 bis 18, nur vereinzelt sind
rhythmische Veränderungen zu finden: in der Sopran- und Tenorstimme erscheint auf
69
die zweite Viertel in Takt 39 anstelle von zwei Achtelnoten eine Viertelnote, im selben
Takt bringt der Bass eine Halbe (zuvor eine Viertel und zwei Achtel). Ebenso notiert
Kropfreiter in Takt 42 im Sopran und Bass zwei Viertel anstatt einer Halben. Durch die
Stimmteilung im Bass ab Takt 40 ergeben sich Quinten, die bis zum Ende der Motette
beibehalten werden. Im Tenor erscheinen in den Takten 40 und 41 zunächst große und
anschließend kleine Terzen. Mit Takt 43 fügt der Komponist erneut einen zusätzlichen
Takt ein, endet aber in Takt 44 mit demselben Akkord wie an der Parallelstelle –
diesmal sind die Töne anders geschichtet. Dadurch ergibt sich durch das a2 im 1. Sopran
der melodische Höhepunkt der gesamten Motette (vgl. Nbsp. 6.2.12.).
r4
k3
k3
k3
k3
r4
k3
k3
k3
Nbsp. 6.2.12.: Trachtet nach dem Reich Gottes, Takt 37-44
70
Auch dieser letzte Teil ermöglicht nochmals eine harmonische Analyse. In Takt 37
erklingt Es-Dur mit großer Septim und damit derselbe Akkord wie in Takt 14. Der neue
Takt 38 lässt einen f-moll-Septakkord erscheinen sowie die Durchgangstöne Sext und
Septim im Tenor. Die Altstimme bringt nach der Terz (as1) die Sekund und die Quart.
F-moll bleibt auch im darauffolgenden Takt, erneut mit kleiner Septim, Quart und Quint
im Alt sowie der Sext als Durchgangston zum nächsten Akkord in der Tenorstimme. In
den nächsten drei Takten lässt Kropfreiter dieselben Akkorde wie schon zuvor in den
Takten 16 bis 18 aufscheinen: C-Dur mit Non, Oktav, großer Septim und Sext, A-Dur
mit Non, Oktav, großer Septim und Sext und nochmals C-Dur mit großer Septim, Sext,
Quint und Sext. Auch im vorletzten Takt, der in der Parallelstelle nicht vorkommt,
erklingt ein C-Dur-Dreiklang mit großer Septim, auf die zweite Viertel folgt die Sext in
der Alt- und Tenorstimme. Am Schluss erklingt D-Dur mit der Non. Auch in diesem
letzten Abschnitt bevorzugen Sopran, Tenor und Bass die Fortschreitung in
Viertelnoten, während im Alt Achtelbewegungen erscheinen, die sich durch Vorhalte
oder Durchgangstöne ergeben und somit zu einer eigenständigen Melodie führen (vgl.
Nbsp. 6.2.13.).
71
7
2
6
Ebmj7
4
Fm7
7
7
Cmj7
4
5
7
8
5
6
6
8
7
6
9
C9
8
mj7
6
A9
8
7
8
mj7
6
6
Fm7
6
9
5
6
7
6
5
6
7
6
5
6
Cmj7
6
6
D9
Nbsp. 6.2.13.: Trachtet nach dem Reich Gottes, Takt 37-44
6.2.5. Zusammenfassung
In Trachtet nach dem Reich Gottes verwendet Kropfreiter hauptsächlich stufenweise
Fortschreitungen und stellt durch die bevorzugten Intervalle Prim und Sekund einen
Bezug zur Textstelle her, da sich diese beiden Zahlen (1 und 2) im Kapitel 12
wiederfinden. Sofern Sprünge in der Melodie vorkommen, sind diese sehr oft im
72
Umfang einer Terz gehalten, aber auch Quarten und Quinten kommen vor. Auf größere
Sprünge verzichtet er. Durch die Verwendung desselben Tones über mehrere Takte
hindurch, erklingt im Bass mehrmals ein Orgelpunkt. Auch der Altstimme weist
Kropfreiter in mehreren Passagen eine liegende Tonfolge zu, während die beiden
anderen Stimmen (Sopran und Tenor) eine bewegte Melodie bringen. Sehr häufig
schreiten Sopran und Tenor bzw. Alt und Bass in Oktaven fort und auch das Prinzip der
Imitation spielt bei der Konzeption dieser Motette eine Rolle. Im Laufe des Stückes
verwendet Kropfreiter immer wieder bekanntes Tonmaterial und lässt sogar zweimal
ganze Abschnitte annähernd originalgetreu wiederholen. Kropfreiter verwendet in den
Schlussakkorden der einzelnen Abschnitte häufig leere Quinten oder Akkorde, die aus
anderen Intervallen aufgebaut sind. Die Festlegung auf eine Tonart ist daher nicht
möglich, dennoch sind einige Passagen vertikal konstruiert und ermöglichen eine
akkordische Analyse.
6.3. Niemand zündet ein Licht an
6.3.1. Allgemeine Informationen
Entstehungsdatum: 6.10.1999
Gewidmet: Silvia Kropfreiter
Besetzung:
Die Motette wurde für vierstimmigen gemischten a cappella-Chor komponiert. Auf
Stimmteilungen wird in diesem Stück verzichtet.
6.3.2. Textliche Analyse
Textlich bezieht sich Kropfreiter in dieser Motette erneut auf das Evangelium nach
Lukas (11, 33-34) und innerhalb dessen auf zwei bestimmte Übersetzungen: die Luther
Bibel und die Schlachter Bibel. Die Texte sind in Tab. 6.3.1. dargestellt.
73
Kropfreiter
„Und er sprach zu ihnen:
Niemand zündet ein Licht an
und setzet es an einen
heimlichen Ort, auch nicht unter
einen Scheffel, sondern auf den
Leuchter, auf daß, wer hinein
gehet, das Licht sehe.
Luther Bibel162
Schlachter Bibel163
„Niemand zündet ein Licht an
und setzt es in einen Winkel,
auch nicht unter einen
Scheffel, sondern auf den
Leuchter, damit, wer
hineingeht, das Licht sehe.
Das Auge ist des Leibes Licht.
Wenn nun dein Auge lauter sein
wird, so ist dein ganzer Leib
Licht. So aber dein Auge ein
Schalk sein wird, ist auch dein
Leib finster.“
Dein Auge ist das Licht des
Leibes. Wenn nun dein Auge
lauter ist, so ist dein ganzer
Leib licht; wenn es aber böse
ist, so ist auch dein Leib
finster.“
„Niemand aber zündet ein
Licht an und setzt es an einen
verborgenen Ort, auch nicht
unter den Scheffel, sondern auf
den Leuchter, damit die
Hereinkommenden den Schein
sehen.
Das Auge ist die Leuchte des
Leibes. Wenn nun dein Auge
lauter ist, so ist auch dein
ganzer Leib licht; wenn es aber
böse ist, so ist auch dein Leib
finster.“
Tab. 6.3.1.: Textvergleich Niemand zündet ein Licht an
Diese beiden Bibelübersetzungen ähneln einander sehr stark und haben auch viele
Gemeinsamkeiten mit dem Motettentext von Kropfreiter. Zunächst beginnt er jedoch
mit den einleitenden Worten und er sprach zu ihnen, die in diesen beiden
Übersetzungen nicht vorkommen und daher von Kropfreiter frei erfunden sein dürften.
Vers 33 stimmt im Großen und Ganzen mit beiden Übersetzungen überein und lässt nur
geringe Unterschiede erkennen. So schreibt Kropfreiter in seiner Motette statt setzt das
Wort setzet, das zwar in keiner der beiden Bibelstellen vorkommt, sich aber für die
Musik besser eignen dürfte. Bei der Wortwahl für heimlichen Ort hat er sich vermutlich
an der Schlachter Bibel mit der Formulierung verborgenen Ort orientiert und die für ihn
passendsten Wörter gefunden. Bei der Textpassage auf daß, wer hinein gehet, das Licht
sehe hat er hingegen die Luther Bibel als Grundlage genommen und lediglich ein Wort
geändert. Auch in Vers 34 hält sich Kropfreiter größtenteils an die Bibelformulierungen.
Eine Ausnahme stellt jedoch die Phrase wenn es aber böse ist dar, die durch so aber
dein Auge ein Schalk sein wird ersetzt wird. Auffallend ist weiters das Wort Licht, das
162
Deutsche Bibelgesellschaft, Das Evangelium nach Lukas. Bildworte vom Licht, Luther Bibel 1984,
http://www.die-bibel.de/online-bibeln/luther-bibel1984/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/52/110001/119999/ch/d9d0c5284617f7cb0d01aa3ca471b061/,
letzter Zugriff: 21.5.2013.
163
Deutsche Bibelgesellschaft, Das Evangelium nach Lukas. Die Leuchte des Leibes, Schlachter Bibel
2000, http://www.die-bibel.de/online-bibeln/schlachterbibel/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/52/110001/119999/ch/d9d0c5284617f7cb0d01aa3ca471b061/,
letzter Zugriff: 21.5.2013.
74
in beiden Übersetzungen als Adjektiv verwendet und daher klein geschrieben wird, bei
Kropfreiter jedoch als Hauptwort auftritt. Grundsätzlich gilt zu sagen, dass sich der
Komponist ziemlich genau an die Übersetzungen hält, gewisse Passagen jedoch
umändert, um vermutlich den für ihn und für die Musik passendsten Text
zusammenzustellen. Textwiederholungen einzelner Abschnitte kommen in dieser
Motette nicht vor.
6.3.3. Formale Analyse
Diese Motette lässt sich in fünf große Abschnitte unterteilen. Die Teile B, D und E
untergliedern sich wiederum in kleinere Unterabschnitte. Zur Veranschaulichung dient
Tab. 6.3.2.
Takte
1-2
Hauptabschnitte
A
3-17
18-20
B
C
1
B (T. 3-9)
2
Unterabschnitte
B (T. 9-11)
21-26
27-33
D
E
1
E (T. 27-29)
2
E2 (T. 29-33)
D (T. 21-24)
D (T. 24-26)
1
B3 (T. 12-13)
B4 (T. 13-17)
Tab. 6.3.2.: Formale Gliederung Niemand zündet ein Licht an
6.3.4. Musikalische Analyse
Die Motette beginnt in den ersten beiden Takten mit einem Unisono aller Stimmen auf
dem f1/f und endet in Takt 2 ebenfalls mit diesem Ton. Dazwischen liegen die Töne g1/g
– b1/b – a1/a – g1/g – es1/es und somit nur Sekunden und Terzen: große Sekund – kleine
Terz – kleine Sekund – große Sekund – große Terz – große Sekund. Von den
Intervallen her gesehen geht die Melodie ausgehend vom f1/f zum b1/b, das eine Quart
höher liegt und der höchste Ton der ersten beiden Takte ist. Vom b1/b schreiten alle
Stimmen um eine Quint tiefer zum es1/es und landen schließlich wieder auf dem f1/f.
Somit treten in Abschnitt A die Intervalle Sekund, Terz, Quart und Quint auf, aber auch
die Oktav erklingt zwischen Frauen- und Männerstimmen (vgl. Nbsp. 6.3.1.).
75
reine Quart reine Quint
k3
g3
reine Quart reine Quint
k3
g3
reine Quart reine Quint
k3
g3
k3
reine Quart
g3
reine Quint
Nbsp. 6.3.1.: Niemand zündet ein Licht an, Takt 1-2
Am Übergang von Takt 2 auf 3 bleibt die Sopranstimme auf dem f1 liegen, der Alt geht
eine kleine Terz tiefer auf das d1, der Tenor beginnt mit dem a eine große Terz höher als
er in Takt 2 geendet hat und die Bassstimme überwindet mit einer Quint nach unten
zum B den größten Sprung. Die Sopranstimme beginnt in Takt 3 mit den gleichen
Tönen wie in Takt 1 (f1 – g1 – b1) und somit mit den Intervallen große Sekund und
kleine Terz. Im Gegensatz zu drei Achteln in Takt 1, notiert Kropfreiter nun zwei
Viertel und eine Achtel. Dieselben Intervalle treten erneut in Takt 4 und 5 auf, diesmal
aber zuerst die Terz und anschließend die Sekund. Mit dem g2 in Takt 5 ist der
melodische Höhepunkt dieses Abschnitts erreicht und in weiterer Folge schreitet die
Melodie wieder nach unten. Mit den Tönen f2 – d2 – c2 in Takt 6 treten erneut die kleine
Terz und große Sekund auf, diesmal allerdings als Krebsumkehrung von Takt 1. Als
Umkehrung auf anderer Tonhöhe erklingen g1 – f1 – d1 in den Takten 7 und 8. Das hier
erreichte d1 wird bis zum Ende dieses Abschnitts in Takt 9 beibehalten. Die Altstimme
beginnt in Takt 3 mit dem d1 und bringt mit dem darauffolgenden f1 und g1 erneut die
Intervalle der kleinen Terz und großen Sekund – diese treten also umgekehrt zu Takt 1
auf. Diese Intervallabfolge scheint im Alt noch mehrere Male auf: in den Takten 4 und 5
erklingt das Anfangsmotiv einen Ganzton höher (g1 – a1 – c2), in Takt 7 und 8 findet
durch die absteigende Linie f1 – es1 – c1 eine Umkehrung statt und im selben Takt
erklingen ausgehend von a die Töne c1 und d1 und somit die kleine Terz mit
anschließender großer Sekund. Der Rhythmus dieser Motive ist größtenteils in
Achtelnoten gehalten, vereinzelt sind auch Viertelnoten zu finden (vgl. Nbsp. 6.3.2.).
76
k3
k3
k3
k3
Nbsp. 6.3.2.: Niemand zündet ein Licht an, Takt 3-9, Sopran und Alt
Die Tenorstimme bringt in Takt 3 zwei Achtelnoten b – c1, und lässt diese Töne somit
eine Viertel früher erscheinen als der Sopran in Takt 4. Im Tenor überwiegen in diesem
Abschnitt stufenweise Bewegungen und die Intervalle Prim und Sekund. Eine
Ausnahme stellt ein großer Terzsprung in Takt 7 dar. Der Bass beginnt in Takt 3 mit
zwei Sprüngen nacheinander – mit dem Sprung am Übergang von Takt 2 auf 3 sind es
sogar drei Sprünge. Ausgehend vom B in Takt 3 springt diese Stimme eine Quart
aufwärts zum es und anschließend um eine große Terz nach oben zum g. Von diesem
Ton aus überwiegt die stufenweise Fortschreitung bis Takt 7. Mit den Tönen b – as – f
in Takt 6 und 7 bringt der Bass die Intervalle große Sekund und kleine Terz – jedoch
absteigend und rhythmisch verändert. Am Ende von Abschnitt B1 erklingen die Töne d
– a – d1 und somit eine leere Quint mit darüberliegender Quart. Die Sopranstimme
überwindet vom Ausgangston f1 bis zum höchsten Ton dieses Abschnitts g2 eine große
Non, der Alt geht vom d1 eine Oktav nach oben zum d2, die Tenorstimme schreitet vom
a zum e1 eine Quint nach oben und die Bassstimme hat mit einer großen Dezim
zwischen B und d1 den größten Tonumfang in diesem Teil. Kropfreiter komponiert sehr
textbezogen und bringt den melodischen Höhepunkt dieses Abschnitts rund um das
Wort Licht und geht mit der Melodie anschließend wieder nach unten um bei den
Worten heimlichen Ort mit tiefen Tönen zu enden (vgl. Nbsp. 6.3.3.).
77
große Non
k3
reine Oktav
k3
k3
reine Quint
g3
r4
große Dezim
k3
g3
Nbsp. 6.3.3.: Niemand zündet ein Licht an, Takt 3-9
Abschnitt B1 ermöglicht neben der linearen Betrachtung auch eine vertikale Analyse
nach Akkorden. In Takt 3 notiert Kropfreiter zunächst B-Dur mit großer Septim, bevor
auf die zweite Viertel Es-Dur mit großer Septim und die Sext als Durchgangston auf die
letzte Achtel dieses Taktes erklingen. In Takt 4 folgt ein g-moll-Septakkord und ein c2
als Vorwegnahme im Sopran auf die zweite Achtel. Anschließend erklingt As-Dur mit
großer Septim. In Takt 5 notiert Kropfreiter Bbmj7 9 und Cmj7 9. Im nächsten Takt folgt
ein d-moll-Septakkord mit Prim – Septim – Sext im Bass und Terz – Prim – Septim im
Sopran als Durchgang. In Takt 7 erklingt As-Dur mit großer Septim und Sekund – Prim
– großer Septim – Sext im Sopran, sowie großer Septim – Sext – Quint im Alt. Der
Tenor springt von der Terz zur Prim, der Bass von der Prim zur Sext. Im
78
darauffolgenden Takt erklingt g-moll mit Quartvorhalt, der in die Terz aufgelöst wird,
sowie einer darauffolgenden Sekund und Quart im Alt. In Takt 9 erscheint – wie oben
erwähnt – eine leere Quint. Mit Ausnahme von Takt 8 bringt Kropfreiter in diesem
Abschnitt bei allen Akkorden die Septim, die in den meisten Fällen groß ist (vgl. Nbsp.
6.3.4.).
3
4
7
5
9
7
1
7
6
7
9
6
1
Bbmj7
3
Ebmj7
2
7
Abmj7
g7
1
6
Abmj7
7
5
Bbmj7
9
Cmj7
9
d7
6
4
3
g4
3
2
2
4
4
Nbsp. 6.3.4.: Niemand zündet ein Licht an, Takt 3-9
Ab Takt 9 gehen Alt, Tenor und Bass stufenweise voran, im Sopran überwiegen die
Terzschritte. In dieser Stimme erklingt in Takt 9 und 10 das Anfangsmotiv f1 – g1 – b1
mit der großen Sekund und kleinen Terz – diesmal auch rhythmisch wie zu Beginn der
79
Motette in Achtelnoten. Den weiteren Melodieverlauf bestimmen nun die Sprünge, die
meisten davon haben den Umfang einer kleinen Terz. Bereits in Takt 10 sind zwei
kleine Terzsprünge, im darauffolgenden Takt sind es sogar drei unmittelbar
nacheinander. Zwei kleine Terzen kommen auch in Takt 12 vor, am Übergang zu Takt
13 springt der Sopran um eine Quart nach oben und anschließend erneut eine kleine
Terz nach unten zum dis2. Die übrigen Stimmen schreiten in den Abschnitten B2 und B3
– wie bereits erwähnt – in Primen und Sekunden voran. In diesen Teilen spielt auch die
Quint, die bisher fast nicht vorgekommen ist, eine bedeutende Rolle. In Takt 10 ergeben
sich zwischen den Tönen von Alt und Tenor Quinten, in den Takten 11 bis 13 gehen
Alt- und Bassstimme in parallelen Quinten aufwärts (vgl. Nbsp. 6.3.5.).
k3
k3
k3
k3
k3
k3
r4
k3
Nbsp. 6.3.5.: Niemand zündet ein Licht an, Takt 9-13
Wie schon in den Takten 3 bis 9 ist auch in den Abschnitten B2 und B3 eine akkordische
Analyse möglich. Nach der leeren Quint in Takt 9 können die folgenden Töne in
zweierlei Hinsicht betrachtet werden. Die erste Möglichkeit ist jene, das d im Bass als
Orgelpunkt anzusehen, sodass die darüberliegenden Stimmen zunächst C-Dur und
anschließend F-Dur bringen. Die zweite Variante fasst alle vier Stimmen zusammen
und sieht einen d-moll-Septakkord mit Quartvorhalt im Tenor und Sekundvorhalt im
Sopran. Die Besonderheit an diesem Quartvorhalt ist die Auflösung, die nicht in die
Terz, sondern in die Quint führt. Die Verfasserin dieser Arbeit legt sich auf die zweite
Möglichkeit fest, weil sich die Akkorde in den nächsten Takten aus den Tönen aller vier
Stimmen ergeben und keine Orgelpunkte vorkommen. Weiters notiert Kropfreiter in der
80
Altstimme in Takt 11 erneut einen Quartvorhalt, der in die Quint führt. In Takt 10 folgt
Es-Dur mit großer Septim und auf die zweite Viertel F-Dur mit großer Septim. Auf die
letzte Achtelnote erklingt G-Dur mit großer Septim und Non, sodass die Melodie
stufenweise zum nächsten Akkord übergeht. In den Takten 11 bis 13 bilden die drei
Unterstimmen Durdreiklänge, während die Sopranstimme eigenständig geführt wird
und mit einer Ausnahme (2. Viertel in Takt 11) die Akkorde mit der Septim und Non
ergänzt. Dadurch ergeben sich ab Takt 11 nun folgende Harmonien: A-Dur mit großer
Septim und großer Non – H-Dur mit großer Sext bzw. Oktav – C-Dur mit großer
Septim und großer Non – D-Dur mit großer Non bzw. großer Septim – E-Dur mit
großer Non und großer Septim – E-Dur mit großer Septim. In den Abschnitten B2 und
B3 (Takt 9 bis 13) haben alle vier Stimmen große Tonumfänge. Der Sopran beginnt
beim e1, bringt das fis2 als höchsten Ton in Takt 13 und legt somit eine große Non
zurück. Die Altstimme überwindet vom c1 zum h1 eine große Septim, ein Intervall das
sich auch im Schlussakkord in Takt 13 wiederfindet. Auch der Tenor mit einer
übermäßigen Oktav und der Bass mit einer großen Non legen große Abstände zurück
(vgl. Nbsp. 6.3.6.).
große Non
2
3
große Septim
4
5
übermäßige Oktav
4
5
große Non
d7
Ebmj7
Fmj7 Gmj7 9 Amj7
9
H64
8
Cmj7
9
D9
mj7
E9
mj7
Emj7
Nbsp. 6.3.6.: Niemand zündet ein Licht an, Takt 9-13
Auch in Teil B4 halten Alt, Tenor und Bass an der vorwiegend stufenweisen Bewegung
fest, während in der Sopranstimme mehrere Sprünge vorkommen. Zwei kleine Terzen
bringt der Sopran in Takt 14, bevor in Takt 15 und 16 eine Wiederholung von Takt 12
81
und 13 erklingt: durch die Töne h1 – e2 – cis2 ergibt sich erneut eine reine Quart mit
anschließender kleiner Terz – diesmal tritt das Motiv allerdings einen Ganzton tiefer auf
als in den Takten davor. Durch das abschließende gis2 wird der bisherige melodische
Höhepunkt in Takt 5 nochmals um einen Halbton übertroffen. In der Altstimme
erscheint in den Takten 16 und 17 das bereits häufig verwendete Anfangsmotiv einer
großen Sekund und kleinen Terz aufwärts, nun jedoch augmentiert (vorher waren es
Achtelnoten) und eine übermäßige Terz höher als in Takt 1. Ausgehend von Takt 13 ist
in allen Stimmen auffallend, dass die Melodie nach unten geht und ab Takt 15 bzw. im
Bass Takt 16 ein erneuter Anstieg der Tonhöhe erfolgt. Diese Wendung ist auf den Text
das Licht sehe zurückzuführen. Der Sopran schreitet zunächst um eine große Terz vom
dis2 zum h1 und anschließend wieder um eine große Sext aufwärts. Die Altstimme
beginnt und endet in Abschnitt B4 mit dem h1, geht zuerst eine Quart nach unten zum
fis1 und anschließend wieder eine große Sext nach oben zum dis2, dem höchsten Ton
dieser Stimme in Abschnitt B4. Der Tenor überwindet vom gis1 zunächst eine Quint
abwärts zum cis1, danach nochmals eine große Terz aufwärts. Auch die Bassstimme
bringt keine neuen Intervalle: es folgt eine Quint abwärts und anschließend geht diese
Stimme um eine große Terz nach oben. Mit den Tönen cis1 – eis1 – his1 – gis2 erklingt
zum Schluss von Abschnitt B ein Cis-Dur-Akkord mit großer Septim. Bereits die letzten
beiden Unterabschnitte hörten mit Dur-Akkorden auf, einmal davon sogar mit großer
Septim in Takt 13 (vgl. Nbsp. 6.3.7).
große Terz
große Sext
k3
k3
reine Quart
reine Quint
reine Quint
große Sext
große Terz
große Terz
Nbsp. 6.3.7.: Niemand zündet ein Licht an, Takt 13-17
82
In den Takten 18 bis 20 (Teil C) schreiten Sopran und Tenor bzw. Alt und Bass in
Oktaven und bringen eine bewegte bzw. liegende Melodiefolge. In der Alt- und
Bassstimme erklingt drei Takte lang das a1/a – ein Takt in Viertelnoten, zwei Takte in
Halben. Die beiden anderen Stimmen beginnen ebenfalls mit dem a1/a und gehen
anschließend mit folgenden Tönen weiter: c2/c1 – d2/d1 – h1/h – c2/c1 – d2/d1 – fis2/fis1 –
e2/e1. Dadurch ergeben sich nur Sekund- und Terzfortschreitungen, die bereits in den
Takten 9 bis 17 in der Sopranstimme bevorzugt aufgetreten sind. Auch in diesem
Abschnitt schreitet die Melodie entsprechend dem Text aufwärts und lässt das fis2/fis1
als höchsten Ton erklingen. Somit überwinden Sopran- und Tenorstimme in den Takten
18 und 19 eine große Sext aufwärts, während in den beiden anderen Stimmen eine Prim
aufscheint. Teil C endet in Takt 20 mit den Tönen a – e1 – a1 – e2 und somit mit zwei
leeren Quinten (vgl. Nbsp. 6.3.8.).
große Sext
k3
k3
g3
reine Prim
große Sext
k3
k3
g3
reine Prim
Nbsp. 6.3.8.: Niemand zündet ein Licht an, Takt 18-20
Ab Takt 21 bringt Kropfreiter drei Takte lang bereits vorgestelltes Material, das den
Takten 9 bis 11 entnommen ist und in geringem Umfang geändert wurde. Erste
rhythmische Veränderungen treten bereits in Takt 21 auf, da die Melodie jetzt mit einer
Viertel und zwei Achteln beginnt. In den drei unteren Stimmen notiert Kropfreiter im
darauffolgenden Takt anstelle von zwei Achteln eine Viertel und lässt erneut Quinten
zwischen Alt und Tenor aufscheinen. Wie in Takt 11 treten auch in Takt 23 Quinten
83
zwischen der Alt- und Bassstimme auf. Der Rhythmus dieses Taktes wurde dem Text
angepasst und so notiert Kropfreiter in den drei Unterstimmen nun zwei Achtel und eine
Viertel. In diesen Stimmen treten wie bereits in Takt 9 bis 11 nur stufenweise
Fortschreitungen auf, während der Sopran von Sprüngen geprägt ist und in Takt 21 und
22 das Anfangsmotiv (f1 – g1 – b1) bringt (vgl. Nbsp. 6.3.9.).
k3
k3
k3
r4
Nbsp. 6.3.9.: Niemand zündet ein Licht an, Takt 21-24
Abgesehen von der Untersuchung auf horizontaler Ebene lässt sich in den Takten 21 bis
24 erneut eine harmonische Analyse vornehmen. Auf die erste Viertel in Takt 21 notiert
Kropfreiter durch die Töne d – a – d1 eine leere Quint und darüber eine Quart – es ist
dies derselbe Akkord wie in Takt 9 (an dieser Stelle war es der Schlussakkord von B1).
Ab der zweiten Viertel in Takt 21 bringt Kropfreiter dieselben Akkorde wie in den
Takten 9 bis 11. Eine kleine Änderung ergibt sich durch die neuen Soprantöne cis2 und
fis2 (in Takt 11: gis1 und h1) auf die zweite Viertel in Takt 23, sodass an dieser Stelle HDur mit großer Non erscheint. Am Ende dieses Abschnitts erklingt Cis-Dur mit großer
Non, ein Akkord, der in den Takten 9 bis 11 nicht vorgekommen ist. Auch der
Tonumfang dieses Abschnitts ist in allen Stimmen wieder groß: Die Sopranstimme geht
vom d1 eine übermäßige Non zum eis2, der Alt überwindet in diesen wenigen Takten
eine übermäßige Quint. Der Tenor schreitet vom g eine übermäßige Sext nach oben zum
eis1 und der Tonumfang der Bassstimme beträgt eine große Septim (d – cis1) (vgl. Nbsp.
6.3.10.).
84
übermäßige Non
2
3
übermäßige Quint
4
übermäßige Sext
5
große Septim
d7
Ebmj7 Fmj7
Amj7 9 H9
C#9
Nbsp. 6.3.10.: Niemand zündet ein Licht an, Takt 21-24
In der zweiten Hälfte von Takt 24 gehen alle Stimmen unisono (d2/d1 – cis2/cis1 –
ais1/ais), bevor im nächsten Takt wieder verschiedene Tonfolgen auftreten. In der
Sopranstimme erscheinen ab Takt 24 fünf Sprünge nacheinander, was bisher noch nicht
vorgekommen ist. Nach dem Anfangston d2 erklingen folgende Töne: cis2 – ais1 – cis2 –
e2 – cis2 – gis2. Dadurch ergeben sich vier kleine Terzen und eine reine Quint in der
Sopranmelodie. Weiters erscheint durch die Töne ais1 – cis2 – e2 ein verminderter
Akkord, der womöglich durch Kropfreiters Vorliebe für kleine Terzen in dieser Motette
entstanden ist. In der Altstimme hingegen zerlegt er durch die Töne cis2 – ais1 – fis1 in
den Takten 24 und 25 einen Durdreiklang. Danach schreitet diese Stimme in Sekunden
fort und bringt in Takt 26 nochmals zwei Sprünge im Umfang einer kleinen Terz. Am
Übergang von Takt 25 zu 26 ergibt sich durch die Intervalle große Sekund und kleine
Terz erneut das Anfangsmotiv auf anderer Tonhöhe (vgl. Nbsp. 6.3.11.).
85
k3
k3
k3
k3
k3 g3
r5
k3 k3
Nbsp. 6.3.11.: Niemand zündet ein Licht an, Takt 24-26, Sopran und Alt
Auch der Tenor bietet am Übergang von Takt 24 auf 25 eine Besonderheit, die es in der
Motette bisher noch nicht gab: durch den Sprung vom ais zum d1 ergibt sich eine
verminderte Quart. Dieses Intervall ist bisher nur in reiner Form vorgekommen, fügt
sich aber gut in diese Passage ein, da auch Sopran und Alt mit ihrem verminderten bzw.
Dur-Dreiklang neues Material einbringen. Nach diesem Sprung geht der Tenor in
Sekunden weiter und endet auf dem eis1. Auch in der Bassstimme erscheint nach dem
Unisono in Takt 24 ein neues Intervall, nämlich eine übermäßige Prim durch die
Fortschreitung vom ais zum a. Diese bringt Kropfreiter erneut an jener Stelle, an der
auch in den übrigen Stimmen Neues vorkommt. Anschließend schreitet der Bass in
Primen und Sekunden bis zum cis1 fort (vgl. Nbsp. 6.3.12.).
24
k3 v4
k3
ü1
Nbsp. 6.3.12.: Niemand zündet ein Licht an, Takt 24-26, Tenor und Bass
Die letzten zwei Viertel aus Takt 25 und auch der letzte Takt in Abschnitt D (Takt 26)
sind ein Rückgriff auf eine frühere Stelle, nämlich auf Takt 16 und 17. Nun bringen alle
Stimmen dieselben Töne wie in den genannten Takten, geändert hat sich lediglich der
Rhythmus. Waren in Takt 16 noch eine Halbe und eine Viertelnote zu finden, so
tauchen jetzt in Takt 25 zwei Viertel auf. In der Tenor- und Bassstimme ergibt sich in
Takt 26 eine Änderung in ganze Noten. Im Sopran sind zwar auch jetzt zwei Halbe
86
notiert, diese ergeben aber aufgrund des Haltebogens eine ganze Note. Abgeschlossen
wird dieser Teil von einem Cis-Dur-Akkord mit großer Septim. Auch in diesem
Abschnitt gibt es einen melodischen Anstieg zum Ende hin, sodass das Wort Licht den
Höhepunkt der Melodie darstellt (vgl. Nbsp. 6.3.13.).
k3
k3
k3
g3
k3
v4
k3
ü1
k3
k3
r5
k3
k3
Nbsp. 6.3.13.: Niemand zündet ein Licht an, Takt 24-26
In Takt 27 beginnt der letzte große Abschnitt E, in dem Sopran und Tenor bzw. Alt und
Bass erneut in Oktaven fortschreiten. In den Takten 27 bis 29 greift Kropfreiter auf
bekanntes Material aus Teil C zurück und bringt in der Alt- und Bassstimme eine
liegende Melodie in Viertel- und Achtelnoten, während im Sopran und Tenor eine
bewegte Tonfolge erklingt. Im Alt und Bass dominiert zunächst das a1/a, bevor diese
beiden Stimmen von Takt 28 zu 29 eine übermäßige Prim zum as1/as gehen. Dieses
Intervall ist zuvor zwischen Takt 24 und 25 im Bass aufgetaucht. Auch Sopran und
Tenor bringen ab Takt 27 eine in Takt 18 und 19 bereits aufgetretene Melodie. Ab der
zweiten Viertel in Takt 27 erscheinen folgende Töne: c2/c1 – d2/d1 – h1/h – c2/c1 – d2/d1
– diese sind in Originalgestalt übernommen. Die weitere Melodie in diesen beiden
Stimmen ergibt sich aus Sekund- und Terzschritten und lässt in Takt 29 nochmals
bekannte Töne aufscheinen, die aus der Sopranstimme in Takt 25 abzuleiten sind, jetzt
allerdings einen Ganzton höher: durch es2/es1 – ges2/ges1 – es2/es1 folgen zwei kleine
Terzen nacheinander. Eine Besonderheit an dieser Stelle sind die Staccati, die hier zum
einzigen Mal in der Motette vorkommen und passend zum Text Schalk sein wird gesetzt
87
sind. E1 endet wie auch Teil C mit leeren Quinten, allerdings einen Halbton tiefer auf as
– es1 – as1 – es2 (vgl. Nbsp. 6.3.14.).
k3
k3
k3
k3
k3
k3
ü1
k3
k3
ü1
Nbsp. 6.3.14.: Niemand zündet ein Licht an, Takt 27-29
Ab der letzten Viertel in Takt 29 beginnt Teil E2 und Kropfreiter behält die beiden
Stimmpaare in Oktaven bei. Weiterhin treten bewegte und liegende Melodiefolgen auf,
allerdings bringen nun Sopran und Tenor die liegende und die beiden anderen Stimmen
die bewegte Melodie. Die Sopran- und Tenorstimme springen vom vorletzten zum
letzten Ton in Takt 29 um eine verminderte Quart nach unten, um das h1/h zu erreichen.
Dieses Intervall ist bereits im Tenor in den Takten 24, 25 aufgetreten – damals jedoch
aufwärts. Der Ausgangston h1/h in diesen beiden Stimmen wird beibehalten und erst im
letzten Takt erklingt zweimal das c2/c1. Auch die beiden anderen Stimmen beginnen auf
die letzte Viertel in Takt 29 mit dem h1/h, von dem aus die Melodie – dem Text
entsprechend – stufenweise absteigt. In Takt 32 endet die parallele Fortschreitung in
Oktaven für diese beiden Stimmen und im Übergang zum letzten Takt bringt der Bass
durch die Töne f – cis nochmals eine verminderte Quart. Es ist dies auch der einzige
Sprung dieses Abschnitts in allen vier Stimmen. Ein vermindertes Intervall tritt ebenso
im letzten Takt auf – und zwar im Schlussakkord der Motette. Hier ergeben sich durch
die Töne cis – c1 – cis1 – c2 eine verminderte Oktav, eine übermäßige Prim und
nochmals eine verminderte Oktav. Vielleicht verwendet Kropfreiter gerade deshalb in
den vorangehenden Takten mehrmals ein vermindertes Intervall, um bereits auf den
letzten Akkord vorzubereiten. Der Tonumfang der Sopran- und Tenorstimme
88
beschränkt sich in den letzten Takten auf eine kleine Sekund, die beiden anderen
Stimmen gehen vom h1/h zum cis1/cis und überwinden somit eine kleine Septim (vgl.
Nbsp. 6.3.15.).
kleine Sekund
v4
kleine Septim
kleine Sekund
v4
v4
kleine Septim
Nbsp. 6.3.15.: Niemand zündet ein Licht an, Takt 29-33
6.3.5. Zusammenfassung
Kropfreiter konzentriert sich in dieser Motette erneut auf stufenweise Fortschreitungen
und favorisiert neben der Sekund die Prim. Anlass dazu könnte das Kapitel 11 gegeben
haben: 1 steht für die Prim, die Summe aus 1 + 1 ergibt 2 und steht somit für die
Sekund. Ebenso spielt die Terz in diesem Stück eine wichtige Rolle. Diese ist nämlich
das wichtigste Intervall bei Sprüngen und ist in den meisten Fällen klein. Auch die Zahl
3 kommt durch die Verse 33 und 34 im Lukasevangelium vor und somit bezieht sich
Kropfreiter durch die häufige Verwendung der Terz darauf. Darüberhinaus erklingen
vereinzelt auch Quart- und Quintsprünge. Die Melodieführung orientiert sich durch ihre
auf- bzw. absteigenden Linien in allen Stimmen am Text und bringt diesen somit noch
mehr zum Ausdruck. Kropfreiter lässt Sopran und Tenor bzw. Alt und Bass in mehreren
Abschnitten der Motette in Oktaven gehen und stellt liegende gegen bewegte Linien.
Auch die Fortschreitung in Quinten zwischen zwei Stimmen kommt mehrmals vor.
Ebenso sind Rückgriffe auf bekannte Motive immer wieder feststellbar. Auffallend an
der Melodieführung innerhalb gewisser Abschnitte sind die großen Tonumfänge, die die
89
einzelnen Stimmen zu bewältigen haben. Von der Harmonik her gesehen vermeidet
Kropfreiter bereits am Anfang die Bestätigung einer bestimmten Tonart und endet im
Laufe des Stückes immer wieder mit leeren Quinten. Dennoch ist die akkordische
Analyse in einzelnen Abschnitten der Motette durchführbar, lässt aber schlussendlich
keine Rückschlüsse auf eine Haupttonart zu.
6.4. Zusammenfassung
Die Motetten Augustinus Franz Kropfreiters lassen sich eindeutig in formale Abschnitte
untergliedern und sind in ihrer Konzeption sehr genau durchdacht. Ausgangsbasis für
die Komposition stellen die Texte dar, die in den hier analysierten Motetten der Bibel
entnommen wurden. Die Motettentexte bei Kropfreiter sind eine Zusammenstellung
verschiedener Übersetzungen der Heiligen Schrift, die durch eigene Formulierungen
ergänzt werden. Bei der musikalischen Umsetzung sind immer wieder starke Bezüge
zum Text feststellbar. Auch die Zahlensymbolik spielt in Kropfreiters Motetten eine
wichtige Rolle, da er sich musikalisch – zum Beispiel durch die Verwendung
bestimmter Intervalle – immer wieder auf die Textquellen bezieht.
Augustinus Franz Kropfreiter arbeitet in seinen Motetten häufig mit stufenweisen
Bewegungen, seltener kommen Sprünge in der Melodie vor. Zu seinen bevorzugten
Intervallen gehören in erster Linie Prim und Sekund, weiters Terz, Quart und Quint.
Größere Sprünge kommen nur vereinzelt vor und werden vor allem dann eingesetzt,
wenn die Aussage des Textes musikalisch unterstrichen werden soll. An den Enden der
einzelnen formalen Abschnitte bringt Kropfreiter nur selten vollständige Akkorde,
häufig sind hingegen leere Quinten oder der gleiche Ton in allen Stimmen. Er vermeidet
dadurch bewusst die Festlegung auf eine bestimmte Tonart. Trotz der vorwiegend
linearen Konzeption, gibt es mehrere Abschnitte, die vertikal konstruiert sind und somit
eine akkordische Analyse ermöglichen. Dennoch können in diesen Passagen keine
Rückschlüsse auf die Tonalität gezogen werden.
Alle analysierten Motetten enthalten Abschnitte, in denen jeweils zwei Stimmen in
Oktaven oder Quinten geführt werden. Gerne bringt Kropfreiter liegende Melodien,
90
stellt diesen eine bewegte Linie gegenüber und erzeugt auf diese Weise musikalische
Gegensätze. Kontrapunktische Techniken, wie etwa das Prinzip der Imitation, finden in
den Motetten ebenso Berücksichtigung wie die Verwendung von Orgelpunkten.
Kropfreiter greift immer wieder auf bekanntes Tonmaterial zurück und verändert es je
nach Notwendigkeit. Die Motetten erwecken den Eindruck, dass sich Kropfreiter sehr
genaue Gedanken zur Komposition gemacht hat und nichts dem Zufall überlassen
wollte. Er war scheinbar stets um ein bestmögliches Ergebnis bemüht.
91
7. Die Kompositionstechnik Kropfreiters
7.1. Musikalische Vorbilder und Stileinflüsse
Im Jahr 2000 erschien in der Zeitschrift Singende Kirche ein Interview mit Augustinus
Franz Kropfreiter, in dem er unter anderem auf seine musikalischen Vorbilder zu
sprechen kam. Zunächst nannte er darin die Improvisationen von Anton Heiller als
wegweisend für die Entwicklung seines eigenen Stils.164 Heiller war für Kropfreiter aber
mehr als nur musikalisches Vorbild, denn die beiden verband eine tiefe Freundschaft.
Kropfreiter lernte Anton Heiller während seines Studiums an der Musikhochschule in
Wien kennen,165 wo Heiller ab 1945 als Orgellehrer tätig war.166 Obwohl Kropfreiter nie
von
ihm
unterrichtet
wurde,
beeinflusste
diese
Musikerpersönlichkeit
seine
Kompositionen und seine musikalische Entwicklung. Durch das Singen im AkademieKirchenchor lernte Kropfreiter viele Werke Heillers kennen und zeigte sich von dessen
Musik beeindruckt. Heiller stand Kropfreiter als kompositorischer Berater zur Seite und
war an der Drucklegung seiner ersten Orgelwerke beteiligt. Durch Anton Heiller bekam
Kropfreiter auch Kontakt zum Verlag Doblinger.167 Kropfreiters Worte „[…] auch nur
kleinste Hinweise waren mir Gebot. Tiefste Verehrung und edelste Freundschaft bis zu
seinem allzufrühen Tod ergaben sich daraus.“ verdeutlichen, wie sehr er diesen Musiker
schätzte.168
Heillers Schaffen war sehr von der französischen Musik rund um Frank Martin
beeinflusst, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass auch Kropfreiters Werk Anleihen
an Frank Martin aufweist und er diesen ausdrücklich als eines seiner Vorbilder
nannte.169 Durch die Werke Martins erkannte Heiller, dass sich Zwölftontechnik
164
Kreuzhuber, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 154.
165
Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 31.
166
Elisabeth Th. Hilscher, Heiller, Anton, in: Oesterreichisches Musiklexikon, hrsg. v. Rudolf Flotzinger
(Band 2: Gaal-Kluger), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2003, S. 724725, hier S. 724.
167
Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 31f.
168
Kropfreiter, Ich über mich, S.8.
169
Kreuzhuber, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 154.
92
durchaus im tonalen Rahmen abspielen konnte und setzte sich ab 1949 selbst mit dieser
Technik auseinander. In seinen Zwölftonwerken versuchte er daher stets den tonalen
Zusammenhang nicht zu verlieren. Auch die Werke von Olivier Messiaen mit ihrer
Harmonik hinterließen ihren Eindruck bei Anton Heiller. Neben der französischen
Musik zeigte sich vor allem der junge Heiller (in den 1940er-Jahren) beeindruckt vom
Kontrapunkt Johann Nepomuk Davids.170 Anton Heiller konzentrierte sich in seinem
Schaffen vorwiegend auf die Kirchenmusik und versuchte durch „die Verbindung von
neuer Tonsprache und einer aus der frühen Polyphonie inspirierten Metrik und
Stimmführung der Kirchenmusik einen zeitgemäßen Ausdruck zu verleihen.“ Weiters
wollte er einen Kirchenmusikstil kreieren, der auf die Vorgaben des zweiten
Vatikanischen Konzils Rücksicht nimmt.171
Wichtige Anregungen für seine Kompositionen erhielt Augustinus Franz Kropfreiter
durch zeitgenössische Komponisten.172 Aufgrund der engen Freundschaft mit Anton
Heiller und dessen Tätigkeit als kompositorischer Berater Kropfreiters (siehe Kapitel 7,
S. 92) ist es daher nicht verwunderlich, dass die beiden von denselben Musikern
beeinflusst wurden. So äußerte sich Kropfreiter im Interview in Singende Kirche weiter
über seine Vorbilder und nannte darin Frank Martin ebenso wie Johann Nepomuk
David und Paul Hindemith.173 An der Musik Frank Martins waren es vor allem
Harmonik und Klangfarben, von denen sich Kropfreiter beeindruckt zeigte. Nachdem er
sich eine Zeit lang daran orientiert hatte, begann ab etwa 1968 die Loslösung von diesen
Vorbildern, dennoch behielt er in seinen Werken eine farbige und abwechslungsreiche
Harmonik bei.174 Auch von Olivier Messiaen blieb Kropfreiter nicht unbeeindruckt und
so sagte er 1985 in einem Interview für die Oberösterreichischen Nachrichten: „Der
170
Thomas Schmögner, In memoriam Anton Heiller, in: Music Information Center Austria, Anton Heiller.
Stilbeschreibung, http://db.musicaustria.at/node/55690, letzter Zugriff: 21.5.2013.
171
Hilscher, Heiller, S. 725.
172
Harald Pill, Augustinus Franz Kropfreiter. Musik und Kultur während seiner Zeit im Stift St. Florian,
Diplomarbeit, Salzburg: 1977, S. 49.
173
Kreuzhuber, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 154.
174
Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 37.
93
Franzose liebt die große Farbigkeit. Die alleine aber hat mir selten genügt. Mein Motto:
Farbigkeit in Verbindung mit stark linearer Schreibweise.“175
Trotz des Einflusses der französischen Musik verwendete Kropfreiter im Gegensatz zu
Anton Heiller und Frank Martin die lineare Schreibweise nach dem Vorbild Johann
Nepomuk Davids.176 Dieser lernte als Sängerknabe im Stift St. Florian den
Gregorianischen Gesang kennen und machte ihn zum Ausgangspunkt seiner
musikalischen Sprache, in der sich die Polyphonie als ein wichtiger Bestandteil erwies.
Als musikalische Vorbilder Davids sind sowohl Josquin Desprez als auch Johann
Sebastian Bach zu nennen. Er bevorzugte die Linearität, die für ihn ein Abbild des
Göttlichen darstellte. Obwohl er sich der Zwölftontechnik annäherte und die tonalen
Grenzen ausnutzte, verließ er die Tonalität nicht.177 Kropfreiter meinte einmal über sein
Vorbild Johann Nepomuk David: „Ich bin kein ausgesprochener Davidianer, aber ich
habe mir von ihm geholt, was ich brauchte.“178
Ebenso wie Anton Heiller179 hatte auch Augustinus Franz Kropfreiter persönlichen
Kontakt zu Paul Hindemith und wurde von dessen Musik beeinflusst.180 Der Einfluss
dieses Musikers auf das Schaffen Kropfreiters bezieht sich laut Harald Pill auf den
klaren ductus, den klaren Aufbau und die Quartenharmonik.181 Kropfreiters Werke
weisen immer wieder polyphone Passagen auf und sind linear durchkonstruiert (siehe
Kapitel 7, S. 102). Auch in dieser Hinsicht dürften die Kompositionen Hindemiths als
175
Herbert Vogg, Ein wenig über Augustinus Franz Kropfreiter, in: Musikalische Dokumentation.
Augustinus Franz Kropfreiter, hrsg. v. Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Institut
für Österreichische Musikdokumentation, Wien: 1999, S. 11-15, hier S. 13.
176
Pill, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 49.
177
Bernhard Albert Kohl, David, - 1) Johann Nepomuk, in: Musiklexikon, hrsg. v. Harald Hassler (Band
1: A bis E), Stuttgart und Weimar: Verlag J.B. Metzler 2005, S. 634-636, hier S. 634f.
178
Neuhauser, Laudatio, S. 17.
179
Konrad Klek, Heiller, Anton, in: Lexikon der Orgel. Orgelbau – Orgelspiel – Komponisten und ihre
Werke – Interpreten, hrsg. v. Hermann J. Busch und Matthias Geutig, Laaber: Labber-Verlag 2007, S.
313-314, hier S. 314.
180
Kreuzhuber, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 154.
181
Pill, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 49.
94
Impuls gedient haben, da auch in dessen Schaffen die Polyphonie und eine lineare
Satzgestaltung eine wichtige Rolle spielten.182
In Anlehnung an die genannten Vorbilder orientierte sich Kropfreiter zunächst
harmonisch an der französischen Musik rund um Frank Martin und verband diese mit
der von
ihm
bevorzugten
linearen
Schreibweise.183
Ab 1967
begann
die
Auseinandersetzung mit der Zwölftontechnik, wodurch er sich langsam von seinen
Vorbildern lösen konnte.184 Kropfreiters Zwölftonkompositionen sind aber keineswegs
nach den strengen Regeln der Dodekaphonie konzipiert, sondern er benutzte diese
Technik, um harmonisch neue Wege zu finden.185 Bereits 1961 wiesen einige seiner
Kompositionen polytonale Akkordfolgen auf und stellten somit den Anfangspunkt einer
kontinuierlichen Entwicklung hin zur Polytonalität dar. Im Jahr 2000 sagte Kropfreiter:
„[…] meine stilistischen Mittel sind die Polytonalität und die Kontrapunktik, die zum
Teil bis in eine gregorianische Einfachheit zurückgehen kann, soll und muss. […] die
Polytonalität ist eine Folge von Verdichtungen. Das endet letztendlich in
Polytonalität.“186 Er strebte in seinen Werken „nach größtmöglicher Farbe in
Homophonie und Polyphonie.“187
Hohe Priorität in Kropfreiters Schaffen hatten die Form des Werkes und der Klang, der
sowohl in der Ein- als auch in der Mehrstimmigkeit möglichst farbig sein sollte.188
Auch Kurt Neuhauser nannte diese farbenreichen Harmonien als charakteristisches
Merkmal in Kropfreiters Werken. Weiters bezog er sich auf keine bestimmte Tonalität,
verwendete aber aufgrund der intensiven Beschäftigung mit der Gregorianik und
mittelalterlichen Liedern modale Strukturen in seinen Werken. Kropfreiter überließ in
seinen Kompositionen nichts dem Zufall und so waren auch Clusterbildungen genau
182
Dieter Rexroth, Hindemith, Paul, in: Musiklexikon, hrsg. v. Harald Hassler (Band 2: F bis K), Stuttgart
und Weimar: Verlag J.B. Metzler 2005, S. 459-460, hier: S. 460.
183
Pill, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 49.
184
Kreuzhuber, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 154.
185
Pill, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 52.
186
Kreuzhuber, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 154.
187
Kropfreiter, Ich über mich, S. 9.
188
Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 37.
95
durchdacht. Dazu meinte Kropfreiter: „Kein Ton zuviel oder zu wenig!“ Auch der
Kontrapunkt war ein wichtiges Kompositionsmittel Kropfreiters, das mit dem
farbreichen Klang verbunden und weniger als Konstruktions-, sondern mehr als
Klangmittel eingesetzt wurde.189
Die folgenden Worte Augustinus Franz Kropfreiters aus dem Jahr 1994 fassen seine
wichtigsten musikalischen Einflüsse noch einmal zusammen:
„Seit Schaffensbeginn bzw. seit der Drucklegung meiner Werke eine gewisse
Abhängigkeit einerseits von Paul Hindemith, andererseits von Frank Martin und Jehan
Alain, also von "deutscher" Polyphonie und "französischem" Kolorit. Nach dem
"Abstreifen" dieser Vorbilder spielen Farbigkeit und ein starker Hang zu polyphoner
Sprache eine große Rolle in meinem Schaffen. Die Polytonalität tritt in reichem Maße
in Erscheinung. Die in den letzten Jahren bevorzugte Beschäftigung mit Kammermusik
und dem Orchester brachte neue Möglichkeiten des Ausdrucks in meine musikalische
Sprache.“190
7.2. Die Kompositionstechnik in den Motetten
Auf Grundlage der Analysen in Kapitel 6 erfolgt in diesem Abschnitt nun eine
Besprechung wichtiger Kompositionsmerkmale in den Motetten von Augustinus Franz
Kropfreiter. Den Ausgangspunkt für die Komposition seiner Motetten stellt
zweifelsohne der Text dar. Der Komponist war sehr auf eine sorgsame Auswahl der
Textstellen bedacht und machte sich anscheinend viele Gedanken dazu. Denn wie die
analysierten Texte in Kapitel 6 zeigen, wurden die Texte aus der Bibel nicht einfach
übernommen,
ohne
darüber
nachzudenken.
Stattdessen
nahm
er
mehrere
Bibelübersetzungen zur Hand um zu vergleichen und auf diese Weise seine Texte
auszuwählen. Kropfreiters Motetten basieren also auf zusammengestellten Texten
verschiedener Übersetzungen der Heiligen Schrift. Es fällt jedoch auch auf, dass
manche Formulierungen – oft nur einzelne Wörter – nicht der Bibel entnommen sind,
189
190
Neuhauser, Laudatio, S. 17.
Music Information Center Austria, Augustinus Franz
http://db.musicaustria.at/node/58328, letzter Zugriff: 21.5.2013
Kropfreiter.
Stilbeschreibung,
96
sondern von Kropfreiter selbst stammen dürften. Dadurch war ihm vermutlich eine noch
präzisere Textzusammenstellung möglich, die sich gut für die Vertonung eignete (siehe
Kapitel 6, S. 38f., 56f., 74f.).
Auch nach der erfolgten Zusammenstellung der Motettentexte bezieht sich Kropfreiter
während des Komponierens sehr stark auf diese Worte. Durch auf- bzw. absteigende
Melodielinien versucht er, die Textinhalte musikalisch zu unterstützen. Ein gutes
Beispiel für dieses Kompositionsmittel sind die Takte 5 bis 9 der Motette Niemand
zündet ein Licht an, in denen Kropfreiter durch die absteigende Linie mit einem
decrescendo Ruhe und Spannung erzeugt und somit den Text heimlichen Ort optimal
vertont (vgl. Nbsp. 7.2.1.).
Nbsp. 7.2.1.: Niemand zündet ein Licht an, Takt 5-9
Den Inhalt des Textes bringt er aber auch durch bestimmte Intervalle und deren
Zusammenklang musikalisch zum Ausdruck. Dies ist etwa in Es ist unmöglich in den
Takten 12 bis 16 der Fall, in denen durch die anfängliche verminderte Oktav – klanglich
ja eine große Septim – und die darauffolgenden Intervalle zwischen Sopran bzw. Tenor
und Alt bzw. Bass die Bedrohlichkeit des Textes musikalisch unterstrichen wird (vgl.
Nbsp. 7.2.2.).
97
Nbsp. 7.2.2.: Es ist unmöglich, Takt 12-16
Nun wird das Augenmerk auf formale Aspekte in Kropfreiters Werken gelegt. Beim
Betrachten
des
Notenbildes
der
analysierten
Motetten
und
beim
Versuch
herauszufinden, in welcher Tonart die Stücke stehen, kann festgestellt werden, dass der
Komponist auf die Setzung von Generalvorzeichen verzichtet. Zu diesem Ergebnis kam
bereits Maria Helfgott in Bezug auf das Orgelwerk Augustinus Franz Kropfreiters.191
Durch diesen Verzicht auf Vorzeichen zu Beginn der Werke vermeidet Kropfreiter die
Festlegung auf eine bestimmte Tonart, kann sich während des Stückes harmonisch frei
bewegen und so schreiben, wie es der Text verlangt. Helfgott hat in ihrer Arbeit weiters
festgestellt, dass Beginn und Schluss, aber auch die Akkorde am Ende von einzelnen
Abschnitten tonale Zentren erkennbar machen.192 In gewisser Hinsicht kann diese
Ansicht auch für die analysierten Motetten übernommen werden. Doch auch wenn
Akkorde aufgrund der notierten Töne eine harmonische Richtung vermuten lassen, so
wird diese in den meisten Fällen nicht bestätigt. An Stelle von vollständigen Akkorden
bevorzugt Kropfreiter an den Phrasenenden in vielen Fällen leere Quinten (vgl. Nbsp.
7.2.3.). Daneben lässt er häufig alle vier Stimmen auf demselben Ton enden, sodass
zwischen Frauen- und Männerstimmen eine Oktav erklingt (vgl. Nbsp. 7.2.4.). In den
191
Maria R. Helfgott, Das Orgelwerk von Augustinus Franz Kropfreiter, Diplomarbeit, Wien: 1999, S.
33.
192
Ebd., S. 33.
98
Motetten kommen aber auch Quartenakkorde vor, deren Gestalt durch die
Umschichtung der Töne auf den ersten Blick unerkannt bleibt (vgl. Nbsp. 7.2.5.).
Nbsp.7. 2.3.: Trachtet
nach dem Reich Gottes,
Takt 1-2, leere Quinten
Nbsp. 7.2.4.: Niemand
zündet ein Licht an, Takt
1-2, Oktav
Nbsp. 7.2.5.: Es ist
unmöglich, Takt 3-5,
Quartenakkord
Neben dem Verzicht auf Vorzeichen zu Beginn der Motetten stechen beim Hinsehen auf
das Notenbild aber auch die vielen Taktwechsel ins Auge. Auffallend dabei ist, dass die
Wechsel des Metrums an manchen Stellen sogar taktweise vor sich gehen und somit
innerhalb kürzester Zeit mehrere Taktwechsel stattfinden. Dies ist zum Beispiel in der
Motette Es ist unmöglich der Fall, bei der in den Takten 9 bis 18 acht Mal ein
Taktwechsel stattfindet (vgl. Nbsp. 7.2.6.). Ein möglicher Grund dafür liegt
wahrscheinlich in der sorgfältigen Auswahl und Zusammenstellung der Texte und im
Vorhaben, diese auch schwerpunktmäßig bestmöglich zu vertonen. Dieses Stilmittel
verwendet Kropfreiter nicht nur in vokalen Werken, sondern ist auch wichtiger
Bestandteil seiner Orgelwerke193 und wurde bereits 1964 in Ave regina coelorum und
Ach wie nichtig, ach wie flüchtig eingesetzt.194
193
Helfgott, Das Orgelwerk, S. 42.
194
Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 37.
99
Nbsp. 7.2.6.: Es ist unmöglich, Takt 9-18
Kropfreiter konzipiert seine Motetten sehr linear und besinnt sich somit auf Johann
Nepomuk David, der mit seiner linearen Schreibweise als Vorbild agierte.195 Zum
Vorschein kommt dieses Merkmal vor allem dadurch, dass eine vertikale Analyse
größtenteils nicht möglich ist und die einzelnen Stimmen in eigenständigen Linien
voranschreiten. Dabei greift Augustinus Franz Kropfreiter immer wieder auf bereits
vorgestelltes Material zurück. Dieses bringt er sowohl in Originalgestalt als auch in
Umkehrungen, Krebsform oder mit geänderten Notenwerten.
195
Szeless, Augustinus Franz Kropfreiter, S. 37.
100
Die Grundlage für Kropfreiters lineare Melodielinien ist seine Arbeit mit bevorzugten
Intervallen, die auch Kurt Neuhauser in seiner Laudatio für Augustinus Franz Kropfeiter
als kennzeichnend für dessen Kompositionsstil nannte.196 In Kropfreiters Motetten
überwiegen stufenweise Bewegungen und somit die Intervalle Prim und Sekund.
Daneben kommen auch Sprünge vor, die nur in den seltensten Fällen (z.B. Trachtet
nach dem Reich Gottes, Takt 32 und 33 im Alt und Bass) mehrmals unmittelbar
nacheinander auftreten und im Gegensatz zu den Primen und Sekunden nur eine
untergeordnete Rolle spielen. Sofern in der Melodie größere Intervalle als Prim und
Sekund vorkommen, erscheinen diese in den meisten Fällen als Terzen, Quarten und
Quinten, größere Sprünge sind eher die Ausnahme. Das beliebteste Intervall nach der
Prim und der Sekund ist die Terz, die sowohl groß als auch klein in der Melodie oft
vorkommt. Die Vorliebe für die Terz hängt vermutlich mit der bevorzugten
Verwendung von Prim und Sekund zusammen, da die Summe aus den beiden die Terz
ergibt (1 + 2 = 3).
In Verbindung damit sei ebenfalls erwähnt, dass Augustinus Franz Kropfreiters
Kompositionsstil auch sehr von der Zahlensymbolik beeinflusst war. In den
untersuchten Motetten lassen sich durch die verwendeten Intervalle immer wieder
Bezüge zu den Textquellen herstellen, die häufig jene Zahlen enthalten, die musikalisch
in der Motette als Intervalle vielfach berücksichtigt werden. So notiert Kropfreiter in der
Motette Es ist unmöglich in Takt 12 eine verminderte Oktav und stellt somit einen
Zusammenhang mit dem Kapital 17 des Lukasevangeliums her: die Summe aus 1 und 7
ergibt 8 und steht somit für die Oktav.
Der Kontrapunkt als eine der Kompositionstechniken innerhalb Kropfreiters Stil findet
auch in seinen Motetten Berücksichtigung. Darin tritt vor allem das Prinzip der
Imitation als eine der kontrapunktischen Formen an mehreren Stellen auf. Ein Beispiel
dafür sind die Takte 8 bis 13 der Motette Trachtet nach dem Reich Gottes (vgl. Nbsp.
7.2.7.). In diesem Abschnitt beginnen Tenor- und Bassstimme und werden vom Sopran
und Alt ab dem nächsten Takt imitiert.
196
Neuhauser, Laudatio, S. 17.
101
Nbsp. 7.2.7.: Trachtet nach dem Reich Gottes, Takt 8-13
Durch Kropfreiters Tendenz zur linearen Schreibweise ergeben sich in den Stimmen
eigenständige Melodien und unterschiedliche Rhythmen, sodass zahlreiche Abschnitte
in den Motetten polyphon konstruiert sind. Dennoch existieren neben dieser Polyphonie
auch homophone Passagen, die Kropfreiter in gewissen Abschnitten der Motetten
anwendet und somit auf ein vertikales Denken verweist. In Trachtet nach dem Reich
Gottes (Takt 14 bis 19 bzw. 37 bis 44) und Niemand zündet ein Licht an (Takt 9 bis 13
bzw. 21 bis 24) weicht er sogar so weit von der polyphonen Konstruktion ab, dass die
genannten Phrasen eine akkordische Analyse ermöglichen. Das trifft jedoch keinesfalls
auf alle homophonen Abschnitte zu, sondern tritt in den untersuchten Motetten nur
selten auf.
Da Augustinus Franz Kropfreiter ein weltweit gefeierter Organist war und sich zu
Beginn seines musikalischen Schaffens auf die Orgelmusik konzentrierte (siehe Kapitel
5, S. 28), ist es nicht verwunderlich, dass auch in seiner Vokalmusik – und in diesem
Fall in den Motetten – Anleihen an dieses Instrument zu finden sind. Kropfreiter fasst
jeweils zwei Stimmen – Sopran und Tenor bzw. Alt und Bass – zusammen und lässt
diese in Oktaven dieselbe Melodie singen. Dieses paarweise Fortschreiten entstammt
dem Koppelprinzip der Orgel. Darunter ist eine Technik zu verstehen, „die es dem
Organisten ermöglicht, die Register eines Werkes auf der Klaviatur eines anderen zu
spielen.“ Dabei werden also die Tasten des bespielten Manuals an ein zweites Manual
102
bzw. an das Pedal gekoppelt, sodass diese beim Spielen mitklingen.197 In Anlehnung an
diese Technik notiert Kropfreiter jeweils zwei Stimmen in Oktaven. Zu finden ist eine
solche Stelle in den Takten 3 bis 7 von Trachtet nach dem Reich Gottes, in denen
Sopran und Tenor bzw. Alt und Bass parallel fortschreiten (vgl. Nbsp. 7.2.8.).
Nbsp. 7.2.8.: Trachtet nach dem Reich Gottes, Takt 3-7
Neben Oktaven erklingen aber auch immer wieder Quinten zwischen zwei Stimmen, so
zum Beispiel in der Sopranstimme der Takte 17 bis 19 in der Motette Es ist unmöglich
(vgl. Nbsp. 7.2.9.).
Nbsp. 7.2.9.: Es ist unmöglich, Takt 17-19
197
Anja Rohlf, Koppel, in: Lexikon der Orgel. Orgelbau – Orgelspiel – Komponisten und ihre Werke –
Interpreten, hrsg. v. Hermann J. Busch und Matthias Geutig, Laaber: Laaber-Verlag 2007, S. 394-395,
hier S. 394.
103
In Trachtet nach dem Reich Gottes (vgl. Nbsp. 7.2.10.) bringt Kropfreiter an mehreren
Stellen einen Orgelpunkt ein. Ein Orgelpunkt ist ein Ton in der Bassstimme, der lange
ausgehalten wird und zu den anderen Stimmen ein Spannungsverhältnis erzeugt.
Dieselbe Wirkung kann aber auch von einem Ton, der in regelmäßiger Abfolge immer
wieder erklingt, erzeugt werden. Darüber hinaus können Orgelpunkte auch in Form von
liegenden Tönen in Mittel- oder Oberstimmen auftreten.198 Bei Kropfreiter kommen
Orgelpunkte in der oben genannten Motette sowohl in der Bass- als auch in der
Altstimme vor und bestehen ebenso aus Halben wie aus Vierteln (z.B. Takt 3 bis 7, 8
bis 13, 27 bis 31).
Nbsp. 7.2.10.: Trachtet nach dem Reich Gottes, Takt 3-7
Die Takte 3 bis 7 von Trachtet nach dem Reich Gottes sind ein guter Ansatzpunkt, um
auf ein weiteres Merkmal von Kropfreiters Kompositionsstil in den Motetten zu
sprechen zu kommen. Vor allem in Zusammenhang mit der Oktavfortschreitung zweier
Stimmen (Sopran und Tenor bzw. Alt und Bass) schafft Kropfreiter häufig einen
Gegensatz durch liegende und bewegte Melodielinien. Während das eine Stimmpaar
über mehrere Takte hinweg denselben oder maximal zwei verschiedene Töne bringt,
führen die beiden anderen Stimmen eine bewegtere Melodie aus. Dies ist zum Beispiel
auch der Fall in Es ist unmöglich (Takt 28 bis 31), wo im 2. Sopran und im Bass eine
198
N.N., Orgelpunkt, in: Riemann Musiklexikon, hrsg. v. Wolfgang Ruf und Annette van Dyck-Hemming
(Band 4: Niss-Schw), Mainz: Schott 2012, S. 76.
104
absteigende Melodie erklingt, während die anderen Stimmen auf einem Ton liegen
bleiben und erst in Takt 31 ein neuer Ton erscheint (vgl. Nbsp. 7.2.11.).
Nbsp. 7.2.11.: Es ist unmöglich, Takt 28-31
7.3. Zusammenfassung
Augustinus Franz Kropfreiters musikalische Vorbilder deckten sich im Großen und
Ganzen mit jenen von Anton Heiller, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verband und
der auch als sein kompositorischer Berater tätig war. Durch Heiller kam Kropfreiter mit
der französischen Musik rund um Frank Martin in Berührung und zeigte sich vor allem
von der farbenreichen Harmonik beeindruckt. Diese nahm er sich anfangs als Vorbild
für sein eigenes Schaffen und verband sie mit der linearen Schreibweise von Johann
Nepomuk David. Wie sein Berater Anton Heiller hatte auch Kropfreiter persönlichen
Kontakt zu Paul Hindemith, den er ebenfalls ausdrücklich als eines seiner
musikalischen Vorbilder – vor allem in Bezug auf die Polyphonie – nannte.
Nachdem sich Kropfreiter zunächst an seinen Komponistenkollegen orientiert hatte,
begann in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre die Auseinandersetzung mit der
Zwölftonmusik. Er komponierte jedoch nicht nach deren strengen Regeln, sondern
105
versuchte durch die Beschäftigung mit dieser Technik neue harmonische Wege zu
finden und sich so von seinen Vorbildern zu lösen. Mehr und mehr nahm die
Polytonalität in seinen Kompositionen Gestalt an und entwickelte sich neben der
Kontrapunktik zu einem seiner kompositorischen Stilmittel. Er behielt seine
farbenreiche Harmonik bei, überließ in seinen Kompositionen aber dennoch nichts dem
Zufall und wählte seine Töne sorgfältig aus.
In seinen Motetten stellt der Text die Ausgangsbasis für die Komposition dar.
Kropfreiter wählte seine Texte sehr sorgsam aus und stellte sie aus verschiedenen
Übersetzungen der Bibel zusammen, sodass sie den musikalischen Fluss bestmöglich
unterstützen konnten. Die Musik zu seinen Motetten schreibt er sehr textbezogen und
bringt entsprechend dem Text auf- bzw. absteigende Melodielinien. Mit der Vertonung
des Textes dürften auch die häufigen Taktwechsel in Kropfreiters Motetten
zusammenhängen, sodass auf diese Weise optimale Schwerpunkte im Text gesetzt
werden können. Durch den Verzicht auf Generalvorzeichen vermeidet er die Festlegung
auf eine Tonart.
Die untersuchten Motetten weisen im Großen und Ganzen dieselben stilistischen
Merkmale auf und vermeiden weitgehend tonale Festlegungen. Anstelle von
vollständigen Akkorden an den Enden einzelner Abschnitte bringt Kropfreiter gerne
leere Quinten oder lässt alle Stimmen auf demselben Ton enden. Kennzeichnend für
seine Motetten ist auch die lineare Konzeption der Stücke und die damit einhergehende
polyphone Denkweise. Dennoch treten immer wieder homophone Abschnitte auf. In
seiner linearen Anlage arbeitet Kropfreiter mit den bevorzugten Intervallen Prim und
Sekund, bei Sprüngen steht die Terz an erster Stelle. Durch diese Intervalle stellt er
häufig einen Bezug zur Textquelle her, da sich diese Intervalle (1, 2, 3) durch die
Kapitel- und Versnummerierungen in den Textstellen wiederfinden. Somit spielt auch
die Zahlensymbolik eine besondere Rolle in Kropfreiters Motettenschaffen.
Ausgehend von seiner Tätigkeit als Organist und Komponist von Orgelmusik, überträgt
er gewisse Techniken auch auf die Vokalmusik. Häufig fasst er Sopran und Tenor bzw.
Alt und Bass zu Stimmpaaren zusammen und lässt diese in Oktaven fortschreiten. Ihren
Ausgang nahm diese Idee vom Koppelungsprinzip der Orgel, bei dem ein Manual mit
einem weiteren oder mit dem Pedal gekoppelt werden kann. Auch Quinten zwischen
106
zwei Stimmen treten immer wieder auf. Darüberhinaus findet die Technik des
Orgelpunkts – sowohl in der Bass- als auch in der Altstimme – in den Motetten
Kropfreiters Verwendung. Weiters schafft er durch das Nebeneinander von bewegten
und liegenden Melodielinien Gegensätze.
107
8. Resümee
Die Motette ist eine Gattung mit langer Tradition. Seit ihren Anfängen um 1200 in
Frankreich kam es zu einer Verbreitung in vielen Ländern. War sie anfänglich noch eine
weltliche Gattung, so konnte sie sich spätestens seit der Renaissance als
kirchenmusikalisches Werk im Gottesdienst etablieren. Obwohl ihre Entwicklung mit
einem ständigen Auf- und Abschwung verbunden war, wurden dennoch über die
gesamte Musikgeschichte hinweg Motetten komponiert. So hielt sich diese Gattung bis
in die Gegenwart. Auch Augustinus Franz Kropfreiter nahm sich ihrer an und machte
sie zu einer zentralen Gattung seines Schaffens.
Nachdem Kropfreiter sein musikalisches Schaffen zunächst eher der Orgelmusik
verschrieben hatte, beschäftigte er sich vermutlich durch seine beruflichen Tätigkeiten
als Leiter der Sängerknaben und als Regens Chori im Stift St. Florian mehr und mehr
mit der Motette. Vor allem gegen Ende seines Lebens – besonders in den 1990er-Jahren
– arbeitete er vermehrt auf diesem Gebiet. Obwohl diese Gattung einen zentralen
Stellenwert in Kropfreiters Werk einnimmt, lässt die Verbreitung seiner Motetten zu
wünschen übrig. Die meisten Stücke sind lediglich als Manuskripte vorhanden und nur
wenige wurden vom Verlag Doblinger herausgegeben. Ebenso ist die Suche nach
Aufnahmen von Kropfreiter-Motetten leider vergeblich. Aufgrund dieses geringen
Angebots an herausgegebenen Motetten ist die Verfasserin dieser Arbeit der Meinung,
dass weitere Forschungen unerlässlich sind, damit Kropfreiters Musik einen größeren
Bekanntheitsgrad erlangt und Motetten neu herausgegeben werden. Zu einer weiteren
Verbreitung in der Bevölkerung würden sicherlich auch CD-Aufnahmen einen
wichtigen Beitrag leisten.
Kropfreiters
Kompositionstechnik
Komponistenkollegen.
Neben
zeigt
seinem
viele
Vorbild
Einflüsse
Anton
Heiller,
zeitgenössischer
der
ihm
als
kompositorischer Berater zur Seite stand, war es die französische Musik von Frank
Martin, die ihn durch seine farbenreiche Harmonik inspirierte. In Bezug auf die
Polyphonie orientierte sich Kropfreiter an Paul Hindemith und von Johann Nepomuk
David übernahm er die lineare Schreibweise. Durch die Beschäftigung mit der
108
Zwölftontechnik fand Kropfreiter neue harmonische Wege, die ihn bis zur Polytonalität
führten.
Durch die Analysen konnten wichtige Merkmale der Kompositionstechnik Kropfreiters
in den späten Motetten herausgearbeitet werden. Dazu gehören durch fehlende
Generalvorzeichen die Vermeidung, sich auf eine bestimmte Tonalität festzulegen und
nur eher selten vollständige Akkorde zu bringen. Sehr beliebt sind hingegen leere
Quinten an den Enden einzelner Phrasen. In den Stücken sind polyphone Abschnitte
ebenso zu finden wie Homophonie, jedoch überwiegt die lineare Konzeption. Für die
Melodieführung verwendet Kropfreiter in erster Linie Primen und Sekunden und
bevorzugt stufenweise Bewegungen. Auch die Zahlensymbolik spielt für Kropfreiter zu
dieser Zeit eine bedeutende Rolle und so stellt er durch die Verwendung bestimmter
Intervalle immer wieder musikalische Bezüge zu den Textquellen her. In den Motetten
legt er ohnehin eine sehr textbezogene Kompositionsweise an den Tag. Der Text stellt
für seine Werke die Ausgangsbasis dar und muss die musikalische Umsetzung
bestmöglich unterstützen. Auch die Orgelmusik dient Kropfreiter als Inspirationsquelle
für seine Motetten, indem er das Koppelungsprinzip der Orgel vokal umsetzt. Zu
diesem Zweck lässt er jeweils zwei Stimmen in Oktaven oder Quinten fortschreiten.
Die Ergebnisse aus den Analysen verdeutlichen, dass Kropfreiter in seinen letzten
Lebensjahren gewisse kompositorische Mittel verwendet hat, die in verschiedenen
Motetten dieser Zeit immer wieder auftreten. Er hat sich also gegen Ende seines Lebens
– zumindest in Bezug auf die Motetten – auf einen gewissen Stil festgesetzt, den er
zielstrebig
verfolgte.
In
dieser
Hinsicht
konnten
die
einleitenden
Fragen
zufriedenstellend beantwortet werden. Durch die Konzentration auf Werke der letzten
Jahre bleibt hier allerdings die Frage offen, welche Entwicklung sein Kompositionsstil
in den Motetten von den Anfängen bis zum Ende seines Lebens durchlaufen hat. Daher
wären auf diesem Gebiet weitere Untersuchungen notwendig, um die Frage zu
beantworten, ob sich sein Stil in den frühen und späten Motetten unterscheidet und
wenn ja, in welcher Art und Weise dies ersichtlich wird.
109
9. Quellenverzeichnis
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(21.5.2013)
http://www.musikaustria.at/ (21.5.2013)
113
Sonstige Informationsquellen:
MMag. Klaus Sonnleitner, e-mail vom 10.05.2013.
114
10. Anhang
Auszug aus dem e-mail von MMag. Klaus Sonnleitner vom 10.5.2013:
„[…] em. Univ.-Prof. Dr. Ferdinand Reisinger ist Augustiner Chorherr des Stiftes St.
Florian und war von 1986 – 2004 und nochmals von 2005 – 2011 Stiftsdechant (das ist
der Vertreter des Propstes – in unserem Orden heißen die Leitungsämter Propst und
Stiftsdechant, bei anderen Orden meist Abt und Prior). Dr. Reisinger (geb. 1946) war
Professor
für
Gesellschaftslehre
und
Pastoralsoziologie
an
der
Katholisch-
Theologischen Privatuniversität Linz. Er ist auch im Bereich der bildenden Kunst tätig
und als Musikkenner und –liebhaber stets an der Arbeit Kropfreiters interessiert und
dafür aufgeschlossen. Prälat Wilhelm Neuwirth (geb. 1941), war von 1977 – 2005
Propst
des
Augustiner
Chorherrenstiftes
St.
Florian
und
ist
ebenso
ein
kunstinteressierter Mensch, der die Arbeit Kropfreiters gefördert hat.“
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