Ridli Agrargeschichte Vertiefungstext POI 42 Ernährung im traditionellen Hirtenland Die Ernährung in den Schweizer Voralpen- und Alpengebieten beruhte seit der Intensivierung von Grossviehhaltung und Milchwirtschaft im späten Mittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert vorwiegend auf Milch und Milchprodukten und stand damit in einem entschiedenen Gegensatz zur Nahrung der Ackerbauern im Mittelland, wo Getreidespeisen und später die Kartoffel die Hauptnahrungsmittel waren. Äpfel, Birnen, Kirschen, Räben, Riebli, Kabis, Kefen, Roggenmehl, Hafermehl, Milch, Nidel, Anken, Ziger, Käse, Salz, Schnecken, Haselnüsse, Beeren, Pilze, Kräuter, Wurzeln und Walnüsse waren gemäss Einträgen in den Ratsprotokollen die Nahrungsbasis der Obwaldner Bevölkerung. Fleisch und Brot kamen selten auf den Tisch. Oft gab es als Brotersatz eine Handvoll getrockneter Früchte. Sie wurden manchmal auch einem Teig aus Getreidemehl beigemischt, woraus sich in manchen Gegenden später das Birnbrot entwickelte. Dank der Jagd von Bergwild lag der Fleischkonsum im Hirtenland lange höher als im Kornland, wo die freie Jagd bereits früh verboten worden war. In den Innerschweizer Voralpen bildete Milch bei jeder Mahlzeit die Basis. Bereits das Morgenessen bestand aus Milch und Ziger oder aus Zigersuffi. Der Nidwaldner Chronist Aloys Businger beschreibt diese Produkte folgendermassen: «Der Ziger ist das Ergebnis der zweiten Scheidung, welche dann vorgenommen wird, wann der Käse schon aus dem Kessel gehoben ist, und besteht somit aus den letzten Käsetheilen der Milch. […] Die Suffi ist die nach der Käseenthebung über dem Feuer erwallte Milch, und ein gesundes, wohlfeiles Getränk. Die Schotte ist derjenige Milchstoff, welchen die Deutschen Molke nennen; allein sie ist nicht bloss mit Weinessig gebrochene Milch, sondern mit Milchessig, dem sogenannten Trank, gebrochene 1 Kässuffi, und ein gesundes, reinigendes Getränk, besonders für Kranke.» Bis ins 20. Jahrhundert und damit innerhalb der Voralpengebiete weitaus am längsten wurde die alte Hirtennahrung in Unterwalden konsumiert, wo auch die Hirtenkultur länger als anderswo Bestand hatte. Eine besondere Spezialität Unterwaldens ist bis heute der Genuss von Bratkäse geblieben. Die kleinen, halbharten und wenig lagerfähigen Käselaibe waren sozusagen ein Nebenprodukt der Sbrinzproduktion. Anders als der bekannte Hartkäse wurde der Bratkäse nicht auf der Alp, sondern von den Talbauern insbesondere während der Winterzeit aus der Milch der daheim gebliebenen Kühe hergestellt und war nicht für den Export, sondern für den Heimbedarf bestimmt. 1836 fasst Aloys Businger die Nahrungsgewohnheiten der Unterwaldner Bevölkerung wie folgt zusammen: «Die gewöhnliche Nahrung des Landmanns besteht in Milch, Suffi, Schotten, Ziger, Käse, Erdäpfeln und Obst. […] Es finden in der Regel täglich vier Mahlzeiten statt, nämlich um 7 Uhr Morgens das Frühstück, hier Kolaz genannt, früher aus Milch, Suffi, oder einer Mehlsuppe, jetzt aber fast durchgängig aus Kaffee bestehend, der hier aber nicht gesondert, sondern in die Milch eingesotten ist, wodurch er kräftiger wird. Um 11 Uhr das z'Morgen, eigentlich Mittagessen, entweder in Fleisch oder blossem Gemüse, fast allemal in gerösteten Kartoffeln - gebräuselten Erdäpfeln - bestehend. Um 2 Uhr das z'Abendessen mit Kaffee. Um 7 Uhr das z'Nachtessen, fast allemal mit gesottenen Kartoffeln. Auf dem Tische, besonders zur Suppe und den Erdäpfeln, darf hier der Käse niemals fehlen. Brod, dessen Preis auf dem Kornmarkte in Luzern bestimmt wird, wird jetzt unvergleichlich mehr gegessen als ehemals, und 2 auch viel besser gebacken.» Gemäss Businger wurden also auch im Hirtenland die traditionellen Mahlzeiten bereits in den 1830er-Jahren mehr und mehr mit Brot, Kartoffeln und Kaffee ergänzt. Die Kartoffel rückte im 1 2 Aloys Businger 1836, S. 60. Ebd., S. 45. www.waldstätterweg.ch Ridli Eisenbahnen und Bergbahnen in der Zentralschweiz POI 42 19. Jahrhundert auch in Unterwalden zum zweitwichtigsten Nahrungsmittel gleich nach den Milchprodukten auf. Der Kaffee hatte primär mit den neuen Ernährungsgewohnheiten der Heimarbeiter, die für die Protoindustrie arbeiteten, den Weg in die Voralpen gefunden. Nicht allen Zeitgenossen passte diese Entwicklung, fürchtete man doch eine mangelhafte Ernährung, wenn die Milch zu sehr mit Kaffee oder einem Kaffeesurrogat ersetzt werde. So berichtete Gerold Meyer von Knonau 1835 zum Kaffeekonsum im Kanton Schwyz: «Der Kaffee ist so verbreitet, dass man ihn in den höchsten Alpenhütten findet. Nur zu viele Surrogate hat derselbe; gelbe Rüben, Eicheln, Cichorien und ein eckelhaftes Pulver, das in Päckchen verkauft wird, und meistentheils aus gebrannten süssen Aepfeln entstehen mag. Man glaubt nachtheilige Wirkungen dieses Pulvers, 3 insbesondere auf das weibliche Geschlecht bemerkt zu haben.» Noch weit mehr als der Kaffeegenuss erregte der Branntweinkonsum die Gemüter, der in den milchproduzierenden Gebieten in einen direkten Zusammenhang mit der Käseproduktion gestellt wurde. Mit dem Ausbau der Talkäsereien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es nämlich in vielen Gebieten der Schweizer Voralpen zur absurden Entwicklung, dass manche Bauernhaushalte selber kaum noch über genügend Milch und Rahm für den Eigenverbrauch verfügten, weil sie möglichst alle Milch an die Käserei abliefern wollten. Arme Dorfbewohner, die früher ab und zu direkt vom Bauern entrahmte Milch erhalten hatten, konnten sich jetzt in der Käserei mit ihrem kleinen Einkommen nur noch die billigere Molke kaufen. Im Entlebuch – so berichtet 1887 ein kritischer Zeitgenosse – gebe es «in vielen Familien die arge verwerfliche Unsitte, die Milch in die Käserei zu tragen oder zur Kälbermast zu verwenden und aus dem Erlös schwarzen Kaffee, Zucker und Schnaps zu kaufen.» Und: «Unsinniger Wetteifer der Bauern, möglichst viel Milch in die Hütte zu liefern, hohe Milchpreise und niedrige Brantweinpreise führen zu der irrigen Anschauung, Brantwein sei billiger als 4 Milch.» Literatur: Richard Weiss: Volkskunde der Schweiz. Grundriss. Zürich 19843 Aloys Businger: Der Kanton Unterwalden, historisch, geographisch, statistisch geschildert. (Gemälde der Schweiz VI) St. Gallen und Bern 1836. Gerold Meyer von Knonau: Der Kanton Schwyz: Historisch, geographisch, statistisch geschildert. (Gemälde der Schweiz V) St. Gallen und Bern 1835. Paul Imhof: Das kulinarische Erbe der Schweiz. Band 1: Aargau, Luzern, Obwalden, Nidwalden, Schwyz, Zug, Zürich. Basel 2012. Autorin: Erika Flückiger Strebel, 2015 © Albert Koechlin Stiftung, Luzern 3 Gerold Meyer von Knonau 1835, S. 97. Bericht des Entlebucher Oberförsters Friedrich Merz in: M. Lemmenmeier. Luzerns Landwirtschaft im Umbruch. Luzern 1983, S. 223. 4 www.waldstätterweg.ch Seite 2