Ein unerschöpflicher Quell, Christian Meier

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Akropolis in Athen: Lieber in kleinen Gebilden groß als in großen klein und abhängig
Ein unerschöpflicher Quell
Die Griechen übten zum ersten Mal Demokratie, die Römer versuchten sich als Herrscher der
damaligen Welt. Kritisches Denken und moderne Wissenschaft nahmen in der Antike
ihren Anfang. Vor drei Jahrtausenden wurde das Fundament Europas gelegt. / VON CHRISTIAN MEIER
M
it den Griechen fing es an, und
zwar mit denen, die sich seit dem
Ende des zweiten Jahrtausends
vor Christus auf den Trümmern der mykenischen Palastkultur neu einrichteten;
neu und ziemlich ungewöhnlich.
In der Regel nämlich haben sich Hochkulturen unter starkem, formendem Einfluß von Monarchen gebildet. Die Entfaltung von Kunst gehörte zur Fundierung
von Herrschaft, und beides ging zumeist
zusammen mit der Schaffung eines Reiches. Wie etwa in Mesopotamien und
Ägypten.
Anders die Griechen. Bei ihnen haben
die Könige der Anfangszeit und die Ty-
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rannen späterer Jahrhunderte die Gemeinwesen kaum zu prägen vermocht.
Zudem legten die Adligen und dann die
Bürgerschaften insgesamt großen Wert
darauf, in kleinen selbständigen PolisGemeinden zu leben. Sie führten zwar
viele Kriege, verstanden sich auch weitgehend als Krieger. Doch eroberten sie selten eine fremde Stadt, und schon gar nicht
– oder fast nicht – dachten sie daran, fremde Bürgerschaften sich einzuverleiben.
Machtbildung war da also schwierig.
Schwer zu sagen, wie das kam. Jedenfalls strebten die Griechen stets nach möglichst viel Eigenständigkeit. Umgekehrt
gesagt: Sie wollten möglichst wenig an das
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Gemeinwesen abgeben. Steuern zu zahlen
galt eines freien Bürgers unwürdig. Militärdienst versahen sie selbst und aus eigenen Mitteln. Auch die jährlich wechselnden Amtsinhaber kamen im wesentlichen selber für sich und ihre Hilfskräfte
auf. Sie sollten möglichst wenig Macht haben. Kurz, das Gemeinwesen sollte nicht
mehr sein als die Summe seiner Teile.
Dem entsprach es, daß die Bürger nicht
in großen Gebilden klein und abhängig
sein wollten, sondern lieber in kleinen
groß; so groß, wie eben viele es sein können, wenn sie mit relativ wenigen ein
Ganzes ausmachen. Darin war eine gewisse Gleichheit angelegt. Es machte zu-
* Fresko von Gustav Adolph Spangenberg (1883/88) in
der Universität Halle.
Ein Bild für Götter
HUBER / LAIF (L.); AKG (2, R.)
gleich die Öffentlichkeit wichtig, in der
sich die Männer, zunächst die Adligen, trafen, stritten, aber auch ausglichen. Ihr Leben war wesentlich Zusammenleben – in
Gespräch, Politik und Fest, beim Sport wie
beim Symposion. Die Öffentlichkeit war
vom Haus (und vom Leben der Frauen)
deutlich geschieden wie das freie Leben
von der Arbeit, wie Mythos von Ritus, so
daß die Phantasie der Dichter relativ frei
darüber verfügen konnte. Hier galt es vor
allem, vor den anderen hervorzuragen,
nicht so sehr, mächtig zu sein. Menschenbildung und Wettstreit spielten in dieser Kultur eine Rolle wie sonst nirgends.
Das Bemerkenswerte nun war, daß die
Griechen diese Eigenart im Prozeß ihrer
Kulturbildung beibehielten und festigten,
mit wenigen Modifikationen. Ebendadurch gerieten sie auf einen so ungewöhnlichen Weg. Und auf verschiedene
Weisen bereitete sich darin die Erbschaft
vor, die sie dem späteren Europa vermachten.
Zunächst hatten sie um die Ägäis herum gesessen. Keine fremde Macht inter-
essierte sich für diesen Raum. Nur die
phönizischen Händler taten es, die an der
Ostküste des Mittelmeers zu Hause waren. Nicht durch Politik oder Krieg also,
sondern durch Seefahrt und Handel bahnten sich die Beziehungen der Griechen zu
den östlichen Hochkulturen an. Sie haben
dabei begierig gelernt. Viele
Kenntnisse, Techniken, Künste, Mythen, Bilder haben
sie von dort übernommen,
auch Spezialisten, auch Ansprüche. Gewiß standen die
östlichen Hochkulturen Pate
bei der Kulturbildung der Griechen. Aber nichts nötigte diese,
sich den anderen gesellschaftlich
oder politisch anzupassen. Sie
blieben vielmehr offen, beweglich, ohne viel Herrschaft.
Als es daheim zu eng
wurde, sannen die Griechen kaum auf Eroberung
in der Nachbarschaft, vielmehr auf Gründung selbständiger Kolonien in der
Ferne. So wurde das Mittelmeer von
Marseille bis Zypern zum griechischen Meer – ein Element, das
keiner beherrschen konnte, das
allen offenstand. Weite Landstriche begannen sich über
See zu einem gemeinsamen
Raum zusammenzuschließen.
Die neuen Verbindungen,
die Impulse, die von den
Griechen ausgingen, setzten vieles auch außerhalb
ihres unmittelbaren BeVenus von Milo
reichs in Gang – unter anderem bei den
Etruskern und der damals gegründeten
Stadt Rom.
So wurden die Südküsten Europas erstmals in größerem Stil einbezogen in die
welthistorische Bewegung. Ohne viel Politik, sondern durch Handel und die Verbreitung von Kenntnissen und Lebensformen.
Die Kultur, die die Griechen unter
diesen Umständen begründeten, stellte in gewissem Ausmaß eine Einheit
dar, wenngleich sie sich in den einzelnen Städten und Gegenden sehr unterschiedlich ausprägte, am raschesten an
einigen Knotenpunkten des Verkehrs.
Wie die Griechen –
in der archaischen
Zeit (etwa 800 bis 500
vor Christus) – sich
die Welt ordneten,
Sinn deuteten und
Formen fanden, um
sich auszudrücken:
Das war letztlich dadurch bestimmt, daß
sie es im unvermittelten Zusammenleben tun mußten. Sie
mußten ihre Kultur
aus ihrer Mitte
heraus bilden,
zunächst vor allem unter den
Adligen. Der
Drang zum freien Sich-Ausleben
konnte nicht beschnitten, sondern
mußte eingefangen werden. Kon-
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AKG
Philosophie-Schule des Aristoteles*: Auf der Suche nach dem rechten Maß
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flikte, die sich – wie die mit den ausge- Volk die Macht haben sollte – auch weil seine Herrschaft. Als Athen sie bei ihrem
beuteten Bauern – zum Bürgerkrieg stei- die Bürgerschaft solidarisch zusammen- Versuch, sich zu befreien, unterstützte,
gern konnten, mußten gelöst werden ohne halten mußte, sonst wäre sie den Adligen zog es den Unwillen des persischen Großkönigs auf sich. Dessen Bestrafungsexpedie Gewalt einer zentralen Instanz. Keine unterlegen gewesen.
leichte Aufgabe. Aber es gelang.
Was damals entstand, war von hohem dition scheiterte, als die Athener das perMan suchte die Allgemeinheit ins Spiel intellektuellem und vor allem auch ästhe- sische Kontingent bei Marathon besiegten
zu bringen, wurde sich der Verantwortung tischem Reiz. Doch weiß man nicht, wie es (490). Nun wollten die Perser sich die
des Bürgers für das Gemeinwesen bewußt. damit weitergegangen wäre, wenn die Griechen auf der anderen Seite der Ägäis
Man entwarf Institutionen. Was anderswo Griechen nicht um 500 in Konflikt mit unterwerfen und zogen mit einer riesigen
Streitmacht zu Wasser und
gern von oben diktiert
zu Lande heran (480).
wird, wurde hier zum ProE U R O P A S E R B E
Aber einige Griechenblem der Erkenntnis, der
städte, allen voran Sparta
Argumentation, der Ratio;
Die Demokratie der Griechen
und Athen, ließen sich dadie entsprechend zu entvon nicht einschüchtern.
wickeln war. Dazu bedurf• Athens Herrscher, die Archonten, wurden von der Volksversammlung geSie wollten sich keiner
te es einer Richtschnur. Auf
wählt, zuerst auf Lebenszeit, später im Jahresturnus, und mußten
fremden Macht unterwerdiesem Weg gelangten die
Rechenschaft über ihre Amtsführung geben. Allerdings hatte nur die Athener
fen. In einer Anstrengung
Griechen zu der VermuAristokratie Zugriff auf diese Posten. Erst im 5. Jahrhundert vor Christus wursondergleichen bauten die
tung, daß es eine rechte
den in einer Vertretung aller attischen Städte, dem Rat der 500, auch andeAthener eine Flotte von
Ordnung gebe, ein verborre Schichten des Volkes zur Wahl zugelassen. Zwar kannte die Selbstbestim200 Schiffen, und dann gegenes Maß, das allem Lemung Grenzen – so hatten Frauen und Sklaven in der Polis nichts zu sagen,
lang es ihnen, die immer
ben wie der Natur zugrunsogar ein bedeutender Gegner der Adelsherrschaft wie der Staatslehrer
noch überlegenen Feinde
de liege. Es war zu finden
Aristoteles warnte stets vor der Regentschaft „des Pöbels“. Immerhin bein die Meerenge bei Saladurch Abstraktion von viestimmte der Rat – mit täglich wechselndem Vorsitz – sämtliche öffentlichen
mis zu locken und vernichlerlei Einzelheiten. So entGeschäfte; es gab jedoch weder Regierung noch Parteien. Die griechische
tend zu schlagen. Nachstand nicht nur politisches
Demokratie wurde zum Urvorbild moderner Gesellschaftsformer – „Regiedem jedoch die Perser, 479
Denken, sondern auch die
rung des Volkes durch das Volk und für das Volk“, wie US-Präsident Abraham
auch zu Lande besiegt,
frühe griechische PhilosoLincoln 1863 sein Ideal nannte.
sich zurückgezogen hatten,
phie. Indem sich die Bürwollten auch die asiatiger der Polis an Maß und
Gesetzmäßigkeit orientierten, gelangten dem Perserreich geraten wären und wenn schen Griechenstädte befreit werden. Sie
sie nicht nur zur Ordnung untereinander, nicht eine Stadt, Athen, infolge davon zu schlossen ein Bündnis unter Athens Fühsondern auch zu einer gewissen Selbstbe- ungeheuerlichen Erfolgen gelangt und zu- rung, die Perser wurden zurückgedrängt.
Und Athen entfaltete eine kaum für
herrschung. Die Suche nach dem Maß war gleich stärksten Spannungen ausgesetzt
das Korrelat der Freiheit. Damals wurde worden wäre. Wenn es nicht zu jener Be- möglich gehaltene Dynamik. Über Nacht
Zeus zum Gott der Gerechtigkeit.
währung und Belastung gekommen wäre, war es vom Kanton zur Weltmacht geIn der Folge etablierten sich die Vor- in der die griechische Kultur sich zu höch- worden, erzielte unwahrscheinliche Erfolformen der Demokratie. Schon sie setzten ster Blüte und zu klassischem Format her- ge – nicht zuletzt, weil es die anderen, indem es immer wieder über das Gewohndas regelmäßige Engagement zahlreicher aufarbeitete.
Bürger voraus. Da war es wichtig, daß der
In der Mitte des sechsten Jahrhunderts te hinausgriff, stets von neuem überAdel die Öffentlichkeit so attraktiv für die hatte sich das Persische Weltreich eta- raschte. Doch strapazierte es seine Kräfte
anderen machte. Dort waren alle nur Bür- bliert. Es hatte in kurzer Frist alle anderen auch bis zum Äußersten. Diese Stadt beger, während die Häuser Privatsache blie- Reiche im Vorderen Orient besiegt und
ben, oft mit Hilfe von Sklaven betrieben. sich einverleibt. Mehrere Griechenstädte * Vasenmalerei um 480 vor Christus mit der Darstellung
Die Polis mußte klein bleiben, wenn das an der Ostküste der Ägäis gerieten unter des Kaufs einer Amphore.
Das Reich von
Alexander dem Großen
Makedonien unter
Philipp II.
(359 bis 336 v. Chr.)
Philippopolis
Eroberungen von 336 bis 323 v. Chr.
von Alexander abhängige Staaten
Züge Alexanders und seiner Feldherren
Schwarzes Meer
Kaspisches
Meer
HELLAS
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Athen
Sparta
Gaugamela
MESOPOTAMIEN
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Babylon
BELUTSCHISTAN
500 km
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Griechische Händler*
Immer wieder neue Überraschungen
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PLATON
Philosoph –
427 bis 347 vor Christus
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AKG
er Athener hätte als Sohn einer Patrizierfamilie öffentliche Ämter bekleiden können, aber er ging schon mit 14 Jahren bei
dem Denker Sokrates in die Lehre. Platon
prägte dennoch das öffentliche Leben. Mit
seinem Eintreten für Ethik und Philosophie
im staatlichen Bereich machte
er Politik und bekämpfte ein
verrottendes Bürgertum, das
sich „zweimal des Tags vollpfropft und keine Nacht allein
schläft“, wie er beklagte. Platons philosophische Akademie,
die Forschung und Lehre auf
Gebieten wie Naturwissenschaften, Kunst oder Staatstheorie betrieb, gilt als Vorläufer der modernen Universitäten.
Mit seinem umfänglich überlieferten Schriftwerk, das Ansätze der meisten seither diskutierten philosophischen Themen enthält,
wurde Platon auch zum bedeutendsten Denker der Antike. Im berühmten „Höhlengleichnis“ zeigt er Menschen, die im selbstgewählten Dunkel leben, dort die Wirklichkeit nur
als flackernden Widerschein auf der Höhlenwand wahrnehmen und sich so mit bequemer, aber täuschungsreicher Unwissenheit
begnügen, statt die Wahrheit mühsam außerhalb der Höhle zu suchen. Platon ist für seine Forderung
nach Einheit von Reden und
Tun in der Politik große Risiken
eingegangen. Der sizilische Tyrann Dionysios I. ließ den
Mahner dafür festnehmen und
auf den Sklavenmarkt bringen
– Freunde kauften ihn
rechtzeitig frei.
anspruchte ihre Bürger in einem – abgesehen von Sparta – für die Griechen ganz
unerhörten Ausmaß. Sie war in fast jeder
Hinsicht eine Ausnahme. Indes steht sie
für unsere Wahrnehmung der Griechen
im Vordergrund.
Je mehr Athen seine Flotte brauchte,
um so selbstbewußter wurden die Ruderer
aus den untersten Schichten. Die stärker
traditionsverhaftete Politik des Adelsrats
stieß auf wachsende Kritik, so daß man
ihn entmachtete. Athen stellte eine radikale Demokratie her, die erste Demokratie der Weltgeschichte. Alle wichtigen Entscheidungen fielen künftig wirklich in der
Volksversammlung, unter starker Beteiligung auch der kleinen Leute.
Es war äußerst kühn und mußte als
beängstigend erscheinen: die führende
Stadt in der Hand der breiten Menge!
Doch ging es lange gut, nicht zuletzt dank
Wiege des Westens
Das antike Europa
1200 – 800 v. Chr. Gründung der griechischen
Stadt- und Kleinstaaten
im ägäischen Raum,
darunter Athen, Sparta,
Theben, Korinth
800 – 750 v. Chr. Aus dem
phönizischen Alphabet entwickeln die Griechen die erste Buchstabenschrift Europas. Von ihr leiten sich alle
späteren europäischen
Schriften ab
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Platon
der Führung des Perikles. Aus einer der
ersten Familien Athens stammend, hatte
er sich früh gegen seine Standesgenossen
gestellt. Klugheit, Rednergabe und ein wacher Sinn für die ungeheuren Möglichkeiten der Stadt ließen ihn zum Fürsprecher
und Lenker des breiten Volkes werden;
durch Zahlung von Diäten setzte er deren
Angehörige instand, Ämter und Ratssitze
zu bekleiden. Er formulierte und machte
evident, was ihr Interesse war: die Größe
und der Glanz Athens.
Zwar bemängelten Kritiker, daß er die
Demokratie als Einmannregiment praktiziere und gelegentlich durch Krieg von innenpolitischen Schwächen ablenke. Immerhin sicherte er die Herrschaft der Stadt
über die Ägäis, während im Innern ein politisches, ein Bürger-Leben von wohl nie
wieder erreichter Intensität stattfand; auf
dem Markt wie im Theater. Perikles war es
753 v. Chr. Mythisches Datum
der Gründung Roms durch die
Zwillinge Romulus und Remus
490 v. Chr. Sieg der Athener
bei Marathon (Attika) über
das persische Invasionsheer
594 v. Chr. Solon führt in der
Athener Verfassung die Teilnahme des Volkes an politischen Entscheidungen ein
um 450 v. Chr. Mit dem
Zwölftafelgesetz wird das
römische Recht erstmals in
schriftliche Form gebracht
um 525 v. Chr. Der Philosoph
Pythagoras entwickelt Lehrsätze der Geometrie, Astronomie
und Musiktheorie
510 v. Chr. Gründung der
römischen Republik nach
dem Sturz des letzten
Etruskerkönigs Tarquinius
Superbus
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auch, der die Akropolis ausbauen ließ. Im
„perikleischen Zeitalter“ wurde Athen
zum Mittelpunkt der griechischen Welt.
Was es war und tat, gab auf allen Ebenen
zu denken. Die Erfolge waren unheimlich:
Mußte die Stadt also den Neid der Götter
fürchten? Die rationale Politik, die sie
trieb, stand im Gegensatz zum Herkommen: Sollten die alten Regeln der Griechen also nicht mehr gelten? Die Demokratie widersprach dem alten Glauben an
die rechte Ordnung: Konnte sie überhaupt
im Sinne des Zeus sein? Ständig passierte
Neues, Unvermutetes: Wie also kam historisches Geschehen zustande?
Tausend solcher Fragen trieben die Bürgerschaft um, und sie setzte sich damit
auseinander. Die überlieferten Tragödien
bezeugen es; auf andere Weise die damals
erfundene Geschichtsschreibung. Letztlich hat die moderne, kritische Wissenschaft, die Europa in späteren Jahrhunderten hervorbrachte, in diesem unerschrockenen Infragestellen ihren Ursprung.
Ein anderes Zeugnis stellt die Bildhauerkunst dar, die ihrerseits ungeahnte Möglichkeiten sich erschloß. Sie sah sich vor
dem Problem, von den Göttern, wie man
sie jetzt verstand, ein Bild zu formen und
den Menschen zu begreifen, dessen ganze
Ungeheuerlichkeit selten so deutlich empfunden wurde wie in dieser Zeit, da man
immer wieder neue Grenzen zu überschreiten versuchte.
Kurz gesagt, waren es ungeheure Spielräume, die sich damals in Athen auftaten.
Der Mensch wurde (im Rahmen der Poliswelt) Herr über seine politische Ordnung. Alles mögliche schien änderbar,
bloße Konvention, Sache der Willkür zu
sein, was die Sophisten geistvoll durchspielten. Woran konnte man sich halten?
Sokrates fand, er wisse nur, daß er sozusagen nichts wisse. Er stellte die Frage
nach dem Gerechten, bohrend und erbarmungslos.
399 v. Chr. Der Philosoph Sokrates,
Lehrer Platons, wird wegen Gottlosigkeit und Jugendverführung mit
dem Schierlingsbecher hingerichtet
431 v. Chr. Ausbruch des Peloponnesischen Krieges (bis
404) – Athen unterliegt Sparta
um 420 v. Chr. Der Arzt Hippokrates von Kos lehrt Kranke
ohne religiöse Beschwörungen, allein mit erprobten Heilmitteln zu behandeln und gilt
seither als Begründer der
wissenschaftlichen Medizin
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Tod des Sokrates (Gemälde
von Jacques-Louis David)
387 v. Chr. Platon gründet die Akademie
338 v. Chr. König Philipp II. von Makedonien unterwirft ganz Griechenland
DIMITRI MESSINIS / AP
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Olympisches Feuer*: Menschenbildung im Wettstreit
Die Menschen genossen eine Freiheit
wie selten, zu handeln, zu gestalten, zu erkennen. Was umgekehrt hieß: Man stellte
in Frage und sah sich in Frage gestellt, in
nahezu allem, worauf man gründete. Eigentlich ein Anlaß zu verzweifeln – was
auch nicht wenige taten. Insgesamt jedoch
geschah das Gegenteil. Was er tat und erfuhr, wollte der Athener auch in seinen
Konsequenzen verstehen; wollte sich Rechenschaft darüber ablegen, was es bedeutete. Wollte etwa das Zufällige erkennen, die Verblendung, in der Menschen so
oft gefangen sind. Was sich angesichts
schwieriger Entscheidungen an ethischen
Problemen auftat, an inneren Konflikten
und Aporien, wollte zumindest exemplarisch dargestellt werden.
Künstler, Dichter und Philosophen vertieften die Fragen eher, als daß sie sie beantwortet hätten. Nichts Schlechtes gebe
es, hieß es etwa, was nicht irgendeinem
* Am 18. November 2001 in Olympia.
312 v. Chr. Bau der ersten
Römerstraße von Rom nach
Capua, der Via Appia
um 300 v. Chr. Euklid verfasst
in Alexandria ein bis in die
Neuzeit gültiges Lehrbuch der
Geometrie
287 v. Chr. Die Lex Hortensia
in Rom erhebt Volksentscheide (Plebiszite) in den Rang allgemein gültiger Beschlüsse
264 – 241 v. Chr. Erster Punischer Krieg zwischen Rom und
Karthago, das in der Folge auf
Sizilien, Sardinien und Korsika
verzichten muss
Volk als ein Gutes erschiene. Was also war
das Gute? König Kreon in der „Antigone“
wollte alles vernünftig machen und steigerte sich in schlimmste Irrtümer. Wie das
kam, konnte man sehen. Wie schwierig
das rechte Entscheiden, auch. Aber wie
sollte man darüber hinauskommen? Und
vor allem: Noch die letzte Ratlosigkeit
wurde in Bildern, in Mythen, in einer
Form eingefangen, die die damalige Kunst,
Geschichtsschreibung, Intellektualität bis
in die Gegenwart zu einer unerschöpflichen Quelle der Inspiration gemacht hat;
Ausdruck zugleich einer neuen Souveränität des Menschen.
Dazu war doch wohl nur ein Volk imstande, das es gewohnt war, alles Wesentliche unter sich auszutragen, in weit getriebener Rationalität noch dem Chaotischen auf den Leib zu rücken und es in
Formen zu zwingen; und alle Ausgesetztheit und Freiheit nicht nur auszuhalten,
sondern geradezu zu
wollen. Ein Volk, das
heißt nicht jeder einzelne, aber doch viele und im klassischen Athen die meisten.
Das ist es, was dafür spricht, daß schon damals Europa begann.
Höhe- und Wendepunkt erreichte die
Bewegung im Peloponnesischen Krieg
(431 bis 404), den eine Koalition unter
Spartas Führung begann, um Athens Herrschaft zu brechen. Lange blieb die Stadt
überlegen, griff gar kühn immer weiter
aus, bis ihre Kräfte hoffnungslos überfordert waren, auch wenn sie das lange nicht
hat glauben wollen.
Athens Reich wurde zerstört. Die Fragen, Antriebe und Wagnisse, aus denen
seine Kultur gelebt hatte, erschlafften. Was
es im fünften Jahrhundert hervorgebracht
hatte, wirkte zwar weiter, aber vor allem
als Bildung (und Bildungsgut). Doch kam
noch etwas anderes hinzu: Das war die
Philosophie Platons, die auf fast allen Feldern, auf denen Philosophen sich künftig
bewegen sollten, die wichtigsten Fragen
aufwarf. Seine Antworten waren in vieler
Hinsicht zeitgebunden, aber wie er seine
Fragen bis zum letzten, bis zur Idee der
Guten und Gerechten vorantrieb, das hat
bis heute aufs stärkste nachgewirkt, und
Entsprechendes gilt von seinem Schüler
Aristoteles.
Politisch blieb es für die Griechen bei
der Polis. Zum Teil konnte man die alten
Ordnungen bewahren, mustergültig in der
neu auflebenden Demokratie Athens.
Doch gab es vielerorts auch stets neue
Verfassungsumstürze. Sie wurden erleichtert durch eine höchst wechselvolle
Außenpolitik.
Denn nachdem Athen einmal außerordentliche politische Spielräume erschlossen hatte, kam die Frage nach der Vormacht im Ägäis-Raum nicht zur Ruhe. Auf
die Dauer war es keine Polis, die sie errang, sondern die Monarchie der Makedonen. Womit ein neues Volk die Geschichte Europas, aber nicht nur die, zu
bestimmen begann. Die Stämme im Nor-
218 – 201 v. Chr. Zweiter Punischer Krieg. Hannibal bedroht
Rom, unterliegt aber am Ende
44 v. Chr. Caesar wird ermordet,
sein Haupterbe wird Octavian
27 v. Chr. Octavian wird erster römischer Kaiser und nimmt den Namen
Augustus (der Erhabene) an
149 – 146 v. Chr. Im
dritten Punischen Krieg
wird Karthago erobert
und zerstört
90 n. Chr. Gegen die Germanen lässt Domitian eine Grenzbefestigung (Limes) errichten
123 v. Chr. Publius Mucius
Scaevola begründet mit
einer umfassenden Darstellung des Zivilrechts die
Rechtswissenschaft
82 v. Chr. Sulla bricht die
Macht der Volkstribunen
und wird Diktator
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Büste des
Caesar
71 v. Chr. Nach dem zweijährigen Aufstand der Sklaven unter
Spartacus werden 6000 Aufrührer an der Via Appia gekreuzigt
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212 n. Chr. Caracalla gibt allen
freien Bewohnern der Provinzen das
römische Bürgerrecht, das Römische Reich wird eine Rechtseinheit
476 n. Chr. Der letzte weströmische
Kaiser Romulus Augustus wird vom
germanischen Heerführer Odoaker
abgesetzt
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ALEXANDER VON MAKEDONIEN
Großkönig und Eroberer –
356 bis 323 vor Christus
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akedonien ist nicht groß genug für
dich“, soll der Makedonierkönig
Philipp II. seinen tatendurstigen Sohn angestachelt haben. Der nahm es als Auftrag: Gleich nach dem Tod des Vaters
schwang sich Alexander III. zum Heerführer auf und marschierte ostwärts. Der Expansionsdrang machte ihn zum frühen
Vorbild späterer europäischer Eroberer wie
Napoleon und Hitler. Alexander, später der
Große genannt, galt als ungestümer Anführer. Beim Erstürmen einer indischen
Stammeshauptstadt enterte er im Alleingang die Mauer und konnte von seinen
nachfolgenden Soldaten nur mit Mühe
den der Ägäis sprachen
zwar griechische Dialekte, doch hielten die Griechen sie für Barbaren.
Schließlich hatten sie an
ihrer Kultur fast keinen
Anteil, das Polisleben
war ihnen fremd. Dafür
boten sie ein beachtliches militärisches Potential, wenn man ihre
Kräfte einmal zu einen,
zu organisieren und einzusetzen wußte.
Als der MakedonenKönig Philipp II. das in
großem Stil tat, konnte
er die ganze Nordküste
der Ägäis samt dem heutigen Bulgarien unter
seiner Herrschaft zusammenfassen und zugleich die Hegemonie
über die Griechen erringen. Schließlich scheint
es in der Konsequenz Schlacht bei Issos*: Den Persern ihr Reich genommen
seiner Expansionspolitik
gelegen zu haben, den Persern zumindest der in die östlichen Satrapien des PerserTeile Kleinasiens (mit den dortigen Grie- reiches geführt. Es drängte ihn aber auch
chenstädten) zu entreißen. Dafür sprach ans Ende der Welt. Doch am Hyphasis (im
nicht zuletzt, daß Philipp so seinen Pandschab) meuterten die Truppen. Es
Führungsanspruch gegenüber den Grie- folgte ein entbehrungsreicher Rückzug
chen legitimieren konnte. Nur kam er durch Wüste und Bergland. Kaum zurück
nicht mehr dazu, da er einem Anschlag in Babylon, starb der König.
erlag (336).
Das auf lange Sicht bedeutendste ErSein Sohn Alexander sollte den Faden gebnis dieses Eroberungszugs bestand daraufnehmen. 22 Jahre war er alt, rechnete in, daß sich griechische Kultur weit in den
die mythischen Gestalten Herakles und Orient, noch über das heutige Afghanistan
Achill zu seinen Vorfahren und hatte sich hinaus, ausbreitete. Denn es wurden zahlals Heerführer schon glänzend bewährt.
reiche griechische Städte gegründet. Sie
Warum sollte es nicht möglich sein, den bildeten zwar nur Inseln im fremden Land,
Persern ihr Reich zu nehmen? Es stand doch ging eine gewisse Ausstrahlung und
nicht zum besten um dessen Zusammen- Anziehung auch auf die Einheimischen
halt; ein griechisches Heer war schon ein- von ihnen aus. Es entstand eine griechische
mal, und ziemlich mühelos, tief in ihr Herr- Ökumene, die sich zugleich für viele und
schaftsgebiet vorgedrungen. So könnte es vieles aus dem Orient öffnete.
durchaus sein, daß der junge König schon,
Während derart im Osten die Welt neu
als er die Grenzen zwischen Europa und eingeteilt wurde, wuchsen im Westen des
Asien überschritt, den Plan hatte, das Mittelmeers neue Mächte heran. Syrakus
ganze Perserreich zu erobern. Jedenfalls gewann eine Vormachtstellung auf Siziliwar er der erste große Eroberer aus Euro- en, in der Abwehr Karthagos, der phönipa, der in Asien, der in
einen anderen Erdteil
E U R O P A S E R B E
einfiel, Vorbild für viele,
die ihm folgen sollten.
Die Wissenschaften
Leicht und rasch kam
Alexander voran, siegte
• Auf der Suche nach dem göttlichen Ursprung aller Dinge
unter anderem bei Issos
entdeckten die Griechen Gesetzmäßigkeiten in der Natur:
(333), zog nach Ägypten,
Mathematische wie philosophische Ansätze zielten stets auch
schlug den Perserkönig
auf die Harmonie der Welt. Eine klare Trennung der Disziplinen
bei Gaugamela in Mesofehlte, dennoch gelangen Durchbrüche: Der Philosoph
potamien und setzte sich
Demokrit nahm das Wissen über die Existenz von Atomen
an seine Stelle.
vorweg. Die Geometrie des Euklid, der um 300 vor Christus
Die Verfolgung des
von der Astronomie bis zur Musiktheorie forschte, gilt bis
Großkönigs hat Alexanheute. Pythagoras führte eine Schule über Philosophie und
Ethik – und fand zugleich Zahlengesetze, etwa das Seitenverhältnis beim rechtwinkligen Dreieck (a2+b2=c2). Der grie* Gemälde „Die Alexanderchische Weg, durch rationales Denken eine Theorie zu begrünschlacht“ von Albrecht Altdorfer
den, bestimmt seither Europas wissenschaftliche Methodik.
(1529).
Alexander
schwer verletzt geborgen werden. Mit 31
Jahren regierte Alexander ein Weltreich –
jedenfalls nach damaligem Maßstab.
Vom Mittelmeer bis nach Indien verbreitete er die hellenische Kultur – antike Globalisierung. Dafür schien Alexander schon
durch seine Erziehung gerüstet: Sein Vater
hatte ihn durch den Athener Philosophen
Aristoteles ausbilden lassen. Zwei Jahre
lang vermittelte der in der Abgeschiedenheit eines makedonischen Dorfes dem
Thronerben seine Lehren über Ethik, Kunst
und Wissenschaften.
Doch der Schliff des Meisters hielt nicht
lange. Alexander entpuppte sich als ruhmsüchtig und brutal, auch darin schlechtes
Vorbild seiner europäischen Nachahmer.
Städte ließ er niederbrennen, Gefangene
in Massen abschlachten, gute Freunde töten. Sein Hofstaat entfaltete sich derweil
orientalisch prachtvoll, einschließlich Harem und Eunuchen, Orgien und Intrigen.
Historiker und Dichter ließen sich den
Weltmythos „Alexanders des Großen“ dennoch nicht trüben. Auch echte Fälscher
nahmen an der Verklärung des mit 33 Jahren in Babylon am Fieber gestorbenen Helden teil. Die dem königlichen Freund und
Hofschreiber Kallisthenes zugeschriebene
Ruhmesbiographie muß aus fremder Feder stammen: Den angeblichen Autor hatte Alexander als unliebsamen Kritiker beseitigen lassen.
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EUROPAS FERNE FUNDAMENTE
Rh ein
zischen Kolonie im heutigen
Tunis, die den westlichen
BRITANNIEN
Vom Stadtstaat zur Weltmacht
Teil der Insel beherrschte.
Londinium
Das Römische Reich ...
Nicht viel später trat Rom
GERMANIEN
auf den Plan. Ob die Zu... um 133 v. Chr.
... um 300 v. Chr.
stände in Italien besonders
Limes
Lutetia BELGIEN
labil, ob Rom und vielleicht
... um 200 v. Chr.
... um 117 n. Chr.
D o nau
einige andere Städte oder
Stämme besonders aggresGALLIEN
siv waren, ist schwer zu
entscheiden. Jedenfalls hatte die Stadt spätestens im
SCHWARZES
DALMATIEN
vierten Jahrhundert eine
MEER
Massilia
HISPANIEN
THRAKIEN
mächtige Dynamik nach
Rom
Byzanz
außen entfaltet. Wo immer
MAZEDONIEN
Konflikte entstanden, pflegNeapolis
te die eine Seite Rom zu
Hilfe zu rufen. Und regelKarthago
mäßig kamen die Römer
Athen
nicht nur, sondern sie blieSYRIEN
AFRIKA
ben auch.
Es spielte sich ein, daß
M I T T E L M E E R
sie, sobald sie irgendwo Fuß
JUDÄA
Alexandria
gefaßt hatten, die Notwendigkeit verspürten, sich dort
weiträumig abzusichern.
ÄGYPTEN
Nach innen geschah das
gern durch Anlage von Ko500 km
lonien oder den Bau von
Straßen. Nach außen mündete es über kurz oder lang
in Auseinandersetzungen mit anderen, fer- sich mitunter eine Zeitlang mit indirekter großzügig ganzen Städten sein Bürgerrecht verlieh. Im Unterschied vor allem
neren Mächten, mit denen die Römer in Herrschaft hatte begnügen wollen.
272 erstreckte sich Roms Herrschafts- zu den demokratischen Griechen hatte es
Berührung gekommen waren. Kaum ein
Krieg, der nicht mit einer Eroberung ge- bereich auf Italien, abgesehen von der Po- nichts gegen die Ausweitung der eigenen
endet hätte. So daß der Herrschaftsbe- ebene. 264 begann schon der Konflikt mit Gemeinde. Diejenigen Römer, auf die es
Karthago, in dem Rom Sizilien gewann. ankam, die Adligen also, wurden immer
reich weiter wuchs.
Wenn Rom es denn überhaupt versucht Am Ende des Jahrhunderts waren Sardi- mächtiger, je mehr die Bürgerschaft
hat, so war es doch nie in der Lage, ein nien, Korsika, Spanien dazugekommen, wuchs, die sie regierten.
Gleichgewicht mit anderen Mächten her- auch Teile Norditaliens. Hundert Jahre
Endlich, nach den zwei großen Kriegen
zustellen. Es spricht viel dafür, daß es sei- später beherrschte Rom fast das ganze gegen Karthago (264 bis 241, 218 bis 201),
ne Außenpolitik als defensiv verstand, von Mittelmeer vom Westen Kleinasiens bis war den Römern kein Gegner mehr gestarken, überstarken Sicherheitsinteressen Gibraltar.
wachsen. Und es hat sich in ihrem ImpeZudem erweiterte es mehrfach die ei- rium über Jahrhunderte hinweg wenig
bestimmt. Aber das lief eben in der Regel
auf Expansion hinaus, selbst wenn man gene Bürgerschaft, indem es relativ Widerstand geregt. Dabei war ihre Herrschaft, vor allem die über die außeritalischen Provinzen, lange Zeit, obwohl und
weil sie nicht sehr intensiv war, vielfach
trickreich das Werk des Toten: Erst spaltete
DIE GRACCHEN
von Willkür und Ausbeutung gekenner die Aristokratie, indem er die zuvor dem
Römer und Reformer
zeichnet.
alten Adel vorbehaltene Besetzung der RichNicht nur die Mittelmeerwelt, auch weiterämter dem neureichen Ritterstand überte Landstriche im Norden wurden rötrug. Dann vollzog er die Landreform, senkte
wei adlige Umstürzler waren die letzte
misch: Gallien bis an die Nordsee, Britanper „Getreidegesetz“ den Kornpreis für die
Chance der römischen Republik. Die
nien bis über die Grenzen Schottlands hinArmen und wollte in den von Rom bedrohte zu scheitern, weil die alte Aristokraaus, Teile Germaniens, Pannoniens und
herrschten italischen Gebieten sogar das
tie dank Privilegien und ausuferndem Landder Balkan, bis weit ins heutige Rumäbesitz den Staat beherrschte und durch ihre Bürgerrecht einführen. Auch Gajus wurde
nien hinein – ein Gebiet,
Sklavenheere – allein auf Delos wurden täg- getötet. Doch es war
größer als die heutige Eulich bis zu 10 000 Menschen gehandelt –
wie ein Modell für späropäische Union.
die Bauern verdrängte. Da schlug der Volks- tere Staatskrisen EuroBemerkenswert an dieser
tribun Tiberius Sempronius Gracchus im
pas: Der sozial aus
Reichsgründung war insbeJahr 133 vor Christus vor, die Latifundien
den Fugen geratenen
sondere, daß sie von einer
auf 500 Morgen zu stutzen und den überRepublik machten –
Republik ausging. Um 500
schüssigen Boden an die Besitzlosen zu ver- bald nach dem Tod
hatte das römische Patriziat
teilen. Es war nicht mehr als ein gelinder
der Gracchen – römidas etruskische Königtum
Vorgeschmack auf künftige europäische Re- sche Diktatoren ein
gestürzt und eine Adelsvolutionen, aber die Oligarchie schlug brutal Ende.
herrschaft begründet. Ganz
zurück – und ermordete Gracchus. Doch ein
anders als der griechische
Jahrzehnt später wurde sein Bruder Gajus
Ermordung des
Adel (außerhalb Spartas) hat
zum Volkstribun gewählt und vollendete
Tiberius Gracchus
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DEFD
Dekadentes Rom*: Nach 400 Jahren des Aufstiegs eine lange Agonie
sich der römische Adel auf die Dauer
stark für das eigene Gemeinwesen und
seine Politik engagiert. Er schien allein
befähigt zu sein, die Gemeinde vor den
Göttern zu vertreten, war relativ diszipliniert und sicherte mit der Zeit sogar institutionell eine erstaunliche Balance zwischen Freiheit und Disziplin.
Vor allem war er bereit zu leisten, was
Macht am besten stabilisiert: daß man sie
nicht nur ausübt, sondern zugleich ihrer
Bewahrung dient. Die breite Bürgerschaft
war durch Klientel- und Freundschaftsverhältnisse an die Adligen gebunden.
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Das römische Recht
• Sie kannten Eigentum und Zivilklage,
gesetzliche Erbfolge und Gütertrennung; Straftäter wurden vor Geschworenengerichten abgeurteilt, der Mord wurde gesetzlich geahndet wie
die Erpressung, die Geldfälschung oder die Verletzung des Persönlichkeitsrechts. Rom hatte
sein Gesetzessystem schon im fünften vorchristlichen Jahrhundert begründet und seitdem
derart ausgefeilt, daß es die Rechtsentwicklung
in Mitteleuropa bis in die Neuzeit prägte. Die
vom Kaiser Justinian angelegte Sammlung römischen Rechts („Corpus iuris civilis“), hatte Gesetzeskraft in Rom. Sie wurde im Mittelalter weiterentwickelt und bildete auch die Basis des
„Gemeinen Rechts“ in Deutschland. Dessen römisch-rechtliche Grundsätze waren teilweise
noch gültig – besonders im Bereich des Erbrechts und des Grundstücksrechts –, als 1900
das Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft trat.
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Das bedeutete, daß die Bürger die Adligen
in ihre Ämter wählen, ihnen also zu
Macht und Einfluß verhelfen mußten, daß
aber die Adligen sich auch für die Bürger
einzusetzen, sie etwa vor Gericht zu unterstützen hatten. Zusätzlich fanden die
Bürger, zumal wenn viele von ihnen in besondere Not geraten waren, Fürsprecher
in den Volkstribunen, den Beauftragten
der Plebs, in denen eine gewisse Opposition institutionalisiert war.
Der römische Bürger hatte also durchaus politische Rechte, doch waren die
Spielräume für deren Ausübung sehr begrenzt. Das Stimmrecht bei den Wahlen
war ungleich, und Entscheidungen des
Volkes über Gesetze hingen davon ab,
daß ein Magistrat, zum Beispiel Prätor
oder Konsul, gewillt war, einen Antrag zu
stellen. Das war, sofern es sich um Streitfälle handelte, eher selten, da der Senat
sich dem zumeist erfolgreich widersetzte.
Um so wichtiger waren die Freiheitsrechte, die der römische Bürger genoß, und
seine Ansprüche auf Unterstützung. Die
heutige Europäische Union, in der die
Bürger nur eingeschränkt mitwirken
können, schließt eher an das römische
Bürgerrecht an als an das griechische,
welches sich in Teilhabe und Mitsprache
manifestierte.
In diesem Zusammenhang ist die wohl
wichtigste Schöpfung Roms zu sehen, sein
Recht. Wo auf den Schutz, die Vertretung
von Bürgern, nicht zuletzt vor Gericht,
* Szene aus dem Film „Messalina – Kaiserin und Hure“
von Bruno Corbucci (1980).
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EUROPAS FERNE FUNDAMENTE
Christenverfolgung unter Kaiser Nero*: Die neue Religion nahm Griechisches und Römisches in sich auf
so viel ankam, mußte das Recht objektiviert werden, waren Rechtsansprüche
immer feiner und sorgfältiger gegeneinander abzuwägen. Freilich kam noch etwas anderes hinzu.
Die römische Ordnung war nämlich eine
„gewachsene Verfassung“. Nur weniges
regelten Gesetze. Das meiste ergab sich
aus dem Herkommen. Das heißt zunächst:
Im stets neuen Ausgleich von Situation zu
Situation reproduzierten sich die allgemeinen Regeln, man folgte bewährten Beispielen, gelegentlich entstanden auch
neue. Das heißt aber auch: Diese Ordnung
beruhte letztlich auf dem Vertrauen, daß
die Magistrate sich an die ungeschriebenen
Regeln hielten und daß man sie nötigenfalls dazu drängen konnte. So konnten die
Prätoren, die römischen Gerichtsmagistrate, so viel Selbständigkeit erlangen, daß
sie die Entwicklung des Rechts zusammen
mit den Juristen, und das waren oft führende Senatoren, von sich aus bedachtsam
weiterzuführen vermochten. Letztlich auf
diesem Wege wurde das Recht zur Sache
einer Wissenschaft, der einzigen, die Rom
zum europäischen Erbe beisteuerte.
Rund 400 Jahre ist die republikanische
Ordnung im wesentlichen gleich bewahrt
worden. Zuletzt freilich geriet sie in eine
lange Agonie. Das alte Bauernheer war
überfordert, schwere soziale Konflikte brachen aus. Die Republik wurde mit dem
Weltreich nicht mehr fertig.
Die akute Krise (133 bis 30 vor Christus)
gehört zu den faszinierendsten Epochen
der Weltgeschichte. Die beiden Gracchen
als Volkstribunen, die Konsuln Sulla und
Pompeius, der junge Cato, der Imperator
* Gemälde „Fackeln des Nero“ von Henryk Siemiradzki
(1876).
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Caesar, schließlich sein Mörder Brutus, allesamt höchst markante, ausgeprägte Persönlichkeiten, boten alles auf zum Kampf:
Volksversammlung gegen Senat, ein Heerführer gegen den anderen und vielerlei
Schindluder, das mit der Verfassung getrieben wurde.
Schließlich verstand es ein genialer
Staatsmann, der letzte Sieger im Bürgerkrieg, Augustus, seine umfassende Macht
so weit zurückzunehmen, daß eine republikanische Fassade wieder aufgerichtet
werden konnte. Das Militär blieb in seiner Hand, und die wichtigsten Politiker
waren von ihm abhängig. Die Verwaltung
der Provinzen sowie die Rechtspflege
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Das Imperium
• Eigentlich galt der Begriff, abgeleitet
vom Verb „imperare“ (befehlen), nur für
den Amtsbereich Roms, schloß dann die
Hoheitsgewalt in eroberten Ländern ein,
und schließlich stand das vom Historiker
Sallust (86 bis 35 vor Christus) benannte
Imperium Romanum für das ganze zusammengeraubte Weltreich, dessen kaiserliche Herrscher sich Imperatoren nannten.
So wurde die Machtentfaltung der Caesaren allenthalben zum erstrebten Vorbild
späterer Reichsgründer; Napoleon I. ließ
sich als Empereur huldigen, auch England
entlieh den Namen seines riesigen Empire
von der römischen Weltherrschaft. Zum
Schimpfwort geriet der Imperialismus
durch Europas Mächte des 19. Jahrhunderts, die sich beim kriegerischen Wettlauf um die Ausbeutung überseeischer
Machtbereiche aufrieben und dabei unbedeutend wurden – wie das alte Rom.
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und -entwicklung wußte er auf den richtigen Weg zu bringen. Und das für gut
zwei Jahrhunderte.
Insgesamt blieb die Erschütterung der
Tradition in der Krise begrenzt. Letztlich
sah sich das Herrschaftssystem nicht in
Frage gestellt. Aber unsicher waren die
Römer durchaus und fanden vieles problematisch. Schon seit dem dritten Jahrhundert vor Christus wirkten griechische
Einflüsse auf Rom. Jetzt öffnete sich die
Oberschicht ihnen immer weiter. Cicero
übertrug die Philosophie der Griechen ins
Lateinische. Dichtung, Bildhauerkunst,
Architektur inspirierten sich dort. Und
griechische Lebensform begann die Welt
der Muße, der Villen zu durchdringen. Ein
neuer Begriff des Menschlichen kam auf,
der für spätere Zeiten in Europa das Bild
einer humanistischen Antike prägte. Erstmals ist von der Würde des Menschen
die Rede.
Was in der späten Republik eher wild
geblüht hatte, wurde unter Augustus zu einer klassizistischen Welt der Bilder und
der Sprache. Die Griechen erlebten in
Rom gleichsam ihre erste Renaissance. In
der Kultur des Reiches durchdrangen sich
künftig Griechisches und Römisches, zumal in der Westhälfte. Rom entfaltete eine
erstaunliche Assimilationskraft. In dieser
Form weitete die griechisch-römische Kultur sich aus und verwurzelte sich tiefer, indem sie von immer mehr Menschen getragen wurde.
Und das von Augustus neu begründete
Imperium hatte Glück: Es gab wenige
Gegner an seinen langen Grenzen. Die
Armeen, die sie schützten, waren kleiner
als die Bundeswehr: wenig Steuern also.
Ein sicherer Frieden am Mittelmeer, so
lange wie niemals sonst. Und ein immer
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waren die Gegengewichte im Adel, auch
in der Kirche von vornherein stark und
sollten es lange bleiben.
Und es gab stets mehrere Reiche und
Fürstentümer nebeneinander, mit einer
gemeinsamen Kirchen- und Gelehrtensprache, dem Latein. So daß relativ viel
Konkurrenz und Freiheit erwachsen
konnten, immer wieder neue Spielräume,
neue Alternativen, neue Probleme und
neue Lösungen – auf jenem europäischen Sonderweg, der in der Antike
begann, um sich bis ins 20. Jahrhundert fortzusetzen.
Was man aus diesem Erbe
machte, war jeweils durch die
eigene Zeit bedingt. Die späteren Europäer gingen in vielem ganz andere Wege.
Aber das wäre kaum möglich gewesen ohne die antiken Voraussetzungen. Ohne
jene Epoche, in der Menschen erstmals eine Kultur
frei von Herrschaft aufbauen konnten, voller Unsicherheit zwar, aber auch in
der Bereitschaft, keiner Frage auszuweichen. Das war
eine neue Form menschlicher Existenz. Freiheit,
Bürgerverantwortung und
-gleichheit, Demokratie und
römisches Recht sind nur
das eine Erbe. Philosophie, Kunst, Literatur haben wahrscheinlich über die Jahrhunderte stärker gewirkt, unter
anderem, um den Boden zu bereiten, auf
dem das Politische ganz neu entstehen
konnte, um die Menschen zu vielem instand zu setzen, wozu sie sonst unfähig
gewesen wären, um sie überhaupt erst
zu bilden.
Dazu kamen als Gegengewicht Roms
Recht, seine Republik, sein Sinn für Freiheit und Herrschaft. Und dazu stieß die
neue Religion der Christen, die Griechisches wie Römisches in sich aufnahm, vertiefte und weitergab.
Die Erbschaft war und ist riskant. Sie
hat auch nach Auschwitz geführt. Das antike Erbe könnte aber heute auch helfen,
neue Kräfte freizusetzen.
CHRISTIAN MEIER
war Professor für
Alte Geschichte an
der Universität
München und ist
Präsident der Deutschen Akademie
für Sprache und
Dichtung. Meier,
72, veröffentlichte unter anderem eine
Caesar-Biographie und eine Darstellung Athens im fünften Jahrhundert.
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W. M. WEBER
dichter werdender Handel, blühender
Wohlstand, auch wachsender Tourismus
wurden möglich.
Im letzten Drittel des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts indes nahm der
Druck auf die Grenzen zu. Bald darauf
war Rom einem Zweifrontenkrieg ausgesetzt, da zusätzlich zu der Bedrohung aus
dem Norden im Osten, auf persischem
Boden, das aggressive Reich Imperator Augustus
der SassaniSicherer Frieden
den entstand.
Der
Staat
brauchte viel
mehr Soldaten, viel
mehr Steuern, viel mehr
Beamte. Auch mehr Kaiser, denn
der eine in Rom schien oft zu weit
entfernt zu sein, um für die Festigkeit der Front und den Nachschub gebührend zu sorgen.
Das Reich wurde neu organisiert, geteilt, vereinigt und zerfiel schließlich in eine östliche
und eine westliche Hälfte. In die
westliche drangen vielfach Germanenstämme ein, zum Teil wurden sie bewußt angesiedelt, damit
man auf ihre militärischen Dienste
zurückgreifen konnte. Schließlich ging
das westliche Reich unter (476), während im Osten Byzanz noch an die
1000 Jahre weiterlebte, in einer lang sich hinziehenden
Spätantike. In Rom residierte nur mehr ein Bischof,
der Papst.
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Damit sind wir bei einer anderen Geschichte; die zur Zeit des Kaisers Augustus
in Galiläa begonnen hatte. Die Lehre Jesu
war auf jüdischem Boden erwachsen.
Doch fand sie Sprache, Ausdruck, Verständnis und Verbreitung vornehmlich in
der griechisch-römischen Welt. Sosehr das
Christentum wesentliche Züge der klassischen Antike verneinte: Es gründete dennoch weitgehend in ihr. Ihr verdankte es
seine Theologie, die die Ansätze und Methoden antiker Philosophie aufnahm. Was
immer zeitweise verlorenging: Hier wurden antike Potenzen kontinuierlich weitergegeben, bis sie, nach und nach, ihre
Fruchtbarkeit im Abendland ganz neu
entfalten konnten.
Auf vielen Wegen hat die Antike das
mittelalterliche und neuzeitliche Europa
tief beeinflußt. Als unmittelbare Tradition,
vor allem innerhalb der Kirche, als immer neu aufzurufendes Erbe, als Erinnerung an das große, mächtige Römische
Reich, als Mythos, als Anspruch. Und
nicht zuletzt, weil von Rom her die Konstellationen vorgegeben waren, unter denen die Germanen ihre Reiche bilden sollten: so groß nämlich, daß ihre Könige,
darauf gar nicht vorbereitet, zu schwach
waren, um sie von einem Zentrum aus
organisatorisch zu durchdringen. Folglich
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