Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg Fakultät Wirtschaft und Soziales Department Soziale Arbeit Master-Thesis Die Bedeutung urbaner öffentlicher Räume für die Sozialisation von Jugendlichen -Eine handlungsorientierte Verbindung der Theorien von Alexej N. Leontjew und Pierre Bourdieu für die Soziale Arbeit- vorgelegt von Thorben Struck Hamburg, im August 2011 1. Prüferin: Prof. Dr. Marion Panitzsch-Wiebe 2. Prüferin: Prof. Dr. Jutta Hagen Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis .................................................................................................. iii 2.1 1 Einleitung................................................................................................................. 1 2 Theoretische Grundlagen ....................................................................................... 5 Die Aneignungstheorie von Alexej N. Leontjew ............................................................. 5 2.1.1 Die Rezeption und Weiterentwicklung der Aneignungstheorie in der Sozialen Arbeit 10 2.2 Die Soziologie von Pierre Bourdieu ............................................................................... 12 2.2.1 Die Kapitaltheorie ................................................................................................... 12 2.2.2 Die Habitustheorie .................................................................................................. 16 2.2.2.1 Habitus und Klasse .......................................................................................... 17 2.2.2.2 Habitus und Geschlecht ................................................................................... 22 2.2.3 2.3 Exkurs: Der politische Kampf im Werk Pierre Bourdieus ..................................... 24 Verbindung der theoretischen Ansätze und Konsequenzen ........................................... 27 3 Jugend im urbanen Raum.................................................................................... 29 3.1 Welches Raumverständnis liegt einer Analyse zugrunde?............................................. 29 3.2 Die Lebensphase Jugend in der Klassengesellschaft nach Bourdieu ............................. 30 3.3 Des Verhältnis von sozialen und physischen Räumen ................................................... 35 3.4 Mechanismen und Folgen von Gentrifizierungsprozessen ............................................ 38 3.5 Der Einbezug öffentlicher Räume in die Lebenswelt von Jugendlichen ....................... 41 4 4.1 Aneignungshandlungen von Jugendlichen im urbanen Raum ......................... 44 Die räumlichen Aneignungshandlungen von Jugendlichen in der postfordistischen Großstadt ................................................................................................................................... 44 4.2 Unterschiede in den räumlichen Aneignungshandlungen von weiblich und männlich sozialisierten Jugendlichen ....................................................................................................... 48 5 Die Aneignungshandlungen der jugendlichen Bewohner des Kieler Stadtteils Gaarden-Ost .................................................................................................................. 54 5.1 Methodische Vorgehensweise der Sozialraumanalyse................................................... 54 i 5.2 Die räumliche und soziale Struktur von Gaarden-Ost.................................................... 55 5.3 Aneignungsmöglichkeiten für Jugendliche im Stadtteil und darüber hinaus ................. 64 5.4 Methodische Vorgehensweise des qualitativen Experteninterviews.............................. 68 5.4.1 Das Erhebungsverfahren ......................................................................................... 68 5.4.2 Das Interview .......................................................................................................... 68 5.4.3 Das Auswertungsverfahren ..................................................................................... 69 5.5 Konkrete Aneignungshandlungen von Jugendlichen im Sozialraum............................. 69 6 Konsequenzen für die praktische Soziale Arbeit ............................................... 77 7 Literaturverzeichnis ............................................................................................. 82 8 Anhang ..................................................................................................................... 1 8.1 Transkript des Interviews ................................................................................................. 1 8.2 Stadtteilkarte Gaarden-Ost (Stadtvermessungsamt Kiel 2011, Ausschnitt der Stadtkarte 1:5000) ...................................................................................................................................... 36 ii Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Raum der sozialen Positionen (schwarz, Rahmen) und Lebensstile (rot) verändert nach Bourdieu 1982, S. 212 f. .......................................................................................... 19 iii EINLEITUNG 1 EINLEITUNG Der öffentliche urbane Raum ist in der heutigen Zeit von starken Veränderungen betroffen. Unter Stichpunkten wie Gentrifizierung, Vertreibung und Segregation hat die Debatte um diese räumlichen Veränderungen längst die akademischen Räume verlassen und hat Einzug in eine kritische Öffentlichkeit gefunden. Gerade in den urbanen Ballungsräumen schließen sich immer mehr Menschen zu Interessensgruppen zusammen und kritisieren die aktuelle Stadtentwicklung aus ihren spezifischen Blickwinkeln. Unter dem Schlagwort des „Recht auf Stadt“ ist es inzwischen gelungen, diese unterschiedlichen Interessensgruppen zu vereinen und ein gemeinsames politisches Vorgehen zu koordinieren. Auch die Soziale Arbeit bekommt die aktuellen sozialräumlichen Entwicklungen und die hiermit einhergehenden Auswirkungen auf die Lebenswelt der Adressatinnen und Adressaten hautnah zu spüren. Im Sinne einer kritischen Parteilichkeit für unterdrückte und ausgegrenzte Menschen sollte sie sich einer kritischen und selbstbewussten Positionierung nicht verschließen. Hierbei kann sich die Wissenschaft Soziale Arbeit nicht alleine auf eine emotionale Betroffenheit bei der Betrachtung und Bewertung der aktuellen sozialräumlichen Entwicklungen in den Großstädten beschränken, sondern braucht Theorien und Methoden, welche eine wissenschaftliche Einordnung und Kritik erlauben. Als Handlungswissenschaft muss die Soziale Arbeit auch Konsequenzen für ein praktisches Handeln im Sinne der Verhinderung und Bewältigung sozialer Probleme aufzeigen und ergreifen. Insbesondere für Jugendliche stellen die Verdrängung und der Ausschluss aus Räumen eine große Belastung dar. Doch welche Auswirkungen haben diese sozialräumlichen Bedingungen und Veränderungen auf die Sozialisation von Jugendlichen? In der vorliegenden Arbeit gehe ich vor dem Hintergrund des theoretischen Rasters der Theorien von Alexej N. Leontjew und Pierre Bourdieu der Erkenntnisleitfrage nach, welche Bedeutung dem öffentlichen Raum in der Sozialisation von Jugendlichen zukommt. Hieran schließt sich die Frage an, durch welche räumlichen Bedingungen und Prozesse die Entwicklung von Jugendlichen zu einem eigenständigen und kritischen Subjekt, welches den aktuellen Herausforderungen der neoliberalen Gesellschaft gewachsen ist, positiv wie negativ beeinflusst wird. In diesem Sinne stelle ich in Kapitel 2.1 die Aneignungstheorie von Alexej N. Leontjew dar. Wie kaum ein anderer Theoretiker schafft es Leontjew, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in Verbindung mit ihrer materiellen und sozialen Umwelt herauszuarbeiten und hierbei den Fokus auf die Selbstbestimmung des Subjekts in seiner Sozialisation zu legen. Die aktuelle Re- 1 EINLEITUNG levanz der Aneignungstheorie für die Soziale Arbeit und ihre Rezeption innerhalb dieser, stelle ich in Kapitel 2.1.1 heraus. Pierre Bourdieu kann wohl als einer der bedeutendsten Soziologen der letzten Jahrzehnte beschrieben werden. Seine Analyse einer nach Klassen strukturierten hierarchischen Gesellschaft erscheint für die vorliegende Untersuchung, sowie für die Soziale Arbeit insgesamt, als herausragend geeignet, Herrschaftsmechanismen sowie die Entstehung von sozialen Problemen zu erklären. Nach einer Darstellung seiner Kapitaltheorie in Kapitel 2.2.1, wende ich mich in Kapitel 2.2.2 der, für die vorliegende Untersuchung besonders bedeutenden, Habitustheorie zu. Pierre Bourdieu begreift den Menschen nicht als freies, von gesellschaftlicher Determinierung unabhängig handelndes Subjekt. Vielmehr sei der Mensch in seinen Wahrnehmungen, Handlungen und Gefühlen von den Bedingungen seines Aufwachsens und insbesondere von seiner spezifischen Klassenlage geprägt. Diesen Zusammenhang von Habitus und Klassenlage führe ich in Kapitel 2.2.2.1 aus. Jedoch hat Bourdieu in seinen theoretischen Arbeiten nicht ausschließlich vertikale gesellschaftliche Ungleichheiten analysiert. Auch die patriarchale Herrschaft und das gesellschaftliche Konstrukt der antagonistischen Zweigeschlechtlichkeit werden von ihm ausführlich beschrieben. Die Verankerung des hierarchischen Geschlechterverhältnisses in dem Habitus der Menschen und die sich hieraus ergebende symbolische Herrschaft der männlich sozialisierten Menschen zeige ich in Kapitel 2.2.2.2 auf. Insbesondere vor dem Hintergrund der beschriebenen aktuellen politischen Kämpfe um die Gestaltung und Veränderung des urbanen Raumes stellt sich die Frage nach Einfluss- und Veränderungsmöglichkeiten durch die betroffenen Bürgerinnen und Bürger. Auch Pierre Bourdieu hat sich mit der Frage nach der Möglichkeit der Gesellschaftsveränderung beschäftigt. Seine Ausführungen, welche ich in Kapitel 2.2.4 erläutere, machen die Offenheit in den Verhältnissen deutlich und zeigen Ansatzpunkte der Überwindung von Ungerechtigkeit und Unterdrückung auf. Trotz der jeweiligen analytischen Schärfe und der weitreichenden Anwendungsmöglichkeiten der Theorien von Alexej N. Leontjew und Pierre Bourdieu kann eine Verbindung dieser Theorien neue Sichtweisen eröffnen und theoretische Leerstellen beseitigen. Die Ansatzpunkte für eine Verbindung, sowie die sich hieraus ergebenden Perspektiven führe ich in Kapitel 2.3 aus. Im dritten Kapitel beschäftige ich mich mit der räumlichen Lebenswelt von Jugendlichen im urbanen Raum. Da eine Verbindung der Theorien von Pierre Bourdieu und Alexej N. Leontjew einige Missverständnisse in Bezug auf den Raumbegriff befürchten lässt, räume ich in Kapitel 3.1 diese Missverständnisse aus und lege ein geeignetes Raumverständnis dar. Die Lebensphase Jugend ist im Zuge der aktuellen Veränderung der Arbeitsgesellschaft starken Wandlungen un2 EINLEITUNG terworfen. Diese Veränderungen und ihre Auswirkungen auf die Jugendlichen mache ich in Kapitel 3.2 plausibel. Hierbei lege ich einen besonderen Fokus auf die Reproduktion der gesellschaftlichen Klassen- und Herrschaftsverhältnisse. Eine Verbindung dieser Klassen- und Herrschaftsstrukturen mit den urbanen Räumen erläutere ich in Kapitel 3.3. Insbesondere die soziale Segregation innerhalb des urbanen Raumes aufgrund der gesellschaftlichen Verteilung von Kapital rückt hierbei in den Mittelpunkt der Betrachtung. Diese soziale Segregation wird durch Gentrifizierungsprozesse und die hiermit verbundene Verdrängung von Bewohnerinnen und Bewohnern aus ihren angestammten Quartieren weiter vorangetrieben. Die Ursachen und Folgen dieser Gentrifizierungsprozesse zeige ich in Kapitel 3.4 auf. In Kapitel 3.5 beschäftige ich mich anschließend mit der Nutzbarkeit verschiedener urbaner Räume für die Aneignungshandlungen von Jugendlichen. Nachdem ich in Kapitel 3 ausführlich die Bewältigungsherausforderungen für Jugendliche im urbanen Raum dargestellt habe, beschäftige ich mich in Kapitel 4.1 mit den räumlichen Aneignungshandlungen von Jugendlichen im Verlaufe ihrer Sozialisation. In Kapitel 4.2 werfe ich einen genaueren Blick auf die Geschlechtssozialisation in der patriarchalen Gesellschaft und präsentiere aktuelle Untersuchungen zu dem räumlichen Aneignungsverhalten, insbesondere von Mädchen. Hierbei gehe ich der Frage nach, welche Handlungskompetenzen Mädchen und junge Frauen aufbringen, um den Beschränkungen ihrer Aneignungstätigkeiten in der patriarchalen Gesellschaft entgegenzuwirken. Um die dargestellten theoretischen Abhandlungen zu untermauern und zu ergänzen, schließt sich an den bisherigen Abschnitt der vorliegenden Arbeit in Kapitel 5 ein empirischer Teil an, welcher auf der Grundlage einer qualitativen Untersuchung die Aneignungshandlungen von Jugendlichen aus dem Kieler Stadtteil Gaarden-Ost erforscht und mit Hilfe der oben beschriebenen Theorien analysiert. Hierzu stelle ich in Kapitel 5.1 das methodische Vorgehen einer umfassenden Sozialraumanalyse vor. Im anschließenden Kapitel 5.2 präsentiere ich die räumliche und soziale Struktur des untersuchten Sozialraums anhand mehrerer Sozialraumbegehungen, sowie der verfügbaren statistischen Daten. Unter dem Blickwinkel der Aneignungstheorie gewinnen insbesondere solche Räume an Bedeutung, innerhalb derer sich Jugendliche eigenständig soziale Verhältnisse aneignen können. Diese Aneignungsmöglichkeiten innerhalb des Stadtteils zeige ich in Kapital 5.3 auf. Da es für eine Analyse der Aneignungshandlungen von Jugendlichen jedoch nicht ausreicht, ausschließlich die räumliche und soziale Struktur ihrer Lebenswelt zu beobachten, sondern vielmehr deren Verhalten innerhalb der Räume von Interesse ist, habe ich ein Experteninterview mit einem Sozialarbeiter aus dem untersuchten Stadtteil durchgeführt. Die 3 EINLEITUNG methodische Vorgehensweise des qualitativen Interviews sowie das Auswertungsverfahren schildere ich in Kapitel 5.4. Eine Verbindung der Ergebnisse des Experteninterviews sowie der Erkenntnisse der Sozialraumanalyse habe ich in Kapitel 6 dargestellt und mit den grundlegenden theoretischen Überlegungen aus den Kapiteln 3, 4 und 5 untermauert. Aus den beschriebenen theoretischen Überlegungen und empirischen Untersuchungen ergeben sich vielfältige Konsequenzen für eine sozialraumorientierte Soziale Arbeit. Diese Konsequenzen und Handlungsempfehlungen führe ich abschließend in Kapitel 6 aus. 4 THEORETISCHE GRUNDLAGEN 2 THEORETISCHE GRUNDLAGEN 2.1 Die Aneignungstheorie von Alexej N. Leontjew Die Aneignungstheorie ist von dem sowjetischen Psychologen Alexej Nikolajewitsch Leontjew entwickelt worden und ausführlich in seinem Werk „Probleme der Entwicklung des Psychischen“ dargestellt worden (vgl. Leontjew 1980). Hierbei handelt es sich um einen Sammelband mit Arbeiten aus den Jahren 1933 – 1959 welcher als das Schlüsselwerk Leontjews bezeichnet werden kann, auf dessen grundlegende Überlegungen er in seinen späteren Werken immer wieder zurückkommt. Der am 05.02.1903 in Moskau geborene Leontjew gilt als einer der Begründer der einflussreichen Kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie, welche sich stark auf die Frühschriften von Karl Marx bezieht und eine dialektisch-materialistische Weltanschauung vertritt. Die Aneignungstheorie wurde in Deutschland in den 70er Jahren durch die Umweltpsychologie und ökologische Sozialisationsforschung aufgegriffen. Fast zeitgleich tauchte die Aneignungstheorie auch in der Sozialpädagogik auf, welche versuchte ihre Grundlagen und Methoden auch sozialräumlich auszurichten. Insbesondere der kritische Psychologe Klaus Holzkamp und später der Sozialwissenschaftler Ulrich Deinet waren und sind in Deutschland ausschlaggebend für die (Weiter-) Entwicklung des Aneignungsbegriffes in Psychologie und Pädagogik. (Vgl. Braun 2004, S. 21) Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geriet diese revolutionäre Theorie jedoch wieder weitgehend in Vergessenheit. Michael Winkler sieht den Grund dieser Vergessenheit des Aneignungsbegriffes in der kapitalistischen Systemlogik begründet: „Wo aber der Kapitalismus, allzumal der vermeintlich göttlich inspirierte amerikanischer Provenienz gesiegt hat, werden solche Zugänge schlicht ausgeschlossen. Theorie soll dann alleine auf Daten gestützt sein, welche die Verhältnisse bestätigen, nicht aber Offenheit in diesen zum Thema machen könnten. Dies lässt sich als Grund dafür vermuten, das Aneignung als Begriff wie auch als Theorie in Vergessenheit geraten ist oder gebracht wurde“ (Winkler 2004, S.72). Seiner Ansicht nach müsse das Aneignungskonzept in Anbetracht seiner Herkunft im kritischen Denken diskutiert werden, um sein revolutionäres und emanzipatorisches Potential zu erhalten und nicht als „pädagogisch taugliche Psychotechnik“ (Winkler 2004, S.72) missbraucht zu werden, in welcher sich der Mensch selber zur Leistungs- und Arbeitsfähigkeit erziehen soll. 5 THEORETISCHE GRUNDLAGEN Für ein Verständnis der Aneignungstheorie ist ein Bezug auf die produktive menschliche Tätigkeit und den dieser innewohnende Prozess der Vergegenständlichung unumgänglich. Die schöpferische menschliche Arbeit, an deren Ende das fertige Produkt steht, bestimmt nach marxistischer Auffassung im Wesentlichen das Wesen des Menschen und unterscheidet diesen vom Tier. Um ein Produkt herstellen zu können, ist ein gewisses Maß an Wissen und Erfahrung notwendig. Dieses gesellschaftliche Wissen hat sich im Laufe der Geschichte angesammelt und mit der voranschreitenden Spezialisierung und Verbesserung der Produkte bzw. der zur Erstellung dieser Produkte benötigten Arbeit erweitert und verfeinert. Durch die schöpferische Tätigkeit der Arbeit, hat sich dieses gesellschaftliche Erfahrungswissen somit während der Arbeit in den Produkten vergegenständlicht. Leontjew schreibt hierzu: „In jedem vom Menschen geschaffenen Gegenstand, sei es ein einfaches Werkzeug oder eine moderne elektronische Rechenmaschine, ist die historische Erfahrung der Menschheit enthalten. Zugleich sind in ihm die im Laufe dieser Entwicklung erworbenen geistigen Fähigkeiten verkörpert“ (Leontjew 1980, S.451). Ulrich Deinet macht in diesem Zusammenhang noch auf einen weiteren Punkt aufmerksam, indem er auf den Zusammenhang von menschlicher Arbeit und Umwelt verweist. „Indem die Menschen ihre Lebensmittel, welche zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse notwendig sind, produzieren, greifen sie verändernd in ihre Umwelt ein. Sie schaffen die Mittel ihrer Produktion (z.B. Werkzeuge) und damit im weitesten Sinne ihre Arbeits- und Lebensbedingungen, welche dann wieder die Art und Weise der Produktion, der menschlichen Arbeit bestimmen“ (Deinet 2005, S.29). Die äußeren, in den gesellschaftlichen Räumen vorgefundenen Bedingungen sind somit das Produkt der menschlichen Tätigkeit. Des Weiteren sind in ihnen wiederum die gesellschaftlichen Erfahrungen eingebettet. Umwelt und Individuum bedingen sich demnach gegenseitig. Schon Pestalozzi hatte diesen Umstand erkannt und beschrieb ihn bereits 1797 in dem Buch „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“: „Soviel sahe ich bald, die Umstände machen den Menschen, aber ich sahe eben so bald, der Mensch macht die Umstände, er hat eine Kraft in sich selbst, selbige vielfältig nach seinem Willen zu lenken. So wie er dieses tut, nimmt er selbst Anteil an der Bildung seiner selbst, und an dem Einfluss der Umstände die auf ihn wirken“ (Pestalozzi 1938, S. 57; zitiert nach Winkler 2004, S 76). In diesem Zitat wird bereits der notwendig zweite Aspekt des gleichen gesellschaftlichhistorischen Prozesses deutlich. Der Vergegenständlichung der menschlichen, gesellschaftlichen Erfahrungen in den Produkten steht somit die Aneignung dieser gegenüber. 6 THEORETISCHE GRUNDLAGEN Leontjew arbeitet die Spezifika des Aneignungskonzeptes insbesondere durch das Mittel des Vergleiches der menschlichen und tierischen Entwicklung heraus. Während Tiere sich im Laufe der Entwicklung ihrer Art immer wieder an die veränderten Lebensbedingungen anpassen und ihre Fähigkeiten und Verhaltensweisen genetisch vererbt werden, geschieht dies beim Menschen nicht (mehr). Leontjew macht dies an der historischen Entwicklung der menschlichen Vorfahren bis zur Entstehung des heutigen Homo sapiens fest (vgl. Leontjew 1980, S. 276 ff.). Bei dieser Betrachtung wird deutlich, dass in früheren Entwicklungsetappen des Menschen das biologische Selektionsgesetz noch bestimmend war. Heute, nach der Entwicklung des biologisch völlig ausgebildeten Menschen (Homo sapiens), ist dies anders: „Die gesellschaftlich-historische Entwicklung befreit sich nun gänzlich von ihrer früheren Abhängigkeit von der morphologischen Entwicklung. Es beginnt die Ära, in der einzig und allein die sozialen Gesetze herrschen“ (Leontjew 1980, S. 277). „Auf der einen Seite ändern sich die Lebensbedingungen und Lebensweisen einschneidend und immer schneller, während die morphologischen Besonderheiten der Menschenart konstant bleiben; Veränderungen auf diesem Gebiet gehen nicht über den Rahmen von Varianten hinaus, die im Hinblick auf die soziale Anpassung keine wesentliche Bedeutung haben. [...] Die Menschheit hat im Laufe ihrer Geschichte große geistige Kräfte und Fähigkeiten entwickelt. Die Zehntausende von Jahren der gesellschaftlichen Geschichte lieferten in dieser Hinsicht viel mehr als die Millionen von Jahren der biologischen Evolution. Die Errungenschaften der Entwicklung menschlicher Fähigkeiten und Eigenschaften wurden gesammelt, indem sie von Generation zu Generation weitergegeben wurden. [...] Diese neue Form, phylogenetische Erfahrungen zu sammeln, wurde beim Menschen möglich, weil seine Tätigkeit im Gegensatz zu der der Tiere produktiven Charakter hat. Wir sprechen hier von der Haupttätigkeit des Menschen – der Arbeit“ (Leontjew 1980, S.297). Somit wird deutlich, dass sich die Weiterentwicklung des modernen Menschen nicht wie beim Tier über eine genetische Anpassung, sondern vielmehr innerhalb des Aneignungsprozesses durch die Reproduktion und Weiterentwicklung der historisch innerhalb der Gesellschaft entwickelten Fähigkeiten und Verhaltensweisen vollzieht. „Die geistige, die psychische Entwicklung einzelner Menschen ist demnach das Produkt eines besonderen Prozesses – der Aneignung – , den es beim Tier nicht gibt, ebenso wie bei diesem auch der entgegengesetzte Vorgang – die Vergegenständlichung von Fähigkeiten in den Produkten der Tätigkeit – nicht existiert“ (Leontjew 1980, S. 282). Die Welt in der wir leben ist in weiten Teilen vom Menschen umgestaltet bzw. neu geschaffen worden. Sie erschließt sich dem Individuum jedoch nicht von alleine, sondern muss vielmehr durch dieses erarbeitet werden. Leontjew beschreibt dies als eine Aufgabe, die sich jedem Kind 7 THEORETISCHE GRUNDLAGEN stellt und in welcher dieses, die den Gegenständen innewohnenden Erfahrungen und Tätigkeiten kognitiv und praktisch nachvollziehen muss. Aneignung wird hierbei als ein Prozess auf zwei Ebenen verstanden: Auf der ersten Ebene macht sich das Individuum die praktischen Formen und Arten der Tätigkeiten zu eigen. Auf der zweiten Ebene werden diese äußerlich wahrgenommenen Tätigkeiten in geistigen Vorgängen verallgemeinert, umgedeutet und auf andere Begebenheiten übertragen und somit zu einer Weiterentwicklung befähigt. Dieser Wechsel der kognitiven Ebenen wird bei Leontjew als Interiorisierung bezeichnet. Hier wird die dialektisch-materialistische Ausrichtung der Aneignungstheorie von Leontjew sehr deutlich: Psychische Prozesse sind demnach innere Tätigkeiten, welche aus äußeren Tätigkeiten und Bedingungen hervorgehen, jedoch zur kritischen Reflexion befähigt sind und somit aufgrund der Möglichkeit einer Überwindung vorhandener Widersprüche zu der Erreichung einer höheren Entwicklungsstufe befähigt werden. Somit haben, der Aneignungstheorie bzw. der dialektisch-materialistischen Denkrichtung folgend, die gesellschaftlichen Bedingungen einen sehr großen Einfluss auf die psychische Entwicklung. Ulrich Deinet sieht hier ein „wesentliches Unterscheidungskriterium zu sogenannten bürgerlichen Psychologierichtungen, welche philosophisch-gesellschaftliche Anschauungen aus ihrem einzelwissenschaftlichen Gesichtskreis fernzuhalten versuchen“ (Deinet 2005, S.31). Nur durch diese Interiorisierung wird es dem Kind möglich komplexere Zusammenhänge und Abstraktionen zu verstehen. Klaus Holzkamp setzt hier die praktische und kognitive Nachvollziehung der Gegenstandsbedeutungen, insbesondere auch durch die motorische Tätigkeit, als Voraussetzung des Kindes zur Erschließung der sprachlichen und symbolischen Abstraktion voraus (vgl. Holzkamp 1973, S.193). Die einzelnen interiorisierten Tatbestände setzen sich somit bei dem Kind auf kognitiver Ebene zu Systemen zusammen, welche ein umfassendes Verständnis der materiellen und sozialen Umwelt erlauben. Die Aneignungstätigkeit vollzieht sich beim Kind jedoch nicht im luftleeren Raum, sondern ist immer in Verbindung mit seiner sozialen Umwelt zu sehen. Hierbei verbinden sich im Aneignungsprozess der materielle Gegenstand und der Erwachsene bzw. die soziale Umwelt und werden vom Kind zusammen wahrgenommen. 8 THEORETISCHE GRUNDLAGEN Hier hat Leontjew das berühmt gewordene Beispiel des Löffels als anzueignenden Gegenstand beschrieben: „Das Kind führt zum Beispiel den Löffel wie jeden anderen natürlichen Gegenstand, der keinen Werkzeugcharakter hat, an den Mund und achtet nicht darauf, dass es ihn waagerecht halten muss. Durch das unmittelbare eingreifen des Erwachsenen werden die Handbewegungen des Kindes beim Gebrauch des Löffels allmählich grundlegend umgestaltet und ordnen sich der objektiven Logik des Umgangs mit diesem Gerät unter“ (Leontjew 1980, S.292). Fast alle in der Umwelt vorfindbaren, durch Menschenhand geschaffenen Gegenstände, erhalten ihre Bedeutung erst durch die Verbindung zum tätigen Menschen. So wie eine Verbindung von Mensch und Material im Arbeitsprozess die gesellschaftliche Erfahrung in den Produkten vergegenständlicht, so ist auch im umgekehrten Prozess der Aneignung der Gegenstand nicht ohne die Menschen zu denken. Als ein weiteres Beispiel dieser Verbindung in der Entwicklung des Kindes beschreibt Leontjew ein Kleinkind, welches seinen Schnuller auf den Boden wirft. Als direkte Folge dieser Handlung werden sich die Eltern dem Kind zuwenden und diesem den Schnuller zurückgeben. Somit lernt das Kind sehr schnell, dass es durch die gegenständliche Handlung des Schnullerwerfens auch bei den Menschen eine Reaktion hervorruft. Um Aufmerksamkeit der Eltern zu erhalten, braucht es zukünftig nur noch den Schnuller zu werfen. (Vgl. Leontjew 1980, S. 285). Besonders auf das kindliche Spiel als Aneignungsprozess legt Leontjew seinen Fokus. Dieses Spiel ist den jeweiligen Entwicklungsstufen des Kindes angepasst, welche Leontjew nicht über das Lebensalter, sondern vielmehr über die jeweilige „dominante Tätigkeit“ charakterisiert. Diese dominanten Tätigkeiten bestehen beim Kind in unterschiedlichen Rollenspielen, welche den geistigen Fähigkeiten des Kindes entsprechen und sich mit diesen, und in Abhängigkeit zu diesen weiterentwickelt. Jede Lebensphase wird hierbei von einer dominanten Tätigkeit beherrscht. Sobald das Kind sich geistig weiterentwickelt hat, stößt diese dominante Tätigkeit für die Befriedigung des Kindes an seine Grenzen und das Kind sucht sich demnach eine erweiterte, seiner geistigen Entwicklung entsprechende Tätigkeit. Ulrich Deinet benennt die Hauptfunktion des Spielens darin, die gegenständlichen Tätigkeiten der Erwachsenen willkürlich nachzuahmen (vgl. Deinet 2005, S. 33). Somit vollbringt das Kind eine kognitive, aber auch praktische Leistung, welche den gegenständlichen Tätigkeiten der Erwachsenen adäquat ist. Ein großer Widerspruch liegt für das Kind darin, die Tätigkeiten der Erwachsenen nachahmen zu wollen, jedoch nicht über die notwendigen Realisierungsmöglichkeiten sowie Gefahreneinschätzungen zu verfügen. 9 THEORETISCHE GRUNDLAGEN „Dieser Widerspruch gelingt im Spiel dadurch, dass das Motiv im Inhalt der Handlung und nicht, wie bei der produktiven Tätigkeit, im Ergebnis liegt. Das Kind kann in einer eingebildeten Situation das Motiv einlösen, ohne die für die reale Situation erforderlichen Fähigkeiten zu beherrschen“ (Deinet 2005, S. 34). Indem das Kind im Spiel die Tätigkeiten der Erwachsenen imitiert, erfährt es auch gleichzeitig etwas über die Gegenstände mit denen die Erwachsenen umgehen und lernt deren sozialen Gehalt zu erkennen. Durch den starken Bezug des Kindes auf die reale Gesellschaft innerhalb des Spiels, wird der große gesellschaftliche Einfluss auf das Kind noch einmal deutlich. Aber auch soziale Kompetenzen werden insbesondere im Spiel erworben, indem sich das Kind nicht nur die Beziehung zwischen den Gegenständen und den Menschen, sondern auch der Menschen untereinander aneignet. Hierdurch lernt das Kind ganz spielerisch Normen und Regeln der Gesellschaft kennen. 2.1.1 Die Rezeption und Weiterentwicklung der Aneignungstheorie in der Sozialen Arbeit Innerhalb der Sozialen Arbeit wurde die Aneignungstheorie in den letzten Jahren insbesondere im Zusammenhang mit einem eigenständigen Bildungskonzept der Sozialen Arbeit, wie dieses unter anderem von Ulrich Deinet herausgearbeitet wurde, diskutiert (vgl. Deinet 2009; Deinet/Reutlinger 2004). Die Aneignungstheorie erscheint hierbei als geeignet, das Leistungsprofil der Sozialen Arbeit zu konkretisieren und eine selbstbewusste Positionierung insbesondere der offenen Kinder- und Jugendarbeit in Bezug auf ihre gesellschaftliche Bedeutung auf fachlicher Ebene voran zu treiben. Ulrich Deinet und Christian Reutlinger formulieren ihre Kritik in Bezug auf die aktuelle gesellschaftliche Bildungsdiskussion in weiten Teilen anhand der ausschließlichen Fokussierung und Thematisierung von schulischen Bildungssettings innerhalb dieser (vgl. Deinet/Reutlinger 2004 S. 10). Diese Fokussierung lässt außer acht, dass sich Kinder und Jugendliche nicht nur in institutionalisierten Lernorten, wie der Schule, sondern auch in ihren jeweiligen Nahräumen, Wohnumgebungen, Stadtteilen, insbesondere im öffentlichen Raum, bilden. Die aktuelle Ausgestaltung der Lebensphase Jugend, wie ich sie in Kapitel 3.2 beschreibe, stellt die jungen Menschen heute vor schwer zu bewältigende Aufgaben. Hierbei reicht das innerhalb der Schule erworbene Wissen oft nicht aus bzw. steht vielen Jugendlichen, welche frühzeitig aus dem Schulsystem ausgegliedert werden, nicht zur Verfügung, um diese Probleme innerhalb der Lebensgestaltung zu bewältigen. Hieraus wird die Notwendigkeit von informellen Bildungssettings innerhalb der Lebensphase Jugend deutlich, welche Handlungssicherheit in den gegebenen Verhältnissen vermitteln. Burkhard Müller geht auf die sich hieraus ergebenden Aufgaben für die offene Kinder- und Jugendarbeit ein. 10 THEORETISCHE GRUNDLAGEN „Jugendarbeit sollte davon ausgehen, dass in ihrem elementaren Bereich Bildung vor allem ‚informelle Bildung„ d.h. Selbstbildung, ‚Selbstauffassungsarbeit„ von Jugendlichen ist. Nimmt man dies ernst, so ist pädagogische Bildungsarbeit primär Unterstützung von und Einmischung in solche Prozesse, weniger aber Vermittlung von noch so fortschrittlichen Bildungsgütern: Sie ist reflexive Begleitung jener ‚informellen Bildung„, sie arrangiert auch Gelegenheiten dafür“ (Müller 2004, S. 47f.). Um der informellen Bildung innerhalb der Sozialen Arbeit eine standfeste theoretische Basis zu geben, fordert Ulrich Deinet einen Bezug auf die Aneignungstheorie herzustellen und somit die aktive Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner Umwelt zu erklären (vgl. Deinet 2004, S. 11). Im Zusammenhang mit der Rezeption der Aneignungstheorie innerhalb der Sozialen Arbeit haben einige Theoretiker auch ein verändertes Verständnis von Erziehung dargelegt. In diesem Sinne konstatiert Michael Winkler, dass sich pädagogisches Handeln nur als Organisation von Settings und Arrangements und somit als die Bereitstellung von Möglichkeiten der Aneignung begreifen lässt, welche das sich bildende Subjekt aufgreifen muss, um so seinen Bildungsprozess zu initiieren. Für Michael Winkler ist es jedoch von elementarer Bedeutung, dass bei der Bereitstellung von Aneignungsmöglichkeiten ein schützender Rahmen geschaffen wird, der es den Kindern und Jugendlichen überhaupt ermöglicht, diese Aneignungsprozesse einzugehen, sowie diese in ihren Aneignungsbemühungen zu bestärken und zu unterstützen. (Vgl. Winkler 2004, S. 82) Zusammenfassend stellt Winkler fest: „Erziehung bedeutet Ermöglichung und Organisation von Bildung“ (Winkler 2004, S. 83). Erziehung hat nach dieser Sichtweise die Aufgabe, Orte bereit zu stellen, in denen gesellschaftliche Verhältnisse sichtbar werden und diese angeeignet werden können. Für diese Orte benutzt Winkler die Metapher einer Bühne, welche von den Pädagoginnen und Pädagogen möbliert wird, auf welcher die Kinder und Jugendlichen jedoch ihr eigenes Spiel spielen und ihre Rolle selber finden müssen (vgl. Winkler 2004, S. 83). Die Pädagoginnen und Pädagogen stehen hierbei nur noch unterstützend zur Seite und begleiten die Umnutzung und Umgestaltung der Bühne kommentierend. Der kritische Aspekt der Rezeption der Aneignungstheorie innerhalb der Sozialen Arbeit wird insbesondere anhand der Ablehnung von starren Grenzen innerhalb der Pädagogik durch Michael Winkler deutlich. Durch das Setzen von starren Grenzen werde in den Aneignungsprozess eine Struktur eingebaut, welche gerade nicht angeeignet werden kann. Vielmehr stoße Aneignung hierbei an eine Mauer, welche resistent gegenüber Aneignungshandlungen sei. Diese Regeln und Grenzen könnten sicherlich häufig mit Anstrengung durch die Kinder und Jugendlichen überwunden werden. Hierdurch mache sich aber der ganze Prozess des Setzens von Grenzen unsinnig. Grenzen werden innerhalb solcher Pädagogik nicht gesetzt, um die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass die Subjekte diese überwinden und so eine wichtige Lernerfahrung im 11 THEORETISCHE GRUNDLAGEN Aneignungsprozess machen, sondern um diese zu kontrollieren und zu disziplinieren. Regeln und Normen seien daher nur da sinnvoll, wo diese innerhalb des Aneignungsprozesses kritisch hinterfragt und in produktiver Weise gedeutet und verinnerlicht werden können. (Vgl. Winkler 2004, S. 71ff.) Anhand der Ausführungen lässt sich nachvollziehen, dass Sozialisation heute nicht mehr als Anpassung des Subjektes an die gesellschaftlichen Umstände verstanden werden kann. Stattdessen hat sich das Modell des „produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts“ (Sting 2004, S.139) durchgesetzt, welches selbsttätig in seinen Sozialisationsprozess eingreift und diesen mitbestimmt. Das Subjekt eignet sich hierbei die soziale Wirklichkeit an, indem es seine eigenen Perspektiven einbringt und zur kritischen Reflexion befähigt ist. Ulrich Deinet nennt zusammenfassend mehrere Punkte für einen operationalisierten Aneignungsbegriff der Sozialen Arbeit. Hierbei ist Aneignung ein Begriff für die - „eigentätige Auseinandersetzung mit der Umwelt - (kreative) Gestaltung von Räumen mit Symbolen etc. - Inszenierung, Verortung im öffentlichen Raum (Nischen, Ecken, Bühnen) und in Institutionen - Erweiterung des Handlungsraumes (die neuen Möglichkeiten, die in neuen Räumen liegen) - Veränderung vorgegebener Situationen und Arrangements - Erweiterung motorischer, gegenständlicher, kreativer und medialer Kompetenz - Eroberung des erweiterten Verhaltensrepertoires und neuer Fähigkeiten in neuen Situationen - Entwicklung situationsübergreifender Kompetenz im Sinne einer `Unmittelbarkeitsüberschreitung` und `Bedeutungsverallgemeinerung`“ (Deinet 2004, S. 178). 2.2 Die Soziologie von Pierre Bourdieu 2.2.1 Die Kapitaltheorie Im direkten Bezug auf Karl Marx erweitert Pierre Bourdieu dessen Kapitaltheorie, welche Marx insbesondere in dem dritten Band seines Werkes „Das Kapital“ ausführlich darstellt und fügt diesem weitere elementare Kategorien hinzu. Insbesondere kritisiert Bourdieu den Ökonomismus von Marx, der den sehr komplexen sozialen Raum auf ökonomische Produktionsverhältnisse verkürzt und alle anderen sozialen Erscheinungen als bloßen Überbau dieser Ökonomie beschreibt (vgl. Bourdieu 1995, S. 9). Recht allgemein kann Kapital nach Bourdieu (und Marx) als akkumulierte Arbeit beschrieben werden. 12 THEORETISCHE GRUNDLAGEN Der Soziologe Pierre Bourdieu hat sein gesamtes theoretisches Gebäude in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten innerhalb der empirischen Forschung ausgearbeitet und erweitert. Insbesondere in seinen frühen Forschungsarbeiten über die vorindustrielle kabylische Gesellschaft in Algerien der 1950er und 1960er Jahre erschien ihm eine Gesellschaftsanalyse, welche sich alleine auf monetäre ökonomische Austauschverhältnisse konzentriert, als nicht ausreichend. Daher entwickelte er eine Kapitaltheorie, welche alle Elemente des sozialen Austausches und der gesellschaftlichen Machtmittel beinhaltet (vgl. Schwingel 1995, S.87). „Eine allgemeine ökonomische Praxiswissenschaft muß sich deshalb bemühen, das Kapital und den Profit in allen ihren Erscheinungsformen zu erfassen“ (Bourdieu 1992, S. 52). In seinen Grundformen unterscheidet Bourdieu ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital. Bei dem ökonomischen Kapital handelt es sich nach Bourdieu um alle Formen von materiellem Reichtum, welche direkt in Geld umtauschbar sind. Kulturelles Kapital wird von Bourdieu sehr viel weiter ausdifferenziert und in drei Zustände unterteilt. Als ersten Zustand des kulturellen Kapitals beschreibt Bourdieu den objektivierten Zustand, welcher etwa in Form von Büchern und dem in diesen enthaltenen Wissen vorliegt. Jedoch werden auch Gemälde, Kunstwerke und Maschinen von ihm als objektiviertes kulturelles Kapital beschrieben. Zum Verständnis dieser Einordnung ist ein Rückgriff auf die Aneignungstheorie von Leontjew hilfreich: Zur Erstellung eines Kunstwerkes bzw. einer technischen Maschine ist ein Wissen notwendig, welches sich im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung angesammelt hat und über die menschliche Arbeit in den Produkten vergegenständlicht worden ist. Ich habe mich mit diesem Phänomen und der elementaren Bedeutung für die menschliche Entwicklung in dem Kapitel über die Aneignungstheorie genauer beschäftigt (vgl. Kapitel 2.1). Bei kulturellem Kapital in objektiviertem Zustand finden wir eine Überschneidung mit dem ökonomischen Kapital vor, da alle kulturellen Gegenstände auch immer einen ökonomischen Wert haben und somit leicht in Geld umzuwandeln sind (vgl. Schwingel 1995, S. 88). Trotzdem ist es für eine umfassende Gesellschaftsanalyse notwendig, dieses als eigenständige Form des kulturellen Kapitals zu benennen. 13 THEORETISCHE GRUNDLAGEN Von einem inkorporierten Zustand des kulturellen Kapitals spricht Bourdieu, wenn er die unterschiedlichen Formen von Wissen und Fähigkeiten, welche über Bildung erlangt werden, beschreibt. Im Unterschied zu dem kulturellen Kapital in objektiviertem Zustand ist das inkorporierte kulturelle Kapital an die jeweilige Person gebunden, welche es unter Aufwendung von Arbeit und Zeit durch Bildung erworben hat. Somit ist dieses Kapital auch nicht einfach auf eine andere Person übertragbar, sondern nur in Verbindung mit der Trägerin bzw. dem Träger z.B. über eine berufliche Anstellung, für andere Personen nutzbar. Zum Verständnis der Aneignung von inkorporiertem kulturellem Kapital kann ein weit gefasster Bildungsbegriff herangezogen werden, welcher auch alle Formen des informellen und non-formellen Wissenserwerbs mit einschließt. Das inkorporierte Kapital ist somit als verinnerlichte Kompetenz zu einem festen Bestandteil der Person geworden. „Inkorporiertes Kapital ist ein Besitztum, das zu einem festen Bestandteil der ‚Person„, zum Habitus geworden ist; aus ‚Haben„ ist ‚Sein„ geworden“ (Bourdieu 1992, S. 55f.). Als dritten Zustand des kulturellen Kapitals beschreibt Bourdieu das institutionalisierte kulturelle Kapital. Über die Vergabe von offiziellen Bildungstiteln (Schul-, Berufs- und Hochschulabschlüsse usw.) wird dem inkorporierten kulturellen Kapital eine Legitimität verschafft, welche insbesondere auf dem Arbeitsmarkt von großer Bedeutung ist. Häufig ist die Zulassung zu einem Beruf nur über den (Berufs-) Titel als Legitimationsnachweis möglich. Die große Bedeutung, welche in unserer Gesellschaft dieser Kapitalform zugesprochen wird, wird an einem Zitat von Bourdieu deutlich: „Es ist die symbolische Rarität des Titels im System der Berufsbezeichnungen (und nicht das Verhältnis von Angebot und Nachfrage einer bestimmten Form von Tätigkeit), wodurch die Höhe der Vergütung eines betreffenden Berufes der Tendenz nach bestimmt wird; mit der Folge, daß sich die Vergütung des Titels gegenüber der Arbeit weitgehend verselbständigt und die gleiche Tätigkeit unterschiedlich bezahlt wird, je nach dem Titel dessen, der sie ausübt“ (Bourdieu 1995, S. 26f.). Als eine weitere eigenständige Kapitalform, neben dem ökonomischen und dem kulturellen Kapital beschreibt Bourdieu das soziale Kapital. Als dieses sind alle sozialen Beziehungen von Akteurinnen und Akteuren zu bezeichnen, welche ihnen Vorteile in Form von Unterstützung, Parteinahme usw. gewährleisten. Je größer das Netz an Beziehungen ist, welches eine Person im Bedarfsfall nutzen kann, desto größer sind auch die Möglichkeiten und Chancen bei der Reproduktion von ökonomischen und kulturellem Kapital (vgl. Schwingel 1995, S. 92). Dieses unterstützende soziale Netzwerk muss durch permanente Beziehungsarbeit und gegenseitige Wert14 THEORETISCHE GRUNDLAGEN schätzung aufrechterhalten werden. Als Beispiele für derartige Netzwerke können die Familie, Vereine oder gesellschaftspolitische Gruppen genannt werden. Am deutlichsten manifestiert sich die Produktion von sozialem Kapital in Deutschland wohl an den studentischen Verbindungen und Burschenschaften, welchen die Mitglieder auf Lebenszeit verbunden bleiben und die in ihrer gesamten Struktur auf dem Ausbau und der Nutzung sozialer Netzwerke beruhen. Eine weitere Kapitalform, welche von Bourdieu in einigen Arbeiten als eigenständige Form beschrieben wird, jedoch praktisch nur in Verbindung mit den zuvor genannten Kapitalformen auftritt, ist das symbolische Kapital (vgl. Schwingel 1995, S. 92). Als symbolisches Kapital kann eine Ressource bezeichnet werden, die durch gesellschaftliche Anerkennung „gemeinhin als Prestige, Renommee, usw. bezeichnet“ (Bourdieu 1995, S. 11), der Trägerin bzw. dem Träger (symbolische) Macht verleiht. Symbolisches Kapital kommt insbesondere in Verbindung mit den zuvor genannten Kapitalsorten zustande und wird über symbolische Hervorhebung durch Statussymbole und Adelstitel oder ähnlichem wirksam. An den bisher beschriebenen Kapitalsorten lässt sich das symbolische Kapital noch einmal verdeutlichen. In diesem Sinne ist etwa das institutionalisierte kulturelle Kapital auch als symbolisches Kapital wirksam, da es der Trägerin bzw. dem Träger über den Bildungstitel Anerkennung und (symbolische) Macht verleiht. Ebenso ist auch soziales Kapital als symbolisches Kapital wirksam, da es auf der Anerkennung und Wertschätzung der Akteurin bzw. des Akteurs beruht. In diesem Sinne lässt sich mit Bourdieu symbolisches Kapital wie folgt definieren: „Symbolisches Kapital ... ist nichts anderes als Kapital (gleich welcher Art), wahrgenommen durch einen Akteur, dessen Wahrnehmungskategorien sich herleiten aus der Inkorporierung der spezifischen Verteilungsstruktur des Kapitals, mit anderen Worten: ist Kapital, das als selbstverständlich erkannt und anerkannt ist“ (Bourdieu 1995, S. 22). In diesem Sinne kann symbolisches Kapital nur eingesetzt werden, wenn die beteiligten Akteurinnen und Akteure die gleichen kulturellen Muster und gesellschaftlichen Bedingungen als legitim anerkennen. Für die Kapitaltheorie von Bourdieu ist des Weiteren von Bedeutung, dass jede Kapitalform prinzipiell in eine andere Kapitalform transformierbar ist (vgl. Schwingel 1995, S. 91). Für diesen Transformationsprozess muss die jeweilige Person jedoch Zeit und Arbeit aufwenden. Dies wird am Beispiel der Umwandlung von ökonomischen in inkorporiertes kulturelles Kapital deutlich. So ist es der Akteurin bzw. dem Akteur zwar möglich über das ökonomische Kapital Bücher oder Unterrichtsstunden zu erwerben, die tatsächliche Inkorporation muss jedoch über den Einsatz von Zeit und Arbeit bewerkstelligt werden. Auf der anderen Seite kann inkorporiertes 15 THEORETISCHE GRUNDLAGEN kulturelles Kapital über die Berufstätigkeit in ein Einkommen und somit in ökonomisches Kapital umgewandelt werden. 2.2.2 Die Habitustheorie Die Habitustheorie stellt einen der Grundpfeiler der Soziologie von Pierre Bourdieu dar und spielt in der vorliegenden Untersuchung eine herausragende Rolle. In der Begrifflichkeit des Habitus bezieht sich Bourdieu sehr stark auf die Arbeiten von so unterschiedlichen Theoretikern wie Thomas von Aquin, Max Weber und Émile Durkheim (vgl. Schwingel 1995, S. 60; Krais/Gebauer 2010, S. 18ff.). Jedoch hat erst der Ethnologe und Soziologe Pierre Bourdieu dieses Konzept in seiner heutigen, umfassenden Weise ausgearbeitet. Als Habitus können die Wahrnehmungs-, Denk-, und Handlungsschemata der gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure bezeichnet werden (vgl. Schwingel 2009, S. 62). Für Bourdieu stellt der Habitus ein wichtiges Instrument dar, um in alltäglichen Situationen angemessen und somit schnell und situationsgerecht zu reagieren. Dies ist insbesondere möglich, da der Habitus geprägt ist durch die gesellschaftlichen Erfahrungen, die eine Person im Laufe ihres bisherigen Lebens gemacht hat. Somit ist der Habitus nicht angeboren, sondern als „Opus Operatum“ bzw. „strukturierte Struktur“ historisch geprägt. „Er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen“ (Bourdieu 1987, S. 101). Es wird deutlich, dass Bourdieu den Menschen nicht als frei von gesellschaftlicher Determinierung und somit als unabhängig handelndes Subjekt betrachtet, sondern dieser vielmehr als gesellschaftlich geprägt betrachtet wird. Die Handlungen, Wahrnehmungen, Gefühle, ja sogar der individuelle Geschmack der Menschen und deren Verhältnis zum eigenen Körper ist laut Bourdieu durch die Bedingungen der Sozialisation und insbesondere die spezifische Klassenlage geprägt. Innerhalb der Grenzen des Habitus haben die Menschen jedoch immer die Möglichkeit, ihr Verhalten selbstbestimmt zu gestalten. Der Habitus stellt also ein handlungsentlastendes Dispositionssystem sozialer Akteurinnen und Akteure in alltäglichen Situationen dar. Für die jeweilige Person entfaltet der Habitus seine Wirkung jedoch unbewusst und wird nur in unbekannten Situationen, die nicht der alltäglichen Lebensrealität der Person entsprechen bzw. nicht mit dem Dispositionssystem des Habitus übereinstimmen, bewusst. In diesen Situationen 16 THEORETISCHE GRUNDLAGEN muss die Person versuchen, Anpassungsleistungen vorzunehmen. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die Dispositionen des Habitus von Bourdieu als dauerhaft und stabil beschrieben werden und nur unter Anstrengung und der Aufwendung von Zeit verändert werden können. Jedoch wirken sich die gesellschaftlichen Bedingungen nicht einseitig als „opus operatum“ auf die Akteurinnen und Akteure sowie die Strukturierung ihres Habitus aus. Vielmehr nehmen diese durch ihre Handlungen und Ausdrucksweisen als „modus operandi“ oder „strukturierende Struktur“ auch immer Einfluss auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Bedingungen, die den Habitus hervorbringen. Zusammenfassend lässt sich der Habitus mit Bourdieu definieren als „System dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentation“ (Bourdieu 1976, S. 165). Das Konzept des Habitus von Bourdieu ist jedoch umfassend nur zu verstehen, wenn es in Beziehung zu weiteren elementaren Strukturkategorien der Theorie von Bourdieu gesetzt wird. 2.2.2.1 Habitus und Klasse Der Terminus der Klasse bezieht sich auf die vertikalen gesellschaftlichen Ungleichheiten und die ungleiche Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Hier bezieht sich Bourdieu zwar direkt auf die Theorie von Karl Marx, kritisiert diesen jedoch in wesentlichen Punkten. So wirft Bourdieu Marx einen „Ökonomismus“ vor, der die vielfältigen Strukturen gesellschaftlicher Differenzierung und gesellschaftlicher Ungleichheit alleine auf ökonomische (Produktions-) Bedingungen zurückführt. Für Bourdieu basiert die Existenz einer sozialen Klasse zwar wie bei Marx auf der Struktur und dem Volumen an Kapital, jedoch differenziert er dieses sehr viel weiter aus. „Das unzulängliche der marxistischen Klassentheorie und zumal ihre Unfähigkeit, den objektiv feststellbaren Differenzen in ihrer Gesamtheit gerecht zu werden, liegt darin begründet, daß sie, indem sie die soziale Welt auf das Feld des Ökonomischen reduziert, die soziale Position zwangsläufig nur noch unter Bezugnahme auf die Stellung innerhalb der ökonomischen Produktionsverhältnisse zu bestimmen vermag, damit die jeweilige Position in den übrigen Feldern und Teilfeldern, insbesondere den kulturellen Produktionsverhältnissen, unter den Tisch fallen lässt, ebenso wie alle anderen, das soziale Feld strukturierenden und den Antagonismus Eigentümer versus Nicht-Eigentümer an Produktionsmitteln nicht zurückführbaren Gegensätze“ (Bourdieu 1995, S. 31). Bourdieu konstruiert die sozialen Klassen als Ansammlung und Bündelung von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren an einer bestimmten Stelle des sozialen Raumes. Diesen sozialen 17 THEORETISCHE GRUNDLAGEN Raum beschreibt Bourdieu ausführlich in seinem Buch „Die feinen Unterschiede“, in welchem er die Habitus der französischen Gesellschaftsmitglieder in den 1960er Jahren analysiert. Zur Veranschaulichung entwirft Bourdieu ein Koordinatenkreuz, welchem das Gesamtkapitalvolumen an der Ordinatenachse und die Ausstattung mit kulturellem und ökonomischen Kapital an der Abszissenachse entsprechen (vgl. Bourdieu 1982, S. 212f.; Abb. 1). Festzuhalten ist jedoch bei der Einordnung der Gesellschaftsmitglieder in dieses Raster, dass es keinen real existierenden 0Punkt des Koordinatenkreuzes gibt und geben kann, sondern das die jeweilige Position der Akteurin bzw. des Akteurs nur in Relation zu den anderen Akteurinnen und Akteuren in diesem sozialen Raum anzuordnen sind. Werden die verschiedenen Akteurinnen und Akteure anhand ihrer Kapitalausstattung in dieses Raster eingeordnet, so fällt auf, dass sich bestimmte gesellschaftliche (Berufs-) Gruppen an spezifischen Stellen des sozialen Raumes bündeln. Aufgrund ihrer ähnlichen sozialen Lage werden diese Gruppen von Akteurinnen und Akteuren von Bourdieu als Klassen bezeichnet. Bourdieu hält jedoch in Abrenzung zu Karl Marx fest, dass diese vom Theoretiker entworfenen Klassen keine Klassen in Sinne einer tatsächlich mobilisierten Gruppe darstellen. Marx hingegen springe in einem „»Salto mortale« von der Existenz in der Theorie zur Existenz in der Praxis“ (Bourdieu 1998, S. 25). In seinen Untersuchungen der französischen Gesellschaft hat Bourdieu weiterhin festgestellt, dass die einzelnen Akteurinnen und Akteure einer Klasse ähnliche Interessen und Lebensstile aufweisen. In diesem Sinne kann über das beschriebene Raster eine weitere „Folie“ mit den unterschiedlichen Lebensstilen der Akteurinnen und Akteure gelegt werden. Hierbei ist festzustellen, dass etwa die Leidenschaft für den Besuch einer Oper eher von Angehörigen einer Klasse mit einem hohen Kapitalvolumen, welches sich zu einem großen Teil aus kulturellem Kapital zusammensetzt, geteilt wird. Die Leidenschaft für Rugby-Spiele jedoch eher von Personen mit einem geringen Kapitalvolumen, welches sich zu einem großen Teil aus ökonomischem Kapital zusammensetzt. (Vgl. Bourdieu 1982, S. 212f. und Abb. 1) 18 Oper Hochschullehrer Industrieunternehmer Kapitalvolumen + THEORETISCHE GRUNDLAGEN Tennis Ingenieure Kunstkenntnis Wandern auf d. Land Ökon. Kapital + Kult. Kapital – Ökon. Kapital – Kult. Kapital + Briefmarkensamml. Kapitalvolumen – TV Landwirte Handwerker Büroangestellte Rugby Abb. 1: Raum der sozialen Positionen (schwarz, Rahmen) und Lebensstile (rot) verändert nach Bourdieu 1982, S. 212 f. In dieser Bündelung und Überschneidung der sozialen Position und des Lebensstils unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure im sozialen Raum wird die Bedeutung des Habitus in der Klassentheorie von Bourdieu deutlich. Bourdieu erklärt diese Überschneidung im Sinne seiner materialistischen Grundannahmen damit, dass die Akteurinnen und Akteure dieser Klassen in ihrem Lebenslauf, aufgrund der ähnlichen Ausstattung an Kapital, auch ähnlichen gesellschaftlichen Gegebenheiten und Erwartungen unterliegen und somit aller Voraussicht nach auch ähnliche Interessen und Dispositionen aufweisen (vgl. Bourdieu 1995, S. 12). Soweit also die Bedingungen der materiellen Existenz und der Lebensführung einer Gruppe von Menschen übereinstimmen, kann man von einem Klassenhabitus sprechen. Das heißt, der einzelne Mensch hat wesentliche Elemente seines Habitus mit dem seiner Klassengenossen gemeinsam. (Vgl. Krais/Gebauer 2010, S. 37) Wie tief dieser spezielle Klassenhabitus in den Akteurinnen und Akteuren verankert ist, macht die Analyse des jeweiligen Geschmacks als „Körper gewordene Klasse“ (Bourdieu 1982, S. 307) deutlich. In seinen Untersuchungen hat Bourdieu u.a. die unterschiedlichen Vorlieben der herrschenden und der beherrschten Klassen in Bezug auf die Ernährung ausführlich dargestellt. Der Klassenkampf um die Durchsetzung der eigenen Vorlieben und Haltungen als einzig legitimer Geschmack und der hiermit verbundene Wunsch nach Machterhalt bzw. Aufstieg im sozia19 THEORETISCHE GRUNDLAGEN len Raum wird an einem besonderen Beispiel von Bourdieu deutlich. In der Gegenüberstellung der Sicht auf den eigenen Körper und der Präsenz des herrschenden Körperbildes, sowohl im Geschmack der Bourgeois, als auch des aufstrebenden Kleinbürgertums macht Bourdieu die Wirkung der unterschiedlichen Lebensbedingungen auf das Verhältnis zum eigenen Körper deutlich (vgl. Krais/Gebauer 2010, S. 40). „Obwohl nicht nur der Kleinbürger über sie verfügt, erweist sich die typisch kleinbürgerliche Erfahrung der Sozialwelt zunächst als Schüchternheit, als Gehemmtheit dessen, dem in seinem Leib und seiner Sprache nicht wohl ist, der beides, statt mit ihnen eins zu sein, gewissermaßen von außen, mit den Augen der anderen betrachtet, der sich fortwährend überwacht, sich kontrolliert und korrigiert, der sich tadelt und züchtigt und gerade durch seine verzweifelten Versuche zur Wiederaneignung eines entfremdeten ‚Seins-für-denAnderen„ sich dem Zugriff der anderen preisgibt, der in seiner Überkorrektheit so gut sich verrät wie in seiner Ungeschicklichkeit [...] Auf der Gegenseite setzt die Ungezwungenheit, diese Art Gleichgültigkeit gegenüber dem vergegenständlichenden Blick der anderen und darin Neutralisierung von deren Macht, die aus der Gewißheit gewonnene Selbstsicherheit voraus, ... in der Lage zu sein, die Normen der Wahrnehmung des eigenen Körpers durchzusetzen“ (Bourdieu 1982, S. 331). Dieses Beispiel macht des Weiteren deutlich wie der spezifische Klassenhabitus immer ein Teil der Identität der jeweiligen Person bleibt. Indem die individuelle Geschichte der Person und die Bedingungen der Entstehung des Habitus (Ausstattung mit Kapital) innerhalb dieses fortwirkt, also strukturierte Struktur ist, „bringt er Orientierungen, Haltungen, Handlungsweisen hervor, die die Individuen an den ihrer Klasse vorgegebenen Ort zurückführt – sie bleiben ihrer Klasse verhaftet und reproduzieren sie in ihren Praxen“ (Krais/Gebauer 2010, S. 43). In diesem Sinne wird nicht nur das eigene Schicksal bzw. die eigene Klassenlage akzeptiert, sondern es bildet sich vielmehr ein Geschmack heraus, der vollkommen an die eigene Position im sozialen Raum angepasst ist. „Der Geschmack bewirkt, daß man hat, was man mag, weil man mag, was man hat, nämlich die Eigenschaften und Merkmals, die einem de facto zugeteilt und durch Klassifikationen de jure zugewiesen werden“ (Bourdieu 1982, S. 285f.). Dies macht deutlich, dass die hierarchischen gesellschaftlichen Bedingungen den Akteurinnen und Akteuren nicht einseitig auferlegt werden, sondern, dass diese Bedingungen über den Habitus reproduziert werden und somit zu einem Teil der Persönlichkeit der Individuen werden. „Der Sinn für die eigene soziale Stellung als Gespür dafür, was man »sich erlauben« darf und was nicht, schließt ein das stillschweigende Akzeptieren der Stellung, ein Sinn für Grenzen (»das ist nichts für uns«), oder, in anderen Worten, aber das gleiche meinend: einen Sinn für Distanz, für Nähe und Ferne, die es zu signalisieren, selbst wie von seiten der anderen einzuhalten und respektieren gilt – und dies um so stärker, 20 THEORETISCHE GRUNDLAGEN je regieder die Lebensbedingungen sind und je regieder das Realitätsprinzip vorherrscht [...]“ (Bourdieu 1995, S. 18). Doch trotz der beschriebenen Unwahrscheinlichkeiten, ist ein Aufstieg der Akteurinnen und Akteure in eine höhere Stellung im sozialen Raum, bzw. in eine höhere Klasse möglich. Zur Veranschaulichung der Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs zieht Bourdieu das aufstrebende Kleinbürgertum heran, dessen Klassenhabitus insbesondere durch seinen Willen zum Aufstieg geprägt ist. Als eine wahrscheinliche Möglichkeit des sozialen Aufstiegs benennt Bourdieu die allgemeine Veränderung der Klassenlage im Raum der sozialen Positionen aufgrund von Veränderung der Wirtschaftsstruktur oder der Aufwertung von Berufen durch symbolisches Kapital (vgl. Bourdieu 1995, S. 25f.). In diesem Fall würden alle Klassenmitglieder eine gehobenere Stellung im sozialen Raum einnehmen. Doch auch individuell ist der Aufstieg einer Kleinbürgerin bzw. eines Kleinbürgers in eine höhere Klasse möglich. Der Klassenhabitus des Kleinbürgertums ist maßgeblich geprägt durch eine Orientierung an dem möglichen Aufstieg im sozialen Raum und somit zukunftsgewandt. Im Unterschied zu den unteren, proletarischen Klassen, welche auf eine Befriedigung der Bedürfnisse im Hier und Jetzt orientiert sind, sind die Mitglieder des Kleinbürgertums eher bereit, temporär Entbehrungen und Anstrengungen auf sich zu nehmen, um diesen Aufstieg zu verwirklichen. (Vgl. Krais/Gebauer 2010, S. 44f.) „Die aufsteigende Kleinbourgeoisie wiederholt unaufhörlich die geschichtlichen Anfänge des Kapitalismus und kann dabei, ganz wie die Puritaner, nur auf ihre Fähigkeit zur Askese zählen. Dort, wo andere wirkliche Garantien, Geld, Bildung oder Beziehungen für sich sprechen lassen können, hat sie nur moralische Garantien auf ihrer Seite; verhältnismäßig arm an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, kann sie ihre »Ansprüche« nur »nachweisen« und sich damit Aussichten auf deren Realisierung eröffnen, wenn sie bereit ist, dafür durch Opfer, Verzicht, Entsagung, Eifer, Dankbarkeit - kurz: durch Tugend zu zahlen“ (Bourdieu 1982, S. 527f.). Ist es nun einer Person gelungen, seine Stellung im Raum der sozialen Positionen zu verbessern, so kommt ein Sachverhalt zum Tragen, den Bourdieu als Hysteresis bzw. Trägheit des Habitus bezeichnet (vgl. Krais/Gebauer 2010, S. 21). Einen Habitus kann man demnach nicht einfach wechseln, da er verinnerlichte Geschichte ist, strukturierte Struktur. Daher bleibt immer die Grundstruktur des bisher angeeigneten Habitus erhalten, auch wenn er modifiziert, weiterentwickelt und angepasst werden kann. Bourdieu beschreibt den Habitus des aufgestiegenen Klein- 21 THEORETISCHE GRUNDLAGEN bürgertums als das Festhalten an Werten und Autoritäten, welche vermeintlichen Halt in der neuen sozialen Position bieten sollen. „Die Dispositionen des Kleinbürgertums, die sich in seiner Beziehung zur Kultur offenbaren – im Konformismus, der sich an Autoritäten und Verhaltensmuster klammert und sich ans Bewährte und als wertvoll Beglaubigte hält [...] diese Dispositionen manifestieren sich ebenfalls auf moralischem Gebiet als fast unersättlicher Hunger nach Verhaltensmaßstäben und -techniken, mit deren Hilfe die gesamte Lebensführung einer strengen Disziplin unterworfen werden und Grundsätze und Vorschriften zur allseitigen Selbstbeherrschung führen sollen [...]“ (Bourdieu 1982, S. 519). So bleibt der Habitus der aufstrebenden Akteurinnen und Akteure jedoch immer von den Erfahrungen und Bedingungen der Herkunftsklasse sowie des hart erarbeiteten Aufstiegs geprägt und manifestiert sich in einer relativen Unsicherheit in den neuen Bezügen. 2.2.2.2 Habitus und Geschlecht Habe ich mich im bisherigen Verlauf der Ausarbeitung hauptsächlich mit vertikalen Ungleichheiten (Klasse) beschäftigt, so will ich nun einen Blick auf die horizontalen Ungleichheiten in den hochentwickelten Gesellschaften, anhand der Kriterien Sex und Gender vornehmen. In den Arbeiten von Bourdieu findet sich durchgehend eine geschlechtssensible Betrachtungsweise, welche er in seinem Buch „Die männliche Herrschaft“ systematisch ausarbeitet (vgl. Bourdieu 2005). In annähernd allen heutigen Gesellschaften ist die Klassifizierung der Menschen in weiblich und männlich und eine Unterteilung der gesellschaftlichen Aufgaben unter dieses binäre Raster bekannt. Im Unterschied zu der beschriebenen gesellschaftlichen Klassenstruktur, bietet diese Unterteilung jedoch keinerlei Abstufungen, sondern wird alleine auf zwei Pole (männlich und weiblich), denen sich die Gesellschaftsmitglieder eindeutig unterordnen müssen, begrenzt. Zwar gibt es gesellschaftlich und kulturell Unterschiede in der Bewertung, was als männlich und was als weiblich gilt, das grundsätzliche Herrschaftsprinzip der Zweigeschlechtlichkeit bleibt aber weitgehend erhalten. Die Erklärungsansätze, welche Bourdieu für die geschlechtsbezogene Ungleichheit liefert, leiten sich aus der Verinnerlichung dieser Struktur im Habitus der Gesellschaftsmitglieder ab. Schon in frühester Kindheit wird diese Zweigeschlechtlichkeit von den Gesellschaftsmitgliedern angeeignet und somit als Teil des Habitus zu einem wichtigen Element der Identität des Subje. Beate Krais und Gunter Gebauer weisen darauf hin, dass es zu einem Verständnis der Theorie von Bourdieu notwendig ist, zu erkennen, dass diese Zweigeschlechtlichkeit als ein nicht zu 22 THEORETISCHE GRUNDLAGEN überwindender Antagonismus, das heißt als entgegengesetzte Identitäten konstruiert ist (vgl. Krais/Gebauer 2010, S. 49). „Geschlechtliche Identität ist Ergebnis einer Arbeit der Differenzierung, Unterscheidung und Distinktion, einer Arbeit, die aus Vereinfachungen, Ausschließungen, aus der Unterdrückung von Uneindeutigkeiten entlang einem antagonistischen Schema von männlich und weiblich besteht“ (Krais/Gebauer 2010, S. 50). In diesem Sinne werden in dem Prozess der Sozialisation von Kindern alle geschlechtsspezifischen Uneindeutigkeiten und alle Handlungsweisen, Gefühle und Wahrnehmungen, die nicht der gesellschaftlichen Zuschreibung des Geschlechts entsprechen ausgeklammert. Hierdurch beschneiden sich die Akteurinnen und Akteure innerhalb der Sozialisation selber einer Vielzahl der möglichen menschlichen Ausdrucks- und Erlebnisweisen und grenzen diese aus dem eigenen Bereich ihrer Möglichkeiten aus. Für Bourdieu leiden unter diesen Ausschließungen sowohl weiblich, als auch männlich sozialisierte Akteurinnen und Akteure, wobei festzuhalten bleibt, dass die männlich sozialisierten Akteure die herrschende gesellschaftliche Position im Geschlechterverhältnis inne haben. Als einen der Gründe der umfassenden Durchsetzung des Prinzips der Zweigeschlechtlichkeit und der hiermit verbundenen männlichen Herrschaft benennt Bourdieu den Körperbezug dieses Konstrukts. Anders als etwa bei der Konstruktion vertikaler sozialer Ungleichheiten wird sich bei der ausschließlichen Zweigeschlechtlichkeit und der hierauf basierenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung auf die „... Teilung der geschlechtlichen Arbeit – im Sexualakt und in der Reproduktion der Gattung“ (Krais/Gebauer 2010, S. 50) berufen. Somit wird der geschlechtsspezifischen gesellschaftlichen Arbeitsteilung eine vermeintliche körperliche Grundlage und Rechtfertigung verliehen. Geschlechtsspezifische Ungleichheiten werden in diesem Sinne als natürlich wahrgenommen und nicht weiter hinterfragt. Als fest verankerte Disposition des Habitus beeinflusst das Geschlechterbild auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers und den Umgang mit diesem. Das Geschlechterverhältnis ist also Teil des Habitus geworden, womit es sich hierbei nach Bourdieu um die „Somatisierung der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse“ (Bourdieu 2005, S. 45) handelt. Um die Wirkung der männlichen Herrschaft im Geschlechterverhältnis zu verdeutlichen, benutzt Bourdieu den Begriff der „Symbolischen Gewalt“. Hierbei handelt es sich um eine sehr subtile Gewaltform, die von den Beherrschten, wie von den Herrschenden oft gar nicht wahrgenommen wird. Vielmehr wird sie in der direkten Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Akteurinnen oder Akteuren erst dann wirksam, wenn in den individuellen Habitus der Akteurinnen 23 THEORETISCHE GRUNDLAGEN oder Akteure durch Aneignung die gleichen Herrschaftsstrukturen als legitim verankert sind und diese somit in den Handlungen und Bewertungen reproduziert werden. Krais und Gebauer machen diesen Sachverhalt noch einmal deutlich, wenn sie konkretisieren: „Herrschaft heißt auch, dass die der Herrschaft unterliegenden Subjekte über weite Strecken die ‚herrschende Meinung„, die Sicht der Welt übernehmen, die die Herrschenden entwickelt haben, und damit ein von diesen geprägtes Selbstbild“ (Krais/Gebauer 2010, S. 53). 2.2.3 Exkurs: Der politische Kampf im Werk Pierre Bourdieus „Ist die soziale Welt auch weitgehend von den Menschen gemacht, so haben diese doch nur eine Chance, sie in ihrer alten Form niederzureißen, um sie dann neu aufzubauen, sofern sie über ein realistisches Wissen darüber verfügen, was sie ist und wie weit sie auf sie einwirken können – eingedenk ihrer Stellung in ihr“ (Bourdieu 1995, S. 28). Bourdieu hat sich in seinem gesamten Werk mit der Entstehung und Reproduktion sozialer Ungleichheiten befasst. In weitreichenden empirischen Studien hat er die Ungerechtigkeiten der modernen Gesellschaften analysiert und diese als Herrschaftsverhältnisse, welche sich in den alltäglichen Interaktionen der Gesellschaftsmitglieder reproduzieren, entlarvt. Doch Bourdieus Wirken kann nicht einseitig auf die gelehrte Erstellung von Texten für ein akademisch geschultes Publikum verkürzt werden. Vielmehr hat er (insbesondere in den späteren Jahren seines theoretischen und empirischen Wirkens) sowohl für sich, als auch für die Soziologie insgesamt eine politische Verantwortung erkannt und diese in vielfältigen Publikationen, Vorträgen, Diskussionsveranstaltungen und Demonstrationen wahrgenommen. Daher muss eine Darstellung des Werkes von Bourdieu auch die von ihm ganz praktisch anvisierte Gesellschaftsveränderung mit einschließen und die in seinen Werken dargelegte tendenzielle Offenheit in den gesellschaftlichen Bedingungen aufzeigen. Aus diesem Grunde sollen im Folgenden die Intentionen des politischen Akteurs Pierre Bourdieu, sowie die von ihm benannten Möglichkeiten der Gesellschaftsveränderung in den Blick genommen werden. Aus dem oben stehenden Zitat wird ersichtlich, dass für Bourdieu eine progressive Gesellschaftsveränderung nur über die Erkenntnis der herrschenden Macht- und Unterdrückungsverhältnisse durch die gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure möglich wird. In Kapitel 2.2.2.2 habe ich die symbolische Gewalt anhand des Geschlechterverhältnisses dargestellt und auf die Verschleierung dieses Herrschaftsverhältnisses hingewiesen. Insbesondere durch den Effekt der „Naturalisierung“ (Bourdieu 1991, S. 27) erwecken diese von Menschen sozial geschaffenen Ungleichheiten den Eindruck aus der Natur der Dinge hervorzugehen und somit nicht sozial veränderbar zu sein. In der Aufklärung über die tatsächlichen Funktionsweisen und Mechanismen 24 THEORETISCHE GRUNDLAGEN der gesellschaftlichen Herrschaft sieht Bourdieu die Aufgabe der kritischen Theoretikerin bzw. des kritischen Theoretikers. Insbesondere die Soziologie stellt für Bourdieu eine wissenschaftliche Disziplin dar, die von denjenigen Gesellschaftsmitgliedern gefürchtet wird, welche von den gegebenen Machtverhältnissen profitieren (vgl. Bittlingmayer/Eickelpasch 2002, S.13). Die Soziologie sei durch eine kritisch-aufklärerische Arbeit in der Lage, den beherrschten Subjekten sowie den progressiven gesellschaftlichen Kräften die verdeckten Herrschaftsmechanismen aufzuzeigen und diesen somit neue Handlungsoptionen der Veränderung zu erschließen (vgl. Bourdieu 1996, S. 33). „Sie kann realistische Mittel anbieten, um den der Gesellschaftsordnung immanenten Tendenzen entgegenzuwirken“ (Bourdieu 1996, S. 33). Doch reicht es für Bourdieu nicht aus, gesellschaftliche Ungleichheiten zu erkennen und diese zu kritisieren. Vielmehr konstatiert er, dass es eines hohen symbolischen Kapitals bedarf, um dies in der sozialen Welt auch sichtbar und für viele Menschen wahrnehmbar zu machen. „Im Kampf um Durchsetzung der legitimen Sicht von Welt, in den auch die Wissenschaft unausweichlich verstrickt ist, besitzen die Akteure Macht jeweils proportional zum Umfang ihres symbolischen Kapitals, das heißt proportional zum Maß ihrer Anerkennung durch die Gruppe“ (Bourdieu 1995, S. 22f.). In der hierarchischen Gesellschaftsordnung sind allerdings insbesondere diejenigen Akteurinnen und Akteure, welche unter den gesellschaftlichen Machtverhältnissen leiden, häufig nur mit einem sehr geringen symbolischen Kapital ausgestattet und somit nur bedingt in der Lage, ihrer Position Gehör zu verschaffen. „Denn in jenem Kampf, in dem es um die Wahrheit der sozialen Welt geht, sind die Kontrahenten tatsächlich ungleich ausgerüstet, um zur absoluten, das heißt sich selbst verifizierenden Sicht und Voraussicht zu gelangen“ (Bourdieu 1995, S. 25). Daher sind es aus dem Blick der herrschenden Wahrnehmungskategorien die Sichtbarsten, welche in der Lage wären, die Sicht auf die herrschenden Verhältnisse und damit evtl. diese selber zu verändern. Jedoch bedauert Bourdieu, dass gerade die Inhaber eines hohen Volumens an symbolischem Kapital am wenigsten hierzu bereit seien, da sie häufig von den gegebenen Gesellschaftsstrukturen profitieren würden. (Vgl. Bourdieu 1995, S. 23) Um den Mangel an individuellem symbolischem Kapital auszugleichen, schließen sich einige Akteurinnen und Akteure zu gesellschaftspolitischen Gruppen zusammen und versuchen hierdurch gesellschaftliche Macht zu erlangen. Aufgrund der ähnlichen gesellschaftlichen Erfahrungen und der ähnlichen Dispositionen des Habitus ist der Zusammenschluss von sich im sozialen Raum nahe stehenden Akteurinnen und Akteuren zur politischen Einflussnahme und der eigenen 25 THEORETISCHE GRUNDLAGEN Interessenvertretung wahrscheinlich. Dennoch ist eine tatsächliche Annäherung der im sozialen Raum Benachbarten niemals zwingend notwendig, sowie die tatsächliche Annäherung der im sozialen Raum Entferntesten niemals unmöglich. (Vgl. Bourdieu 1995, S. 13) Die Theorie von Bourdieu stellt hier einen weiteren Bruch mit den Grundsätzen Karl Marx dar, welcher von einer historischen Notwendigkeit des Zusammenschlusses der Angehörigen der proletarischen Klasse aufgrund der Bewusstwerdung ihrer beherrschten Position ausging. Marx beschreibt diesen Prozess als Entwicklung des Proletariats von der „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“ (vgl. Bourdieu 1995, S. 15). Bourdieu kritisiert an dieser Annahme, Marx habe sich „ausgeschwiegen über jene geheimnisvolle Alchemie, kraft derer den objektiven ökonomischen Bedingungen eine ‚kämpfende Gruppe„, ein personalisiertes Kollektiv, ein sich seine eigenen Zwecke setzendes historisches Subjekt entsteigt“ (Bourdieu 1995, S. 15). Als ein Beispiel für die mögliche Annäherung von weit im sozialen Raum entfernt liegenden Akteurinnen und Akteuren (z.B. Arbeiter und Unternehmerin) benennt Bourdieu die Entwicklung einer nationalen Identität in internationalen Krisenzeiten (vgl. Bourdieu 1995, S. 13). Als weitere regressive Zusammenschlüsse von unterschiedlichen sozialen Akteurinnen undAkteuren könnte die Konstruktion vermeintlicher homogener Gruppen in der Abgrenzung zu als fremd und nicht zugehörig definierten Gesellschaftsmitgliedern, etwa durch Rassismus, Sexismus und Homophobie, benannt werden. Diese falsche Analyse sorgt jedoch für keinerlei grundlegende Gesellschaftsveränderung, sondern reproduziert und verschärft die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse. Eine andere Möglichkeit des Zusammenschlusses von im sozialen Raum weit entfernt liegenden Akteurinnen und Akteuren stellt die individuelle Position in den gesellschaftlichen Teilfeldern dar. So ist eine Solidarisierung und eine gemeinsame Interessenvertretung etwa einer jungen Akademikerin, welche sich in einer beherrschten Position des akademischen Feldes befindet mit einem jungen Arbeitslosen, welcher nur über ein sehr geringes ökonomisches Kapital verfügt, nicht unwahrscheinlich. Für Bourdieu stellt die Vermittlung von Wissen und Bildung einen wichtigen Aspekt dar, um einer falschen Analyse und deren verheerenden Folgen entgegen zu wirken und die Möglichkeiten einer progressiven Gesellschaftsveränderung aufscheinen zu lassen. Somit ist der Zugang zur Bildung für ihn die Grundlage einer wirklich demokratischen Gesellschaft und der „archimedische Punkt“ (Bourdieu 1995, S. 18) an welchem eine Gesellschaftsveränderung möglich erscheint. 26 THEORETISCHE GRUNDLAGEN „Die wirtschaftlichen und kulturellen Zugangsbedingungen zur politischen Meinung müssen allgemein verfügbar gemacht, also demokratisiert werden. Einen entscheidenden Platz nimmt dabei die Bildung ein“ (Bourdieu 1996, S. 33). Ist es auch durch die Aufklärungsarbeit der kritischen Soziologie bisher zu keinem gesellschaftlichen Umbruch gekommen, so sieht Bourdieu die Wirkung dennoch positiv. „Nun löst man die Widersprüche nicht gleich, wenn man sie bloßlegt. Jene Mechanismen, die das Leben unerträglich, ja unlebbar machen, werden nicht ausgeschaltet, bloß weil man sie bewusst gemacht hat. Doch so skeptisch man auch darüber denken mag, wie wirksam die Botschaft der Soziologie gesellschaftlich ist, völlig wirkungslos kann sie nicht sein, wenn sie Leidenden zumindest die Möglichkeit eröffnet, ihr Leiden gesellschaftlichen Ursachen anzulasten und sich selbst so entlastet zu fühlen. Und was die soziale Welt geknüpft hat, kann sie im Besitz dieses Wissens auch lösen“ (Bourdieu 1996, S. 33). 2.3 Verbindung der theoretischen Ansätze und Konsequenzen Die Analyse und Erklärung sozialer Ungleichheiten ist das elementare Moment in den theoretischen und empirischen Arbeiten Pierre Bourdieus. Hierbei nimmt der Habitus als Verinnerlichung der gesellschaftlichen Struktur eine herausragende Stellung ein. Ein wichtiges Element in den Arbeiten Bourdieus stellt die Analyse der Reproduktion gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse über den Habitus dar. „Reproduzieren sich die objektiven Kräfteverhältnisse in den diversen Sichten von sozialer Welt, die zugleich zur Permanenz dieser Verhältnisse beitragen, so also deshalb, weil die Strukturprinzipien der Weltsicht in den objektiven Strukturen der sozialen Welt wurzeln und die Kräfteverhältnisse auch im Bewusstsein der Akteure stecken in Form von Kategorien zur Wahrnehmung dieser Verhältnisse“ (Bourdieu 1995, S. 18). Aus diesem Zitat wird der wechselseitige Einfluss des Habitus als „opus operatum“ und „modus operandi“ deutlich, welche für die Reproduktion sozialer Ungleichheit eine herausragende Rolle spielen. Die gesamte Habitustheorie von Bourdieu basiert somit auf der Entstehung des Habitus durch die Verinnerlichung der gesellschaftlichen Strukturen. Jedoch macht Bourdieu in seinem gesamten Werk keine Angaben über die genaue Sozialisation der Akteurinnen und Akteure in ihrer Umwelt bzw. die Habitusgenese (vgl. Krais/Gebauer 2010, S. 63). Ullrich Bauer bezeichnet dieses Defizit der Habitustheorie als „black box“, welche eine theoretische Leerstelle zwischen den Herkunftsbedingungen und dem hieraus erwachsenen Dispositionen des Habitus in der Theorie Bourdieus markiert (vgl. Bauer 2002, S. 425). Will man die Habitustheorie und somit ein weitreichendes Konzept der Entstehung und Reproduktion sozialer Ungleichheiten in die Soziale Arbeit übertragen, so muss diese Leerstelle theoretisch gefüllt werden. Die bisherige Nichtbeachtung der genauen Mechanismen der Habitusgenese innerhalb der Sozialisation scheint mir ein 27 THEORETISCHE GRUNDLAGEN wichtiger Grund für die mangelnde Rezeption des Konzeptes in der Sozialen Arbeit zu sein. Insbesondere für die Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft kann es nicht ausreichen, soziale Bedingungen zu analysieren, vielmehr muss diese Methoden und Handlungsansätze entwickeln, welche es erlauben, der Unterdrückung und Ausgrenzung sozialer Akteurinnen und Akteure produktiv entgegenzuwirken. Hierzu sind Erkenntnisse über Möglichkeiten der Beeinflussung der Habitusgenese notwendig, welche nur über eine fundierte Verbindung der Theorien von Bourdieu mit einer geeigneten Sozialisationstheorie zu entwickeln sind. Durch eine Verbindung der theoretischen Arbeiten von Pierre Bourdieu und Alexej Nikolajewitsch Leontjew hoffe ich, erste Ansätze liefern zu können, um diese Lücke zu schließen. Im Gegenzug erhält die Aneignungstheorie von Alexej N. Leontjew durch die Verbindung zu der Theorie von Pierre Bourdieu einen fundierten gesellschaftstheoretischen Background, welcher sie davor bewahrt, soziale Ungleichheiten aus dem Blickfeld zu verlieren, bzw. auf einen reinen Ökonomismus zu verkürzen. Die Aneignungstheorie gibt einen sehr guten Einblick in die psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im Zusammenhang mit ihrer Umwelt. Jedoch findet eine konkrete Gesellschaftsanalyse sowie eine Analyse der räumlichen Lebensrealität der Akteurinnen und Akteure keinen direkten Eingang in die Beschreibung der Aneignungstätigkeit bei Leontjew. „Bei der Darstellung des Aneignungsvorgangs selbst wird dem Umstand, dass die anzueignende gesellschaftliche Erfahrung die einer bestimmten strukturierten, konkreten Gesellschaft ist, außer Acht gelassen“ (Holzkamp 1973, S.199). Daher ist es meiner Ansicht nach notwendig, die Aneignungstheorie mit einer Gesellschaftstheorie, welche die moderne Gesellschaft in all ihren Strukturmerkmalen erfasst, zu ergänzen. Hierbei erscheint mir die Soziologie von Pierre Bourdieu als sehr gut geeignet, auch da dieser auf ähnlichen materialistischen Grundannahmen wie Leontjew aufbaut. Mit Ulrich Deinet lässt sich vermuten, dass sich die Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft für Kinder und Jugendliche, welche sich meist noch außerhalb des Produktionsprozesses befinden, hauptsächlich räumlich vermitteln (vgl. Deinet 2009, S. 37). „Leontjews Gegenstandsbedeutung im Aneignungsprozess ist für Kinder und jüngere Jugendliche quasie eingebettet in den ‚Raum„ unserer Gesellschaft, in die konkreten, durch die Struktur der Gesellschaft geschaffenen, räumlichen Gegebenheiten“ (Deinet 2009, S. 37). Im Folgenden werde ich versuchen eine Verbindung der theoretischen Konzepte am Beispiel der sozialräumlichen Sozialisation zu verdeutlichen und zu konkretisieren. 28 JUGEND IM URBANEN RAUM 3 JUGEND IM URBANEN RAUM 3.1 Welches Raumverständnis liegt einer Analyse zugrunde? Bei der Übertragung der bisher dargestellten Theorien von Alexej N. Leontjew und Pierre Bourdieu auf das räumliche Verhalten von Jugendlichen im urbanen Raum, kann es zu einigen begrifflichen Missverständnissen kommen, welche hier ausgeräumt werden sollen. Wie bereits in Kapitel 2.2.2.1 dargestellt, begreift Bourdieu die gesellschaftliche Struktur als eine Anordnung von Akteurinnen und Akteuren nach spezifischen Kriterien in einem theoretisch konstruierten sozialen Raum. Diesem von Bourdieu eindeutig definierten Begriff des sozialen Raumes1 kommt in seiner Theorie eine herausragende Bedeutung zu und wird daher in der vorliegenden Arbeit auch in diesem Sinne benutzt. Wollen wir uns nun jedoch den Handlungen von Jugendlichen innerhalb ihrer räumlichen Lebenswelt zuwenden, so stoßen wir in den verfügbaren Untersuchungen zu diesem sozialen Komplex auf eine Vielzahl von Raumbegriffen, welche einer Konkretisierung bedürfen. Hierzu ist eine Beschäftigung mit dem Raumverständnis der Sozialwissenschaften notwendig. Innerhalb vieler wissenschaftlicher Disziplinen (u.a. Städtebau, Architektur usw.) wird Raum vorwiegend als ein Behälter bzw. Container verstanden, welcher vermessbar, abgrenzbar und hiermit umfassend zu erklären sei. Dieses Verständnis nimmt den Raum als ein neutrales Gefäß wahr, welches durch materielle und körperliche Objekte gefüllt wird (vgl. Frey 2004, S. 219f.). Für die Sozialwissenschaften sind jedoch andere Raumvorstellungen von Bedeutung. Insbesondere Martina Löw hat in den letzten Jahren die Notwendigkeit eines erweiterten Raumbegriffes herausgearbeitet: „Meine These ist, dass nur, wenn nicht länger zwei verschiedene Realitäten – auf der einen Seite der Raum, auf der anderen die sozialen Güter, Menschen und ihr Handeln – unterstellt werden, sondern stattdessen Raum aus der Struktur der Menschen und sozialen Güter heraus abgeleitet werden, nur dann können die Veränderungen der Raumphänomene erfasst werden“ (Löw 2001, S. 264). Der Raum ist somit nicht losgelöst von den Menschen und ihrem Handeln zu verstehen. Vielmehr sind diese Teil des Raumes und können diesen durch ihre Handlungen und Verhaltensweisen konstituieren. In diesem Sinne sollte ein für die Soziale Arbeit praktikabler Raumbegriff den Raum immer als Raum, in welchem soziale Beziehungen stattfinden und deutlich werden, verstehen. Daher wird 1 Schreibweise als „sozialer Raum“ im Original bei Bourdieu. 29 JUGEND IM URBANEN RAUM in der vorliegenden Arbeit der soziale Raum als feststehender Begriff der Theorie von Bourdieu verwendet, alle anderen Raumbegriffe verstehen den Raum in dem von Martina Löw beschriebenen Sinne. 3.2 Die Lebensphase Jugend in der Klassengesellschaft nach Bourdieu Im Zuge der aktuellen gesamtgesellschaftlichen Veränderungen im Neoliberalismus verändert sich auch die Struktur der Lebensphase Jugend und stellt die betroffenen Akteurinnen und Akteure vor eine Vielzahl neuer Bewältigungsherausforderungen. Im Folgenden werde ich einige wichtige Bewältigungsaufgaben von Jugendlichen darstellen und einer genaueren Betrachtung unterziehen. Hierbei werde ich zunächst einen Einblick in aktuelle Erkenntnisse der Jugendsoziologie und der Jugendsozialarbeit bieten und diese anschließend anhand der Erkenntnisse aus den Theorien von Pierre Bourdieu und Alexej N. Leontjew ergänzen und kritisieren. Um eine Einordnung der Lebensphase Jugend in unserer heutigen Zeit und deren aktuelle Veränderungen vornehmen zu können, ist ein Blick in die Vergangenheit unumgänglich. Jugend als eigene Lebensphase ist nicht naturwüchsig in der Entwicklung des Menschen vorhanden. Vielmehr hat sich diese erst im Zuge der Industrialisierung als eigenständiger Abschnitt im Lebenslauf der Menschen etabliert. Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann stellt in diesem Zusammenhang heraus, dass es in der Geschichte der Menschheit immer schon eine Phase der Pubertät gab, in welcher sich die Geschlechtsreife bzw. körperliche Reife der Menschen vollzog, jedoch konnte diese nicht als eigenständige Lebensphase bezeichnet werden (vgl. Hurrelmann 2005, S.19). In der vorindustriellen Zeit lebten die Menschen hauptsächlich von den Dingen, die sie selber anbauten bzw. bestritten ihren Lebensunterhalt mit kleinen handwerklichen Familienbetrieben. Zu dieser Zeit war es für die Familien überlebenswichtig, dass die Kinder schon in sehr frühem Alter im familiären Betrieb mitarbeiteten. So verrichteten die Kinder im Prinzip die gleiche Arbeit wie die Erwachsenen (abhängig von der körperlichen Leistungsfähigkeit) und auch der Lebensstil unterschied sich kaum voneinander. Mit der weiteren Spezialisierung und Verkomplizierung der handwerklichen Betriebe entwickelte sich in den Städten allmählich eine Phase der Berufsausbildung. Diese Phase kann als der Vorläufer einer eigenen Lebensphase Jugend gesehen werden. Ungefähr zur gleichen Zeit entwickelten sich auch in der bürgerlichen Klasse Ansätze einer Jugendphase. Diese Entwicklung war jedoch zu diesem Zeitpunkt nur für männlich sozialisierte Kinder und Jugendliche auszumachen. Weiblich sozialisierte Kinder und Jugendliche hingegen mussten von klein auf bei der Hausarbeit helfen und wurden so auf ein Leben als Hausfrau und Mutter vorbereitet. Der Übergang von der Kindheit in das Erwachsenenleben war somit bei diesen noch viel fließender. Auch für die jungen Menschen im ländlichen 30 JUGEND IM URBANEN RAUM Raum, setzte die Herausbildung einer eigenständigen Jugendphase erst sehr viel später ein. Hier war eine Spezialisierung, vergleichbar mit den Handwerksbetrieben, noch nicht angekommen. Im Zuge der Industrialisierung und der hiermit einhergehenden Bindung eines Großteils der Bevölkerung an die sich immer weiter ausdifferenzierende industrielle Produktion wurde eine eigenständige Lebensphase der Berufsausbildung im Lebenslauf notwendig. Insbesondere aufgrund der voranschreitenden Arbeitsteilung und Spezialisierung der Produktion erschien es als notwendig, junge Menschen vor dem endgültigen Eintritt in das Erwerbsleben in der Berufsausübung zu schulen, um den gesteigerten Anforderungen gerecht zu werden. Im Zuge dessen entwickelte sich, in Deutschland in der Zeit der Weimarer Republik, die flächendeckende Durchsetzung einer eigenständigen Lebensphase Jugend. Das Konzept der Separation mit anschließender Integration wurde zum Leitbild (vgl. Böhnisch 2008, S.147). Lothar Böhnisch beschreibt dies als die Separation der Jugend von der Gesellschaft, um in einem relativen Schonraum die lebensphasentypische Entwicklung der Abgrenzung von den Eltern und der Herausbildung einer eigenen Persönlichkeit, sowie die Ausbildungsanforderungen zu bewältigen. Anschließend wurden sie wieder in die Gesellschaft und das Arbeitsleben (re-)integriert. (Vgl. Böhnisch 2008, S.146) In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlängerte sich diese Lebensphase Jugend immer mehr, um den steigenden Bildungsanforderungen gerecht zu werden. Lothar Böhnisch und Richard Münchmeier bezeichnen diese Phase als bildungsoptimistische Jugendphase (vgl. Böhnisch/Münchmeier 1987, S.56ff). Wer eine solide Ausbildung bzw. ein abgeschlossenes Studium hatte, konnte in Zeiten der Vollbeschäftigung auf die Integration in den Arbeitsmarkt und hiermit einhergehend in die (Erwachsenen-) Gesellschaft vertrauen. Im Zuge der aktuellen Ausbildungs- und Arbeitsmarktkrisen kann das ehemalige Versprechen der Separation mit späterer Integration heute jedoch für viele Jugendliche nicht mehr eingelöst werden. Gute schulische Leistungen und Abschlüsse bedeuten nicht mehr automatisch eine gelingende Integration in den Arbeitsmarkt und eine erfolgreiche Berufslaufbahn (vgl. Münchmeier 2005, S. 820). Somit ist auch der Übergang von der Jugendphase in den Erwachsenenstatus, welcher heute hauptsächlich durch die ökonomische Unabhängigkeit definiert wird, brüchig geworden. Insbesondere Jugendliche aus den unteren sozialen Klassen sind von dieser Entwicklung betroffen, da ihnen häufig die Möglichkeit kostenaufwendiger Spezialausbildungen sowie das Einschlagen einer risikoreichen aber gut dotierten und prestigereichen Berufslaufbahn durch die fehlende finanzielle Absicherung vorenthalten bleibt. Somit werden diese häufig auf berufsvorbereitende Maßnahmen, 1-Euro-Jobs oder Bildungsprogramme der Arbeitsagentur verwiesen, welche diese zwar beschäftigen, ihnen aber kaum eine Perspektive für den Übergang in das Er31 JUGEND IM URBANEN RAUM werbsleben und den Erwachsenenstatus bieten. Dennoch werden sie hierbei auf eine Zukunft vertröstet, welche sie evtl. nie erreichen. Lothar Böhnisch bezeichnet die Jugend, welche nicht den Erwachsenenstatus erreicht und gegenüber der somit das Integrationsversprechen nicht eingehalten wird, als eine Jugend im Wartestand (vgl. Böhnisch 2008, S. 147). Doch auch für die Jugendlichen aus den höher im sozialen Raum angesiedelten Klassen hat sich die Lebensphase Jugend heute stark verlängert. Durch den Arbeitsplatzmangel steigen die Bildungsanforderungen für die einzelnen Berufe stark an. Um in dieser Konkurrenz mithalten zu können streben die Jugendlichen einen immer höheren Bildungsabschluss an. Somit verlängert sich deren Verbleib in den Bildungseinrichtungen heute nicht selten bis in das dritte Lebensjahrzehnt hinein. Im Unterschied zu den Jugendlichen aus den niedrigen sozialen Klassen gelingt diesen jedoch meist eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt. Insbesondere die bessere Ausstattung mit den verschiedenen Kapitalsorten, sowie der Klassenhabitus, können als Gründe hierfür genannt werden (s.u.). Aufgrund der beschriebenen Schwierigkeiten des Übergangs in den Erwachsenenstatus ergeben sich schwerwiegende Folgen für die jungen Menschen, welche ein Umdenken in der sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise der Lebensphase Jugend bedürfen. Der frühere Schutzraum Jugend ist heute, in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit und des Ausbildungsplatzmangels, schon sehr früh von Konkurrenz der Jugendlichen untereinander betroffen. Auch die vormalige relative Unbeschwertheit der Lebensphase Jugend ist unter diesen Bewältigungsaufgaben in vielen Bereichen verloren gegangen. Als Ausdruck hiervon ist die Jugendphase heute, laut Lothar Böhnisch, einer starken Biografisierung unterworfen: „Jugend als gesellschaftlicher Erwartungskontext von Bildungsanforderung und Integrationsversprechen bietet keine soziale Verlässlichkeit mehr, muss von den einzelnen Jugendlichen mit biografisch je eigenen Chancen und Risiken – in unterschiedlichen ´Jugenden´ also – selbstthematisiert und bewältigt werden“ (Böhnisch 2008, S. 143). Diese Chancen und Risiken sind jedoch nicht gleichmäßig auf die Gesellschaftsmitglieder verteilt. Vielmehr sind sie stark von der Bedingungen des Aufwachsens, dem Klassenhabitus und der Verfügung über Kapital als Machtmittel abhängig. Somit haben Jugendliche aus niedrig im sozialen Raum angesiedelten Klassen eine relativ geringere Chance, diese Aufgabe erfolgreich zu bewältigen. Auch ein Migrationshintergrund muss in der gegebenen Gesellschaft als Beschränkung der Bewältigungsmöglichkeiten gesehen werden. „Mit Blick auf Migrantenjugendliche bzw. Jugendliche aus ethnischen Minderheiten kann man feststellen, dass all diejenigen Probleme, die für die unterschiedlichen Situationen einer modernen Jugendphase exis- 32 JUGEND IM URBANEN RAUM tieren, hier verschärft auftreten. Im Prozess der sozialen Integration werden Migrantenjugendliche mit einer Reihe von Problemen, Barrieren und Hürden konfrontiert, die über die typischen Probleme des Jugendalters hinaus, mit ihrem Status als Migranten bzw. Minderheitenangehörige in der multikulturellen Gesellschaft und den damit verbundenen Benachteiligungen zusammenhängen“ (Münchmeier 2005, S. 824). Münchmeier macht des Weiteren geschlechtsspezifische Unterschiede in Bezug auf die Bewältigungsmöglichkeiten der Herausforderungen der Jugendphase aus. So stellt er heraus, dass junge Frauen es trotz relativ höherer Bildungsabschlüsse schwerer haben, als junge Männer einen Ausbildungsplatz nach ihren Wünschen zu finden (vgl. Münchmeier 2005, S. 821). Auch anderweitige Ressourcen der Lebensbewältigung sind für junge Frauen schwerer zu erschließen und verfügbar zu halten (vgl. Münchmeier 2005, S. 827). „Sie sind eher auf schlechter bezahlte Jobs angewiesen, urbane ‚Szenen„ von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind offenbar nicht problemlos für ‚Frauen ohne Begleitung„ zugänglich; junge Frauen fühlen sich in vielen öffentlichen Räumen (in U-Bahnhöfen, Parks, bestimmten Straßenzügen, in Lokalen) unsicher und bedroht, sie erfahren einen stärkeren Anpassungsdruck, was ihre Selbständigkeit als junge Frauen und allgemein das Erwachsenwerden angeht“ (Münchmeier 2005, S. 827). Hier kommt der symbolischen Herrschaft innerhalb des Geschlechterverhältnisses, wie ich dieses in Kapitel 2.2.2.2 beschrieben habe, eine herausragende Bedeutung zu. Wie gezeigt werden konnte, sind die Chancen der Bewältigung jugendphasentypischer Probleme in der gegebenen Gesellschaft nicht für alle Jugendlichen gleich. Vielmehr können klassen-, geschlechts- und herkunftsbedingte Unterschiede in Bezug auf die Bewältigungsmöglichkeiten von Jugendlichen festgestellt werden. Pierre Bourdieu beschreibt dies als die Reproduktion der gesellschaftlichen Klassen- und Herrschaftsstrukturen und verdeutlicht diese insbesondere anhand seiner Analyse des Bildungswesens (vgl. Bourdieu 1981, S.169ff.). Wird die Institution Schule auch als eine zutiefst demokratische Einrichtung, in welcher alle Schülerinnen und Schüler die gleichen Chancen des Bildungserwerbs und somit der Erreichung des institutionalisierten Bildungstitels hätten, angepriesen, so macht Bourdieu in seinen Arbeiten im Gegensatz hierzu plausibel, auf welche subtile Art die gesellschaftliche Klassenstruktur in dieser reproduziert wird. Diese herausragende Bedeutung der Schule für die Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheiten wird insbesondere in Bezug auf die im sozialen Raum dominierenden Klassen deutlich und kann anhand des Wandels der Wirtschaftsstruktur in den industrialisierten Gesellschaften herausgearbeitet werden (vgl. Bauer 2002, S. 418f.). Waren die leitenden Positionen innerhalb der Wirtschaft in früheren Zeiten noch durch einzelne Wirtschaftsmagnatinnen oder -magnate geprägt, welche die Führungsposition an ihre leiblichen 33 JUGEND IM URBANEN RAUM Erben weitergaben, so ist heute, durch eine zunehmende Ausdifferenzierung und Verkomplizierung innerhalb der Betriebsführung, ein spezielles Expertenwissen notwendig, welches ohne entsprechende Ausbildung nicht zu erreichen ist. Daher hat sich die Führungsstruktur innerhalb der Wirtschaft meist auf eine Gruppe von hochqualifizierten leitenden Angestellten verlagert. Die Herkunftsfamilie ist somit heute nicht mehr ausreichende Garantie für eine hohe Anstellung. Vielmehr muss ein Bildungstitel erworben werden, welcher die formelle Zugangsberechtigung darstellt. „Das Bildungszertifikat hat den Familienstammbaum als Qualifikationsnachweis zumindest formell abgelöst: Das Feld der Macht verändert seinen Reproduktionsmodus von der Übertragung ökonomischen Kapitals zur Reproduktion über Bildungskapital“ (Bauer 2002, S. 419f.). Diese Reproduktion der eigenen Position im sozialen Raum durch die herrschenden Klassen geschieht insbesondere über einen Habitus, welcher in seinen Dispositionen den Anforderungen des Bildungswesens entspricht. Als verinnerlichte individuelle kulturelle Herkunft sind in diesem die in der Herkunftsklasse vorherrschenden Gewohnheiten und Fähigkeiten enthalten. Ist es zum Beispiel bei Angehörigen einer im sozialen Raum privilegierten Klasse, insbesondere mit einem hohen Anteil an kulturellem Kapital, üblich, den Kindern zum Einschlafen eine Geschichte vorzulesen, so stellt dies eine Förderung der sprachlichen Kompetenzen und einen Erwerb von kulturellem Kapital dar, welches bei Eintritt in die Schule produktiv genutzt werden kann. Auch der erlernte Umgang mit den Mitmenschen, der spezifische Sprachgebrauch und die Bewertung von Bildung und Wissen in der Herkunftsklasse beeinflussen den Habitus. Diese Kinder haben frühzeitig die kulturellen Muster, welche für einen erfolgreichen Bildungsweg notwendig sind, im Habitus angeeignet. Im Gegensatz hierzu stehen die kulturellen Praktiken innerhalb der beherrschten Klassen häufig im Widerspruch zu den Anforderungen des Bildungswesens. Ullrich Bauer betont, dass ein Gelingen der Bildungslaufbahn somit von der Nähe des angeeigneten Habitus zu den Anforderungen des Schulsystems abhängt (vgl. Bauer 2002, S. 422). „Dieser Abstand strukturiert, ob schulische Bildung als Weiter-Bildung dessen, was ohnehin schon angelegt ist, oder als Dekulturation, nämlich als Bruch mit den Erfahrungen und Fähigkeiten der Primärsozialisation und deshalb nur abgeschwächt wirkt“ (Bauer 2002, S. 422). Natürlich stellt auch weiterhin das Vorhandensein von ökonomischem Kapital einen Vorsprung im schulischen Wettbewerb um Bildungstitel und somit eine erfolgreiche Berufslaufbahn dar. Durch die Ermöglichung von Nachhilfeunterricht, Zusatzqualifikationen, Auslandsaufenthalte und die Freistellung von familiären Pflichten wird den Jugendlichen, welche über ein hohes ökonomisches Kapital verfügen, eine Transformation in kulturelles Kapital erleichtert. 34 JUGEND IM URBANEN RAUM Es konnte gezeigt werden, dass die Schule keine Chancengleichheit im eigentlichen Sinne herstellt. Vielmehr reproduziert diese die gegebenen Herrschaftsverhältnisse und legitimiert sie über die vermeintliche Chancengleichheit. Da die betroffenen Akteurinnen und Akteure diese Mechanismen meist nicht erkennen, bewerten sie das eigene Versagen als selbstverschuldet und ihre zugewiesene soziale Stellung somit auch als gerechtfertigt. In Bezug auf diese klassen-, herkunfts- und geschlechtsspezifische Differenzierung der Lebensphase Jugend und der Bewältigungsmöglichkeiten der Jugendlichen in Bezug auf die aktuellen Herausforderungen der Integration in die Arbeitsgesellschaft konstatiert Münchmeier, dass heute nicht mehr von einer einheitlichen Lebensphase Jugend gesprochen werden kann. „… es entwickeln sich gleichsam mehrere ‚Jugenden„, die sich voneinander so stark unterscheiden, dass sie nicht mehr in einem Modell zusammengefasst werden können“ (Münchmeier 2005, S. 818). Meine These ist nun, dass überall dort, wo eine Integration der Jugendlichen in die Erwachsenengesellschaft über den Arbeitsmarkt nicht mehr funktioniert, der Sozialraum als Aneignungsraum an Bedeutung gewinnt. Als primäre Aufenthaltsräume und als wichtige Sozialisationsräume gewähren oder versperren diese öffentlichen Räume den Jugendlichen elementare Aneignungsmöglichkeiten. In einer nach Klassen strukturierten Gesellschaft muss somit danach gefragt werden, wie sich diese Klassenstruktur räumlich niederschlägt und welche Aneignungsmöglichkeiten sich dadurch für Jugendliche eröffnen oder versperren. 3.3 Des Verhältnis von sozialen und physischen Räumen In der bisherigen Betrachtung der Theorie von Pierre Bourdieu habe ich mich hauptsächlich mit dem vom Theoretiker konstruierten sozialen Raum beschäftigt. In diesem Kapitel rückt nun die Frage in den Vordergrund, wie der soziale Raum und der physische Raum2, bzw. die sozialen Positionen und die tatsächlichen Positionen im physischen Raum zusammenhängen. „Der soziale Raum weist die Tendenz auf, sich mehr oder weniger strikt im physischen Raum in Form einer bestimmten distributionellen Anordnung von Akteuren und Eigenschaften niederzuschlagen“ (Bourdieu 1991, S.26). Aus diesem Zitat Bourdieus wird deutlich, dass sich die Klassenstruktur der Gesellschaft auch in den physischen Räumen wiederfindet und verankert. In diesem Sinne beschreibt Bourdieu den 2 Zur Abgrenzung gegenüber dem von ihm beschriebenen sozialen Raum verwendet Pierre Bourdieu in diesem Zusammenhang den Begriff des physischen Raumes (vgl. Bourdieu 1991, S. 25ff.). Eine Reduzierung dieses von Bourdieu beschriebenen physischen Raumes auf die rein materielle Struktur würde diesem jedoch nicht gerecht werden. Vielmehr kann der von Bourdieu umschriebene physische Raum im Sinne des Raumverständnisses von Martina Löw verstanden werden (vgl. Kapitel 3.1). 35 JUGEND IM URBANEN RAUM physischen Raum auch als „eine Art spontane Metapher des sozialen Raumes“ (Bourdieu 1991, S. 26) in welchem sich die Machtverhältnisse und relationalen Positionen der Akteurinnen und Akteure wiederspiegeln. Der physische Raum sei somit „… eine soziale Struktur in objektiviertem Zustand […], die Objektivierung und Naturalisierung vergangener wie gegenwärtiger sozialer Verhältnisse“ (Bourdieu 1991, S. 28). Genau wie bei der Positionierung der Akteurinnen und Akteure im sozialen Raum, betont Bourdieu, dass auch bei der Position der Akteurinnen und Akteure im physischen Raum, will man sie einer sozialwissenschaftlichen Analyse zugänglich machen, diese nur in Relation zu der Lage der anderen Akteurinnen und Akteure zu verstehen sei (vgl. Bourdieu 1991, S. 26). Wie ich bereits aufgezeigt habe, kann der abstrakte soziale Raum erfasst werden über die Verteilungsstruktur der verschiedenen Kapitalformen, welche als Machtmittel fungieren und den Akteurinnen und Akteuren somit eine exponierte Stellung im sozialen Raum gewähren oder versperren. Dieses Prinzip habe ich in Abbildung 1 dargestellt (vgl. Kapitel 2.2.2.1). Bourdieu beschreibt den physischen Raum als objektivierten sozialen Raum, in welchem sich dieses Prinzip wiederspiegelt und welches diesen gestaltet. In diesem Sinne ist es etwa Menschen mit einem geringen ökonomischen Kapital kaum möglich die Mieten bzw. Immobilienpreise in einem angesagten Stadtteil aufzubringen. Vielmehr sind sie auf Wohngebiete mit niedrigen Immobilienpreisen angewiesen. Dieses Beispiel verdeutlicht die soziale Segregation anhand des Kapitalvolumens in den physischen Räumen, welche den Klassen des sozialen Raumes entsprechen. Diesen Klassen und ihrer Ausstattung mit Kapital entsprechend ordnen sich auch die Güter und Dienstleistungen im Raum an. So ist es für angehörige einer höheren Klasse, durch die Aufwendung von Kapital möglich, diejenigen Räume zu besetzen bzw. zumindest zu dominieren, welche über eine gute Ausstattung an Gütern und Dienstleistungen verfügen sowie die unerwünschten Personen und Dinge fernzuhalten (vgl. Bourdieu 1991, S. 30). Hierdurch ist, insbesondere durch die räumliche Nähe aber auch durch die Zugangsmöglichkeiten aufgrund des erforderten Kapitals, eine Aneignung der seltenen gesellschaftlichen Güter für diese Personen relativ einfach möglich. „Umgekehrt werden die Personen ohne Kapital physisch oder symbolisch von den sozial als selten eingestuften Gütern ferngehalten und dazu gezwungen, mit den unerwünschten Personen und am wenigsten seltenen Gütern zu verkehren“ (Bourdieu 1991, S. 30). Die Beschreibung des reifizierten sozialen Raumes macht deutlich, dass ein Wechsel der Position im sozialen Raum meist mit einem Wechsel der Position im physischen Raum korrespondiert und umgekehrt. Somit geht es in den Kämpfen um einen Aufstieg im sozialen Raum auch immer 36 JUGEND IM URBANEN RAUM ganz konkret um Raumprofite im physischen Raum (vgl. Bourdieu 1991, S. 30). Diese Auseinandersetzungen um Raumprofite können eine individuelle Prägung haben, indem eine Person im Laufe ihrer Berufskarriere verschiedene Wohnorte innerhalb des hierarchisierten physischen Raumes einnimmt und hiermit u.a. mehr symbolisches Kapital durch das hohe Prestige des Wohnortes erwerben kann. Diese Auseinandersetzungen können aber auch auf einer kollektiven Ebene geführt werden, anhand politischer Kämpfe um die aktuelle Wohnungspolitik, die Verortung von öffentlichen Einrichtungen oder die Privatisierung von öffentlichen Plätzen usw.. Bourdieu unterscheidet die aus diesen Auseinandersetzungen hervorgehenden Raumprofite auf zwei Ebenen. Auf der ersten Ebene beschreibt er die Raumprofite als Lokalisationsprofite, welche sich aus der Ferne zu unerwünschten Personen oder Dingen bzw. durch die Nähe zu begehrten Gütern (Schulen, kulturelle Einrichtungen, usw.) und Personen (eine Nachbarschaft, welche ein hohes soziales und symbolisches Kapital darstellt) ergeben. Auf der zweiten Ebene beschreibt er die Raumprofite als Okkupationsprofite, welche durch den Besitz an physischem Raum die Möglichkeit verschaffen, es anderen Gesellschaftsmitgliedern de jure zu verbieten auf diesen zurückzugreifen. (Vgl. Bourdieu 1991, S. 31) „Einer der Vorteile, den die Verfügungsmacht über Raum verschafft, ist die Möglichkeit, Dinge oder Menschen auf (physische) Distanz zu halten, die stören oder in Mißkredit bringen, indem sie den als Promiskuität erlebten Zusammenstoß von sozial unvereinbaren Weisen des Seins oder Tuns provozieren oder den visuellen und auditiven Wahrnehmungsraum mit Spektakel und Lärm überziehen, die, da sozial markiert und negativ konnotiert, zwangsläufig als unerwünschte Eindringlinge oder selbst als Aggression erfahren werden“ (Bourdieu 1991, S. 31). Doch auch wenn es einer Person gelingen sollte ihren Wohnort zu verlagern, so ist hiermit noch nicht garantiert, dass sie auch von den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern akzeptiert wird und in der Lage ist, die Raumprofite zu nutzen. „Man kann durchaus ein Wohngebiet physisch belegen, ohne wirklich und im strengen Sinne darin zu wohnen; wenn man nämlich nicht über die stillschweigend geforderten Mittel dazu verfügt …“ (Bourdieu 1991, S. 31). Als diese „Eintrittsberechtigung“ kann zum Beispiel eine bestimmte Form von kulturellem Kapital gelten, welches notwendig ist, um die Güter und Dienstleistungen des Quartiers überhaupt nutzen zu können. Aber auch ein großes soziales und symbolisches Kapital kann notwendig sein, um von den anderen Akteurinnen und Akteuren des spezifischen physischen Raumes als gleichwertig akzeptiert zu werden. Ist der Akteurin bzw. dem Akteur jedoch erst einmal der Zutritt gelungen, so macht sich die Mühe durch einen Zugewinn genau an diesen Kapitalsorten bezahlt. 37 JUGEND IM URBANEN RAUM In dem gleichen Maße, wie die Zugangsberechtigung zu einem Nobelviertel den Akteurinnen und Akteuren Vorteile verschafft, so degradiert ein benachteiligter Stadtteil seine Bewohnerinnen und Bewohner symbolisch, indem es diejenigen Gesellschaftsmitglieder vereint, welche „… aller Trümpfe ledig, deren es bedarf, um bei den diversen sozialen Spielen mitmachen zu können, nichts anderes gemeinsam haben als ihre gemeinsame Exkommunikation“ (Bourdieu 1991, S. 33). Als eines der wesentlichsten Elemente aber, welches notwendig ist, um die Raumprofite nutzen zu können und von den anderen Akteurinnen und Akteuren akzeptiert zu werden, ist der Habitus zu nennen. Wie bereits in dem Kapitel über den Habitus dargestellt, bildet sich der spezifische Habitus in der Auseinandersetzung des Akteurs mit seiner Umwelt, stellt also eine strukturierte Struktur dar (vgl. Kapitel 2.2.2). In diesem Sinne bildet sich in dem nach Klassen sozial segregierten physischen Raum ein Habitus heraus, welcher sich sowohl aufgrund der sozialen Position der Klasse, als auch des besonderen physischen Ortes und der hier vorherrschenden Gesellschaftskultur konstituiert. Somit ist es für die Akteurinnen und Akteure nicht einfach möglich, sich an die gesellschaftlichen Gegebenheiten eines „unbekannten“ Quartiers anzupassen. Vielmehr kennzeichnet der abweichende Klassenhabitus die jeweiligen Akteurinnen und Akteure als nicht zugehörig. Ein den neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasster Habitus lässt sich aufgrund der Hysteresis des Habitus nur durch längeres Verweilen an diesem Ort und durch den kontinuierlichen Umgang mit seinen legitimen Bewohnerinnen und Bewohnern erwerben (vgl. Bourdieu 1991, S. 33). Mit dem Verweis auf die spezifischen Klassenhabitus der Akteurinnen und Akteure kritisiert Bourdieu auch den Glauben, dass eine physisch-räumliche Annährung von im sozialen Raum weit entfernt stehenden Akteurinnen und Akteuren, an sich schon eine soziale Annährung oder Desegregation bewirken würde (vgl. Bourdieu 1991, S.32). 3.4 Mechanismen und Folgen von Gentrifizierungsprozessen Anhand der theoretischen Überlegungen von Pierre Bourdieu konnte im vorherigen Kapitel die soziale Segregation im urbanen Raum, sowie deren Konsequenzen für die Entwicklung von Jugendlichen dargestellt werden. In Bezug auf die räumliche und soziale Veränderung innerhalb der modernen Großstädte wird in den letzten Jahren jedoch, sowohl innerhalb der Fachwissenschaft Soziale Arbeit, als auch in einer interessierten Öffentlichkeit, vermehrt ein Phänomen diskutiert, welches als Gentrifizierung bezeichnet wird. 38 JUGEND IM URBANEN RAUM Der Begriff der Gentrifizierung wurde erstmals in den 1960er Jahren von der britischen Geografin Ruth Glass verwendet, welche hiermit die von ihr in dem Londoner Stadtteil Islington beobachteten Veränderungen umschrieb. „Große Häuser im victorianischen Stil, heruntergewirtschaftet in früheren Perioden – die als Lagerhäuser oder in anderer Form genutzt wurden – wurden ein weiteres Mal aufgewertet. Sobald dieser Prozess der Gentrifizierung in einem Gebiet beginnt, setzt er sich unaufhörlich fort, bis alle oder die meisten der bisherigen Arbeiterklasse-Bewohner vertrieben sind und sich der gesamte soziale Charakter des Viertels ändert“ (Glass 1964, S. XVIIIf.; zitiert nach Holm 2011, S. 46). Heute wird unter diesem Begriff allgemein der Wandel der Bewohnerschaft eines bestimmten Quartiers von einer relativ niedrig im sozialen Raum angesiedelten Klasse durch eine höhere Klasse im Zuge baulicher und infrastruktureller Aufwertungsprozesse verstanden. Hiermit gehen auch weitreichende Veränderungen der spezifischen Kultur in dem Sozialraum bzw. des Klassenhabitus der Bewohnerinnen und Bewohner einher. Der kritische Stadtgeograf Andrej Holm nennt insbesondere ökonomische Gründe für den Prozess der Gentrifizierung. Hierbei unterscheidet er zwischen, von der Angebotsseite des Immobilienmarktes argumentierenden Erklärungsansätzen und solchen, die Gentrifizierung als Konsequenz einer veränderten Nachfrage interpretieren. (Vgl. Holm 2011, S. 47) „Die von der Angebotsseite aus argumentierenden Erklärungsansätze begründen konkrete Investitionsentscheidungen mit den sogenannten Ertragslückentheorien. Dabei betrachten sie die ökonomischen Rationalitäten einzelner Eigentümer(innen) und erheben insbesondere das Vorhandensein von jahrelang heruntergewirtschafteten Desinvestitionsgebieten zur Voraussetzung von Gentrifizierungsprozessen“ (Holm 2011, S. 47). Hierbei bieten die hohen Gewinnchancen aufgrund der Differenz der momentan kapitalisierten Grundrente und den potentiell erzielbaren Erträgen einer Immobilie die Anreize für die Investition von Kapital zur Aufwertung und Umstrukturierung durch die Eigentümerinnen und Eigentümer. Jedoch stellt Andrej Holm heraus, dass eine relativ heruntergekommene Bebauungsstruktur heute nicht mehr eine notwendige Voraussetzung von Gentrifizierungsprozessen ist. Vielmehr können entsprechende Ertragslücken auch durch eine extrem überdurchschnittliche Zahlungsbereitschaft potentieller Käuferinnen und Käufer entstehen, wodurch bereits aufgewertete Nachbarschaften einer erneuten Gentrifizierung unterworfen werden. Dieses Phänomen wird als „SuperGentrifizierung“ bezeichnet. (Vgl. Holm 2011, S. 47) 39 JUGEND IM URBANEN RAUM Die an der Nachfrage orientierten Erklärungsansätze von Gentrifizierungsprozessen führen diese hingegen auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Arbeits- und Lebensverhältnisse und den hiermit einhergehenden veränderten Bedürfnissen zurück. Insbesondere der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft hat weitreichende Auswirkungen auf die Struktur von Großstädten. „Dienstleistungsbüros verschiedener Branchen, Standorte der Kultur-, Mode- und Medienproduktion bis zu den Arbeitsplätzen kleinerer und größerer Unternehmen im Bereich der neuen Technologien sind auf innerstädtische Standorte angewiesen, weil die zunehmend flexiblen Arbeitszeiten und kommunikationsbasierten Kooperationsformen nur schwerlich mit langen Arbeitswegen und einer dezentralen Standortstruktur zu bewältigen wären“ (Holm 2011, S. 49). Im Zuge der Globalisierung konkurrieren die Metropolen heute auch international um die Ansiedlung von Unternehmen. In diesem Sinne geht Christian Reutlinger kritisch auf die Konkurrenz der Metropolen, sowie deren soziale Folgen ein. „Um sich als Stadt auf dem internationalen Markt behaupten zu können und den internationalen Kampf als Konkurrentin anderer Kommunen, Städte und Regionen für sich zu entscheiden, müssen alle Energien und Ressourcen einer Stadt auf die so genannte ‚unternehmerische Stadt„, d.h. den Teil, der sich vermarkten lässt, gerichtet werden. Im Rahmen der daraus resultierenden Standortpolitik soll eine Umwelt bereit gestellt werden, die für Unternehmensgründungen und –ausdehnungen förderlich ist. […] Die konsequente soziale und räumliche Ausgrenzung von sozialen Problemen bzw. von Menschen mit sozialen Problemlagen, … ist für die Umsetzung der unternehmerischen Ziele notwendig und hilfreich, da sie das Leben innerhalb der ‚unternehmerischen Stadt„, in den Zentren der Wirtschaft, stören“ (Reutlinger 2004, S. 125f.). In den Fokus dieser Stadtpolitik um die Vermarktung bestimmter Wohn-und Geschäftsgebiete kommen insbesondere solche Quartiere, welche durch eine zentrale Lage, Altbaubestand und Mischnutzung geprägt sind und den neuen Bewohnerinnen und Bewohnern somit potentiell eine hohe Lebensqualität und vielseitige Nutzungsmöglichkeiten bieten. Als Gründe für die Attraktivität von ehemals benachteiligten Quartieren für Angehörige einer höheren Klasse können des Weiteren eine verbesserte Erreichbarkeit, etwa durch den Anschluss an öffentliche Verkehrsmittel, sowie der Wegfall von belastender Industrie und Gewerbe, wie etwa Schlachthöfe, Fabriken, Hafengewerbe usw., genannt werden. Wichtige Pioniere einer späteren Gentrifizierung sind u.a. Studierende, Künstlerinnen und Künstler und linksalternative Subkulturen, welche aufgrund des eigenen relativ geringen ökonomischen Kapitalvolumens Stadtgebiete mit einem niedrigen Miet- und Preisniveau für sich entdecken und ihre spezifischen Habitus in das lokale Milieu einbringen. Durch die hieraus folgende jugend- und subkulturelle Prägung der Quartiere werden diese vielfach auch für einkommens40 JUGEND IM URBANEN RAUM stärkere Gruppen als Wohn-, Freizeit- und Gewerbestandorte attraktiv. Im Zuge des Zuzuges neuer Bewohnerinnen und Bewohner in die ehemals benachteiligten Quartiere ändert sich auch der lokal vorherrschende Klassenhabitus und es werden neue Angebote der Freizeitgestaltung, Gastronomie und Dienstleistung etabliert, welche für die alteingesessenen Bewohnerinnen und Bewohner aufgrund des gestiegenen Preisniveaus kaum zu nutzen sind. Aufgrund der beschriebenen Veränderungen des gentrifizierten Raumes sind viele alteingesessene Bewohnerinnen und Bewohner gezwungen in andere, weniger attraktive Stadtviertel abzuwandern, womit die in Kapitel 3.3 beschriebenen Mechanismen und Auswirkungen der sozialen Segregation für diese an Bedeutung gewinnen. Für Andrej Holm stellt die Verdrängung der alteingesessenen Bewohnerschaft keinen zufälligen oder ungewollten Nebeneffekt der Gentrifizierung dar, sondern vielmehr ihren Kern (vgl. Holm 2011, S. 45). 3.5 Der Einbezug öffentlicher Räume in die Lebenswelt von Jugendlichen Um den Einbezug öffentlicher Räume in die Lebenswelt von Jugendlichen und die Bedeutung dieser innerhalb des Aneignungsprozesses zu verdeutlichen, betont Ulrich Deinet, er gehe „… davon aus, dass sich die konkreten sozialen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, so wie sie Kinder und jüngere Jugendliche … erleben, diesen vor allem räumlich vermittelt werden“ (Deinet 2009, S. 37). Dieses Zitat von Ulrich Deinet lässt sich anhand einiger wichtiger Erkenntnisse aus den bisherigen Darstellungen konkretisieren. Die Räume, welche von Kindern und Jugendlichen insbesondere im urbanen Raum vorgefunden werden, sind in ihrer gesamten Struktur von den Menschen gestaltet und verändert worden. Somit ist in ihnen, nach Leontjew, die Erfahrung der Gesellschaft über den Prozess der Vergegenständlichung enthalten. In diesem Sinne ist es die Aufgabe der handelnden Subjekte, sich diese geschaffenen Räume anzueignen und die in ihnen enthaltenen gesellschaftlichen Erfahrungen und Bedingungen zu entschlüsseln. Leontjew betont jedoch, dass der Prozess der Aneignung niemals im „luftleeren Raum“ stattfindet, sondern die in den Gegenständen enthaltene Bedeutung nur in Verbindung mit den Menschen zu verstehen ist. Der öffentliche Raum war schon immer ein Ort der Begegnung und Auseinandersetzung unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure. Somit stellt dieser auch einen hervorragenden Lernort für gesellschaftliche Bedingungen und Verhältnisse dar. Mit Bourdieu lässt sich dies noch einmal konkretisieren. Wie gezeigt werden konnte, spiegelt der physische Raum laut Bourdieu die soziale Gestalt der Gesellschaft wieder (vgl. Kapitel 3.3). In diesem Sinne wird sich mit 41 JUGEND IM URBANEN RAUM der Aneignung des physischen Raumes auch die soziale Struktur der Gesellschaft angeeignet. Insbesondere Herrschafts- und Machtverhältnisse, sowie geschlechtsspezifische Zuweisungen und Ungleichheiten werden somit für die Akteurinnen und Akteure erlebbar. Aber auch die eigene Position innerhalb des sozialen Raumes kann sich über den physischen Raum angeeignet werden. „Die Aneignung menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten umschließt gleichzeitig die Aneignung der Ausgeschlossenheit von bestimmten Möglichkeiten menschlicher Erfahrung“ (Holzkamp/Schurig 1973, S. XLIX). Anhand dieses Zitats von Holzkamp und Schurig lässt sich auf eine elementare Einflussgröße in Bezug auf die Aneignungsmöglichkeiten von Jugendlichen verweisen. So ist es nicht für alle Jugendlichen im gleichen Maße möglich, sich die Räume und die in diesen enthaltenen Bedeutungen anzueignen. Vielmehr stellen sich viele Räume als verschlossen für (bestimmte) Jugendliche dar. Einerseits werden die Nutzungsmöglichkeiten von Jugendlichen durch ein zu geringes Kapitalvolumen begrenzt. So ist z.B. die Nutzung von kommerziellen Freizeitangeboten für viele Jugendliche aufgrund des geringen ökonomischen Kapitalvolumens nur eingeschränkt möglich. Die Nutzung anderer Räume wird den Jugendlichen von sogenannten „Raumwärtern“ (Deinet 2009, S. 41) aufgrund des geringen symbolischen Kapitals und dem geringen Prestige der Akteurinnen und Akteure verwehrt. Andererseits kann als eine besondere Form der symbolischen Herrschaft der Ausschluss aus Räumen aufgrund des spezifischen Habitus der Jugendlichen genannt werden. Durch die spezifische Art ihres Habitus, welcher sich u.a. in der besonderen Art des Auftretens und Sprechens äußert, werden Jugendliche innerhalb von Räumen, welche durch die Angehörigen einer anderen sozialen Klasse besetzt sind, als Außenseiterinnen und Außenseiter wahrgenommen und stigmatisiert. Häufig wird ihnen mit offener Ablehnung begegnet oder sie meiden diese Räume selbständig, da sie sich diesen nicht zugehörig fühlen. Ich habe dieses Phänomen in Kapitel 3.3 dargestellt. In der Konsequenz bedeutet dieser Ausschluss aufgrund des spezifischen Habitus jedoch, dass es den Jugendlichen kaum möglich ist, sich einen, zur eigenen Herkunftsklasse differenten, Habitus anzueignen. Somit werden die Jugendlichen auf die Räume der eigenen Klasse als Aneignungsräume zurückverwiesen, wodurch sich der Klassenhabitus reproduziert. Soll also die Reproduktion gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse durchbrochen werden, so muss es Jugendlichen u.a. ermöglicht werden, sich die gesamte Bandbreite der menschlichen Handlungsoptionen innerhalb der Räume anzueignen. Hierdurch ist der Prozess der Habitusgenese positiv zu beeinflussen. 42 JUGEND IM URBANEN RAUM Um die große Bedeutung des öffentlichen Raumes innerhalb der Aneignungstätigkeit von Jugendlichen noch einmal hervorzuheben, sei auf das kindliche Spiel innerhalb der Theorie von Leontjew verwiesen. Dieses kindliche Spiel findet zu einem Großteil innerhalb des öffentlichen Raumes statt. Somit sind die dominanten Tätigkeiten der Kinder auch zu einem großen Teil auf den öffentlichen Raum bezogen und die Handlungen der Erwachsenen, welche im Spiel nachvollzogen werden, sind Handlungen innerhalb und in Auseinandersetzung mit Räumen. Ulrich Deinet betont in diesem Zusammenhang, dass die Aneignungsleistung von Kindern und Jugendlichen im vergesellschafteten öffentlichen Raum, mit denen des Kleinkindes in Auseinandersetung mit den Gegenständen in seiner unmittelbaren Umgebung, wie sie von Leontjew beschrieben wird, vergleichbar seien. Allen ist die Aneignung der in der Umwelt vergegenständlichten gesellschaftlichen Bedeutung als Aufgabe auferlegt. (Vgl. Deinet 2009, S. 37) 43 ANEIGNUNGSHANDLUNGEN VON JUGENDLICHEN IM URBANEN RAUM 4 ANEIGNUNGSHANDLUNGEN VON JUGENDLICHEN IM URBANEN RAUM 4.1 Die räumlichen Aneignungshandlungen von Jugendlichen in der postfordistischen Großstadt Nachdem ich mich in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich mit den räumlichen und sozialen Bedingungen und Veränderungen in den modernen Großstädten und deren Auswirkungen auf die Lebensphase Jugend beschäftigt habe, möchte ich nun das räumliche Verhalten von Jugendlichen im Zuge ihrer Sozialisation betrachten und mit den Erkenntnissen der Aneignungstheorie untermauern. Um die konkreten räumlichen Aneignungshandlungen von Jugendlichen analysieren und verstehen zu können, ist es notwendig, einige Erkenntnisse zur Ausweitung der räumlichen Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen aufzuzeigen und Beschränkungen dieser Handlungen zu benennen. Max Fuchs macht in seinem Aufsatz „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern. Theoretische und praktische Zugänge zum Raum“ (Fuchs 2001, S. 31) auf einen wichtigen Aspekt der Bedeutung des öffentlichen Raumes in der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen aufmerksam, welcher eine direkte Verbindung zu der Aneignungstheorie von Leontjew zulässt. In diesem Sinne beschreibt Fuchs die verschiedenen Wahrnehmungen von Raum durch die unterschiedlichen Individuen und auf den unterschiedlichen Entwicklungsstufen. „Offenbar gibt es nicht bloß einen sozialen Raum, der sich auf dem durchaus gleichen Gegenstandsraum aufbaut, sondern es gibt sehr verschiedene soziale Räume. Im Hinblick auf das Aufwachsen von Kindern kann man sich das leicht klarmachen, da dieselbe Gegend in unterschiedlichen Altersstufen immer neue Reize und Gefahren, immer neue Aspekte und ‚Vernetzungsmöglichkeiten„ offenbart, die angeeignet werden müssen und können“ (Fuchs 2001, S. 34). Hierbei wird eine Verbindung zu den von Alexej N. Leontjew beschriebenen Entwicklungsstufen und den diese bestimmenden dominanten Tätigkeiten deutlich (vgl. Kapitel 2.1). Mit dem Verlauf der Sozialisation und einer Ausweitung der Bedürfnisse und Möglichkeiten, stoßen die von Fuchs beschriebenen neuen Möglichkeiten von Räumen für die Befriedigung der Aneignungsbemühungen von Kindern und Jugendlichen jedoch an ihre Grenzen. Somit dehnen Kinder und Jugendliche ihre räumliche Lebenswelt immer weiter aus, um neue Aneignungsmöglichkeiten zur Befriedigung der dominanten Tätigkeiten zu erschließen. 44 ANEIGNUNGSHANDLUNGEN VON JUGENDLICHEN IM URBANEN RAUM Schon Martha Muchow hat in den 1930er Jahren diese Ausdehnung der räumlichen Lebenswelt aufgrund mehrerer empirischer Untersuchungen erkannt und entwickelte Anhand der Untersuchungsergebnisse ein Zonenmodell der räumlichen Erweiterung der Lebensräume der Kinder und Jugendlichen (vgl. Deinet 2009, S. 39ff.). „Mehr oder weniger um die Wohnung und die Wohnstraße gelagert, breitet sich der Lebensraum der Kinder von diesem Zentrum schichtförmig aus. Dabei sind die zentralen Schichten meist ringförmig um den Wohnbezirk gelagert und engmaschig gebaut, während die peripheren, vornehmlich strahlenförmig nach allen Richtungen verlaufen und meist locker gefügt sind“ (Muchow/Muchow 1978, S. 93). Muchow stellte auch erstmals die größere Bedeutung von Freiräumen (etwa Schrebergärten, Dorfplatz usw.) gegenüber vorgefertigten „Verwahrplätzen“ (u.a. Spielplätze) für Kinder und Jugendliche im subjektiven Empfinden dieser dar (vgl. Deinet 2009, S. 40f.). Insbesondere diese Freiflächen werden von Ulrich Deinet als notwendige Aneignungsräume umschrieben, welche jedoch in den heutigen urbanen Räumen aufgrund einer voranschreitenden Monofunktionalität und Verdichtung immer seltener werden (vgl. Deinet 2009, S.45). Der städtische Raum hat sich jedoch seit den Zeiten Martha Muchows stark verändert und eine gleichmäßige Ausweitung des Lebensraumes der Kinder und Jugendlichen ist heute, sowohl aufgrund der Bebauungsstruktur, als auch aufgrund der klassenspezifischen Segregation (vgl. Kapitel 3.3), stark eingeschränkt. Das Zonenmodell von Muchow wurde bereits in den 1980er Jahren insbesondere von Helga Zeiher kritisiert. Den Mittelpunkt der Kritik stellt die umfassende Differenzierung der modernen Städte in der Analyse von Zeiher dar. In Bezug auf das Zonenmodell hält diese fest: „Dieses Modell des einheitlichen Lebensraums setzt voraus, daß alle Funktionstrennungen so gleichmäßig gestreut und so dicht im Raum verteilt sind, daß im Prinzip um jede Wohnung herum ein Segment herausgeschnitten werden kann in dem alles Tun seinen Ort findet“ (Zeiher 1983, S. 187). Helga Zeiher setzt ihre Kritik an dem Zonenmodell von Muchow in einem neuen Modell zur Analyse und Erklärung des räumlichen Verhaltens von Kindern und Jugendlichen um. Diesem Modell folgend, vollzieht sich die Erweiterung des Handlungsraumes nicht in konzentrischen Kreisen, sondern es werden vielmehr neue Inseln innerhalb des Gesamtgebildes der Großstadt erschlossen. Nur noch die direkte Umgebung der Wohnung wird, dem Zonenmodell entsprechend, durch die Kinder und Jugendlichen erobert. Anschließend sind weitere Ausdehnungen jedoch nicht mehr so einfach möglich. Einzelne Bereiche der Lebenswelt der Kinder und Ju- 45 ANEIGNUNGSHANDLUNGEN VON JUGENDLICHEN IM URBANEN RAUM gendlichen, wie etwa die Schule, Wohnung eines Freundes, Sportschule, Jugendclub usw. und deren direktes Umfeld bilden die jeweiligen Inseln. „Der Lebensraum ist nicht ein Segment der realen räumlichen Umwelt, sondern besteht aus einzelnen separaten Stücken, die wie Inseln verstreut in einem größer gewordenen Gesamtraum liegen, der als Ganzer unbekannt oder zumindest bedeutungslos ist. Die Aneignung der Rauminseln geschieht nicht in einer räumlichen Ordnung, etwa als allmähliches Erweitern des Nahraums, sondern unabhängig von der realen Lage der Inseln im Gesamtraum und unabhängig von ihrer Entfernung“ (Zeiher 1983, S.187). Diese Verinselung der räumlichen Lebenswelt der Jugendlichen hat laut Zeiher zur Folge, dass die Zwischenräume aufgrund der wachsenden Distanzen zwischen den Inseln nicht mehr erlebbar sind. Vielmehr würden diese häufig durch technische Medien, wie Telefon und PC überbrückt. Doch auch die körperliche Bewegung der Jugendlichen von einer Insel in die nächste ist heute kaum noch spontan möglich. Vielmehr bedarf es für die Überbrückung einer Planung und einer Anpassung an Öffnungszeiten, Fahrpläne usw.. (Vgl. Nissen 1998, S. 167) Ulrich Deinet weist in diesem Zusammenhang anschaulich darauf hin, dass in Städten, welche über ein UBahnnetz verfügen sogar die Brücken zwischen den Inseln der räumlichen Lebenswelt zu einem schwarzen Tunnel werden, welcher die Menschen am anderen Ende wieder „ausspuckt“ und somit jegliche Aneignung von städtebaulichen Zusammenhängen vereitelt (vgl. Deinet 2009, S. 48). Des Weiteren führt die Verinselung und ihre beschriebenen Folgen, die monofunktionale Nutzbarkeit von urbanen Räumen sowie der Ausschluss von Jugendlichen aus diesen, aufgrund der differenten Habitus und der Nutzungsverbote durch Raumwärter, häufig zu einer Verhäuslichung. „Konkret auf die physikalischen Räume bezogen beschreibt ‚Verhäuslichung„ die Entwicklung, daß die Lebenswelt der Kinder immer stärker in geschlossene, geschützte Räume verlagert wird. Aufgrund der Funktionalisierung der öffentlichen Stadträume für Zwecke des Verkehrs und des Warentausches wurden Spiele und andere kulturelle Aktivitäten immer mehr aus dem öffentlichen Raum verdrängt“ (Nissen 1998, S. 166). In dieser Situation ziehen sich viele Jugendliche in den häuslichen Rahmen und die möglichen virtuellen Aneignungsräume der neuen Medien zurück. Innerhalb der neuen Medien bietet sich den Jugendlichen die Möglichkeit der Aufarbeitung von Schlüsselthemen des Jugendalters, wie Selbstfindung, Sexualität, Freundschaften, Geschlechssozialisation usw., welche innerhalb der öffentlichen Räume heute, aufgrund der beschriebenen Veränderungen, häufig nicht mehr in dieser Form möglich sind. Insbesondere die wichtigen Lernerfahrungen innerhalb der Peergroup, wie sie Klaus Hurrelmann in seinem Standardwerk „Lebensphase Jugend“ herausstellt, sind durch Verhäuslichung gefährdet (vgl. Hurrelmann 2005, S. 126ff.). 46 ANEIGNUNGSHANDLUNGEN VON JUGENDLICHEN IM URBANEN RAUM „Je nach sozialer Situation ‚verschwinden„ Kinder und Jugendliche aus der Öffentlichkeit und treffen sich fast nur zu Hause (Verhäuslichung), sind darauf angewiesen, morgens in der Schule Verabredungen zu treffen und agieren fast immer in ständig wechselndem Zweier-Geflecht ohne die sozialen Lernmöglichkeiten der Gruppe (Terminkinder!)“ (Deinet 2009, S. 51). Doch auch eine Verdrängung in kommerzielle Angebote aufgrund der mangelnden jugendkulturellen Nutzbarkeit der öffentlichen Räume ist zu beobachten. „… Jugendliche finden keine Rückzugsmöglichkeiten, kaum noch unkontrollierte informelle Treffs für ihre Cliquen, sind auf Spielhallen und kommerzielle Angebote angewiesen“ (Deinet 2009, S. 50). Zu den Prozessen der Verhäuslichung und Verinselung aufgrund der Veränderung der räumlichen Lebenswelt kommt laut Ursula Nissen (Nissen 1998, S.168) noch eine Institutionalisierung der jugendlichen Freizeitgestaltung hinzu, welche dazu führt, dass immer mehr Kinder und Jugendliche „ihre Freizeit immer häufiger unter institutionalisierten Bedingungen verbringen und sich statt in öffentlichen Freiräumen in für sie spezialisierten Binnenräumen aufhalten“ (Nissen 1998, S. 168). Diese institutionalisierten Räume sind im Unterschied zu den öffentlichen Räumen durch feste Termine, Öffnungszeiten und einem meist starren Regelwerk geprägt. Auch pädagogische Programme, welche den Jugendlichen im Rahmen des Freizeitangebotes öffentliche Räume zur Aneignung erschließen sollen, fallen laut Nissen aufgrund des pädagogischen Rahmens unter das beschriebene Phänomen der Institutionalisierung (vgl. Nissen 1998, S. 169). Bei einer Beschreibung der veränderten Aneignungshandlungen von Jugendlichen in den modernen Städten muss jedoch beachtet werden, dass Kinder und Jugendliche sich trotz häufig einschränkender Bedingungen immer noch kreativ und eigenverantwortlich Aneignungsmöglichkeiten eröffnen und diese in ihrem Sinne nutzen. Hierauf geht Ursula Nissen mit einigen Beispielen ein: „Städtebauliche Gestaltungen können auch neue Formen des Kinderspiels und des räumlichen Verhaltens hervorbringen (z.B. die Asphaltierung das Rollschuhlaufen und Skateboardfahren, der Garagenbau das Klettern auf deren Dächern)“ (Nissen 1998, S. 156). Mit den Begriffen Verhäuslichung, Verinselung und Institutionalisierung konnten die Auswirkungen der Veränderung des öffentlichen Raumes in ihrer Bedeutung für die Aneignungshandlungen von Jugendlichen beschrieben werden. Im nachfolgenden Kapitel soll nun der Frage nachgegangen werden, in welcher Form weiblich und männlich sozialisierte Jugendliche von diesen Entwicklungen betroffen sind, wie sich diese unterscheiden und wie die Jugendlichen hierauf reagieren. 47 ANEIGNUNGSHANDLUNGEN VON JUGENDLICHEN IM URBANEN RAUM 4.2 Unterschiede in den räumlichen Aneignungshandlungen von weiblich und männlich sozialisierten Jugendlichen In Kapitel 2.2.2.2 habe ich bereits die „männliche Herrschaft“ in der Analyse von Pierre Bourdieu dargestellt. Wollen wir uns nun mit den unterschiedlichen räumlichen Aneignungshandlungen von männlich und weiblich sozialisierten Jugendlichen beschäftigen, so erscheint es mir als notwendig, zuvor einen genaueren Blick auf die Geschlechtssozialisation in dem Prozess der Aneignung zu werfen und eine Verbindung zu der Theorie von Bourdieu herzustellen. Aus den dargestellten Arbeiten von Bourdieu wird deutlich, dass die Zuordnung der Akteure zu einem eindeutigen Geschlecht nicht auf einer biologischen Notwendigkeit beruht (vgl. Kapitel 2.2.2.2). Vielmehr beschreibt er die geschlechtsspezifischen Zuordnungen als ein gesellschaftliches Konstrukt, welches sich den Akteurinnen und Akteuren seit der frühsten Kindheit als Zwang auferlegt. Die hiermit von Bourdieu beschriebene Verinnerlichung des gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisses innerhalb des Habitus kann über den Prozess der Aneignung erklärt werden. Mit Blick auf seine frühen Arbeiten zur kabylischen Gesellschaft konstatiert Bourdieu, dass sich alle Objekte und Aktivitäten entsprechend dem Gegensatz von männlich und weiblich konstruieren (vgl. Krais/Gebauer 2010, S. 49). Wenn wir uns nun der Aneignungstätigkeit innerhalb der Theorie von Leontjew zuwenden, wird deutlich, dass sich mit der Aneignung der gegenständlichen Welt auch das innerhalb dieser vergegenständlichte Geschlechterverhältnis angeeignet wird. Dieses ist insbesondere in Verbindung mit den Handlungen der Akteurinnen und Akteure zu erschließen, welche die gesellschaftliche Zweigeschlechtlichkeit und das geschlechtsspezifische Herrschaftsverhältnis reproduzieren. Ursula Nissen verdeutlicht dies in ihrem Buch „Kindheit, Geschlecht und Raum“ anhand des kindlichen Spiels, welches in der Theorie von Leontjew eine herausragende Stellung einnimmt. In Bezug auf die Nachvollziehung der Handlungen der Erwachsenen innerhalb des kindlichen Spiels, sieht Nissen hierin bereits den Grundstein für die „… spielerische Einübung in die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Familie und auf dem Arbeitsmarkt“ (Nissen 1998, S. 105) gelegt. „Spielzeuge und Spiele sind als sexuierte kulturelle Objekte von besonderer Bedeutung, da sie offensichtlich späteres Sozial- und Berufswahlverhalten beeinflussen“ (Nissen 1998, S. 104). In diesem Sinne wird das Kind durch das Spiel mit gewissen Gegenständen bzw. durch die Rollenübernahme innerhalb des Spieles in ein Geschlecht eingeordnet bzw. ordnet sich selbst den spezifischen Geschlechtszuschreibungen unter. Bezogen auf das räumliche Aneignungsverhalten von Jugendlichen stellt die Geschlechtszuordnung eine wichtige subjektbezogene Bedingung dar. Die gesellschaftlichen Mechanismen von 48 ANEIGNUNGSHANDLUNGEN VON JUGENDLICHEN IM URBANEN RAUM Ungleichheit und Unterdrückung innerhalb des Geschlechterverhältnisses sind auch im öffentlichen Raum aktiv und verankert. Aus diesen Gründen ist die jeweilige geschlechtsspezifische räumliche Aneignungshandlung von weiblich und männlich sozialisierten Kindern und Jugendlichen nur in Verbindung mit dem patriarchalen System bzw. der männlichen Herrschaft zu verstehen. Somit ermöglichen oder begrenzen die Bedingungen einer geschlechtshierarchisch strukturierten Gesellschaft auch die räumlichen Aneignungstätigkeiten der Akteurinnen und Akteure. Doch worin unterscheiden sich diese räumlichen Aneignungshandlungen von weiblich und männlich sozialisierten Jugendlichen und wie ist diese Differenz zu erklären? Ulrich Deinet und Maria Icking betonen in diesem Zusammenhang, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede im räumlichen Aneignungsverhalten mit zunehmendem Alter deutlich werden (vgl. Deinet/Icking 2009, S. 68). Daher ist es notwendig, eine Betrachtung der veränderten räumlichen Aneignungshandlungen von Jugendlichen anhand ihrer Entwicklung im Lebenslauf vorzunehmen. Das räumliche Verhalten ist bei allen Kindern bis zum Schuleintritt fast ausschließlich auf das nahe Wohnumfeld beschränkt und verläuft hier bei beiden Geschlechtern sehr ähnlich. Mit Erreichen des Vorschulalters dehnt sich die Lebenswelt der Jungen sprunghaft aus und auch weiter entfernte Orte werden von diesen eigenständig erkundet und angeeignet. Hier zeigt sich bereits eine starke Differenz zu den Mädchen, da diese erst zwei/drei Jahre später eine ähnliche Ausweitung ihrer Lebenswelt vornehmen (vgl. Deinet/Icking 2009, S. 68f.). Dies wird auch dadurch deutlich, dass Jungen sehr viel häufiger das Fahrrad benutzen und somit besser in der Lage sind, weiter entfernte Orte zu erreichen (vgl. Nissen 1998, S. 184). In Bezug auf den physischen Raum, als reifizierter sozialer Raum in der Theorie von Pierre Bourdieu, ließe sich hier vermuten, dass es den Jungen somit einfacher möglich wäre, sich die von den Angehörigen anderer sozialer Klassen dominierten Räume und die innerhalb dieser enthaltene gesellschaftliche Struktur anzueignen. Allerdings werden diese raumgreifenden Aneignungsbemühungen der (männlich sozialisierten) Kinder durch die klassenspezifische Raumstruktur und hieraus entstehende Grenzen der Aneignungsmöglichkeiten, wie ich diese in Kapitel 3.5 dargestellt habe, beschnitten. Somit muss in diesem Zusammenhang von einer verinselten Raumaneignung, wie diese insbesondere von Helga Zeiher dargestellt wurde ausgegangen werden (vgl. Zeiher 1983, S. 187). Ursula Nissen sieht einen wichtigen Grund für diese Differenz der räumlichen Aneignung anhand der traditionellen Geschlechtergrenze in den Ängsten vieler Eltern vor sexuellen Übergrif- 49 ANEIGNUNGSHANDLUNGEN VON JUGENDLICHEN IM URBANEN RAUM fen auf ihre Töchter und den damit einhergehenden Verboten der Nutzung unterschiedlicher, häufig weiter entfernt liegender, öffentlicher Orte begründet (vgl. Nissen 1998, S.184). Auch das Freizeitverhalten von Jugendlichen unterscheidet sich stark nach den Geschlechtern. So sind die Freizeitunternehmungen von Mädchen und jungen Frauen häufiger institutionell gebunden, wohingegen männliche Kinder und Jugendliche häufiger spontan über ihre Freizeit verfügen können. Diese Bindung der weiblich sozialisierten Kinder und Jugendlichen in (häufig mehreren) institutionellen Freizeitangeboten, setzt eine hohe Kompetenz im Zeitmanagement und der Einstellung auf unterschiedliche Menschen und pädagogische Konzepte voraus, beschränkt diese jedoch auch in der individuellen Selbstbildung im öffentlichen Raum. (Vgl. Nissen 1998, S. 185f.) Bezugnehmend auf Untersuchungen von Ursula Nissen können die unterschiedlichen Verhaltensweisen von weiblich und männlich sozialisierten Kindern und Jugendlichen folgendermaßen zusammengefasst werden: – Durch die weitere Verdrängung der Kinder und Jugendlichen aus den öffentlichen Räumen, werden diese in zunehmendem Maße auf häusliche und institutionelle Freizeitaktivitäten verwiesen. Diese Institutionalisierung unterscheidet sich jedoch zwischen den Geschlechtern in dem Maße, dass Mädchen und junge Frauen ihre Freizeit hauptsächlich mit individuellen, musisch-ästhetischen Aktivitäten gestalten, wohingegen Jungen und junge Männer hauptsächlich sportive, mannschaftsbezogene Aktivitäten bevorzugen. – Dort wo ein Aufenthalt in den öffentlichen Räumen für Kinder und Jugendliche noch uneingeschränkt möglich ist, wird dies hauptsächlich von Jungen und jungen Männern (häufig der unteren Klassen) wahrgenommen. Mädchen und junge Frauen sind hier viel seltener anzutreffen. – Da jedoch auch männlich sozialisierte Kinder und Jugendliche immer häufiger von Verhäuslichung und Institutionalisierung betroffen sind, werden etwa Sportarten, welche vor einigen Jahren noch im öffentlichen Raum in unverbindlichen Strukturen und häufig spontan ausgeübt wurden, heute fast ausschließlich in Vereinen praktiziert. – Bei Mädchen und jungen Frauen sind der Institutionalisierung auch durchaus positive Aspekte abzugewinnen, da viele ehemals im privaten, häuslichen Umfeld ausgeführte Aktivitäten (wie zum Beispiel künstlerische oder musische Tätigkeiten) heute häufig in Vereinen und somit in sozialen Gruppen praktiziert werden. Somit hat der Prozess der Institutionalisierung den weiblich sozialisierten Kindern und Jugendlichen durchaus die Öffentlichkeit der institutionalisierten öffentlichen Räume zugänglich gemacht. Insbesondere 50 ANEIGNUNGSHANDLUNGEN VON JUGENDLICHEN IM URBANEN RAUM Mädchen und junge Frauen aus privilegierten Klassen nehmen häufig mehrere dieser Angebote in Anspruch. – Mädchen und junge Frauen bevorzugen eher individuelle, häufig im privaten Rahmen praktizierte Freizeitaktivitäten mit meist nur einer Spielgefährtin, wohingegen Jungen und junge Männer Gruppenaktivitäten im Freien bevorzugen. – Durch die vielfältige Nutzung von institutionellen Freizeitangeboten, welche häufig weit auseinander liegen, sind Mädchen und junge Frauen in einem höheren Maße in ihrer Lebenswelt von „Verinselung“ betroffen als männlich sozialisierte Jugendliche. – Eine Begegnung der unterschiedlichen Geschlechter findet innerhalb der institutionellen Freizeitgestaltung aufgrund der differenten Aktivitätsformen und -inhalte nur selten statt. (Vgl. Nissen 1998, S. 179ff.) Deinet und Icking betonen die sozialräumliche Einschränkung von Mädchen und jungen Frauen durch dominante und häufig diskriminierende männliche Jugendgruppen. Diese Jungen und jungen Männer demonstrieren ihre räumliche Inbesitznahme der öffentlichen Plätze und Orte symbolisch (z.B. durch Graffiti) aber auch ganz direkt, durch die körperliche oder verbale Ausgrenzung von anderen Gruppen. (Vgl. Deinet/Icking 2009, S. 70) Aus diesen Gründen ziehen sich viele weiblich sozialisierte Jugendliche in die konfliktmoderierenden Schutzräume von Jugendeinrichtungen und Vereinen zurück und begrenzen ihre sozialräumliche Aneignungshandlung somit selbst. Auch wenn dieser Rückzug der Mädchen und jungen Frauen, diesen bestimmte Aneignungssettings verwehrt, ist zu beachten, dass er nicht ausschließlich als „Kapitulation“ dieser vor der Dominanz der männlichen Jugendlichen gesehen werden kann. Elke Schön betont vielmehr, dass dieser Rückzug als eine alternative Handlungsstrategie gesehen werden muss, mit welchem sich die Mädchen und jungen Frauen die Freiheit nehmen, den Jungen und jungen Männern den Kontakt zu ihnen und somit die Möglichkeit über sexistische Gewalt einen vermeintlichen Überlegenheitsanspruch deutlich zu machen, entziehen (vgl. Schön 2004, S. 241). Dennoch wird hier deutlich, dass es unbedingt notwendig ist, diese Beschränkungen der Aneignungshandlung der Mädchen und jungen Frauen durch die strukturellen Machtverhältnisse, welche sich unmittelbar und symbolisch in den Räumen widerspiegeln, aufzuheben. Erst dann bedeutet der Aufenthalt in den öffentlichen Räumen für weiblich sozialisierte junge Menschen nicht mehr Unterdrückung und daraus folgend häufig Flucht und Selbstbeschränkung. „Sozialisationsprozesse im Sinne positiver Aneignung der öffentlichen Freiräume sind für Mädchen jedoch grundsätzlich erst dann möglich, wenn sich im öffentlichen Freiraum ausdrückende sexuelle Mißachtung von Mädchen (und Frauen), die Degradierung zum Objekt durch Belästigung, Anmache und Gewalt ver- 51 ANEIGNUNGSHANDLUNGEN VON JUGENDLICHEN IM URBANEN RAUM schwunden ist und Mädchen sich ungehindert, unbeaufsichtigt und ohne Bedrohung in diesen Räumen bewegen können“ (Nissen 1998, S. 212). Auch wenn diese Aussage Ursula Nissens sicherlich richtig ist, betonen neuere Veröffentlichungen die hohe Handlungskompetenz der Mädchen und jungen Frauen bei der Überwindung von geschlechtsspezifischen Unterdrückungsmechanismen. In Bezug auf die Aneignungstheorie von Leontjew kann hier die Möglichkeit der Umdeutung, Umnutzung und gegenläufigen Handlungsalternativen in Bezug auf die angeeigneten Bedingungen genannt werden. In diesem Sinne hat Elke Schön in einem dreijährigen Handlungsforschungsprojekt mit 8 – 15 jährigen Mädchen aus den unteren Klassen nachweisen können, dass diese innerhalb ihrer Freizeitgestaltung eine ganz klare Orientierung auf den öffentlichen Raum haben (vgl. Schön 2004, S. 235). Hierbei nehmen die Mädchen die patriarchal strukturierte Gesellschaft und deren Ausweitung auf die öffentlichen Räume durchaus klar wahr. Aufgrund dieser hierarchisch gestalteten Geschlechterverhältnisse, geben die Mädchen jedoch keinesfalls dem Druck der Einordnung in diese Gesellschafts- und Raumstruktur nach, sondern entwickeln vielmehr kollektive und kreative Lösungen. Insbesondere einschränkende Bedingungen und negative Erfahrungen können Subjekte dazu befähigen, Handlungspotentiale in sich zu erwecken und diesen Bedingungen eigenständig entgegenzuarbeiten. So beschreibt Elke Schön die hohe Handlungskompetenz von vielen Mädchen und jungen Frauen in der zeitlich-räumlichen Umstrukturierung ihres Alltages (vgl. Schön 2004, S.241). Durch die Verlagerung von innerfamiliären Aufgaben (z.B. Babysitten) in den öffentlichen Raum und insbesondere in den unterstützenden Rahmen der peergroup, verschaffen sich diese Kinder und Jugendlichen, trotz eines starken Einbezugs in die familiären Pflichten, Zeit und Raum, um ihren selbstorganisierten Aktivitäten nachgehen zu können. Als ein weiterer Punkt der Unterstützung durch die peergroup, kann die von Schön festgestellte kollektive Geheimhaltung von sexistischen Übergriffen auf die Mädchen und jungen Frauen, genannt werden. Hierbei stellt die Geheimhaltung einen Schutzmechanismus dar, um eine weitere Raumaneignung nicht durch evtl. Verbote und Vorsichtsmaßnahmen der Eltern zu gefährden. (Vgl. Schön 2004, S. 241) Durch die genannten Beispiele wird die große Bedeutung der peergroup für die „widerständigen“ Verhaltensweisen der weiblich sozialisierten Kinder und Jugendlichen deutlich. Auch in Bezug auf das Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Akteuren unterscheiden sich die Aneignungshandlungen von jungen Frauen im öffentlichen Raum stark von denen der männlichen Jugendlichen. Im Gegensatz zu dem sehr dominanten und häufig diskriminierenden räumlichen Aneignungsverhalten von männlichen Jugendlichen, besetzen weibliche Jugendliche diese Räume nicht ausschließlich mit ihren Inhalten und Verhaltensweisen, sondern lassen hier Raum 52 ANEIGNUNGSHANDLUNGEN VON JUGENDLICHEN IM URBANEN RAUM für andere gesellschaftliche Gruppen. Des Weiteren fügen diese sich mit ihren Aneignungshandlungen flexibel in bereits symbolisch besetzte Räume ein (wie etwa eine Einkaufspassage), ohne andere Gruppen zu verdrängen. Bei aktuellen Konflikten ziehen sich junge Frauen eher temporär aus den Räumen zurück und sichern sich somit eine längerfristige Nutzung zu. (Vgl. Schön 2004, S 241f.) „Sie werden also kaum sozial auffällig, treten nicht mit einer kontrollierenden Orientierung auf und zeigen sich bemüht, den vorhandenen öffentlichen (Frei)Raum mit anderen sozialen Gruppen zu teilen“ (Schön 2004, S.242). In diesem Sinne liegt die Vermutung nahe, dass es den weiblich sozialisierten Jugendlichen leichter fällt, konfliktfrei in den, durch die Angehörigen einer differenten Klasse besetzten Raum einzudringen und diesen somit für die eigene produktive Aneignung nutzbar zu machen. Allerdings liegen zu dieser Vermutung keine verfügbaren empirischen Ergebnisse vor. Eine genauere empirische Untersuchung wäre hier somit angebracht, ist aber bedauerlicherweise im Rahmen der vorliegenden Arbeit aufgrund des Umfangs nicht möglich. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass insbesondere durch die kritischen Auseinandersetzung mit der sozialen Kontrolle innerhalb der Räume, Mädchen und junge Frauen lernen, diese Kontrollen zu überlisten und Kompetenzen, sowie neue Handlungsstrategien im Umgang mit den patriarchal und sozial strukturierten Räumen zu entwickeln (vgl. Schön 2004, S. 246). Im Zusammenhang mit diesen Handlungskompetenzen von weiblich sozialisierten Jugendlichen schreibt Schön: „Sie lernen Zeit und Ressourcen für ihre lebensweltlichen Interessen zu instrumentalisieren. Mit Hilfe ihrer sozialen Netze gewinnen sie unter anderem Alltagskompetenzen, die ihnen dabei helfen, aktuelle Risikolagen einzelner Mädchen zu entschärfen. Sie lernen, untereinander tragfähige Beziehungen zu knüpfen und entwickeln Fähigkeiten, kollektiv dem Druck des Ausgeschlossenseins zu widerstehen. Über eigene Auseinandersetzungen entlarven sie – wenn auch bruchstückhaft – vorgegebene Normen und Botschaften der Geschlechterhierarchie und gesellschaftliche Sexismusstrukturen“ (Schön 2004, S. 246). 53 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST 5 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST Wie bereits in Kapitel 3.3 dargestellt, sind die modernen Städte stark nach sozialen Klassen räumlich segregiert. Somit treten gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, wie diese in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt wurden, in unterschiedlichen Sozialräumen in ausdifferenzierter Intensität und Ausprägung auf. Allgemeine Erkenntnisse zur Lebensphase Jugend oder zu den räumlichen Veränderungen in modernen Städten reichen nicht aus, um die spezielle Ausprägung in abgegrenzten Quartieren zu verstehen. Vielmehr können diese lediglich als theoretische Raster dienen, anhand derer die konkreten Lebensbedingungen der Menschen in einem Sozialraum zu untersuchen sind. Da sich insbesondere für Jugendliche der Nahraum des Quartiers mit seinen spezifischen Problemen und Ressourcen, als zentraler Lebensbereich darstellt, ist es für eine Analyse des räumlichen Aneignungsverhaltens dieser notwendig, eine kleinteilige Betrachtungsweise des Quartiers vorzunehmen, um die Bewältigungsstrategien der Jugendlichen als Antwort auf die spezifischen Gegebenheiten zu entschlüsseln. Bezogen auf die vorliegende Untersuchung der Aneignungshandlungen von Jugendlichen in einer nach Klassen strukturierten Gesellschaft bedeutet dies, dass zuerst die sozialräumlichen Lebensbedingungen der Jugendlichen zu analysieren sind und anschließend nach den konkreten Aneignungshandlungen der Jugendlichen zu fragen ist. 5.1 Methodische Vorgehensweise der Sozialraumanalyse Bei dem methodischen Vorgehen zur Analyse jugendlicher Lebensrealitäten innerhalb des Stadtteils Gaarden-Ost habe ich mich für die Sozialraumanalyse nach Lothar Stock, wie er diese in seinem Aufsatz „Sozialraumanalysen als planerische und diagnostische Verfahren“ dargestellt und für die Soziale Arbeit aufbereitet hat, entschieden (vgl. Stock 2004, S. 375ff.). Insbesondere der von Lothar Stock beschriebene Dreischritt einer umfassenden Sozialraumanalyse, bestehend aus mehreren Stadtteilbegehungen, der Auswertung des verfügbaren statistischen Materials, sowie eines Experteninterviews erscheint mir am geeignetsten, eine Verbindung von quantitativen und qualitativen empirischen Daten zur Analyse heranzuziehen. Über mehrere Stadtteilbegehungen ist es hierbei möglich, einen ersten Eindruck des Stadtteils zu gewinnen. Mit Hilfe von festgelegten Beobachtungskategorien wird der Stadtteil zu unterschiedlichen Tages- und Wochenzeiten erkundet und im Anschluss erste Arbeitshypothesen über die Wohn- und Lebensverhältnisse gebildet. Im nächsten Schritt werden die vorhandenen quantitati54 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST ven Daten über den Sozialraum interpretiert und miteinander in Beziehung gesetzt. Anschließend werden die Ergebnisse der Sozialraumbegehungen mit den statistischen Daten konfrontiert und gegebenenfalls modifiziert bzw. korrigiert. (Vgl. Stock 2004, S. 379ff.) Die Ergebnisse dieser methodischen Herangehensweise habe ich in Kapitel 5.2 und 5.3 dargestellt. Da sich die professionelle Soziale Arbeit jedoch nicht alleine auf Daten und räumliche Bedingungen zur Analyse der Lebensrealität ihrer Adressaten beschränken kann, ist es laut Lothar Stock notwendig, diese durch qualitative Experteninterviews zu ergänzen. Somit kann das konkrete Verhalten der Akteure, sowie deren Bewertung der räumlichen Struktur, in die Analyse mit einfließen. Als Interviewform empfiehlt Stock hierbei ein offenes, teilstrukturiertes Leitfadeninterview (vgl. Stock 2004, S. 385). In Kapitel 5.5 beziehe ich die innerhalb des Experteninterviews gewonnenen Erkenntnisse auf die räumliche und soziale Struktur von Gaarden-Ost. „Stadtteilbegehung, Erfassung und Analyse des sozialstatistischen Datenmaterials sowie Expertengespräche sind auch jeweils einzeln gesehen geeignete Instrumente zur Beschreibung eines Sozialraums. Jedoch erst im Zusammenspiel aller drei ergibt sich das Bild einer umfassenden Sozialraumanalyse“ (Stock 2004, S. 385). 5.2 Die räumliche und soziale Struktur von Gaarden-Ost Der Kieler Stadtteil Gaarden-Ost ist von den eher kleinbürgerlichen, durch Einzel- und Reihenhausbebauung geprägten, Stadtteilen Ellerbek, Emschenhagen, Gaarden-Süd und Südfriedhof umgeben. Im Norden und Westen wird Gaarden-Ost von Wasser umschlossen und von dem Gelände der HDW (Howaldtswerke-Deutsch Werft GmbH) dominiert. Im Osten schließen der zu Ellerbek gehörende Volkspark (genannt Werftpark) sowie die Sophienhöhe an, welche durch großflächige Schrebergartensiedlungen und weitere kleinere Grünflächen (u.a. Schwarzlandwiese) den Sozialraum von den umliegenden Wohngebieten abgrenzen. Die südliche Grenze wird durch den schluchtartigen Park Zum Brook und den Ida-Hinz-Park markiert. Auf der gegenüberliegenden Seite der Kieler Förde, welche in diesem Bereich als Hörn bezeichnet wird, ist über eine kleine Fußgängerbrücke (Hörnbrücke) die Kieler Innenstadt fußläufig sehr schnell erreichbar. Den zentralen Platz und Mittelpunkt der Fußgängerzone von Gaarden-Ost stellt der Vinetaplatz dar. Dieser Platz wird durch die Elizabethstraße gekreuzt, welche zu einem Großteil als Fußgängerzone bzw. als verkehrsberuhigter Bereich angelegt ist. Sowohl der Vinetaplatz als auch die Elizabethstraße stellen das gewerbliche und soziale Zentrum des Stadtteils dar. Die Elizabethstraße beheimatet eine Vielzahl von kleineren Geschäften des täglichen Bedarfs und Supermärkten, wobei auffällt, dass sich das Warenangebot am unteren Preissegment bewegt und eine eher sozial schwache Bevölkerungsklasse anspricht. In Gesprächen mit den Mitarbeiterin55 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST nen und Mitarbeitern des Büros Soziale Stadt Gaarden der Steg (Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft Hamburg) wurde deutlich, dass eine stetige Veränderung des Warenangebotes hin zu einem niedrigen Preissegment und eine Homogenisierung der Warenangebote auf alltägliche Güter in den letzten Jahren zu beobachten war und sich dieser Trend vermutlich auch in Zukunft abzeichnen wird. Einzelne spezialisierte Geschäfte, welche sich häufig noch in Familienbesitz befinden und ein weitreichenderes Warenangebot liefern, gehen immer mehr zurück und werden durch türkische Gemüseläden, (Elektronik-) An- und Verkaufläden oder sogenannte „Billigketten“ ersetzt. Diese Veränderung der gewerblichen Struktur innerhalb des Stadtteils ist mit der Abhängigkeit einer großen Gruppe von Bewohnerinnen und Bewohnern von staatlichen Transferleistungen und dem hiermit einhergehenden geringen Kaufkraftniveau der Menschen zu erklären. Viele der alteingesessenen spezialisierten Geschäfte stammen noch aus einer Zeit, in der die Werft das Einkommen einer Großzahl der Bewohnerinnen und Bewohner von Gaarden-Ost sicherte und eine vielschichtige Arbeiterkultur florierte. Anhand der aktuellsten verfügbaren Daten ist zu erkennen, dass der Arbeitslosenanteil in Gaarden-Ost im Jahr 2008 bei 16,7 % der 15 bis 65 Jährigen des Stadtteils und somit deutlich über dem Kieler Durchschnitt von 7,8 % lag. Insbesondere bei jungen Erwachsenen lag der Anteil der 20 bis 24 Jährigen Arbeitslosen mit 7,8 % mehr als doppelt so hoch wie der Kieler Durchschnitt von 3,5 %. (Vgl. Amt für zentrale Informationsverarbeitung Kiel 2008, S. 10) Hinzu kamen noch 4566 nicht erwerbsfähige Personen, welche auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen waren. Dies entspricht 28 % der Gesamtbevölkerung (16.287 Einwohner) von Gaarden-Ost (vgl. Amt für zentrale Informationsverarbeitung Kiel 2008, S. 11). Bei einer weiteren Berücksichtigung von Wohngeldempfängern (4,3 %) und Menschen, welche trotz Arbeit auf aufstockende Leistungen der Agentur für Arbeit angewiesen waren (1,5 %), wird deutlich, dass in Gaarden-Ost insgesamt 46 % der unter 65 jährigen Menschen auf staatliche Transferleistungen angewiesen waren (vgl. Amt für zentrale Informationsverarbeitung Kiel 2008, S. 12). Da keine neueren statistischen Daten verfügbar sind, können die dargelegten Daten auch heute noch als richtungsweisend angesehen werden. Direkt an den Vinetaplatz grenzen an der Westseite Neubauten, welche die öffentliche Bücherhalle, die auch über ein großes türkischsprachiges Angebot verfügt, das Stadtteilzentrum mit Bürgertreff sowie das Mehrgenerationenhaus Gaarden, welches Beratungs- und Freizeitangebote in unterschiedlichen Bereichen anbietet, beherbergen. Im Erdgeschoss dieses Neubaus befindet sich das Café Dibbern, welches sich als ein beliebter Treffpunkt älterer deutschstämmiger Menschen im Stadtteil halten konnte. In der Mitte des ansonsten von gründerzeitlicher Blockrandbe56 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST bauung mit 4 – 5 Stockwerken umgebenen Vinetaplatzes befindet sich eine Imbissbude und bis vor einigen Jahren noch viele öffentliche Sitzbänke. Diese Sitzgelegenheiten wurden aufgrund der sich hier häufig aufhaltenden Angehörigen einer offenen Drogen- und Trinkerszene rückgebaut, wodurch der große Platz heute oft sehr leer wirkt. Die im Stadtbild um den Vinetaplatz und das nahe gelegene Karlstal sehr präsente offene Drogen- und Trinkerszene ist jedoch durch die Umgestaltung des Platzes nicht vertrieben worden. Diese an beiden Standpunkten häufig mehr als 30 Personen umfassenden Gruppen werden von vielen Bewohnerinnen und Bewohnern von Gaarden-Ost und darüber hinaus als sehr beängstigend wahrgenommen und werden laut Aussage eines Mitarbeiters des Büros Soziale Stadt Gaarden als ein wichtiger Faktor für das häufig sehr negative Image von Gaarden-Ost genannt. Bei mehrmaligen Begehungen des Stadtteils sowie durch Gespräche mit Anwohnerinnen und Anwohnern konnte tatsächlich ein aggressives Auftreten von einzelnen Menschen aus diesen Personengruppen festgestellt werden, jedoch richtet sich dieses fast ausschließlich gegen Personen, welche ebenfalls diesen Gruppen zuzuordnen sind. Um die Situation um den Vinetaplatz und das Karlstal zu entschärfen, ohne eine Bevölkerungsgruppe endgültig zu vertreiben, hat die Stadt Kiel vor einigen Wochen in räumlicher Nähe zum Vinetaplatz einen niedrigschwelligen, sozialpädagogisch betreuten „Trinkerraum“ errichtet, in welchem es den sich in Gaarden-Ost aufhaltenden Menschen ermöglicht wird, selbst mitgebrachten niedrigprozentigen Alkohol in einem relativ geschützten Rahmen zu konsumieren, sowie alkoholfreie Getränke zu niedrigen Preisen zu erwerben. Dieses Projekt könnte sich als ein guter erster Zugang zu diesen häufig schwer zu erreichenden Adressaten Sozialer Arbeit entwickeln. Sowohl bei der Begehung des Stadtteils als auch in einem Gespräch mit dem Sozialarbeiter des Jugendtreffs „Räucherei“ im Anschluss an das Experteninterview für diese Arbeit wurde deutlich, dass sich häufig kleine Kinder im Umfeld dieser Gruppen aufhalten, welche von ihren offensichtlich stark alkoholisierten Elternteilen vernachlässigt werden und sehr verstört erscheinen. Hier werden notwendige Interventionsansätze Sozialer Arbeit deutlich. Wieweit das neue Projekt eines niedrigschwelligen „Trinkerraum“ hier eine Verbesserung bewirkt, ist erst in einigen Monaten abschließend zu evaluieren. Sowohl in der Elizabethstraße als auch in den umliegenden Straßen ist die hohe Anzahl von Wettbüros und Automatencasinos, welche hauptsächlich von jungen Männern mit Migrationshintergrund besucht werden, auffällig. Des Weiteren ist über den gesamten Stadtteil eine große Anzahl von kleinen Eckkneipen verteilt, welche nach Aussage von Anwohnerinnen und Anwoh- 57 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST nern und des Büros Soziale Stadt Gaarden häufig noch aus der Hochzeit der Werften und der starken Arbeiterkultur stammen. Diese kleinen Kneipen bieten vielen alleinstehenden und sozial schwachen Menschen in Gaarden-Ost die Gelegenheit zu einer bescheidenen sozialen Teilhabe. Jedoch werden von vielen Anwohnerinnen und Anwohnern die wahrgenommenen Fälle von Alkoholmißbrauch und dem völligen Verlust der Selbstkontrolle durch einzelne Kneipenbesucherinnen und Besucher als überdurchschnittlich hoch empfunden. Nach Aussage eines Mitarbeiters des Büros Soziale Stadt Gaarden, kämpfen heute jedoch auch viele Kneipenwirtinnen und -Wirt um das wirtschaftliche Überleben, da viele Bewohnerinnen und Bewohner von Gaarden-Ost sich die im Verhältnis zu anderen Stadtteilen noch sehr niedrigen Preise in den Kneipen nicht mehr leisten können. Somit verlagert sich in den Sommermonaten das Leben aus den Kneipen auf die öffentlichen Plätze des Stadtteils. Hinzu kommt, dass ein weiterer Anstieg der muslimischen Bevölkerung im Stadtteil zu verzeichnen ist (vgl. Bürger und Ordnungsamt der Landeshauptstadt Kiel, 2007), welche die Kneipen häufig meiden und sich lieber in einem der zahlreichen Kulturcafés und Teehäuser aufhalten. Folgt man der Elisabethstraße in nördlicher Richtung, so trifft man auf die Kieler Werft HDW. Das großflächige Industriegelände der HDW trennt die Wohn- und Lebensbereiche von Gaarden-Ost in weiten Teilen von der Förde. Bis heute prägt die Werft indirekt das Leben in Gaarden-Ost in vielen Bereichen. Stellte diese in früheren Zeiten den Hauptarbeitgeber Gaardens dar, welche auch vielen ungelernten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Anstellung bot, in der es diesen möglich war, ihre Familien zu ernähren und in bescheidenem Wohlstand leben zu können, so ist diese Integrationsfunktion in den Arbeitsmarkt insbesondere für geringqualifizierte Menschen heute weitgehend verlorengegangen. Die heute noch verbliebenen 2.300 Mitarbeiter am Standort Kiel der HDW sind häufig hochqualifizierte Spezialisten, welche nur noch selten in Gaarden-Ost leben. Auch heute werfen die Werftkrisen der 1960er und 1980er Jahre noch immer ihren langen Schatten auf den Stadtteil. Trotz eines Rückgangs der Auftragszahlen der Werft und einer spürbaren Verringerung der Arbeitsplätze bei der HDW, siedelten sich ab 1960 viele Gastarbeiterfamilien in Gaarden-Ost an, welche auf der Werft eine Anstellung fanden. Dieser Zuzug von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern, insbesondere aus der Türkei, prägt das Straßenbild und die Bevölkerungsstruktur bis heute. Von den 16.287 Einwohnerinnen und Einwohnern von Gaarden-Ost besaßen im Jahr 2008 4.140 Menschen keinen deutschen Pass. Dies entspricht 25,4 % der Gesamtbevölkerung. Im Vergleich zum Kieler Durchschnitt von ca. 8,3 % liegt dieser Wert weit über dem Durchschnitt und stellt damit den höchsten Wert für einen Stadtteil in Kiel dar (vgl. Amt für zentrale Informationsverar58 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST beitung Kiel 2008, S. 3). Hierbei stellten im Jahr 2007 türkische Staatsbürger mit 12,6 % der Gesamtbevölkerung die weitaus größte Gruppe dar, gefolgt von Irakerinnen und Irakern(1,8 %) sowie Polinnen und Polen (1,4 %) (vgl. Bürger und Ordnungsamt der Landeshauptstadt Kiel, 2007). Zählt man zu diesen Werten noch die nachträglich eingebürgerten Bewohnerinnen und Bewohner von Gaarden-Ost (9,6 %), die Bürgerinnen und Bürger mit doppelter Staatsbürgerschaft (3,6 %) sowie die im Ausland geborenen Deutschen (1,7 %) und die Deutschen mit Eltern ohne deutschen Pass (3,3 %) hinzu, so ergibt sich ein Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund von 43,6 % (vgl. Amt für zentrale Informationsverarbeitung Kiel 2008, S. 3). Nach der Einschätzung eines Sozialarbeiters aus Gaarden-Ost stellen irakische Kurdeninnen und Kurden und Roma aus Bulgarien die am stärksten wachsenden Gruppen von Migrantinnen und Migranten im Stadtteil dar (vgl. Transkript, S. 8). Allgemein ist aus den verfügbaren Sozialraumdaten zu erkennen, dass der Anteil ausländischer Bewohnerinnen und Bewohner von Gaarden-Ost in den 10 Jahren von 1997 (3776 ausländische Bewohnerinnen und Bewohner) bis 2007 (4145 ausländische Bewohnerinnen und Bewohner) von ca. 23% auf etwa 25% angestiegen ist (vgl. Bürger und Ordnungsamt der Landeshauptstadt Kiel, 2007). Dieser hohe Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund wird auch bei einer Begehung des Stadtteils deutlich. Einerseits werden viele Geschäfte in der Elizabethstraße und darüberhinaus von Menschen mit Migrationshintergrund (hauptsächlich türkisch) betrieben und sind auf die Bedürfnisse dieser Bevölkerungsgruppe zugeschnitten ( z.B. türkische und arabische Lebensmittel, muslimische Damenbekleidung usw.), andererseits dominieren Männer mit türkischem Migrationshintergrund das Stadtbild insbesondere in den Nachmittags- und Abendstunden. Hierbei ist vor allem die fast ausschließliche Präsenz von männlichen Jugendlichen und jungen Männern mit Migrationshintergrund in den Abendstunden auffällig. Bei der Betrachtung der verfügbaren statistischen Daten zu Gaarden-Ost wird deutlich, dass diese Präsenz von jungen Migranten u.a. auf den überdurchschnittlichen Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, insbesondere bei den 6 bis 18 Jährigen Einwohnerinnen und Einwohnern von Gaarden-Ost, zurückzuführen ist (vgl. Bürger und Ordnungsamt der Landeshauptstadt Kiel, 2007). Frauen und ältere Mädchen tauchen, im starken Gegensatz zu Männern und älteren männlichen Jugendlichen, fast nur in Verbindung mit geschäftigen Tätigkeiten wie Einkaufen oder Kinderbetreuung im Straßenbild auf. In den frühen Morgenstunden sind fast ausschließlich Schulkinder in Gaarden-Ost zu beobachten, welche auch zur Mittagszeit die größte Gruppe von Bewohnerinnen und Bewohnern auf den öffentlichen Straßen und Plätzen ausmachen. An den Vormittagen sind vereinzelt ältere Men59 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST schen im Stadtbild präsent, allgemein ist diese Tageszeit jedoch mit Abstand die ruhigste Zeit des Tages. Das im Norden und Westen des Stadtteils dominierende Gelände der Werft wird im Bereich der Hörn heute durch ein ehemals zur Werft gehörendes Gelände um den Gaardener Ring, die sogenannte Kai-City, abgelöst. Dieses, vom restlichen Gebiet von Gaarden-Ost durch die große Werftstraße abgeschnittene Areal befindet sich zur Zeit in einer baulichen Aufwertungsphase, in welcher große Bürokomplexe gebaut werden und ehemalige Freiflächen immer mehr weichen. Ehemals durch die Werft genutzte Gebäude wie die ehemalige U-Boot-Halle (heute Halle 400) werden heute für kommerzielle Zwecke genutzt und dienen der Aufwertung dieses relativ kleinen abgegrenzten Areals. Im Bereich des Germaniahafens, welcher heute als Museumshafen dient und an welchem die Hörnbrücke anschließt, entstehen zur Zeit hochpreisige Eigentumswohnungen mit Blick über die Kieler Förde und den gesamten Innenstadtbereich. In den Gesprächen mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Büros Soziale Stadt Gaarden stellte sich jedoch heraus, dass diese partielle Aufwertung keinerlei messbare positive Effekte für die angestammte Bevölkerung von Gaarden-Ost hat (vgl. GEWOS 2008, S. 20). Auch ein Imagewandel für das restliche Gaarden-Ost ist für die Expertinnen und Experten durch diese Aufwertung nicht zu erkennen. Um durch die Kai-City und über die Hörnbrücke in die Innenstadt zu gelangen, müssen die Bewohnerinnen und Bewohner von Gaarden-Ost die breite Werftstraße passieren. Dies ist aufgrund der Industriebebauung in diesem Bereich nur an zwei Stellen möglich. So kreuzt die Straße Karlstal die Werftstraße und wird auf der westlichen Seite zum Gaardener Ring. Die andere Möglichkeit bietet eine Brücke, welche von der erhöht liegenden öffentlichen Schwimmhalle in der Johannesstraße die Werftstraße bis fast zum Gaardener Ring überspannt. Zu dieser baulichen Abgrenzung durch die Werftstraße kommt noch die soziale Abgrenzung aufgrund der differenten Klassenlage der Bewohnerinnen und Bewohner der Kai-City sowie der Bewohnerinnen und Bewohner der anderen Gebiete von Gaarden-Ost, wie ich diese in Kapitel 3.5 beschrieben habe. Direkt neben der öffentlichen Schwimmhalle befindet sich die viel genutzte Jugendherberge Gaarden. Südöstlich der Kai-City durchläuft die Preetzer Straße den Stadtteil von Westen nach Osten. Parallel zu dieser großen Straße verlaufen der Ida-Hinz-Park sowie der Park Zum Brook, welche die südliche Grenze des Stadtteils markieren. Das schmale Gebiet zwischen den Parks und der Preetzer Straße wird durch eine Grund- sowie eine Realschule dominiert. Diese beiden Schulen 60 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST stellen jedoch nur einen Teil der Schulen im Quartier dar. Des Weiteren verfügt der Stadtteil noch über eine weitere Grundschule in der Stoschstraße, eine Ganztagshauptschule in der Geschwister-Scholl-Straße sowie ein Gymnasium in der Poppenrade und eine Berufsschule in der Geschwister-Scholl-Straße, welche auch über eine Abteilung für Jugendliche ohne Ausbildungsverhältnis verfügt. Somit ist das Angebot an Schulformen innerhalb des Sozialraums gut und gleichmäßig über den Stadtteil verteilt. Nördlich der Preetzer Straße und parallel zu dieser verläuft der Kirchenweg, in welchem sich viele Häuser in einem schlechten baulichen Zustand befinden. Diese Häuser, welche fast ausschließlich über kleine 1 bis 2 Zimmer-Wohnungen verfügen, erscheinen sehr verwahrlost und auch das Straßenbild weist deutlichere Spuren von Vandalismus auf, als dies in anderen Bereichen von Gaarden-Ost zu erkennen ist. So sind etwa viele Telefonzellen zerstört und auch einzelne Fensterscheiben in den Wohnhäusern sind beschädigt. Viele der Mietshäuser von Gaarden-Ost befinden sich in Privatbesitz (ca. 52 %) oder im Besitz von institutionellen Wohnungseigentümern (42 %), wohingegen öffentliche Eigentümer und Genossenschaften nur einen Anteil von jeweils 2 % ausmachen (vgl. GEWOS 2008, S. 21). Hierbei ist auffällig, dass der Anteil an preisgünstigen Wohnungen bei privaten Eigentümerinnen und Eigentümern am höchsten ist (vgl. GEWOS 2008, S. 23). Nach einer Untersuchung des Forschungsunternehmens GEWOS zum Kieler Wohnungsmarkt von 2008 stellen somit private Vermieterinnen und Vermieter eine wichtige Ressource im Bereich der Bereitstellung von günstigem Wohnraum, besonders für Empfängerinnen und Empfänger von Leistungen nach dem SGB II, dar (vgl. GEWOS 2008, S. 27f.). In Gaarden-Ost sind laut dieser Untersuchung 50 % der vorhandenen Gebäude in einem renovierungsbedürftigen Zustand. Hierbei sind vor allem die Häuser und Wohnungen von privaten Vermieterinnen und Vermietern zu nennen (vgl. GEWOS 2008, S.29). Innerhalb des Gebietes um den Kirchenweg ist ein besonders hoher Anteil von Mietwohnungen in Privatbesitz sowie ein besonders hoher Anteil von SGB II Empfängerinnen und Empfängern zu verzeichnen (vgl. GEWOS 2008, S.12). Somit spiegelt sich in diesem Gebiet der von Pierre Bourdieu beschriebene Zusammenhang von physischem und sozialem Raum (vgl. Kapitel 3.3) anschaulich wider. In Nord-Süd Richtung wird sowohl der Kirchenweg als auch die Preetzer Straße durch die Iltisstraße gekreuzt. Hier befindet sich der linksradikale Infoladen LiLa, in welchem regelmäßig politische und soziale Veranstaltungen stattfinden und welcher als ein wichtiger Vernetzungspunkt der, nach Aussage eines Mitarbeiters des Büros Soziale Stadt Gaarden, sehr starken linksradikalen Szene in dem Quartier gilt. Neben den im gesamten Stadtteil verbreiteten, oft unleserlichen 61 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST „Tags“ und einigen wenigen Plakaten, die für türkische Popmusik werben, dominieren hauptsächlich linkspolitische und antifaschistische Plakate und Graffiti den gesamten Stadtteil auf der symbolischen Ebene. Hierbei stellt das Gebiet um die Iltisstraße, in welcher sich neben dem Infoladen LiLa auch noch mehrere Wohnprojekte von Angehörigen der linken Szene befinden, jedoch den Schwerpunkt dar. An der Kreuzung von Kirchenweg und Iltisstraße befindet sich der städtische Mädchentreff Gaarden, welcher täglich ein offenes Angebot für Mädchen und junge Frauen aus dem Stadtteil anbietet. Ergänzt wird dieses Angebot für Mädchen und junge Frauen durch den AWO Treffpunkt für Mädchen und Frauen im Mühlenteich, welcher niedrigschwellige Bildungsangebote und Freizeitgestaltung für Mädchen ab 14 Jahren und junge Frauen, auch in Begleitung ihrer Kinder oder jüngerer Geschwister, anbietet. Nicht weit entfernt von dem städtischen Mädchentreff liegt der AWO Bürgertreff in der Preetzer Straße, welcher auch das Kultur- und Veranstaltungszentrum Räucherei sowie einen Jugendtreff beherbergt. Der Jugendtreff der Räucherei bietet ein niedrigschwelliges, offenes Angebot für alle Jugendlichen und Kinder aus Gaarden-Ost und darüberhinaus. Unweit der Räucherei wird der Stadtteil in Nord-Süd-Richtung durch den viel befahrenen vierspurigen Ostring geteilt, welcher die Preetzer Straße kreuzt und die inneren Bereiche von Gaarden-Ost von den weitläufigen Grünflächen im östlichen Teil des Quartiers abgrenzt. Insbesondere östlich des Ostrings und südlich der Preetze Straße bietet die Sophienhöhe mit den weitreichenden Schrebergartensiedlungen, welche hauptsächlich von älteren Bewohnerinnen und Bewohnern mit Migrationshintergrund, gegen eine geringe Pacht genutzt und bewirtschaftet werden und dem Park Schwarzlandwiese gute Erholungsmöglichkeiten für die Bevölkerung von Gaarden-Ost. Durch eine Unterführung unter dem Ostring, welche den Park Zum Brook mit der Schwarzlandwiese verbindet, sind diese Grünflächen sehr gut erreichbar und werden, insbesondere in den Sommermonaten, von vielen Bewohnerinnen und Bewohnern genutzt. Gerade für die auffällig vielen Hundehalterinnen und Hundehalter in Gaarden-Ost stellt die Schwarzlandwiese mit den ausgewiesenen Hundefreilaufflächen ein beliebtes Ziel dar. Südlich der Kreuzung von Ostring und Preetzer Straße und angrenzend an die Parkanlagen befindet sich, im Bereich der Blitzstraße, die sogenannte Krupp`sche Siedlung. Diese um 1900 für die Beschäftigten der Friedrich-Krupp-Germania-Werft erbaute Siedlung sollte diesen günstigen Wohnraum mit viel Licht, grünen Innenhöfen und sogar Badezimmern innerhalb der Wohnungen, im Gegensatz zu den bis dahin üblichen Gemeinschaftstoiletten auf halber Treppe, bieten. 62 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST Neben der Bindung der Arbeiterinnen und Arbeiter an die Werft, diente diese Siedlung durch den relativ hohen Komfort wohl auch der Prävention von Widerstand und Aufruhr durch die kämpferische Arbeiterschaft in Gaarden-Ost (vgl. Arbeitskreis Stadtteilmarketing Gaarden, Büro Soziale Stadt Gaarden 2006, S. 13). Mit der auffallenden Fachwerkarchitektur und der ansprechenden Gestaltung durch Erker und Türmchen stellt diese Siedlung baulich bis heute einen Blickfang im Quartier dar. Folgt man dem Ostring in nördlicher Richtung, so ist auf der westlichen Seite zwischen Helmholtzstraße und Stoschstraße eines der wenigen Hochhäuser des Stadtteils zu erkennen. Dieses in den 1950er Jahren von der Architektengruppe Grindelberg errichtete Gebäude sollte die Wohnungsnot im Quartier beheben und Wohnraum für Flüchtlingsfamilien zur Verfügung stellen. Vergleichbar ist dieses Hochhaus mit dem von der gleichen Architektengruppe im Hamburger Grindelviertel errichteten bekannten Hochhauskomplex im Bereich der Hallerstraße/ Grindelberg. Unweit des „Grindelhochhauses“ befindet sich in nördlicher Richtung der Gustav-Schatz-Hof, welcher durch 5-stöckige Neubauten und eine gerade für Kinder ansprechend gestaltete Innenhofbegrünung sowie Spielgeräte und Sitzbänke geprägt ist. Innerhalb dieses nach außen relativ abgeschirmten Areals bietet der begrünte Innenhof einen beliebten Treffpunkt für die, im Vergleich zum Gesamtstadtteil, relativ hohe Anzahl von jungen Familien (vgl. GEWOS 2008, S. 8). Der Gustav-Schatz-Hof ist von der, den Ostring kreuzenden Stoschstraße, durch mehrerer Wege zu erreichen. Auf östlicher Seite des Ostringes erreicht man über die Stoschstraße in wenigen Minuten den Sportpark Gaarden. In Höhe der Stoschstraße ist der Ostring auch für Kinder durch eine Unterführung gefahrlos zu queren. Der großflächige Sportpark umfasst mehrere auch ohne Vereinsmitgliedschaften zu bespielende Fußballplätze, vereinsgebundene Tennisplätze sowie mehrere Sporthallen. In den Sommermonaten genießt das, immer wieder von Schließung bedrohte, Freibad Katzheide, besonderes unter Jugendlichen aus Gaarden-Ost, große Beliebtheit und wird auch von den meisten anderen Bewohnergruppen gut angenommen. Die Geschichte dieses Ortes ist jedoch auch mit viel Leid verbunden. Während des Zweiten Weltkriegs war dies der Standpunkt eines Zwangsarbeiterlagers. Bei einem Luftangriff der Alliierten 1944 kamen viele der Gefangenen ums Leben, da sie in den vorhandenen Luftschutzbunkern keinen Schutz suchen durften. Nach dem Krieg wurden in den Baracken Flüchtlinge untergebracht, bevor das Gelände 1960 zum Freibad umgestaltet wurde. 63 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST Insbesondere für Jugendliche interessant ist auch der Jugendpark Gaarden, welcher auch Teil des Sportpark Gaarden ist und viele Sport- und Freizeitmöglichkeiten für Jugendliche bietet. So umfasst der Jugendpark für sportliche Tätigkeiten sowohl eine Skate-Anlage als auch Beachvolleyballfelder, einen Basketballplatz und Trampoline. Des Weiteren bietet er einen Unterstand bei schlechtem Wetter und Grillmöglichkeiten. Sämtliche Wände, Hütten usw. des Jugendparks sind durch großflächige Graffiti bedeckt, welche sich durch die künstlerische Ausgestaltung von den vielerorts im Stadtteil präsenten Tags abheben. Östlich des Sportparks Gaarden und direkt an diesen grenzend, befinden sich viele Schulen, was die Erreichbarkeit und Attraktivität dieses am Rande von Gaarden-Ost gelegenen Gebietes für Jugendliche erheblich steigert. In nordöstlicher Richtung wird der Stadtteil durch den großen zum Nachbarstadtteil Ellerbek gehörenden Volkspark abgegrenzt. Dieser Park, welcher von den Bewohnerinnen und Bewohnern von Gaarden-Ost immer noch nach seiner alten Bezeichnung Werftpark genannt wird, diente zu den Hochzeiten der Werften als Naherholungsgebiet für die Werftarbeiterinnen und arbeiter und ihre Familien. Die Funktion als Erholungsgebiet hat der Park für die Bevölkerung bis heute nicht verloren und wurde in den letzten Jahren durch EU-Fördergelder verschönert und viele historische Orte (etwa das Kinderplantschbecken) erneut aufgebaut bzw. restauriert. Die Gebietszuschreibung des Parks zu Ellerbek hat an der Identifikation der Bewohnerinnen und Bewohner von Gaarden-Ost mit „ihrem“ Werftpark nichts verändert. Die großen Rasenflächen werden im Sommer von allen Bewohnergruppen für vielfältige Freizeitaktivitäten genutzt. Auffällig ist, dass besonders viele Familien mit Migrationshintergrund diesen Park zum grillen nutzen und sich einen Großteil des Tages hier aufhalten. Dies ist sicherlich auch mit den teilweise sehr beengten Wohnverhältnissen in Gaarden-Ost zu erklären. Im Winter bieten die kleineren Hügel beliebte Rodelbahnen für Kinder. In der Mitte des Parks findet sich das städtische Kinderund Jugendtheater Theater im Werftpark, welches theaterpädagogische Angebote für Kinder und Jugendliche aus Gaarden-Ost und darüber hinaus anbietet. 5.3 Aneignungsmöglichkeiten für Jugendliche im Stadtteil und darüber hinaus Wie bereits im vorangegangenen Kapitel ausführlich beschrieben, ist der Sozialraum GaardenOst im seinen inneren Bereichen räumlich stark verdichtet und verfügt hier nur über sehr wenige anregungsreiche Orte für Jugendliche. Insbesondere die geschichtliche Entwicklung des Stadtteils, welche immer von der Entwicklung der Kieler Werftindustrie abhängig war und von dieser bis heute spürbar beeinflusst ist, hat zu dieser starken Verdichtung beigetragen. 64 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST Um die Massen an benötigten Werftarbeiterinnen und -arbeiter und ihren Familien unterzubringen wurde Gaarden-Ost schon sehr früh dicht bebaut. Im Zuge dieses Wirtschaftsbooms von Gaarden-Ost siedelten sich auch andere gewerbliche und industrielle Unternehmen an, welche über große, teilweise zugängliche Höfe verfügten, die von den Kindern und Jugendlichen zu Aneignungszwecken genutzt werden konnten und es war diesen möglich, auf den zu dieser Zeit noch nicht sehr stark befahrenen Straßen zu spielen und auch diese für ihre eigenen jugendtypischen Handlungsweisen zu nutzen (vgl. Geschichtswerkstatt Gaarden 2011). Mit dem Rückgang der Auftragszahlen für die Kieler Werften, im Zuge der Werftkrise der 1980er Jahre, und der Entlassung einer Großzahl der Werftarbeiterinnen und -arbeiter sowie dem hiermit einhergehenden Absinken des Kaufkraftniveaus veränderte sich sowohl die soziale als auch die räumliche Struktur des Stadtteils. Zu dieser Zeit verließen viele Unternehmen den Stadtteil und die ehemaligen Gewerbehöfe sind heute nicht mehr vorhanden. Inzwischen sind viele dieser ehemalige Gewerbehöfe und Freiflächen zugebaut und die Straßen sind aufgrund des starken Verkehrs für Jugendliche zur Freizeitgestaltung nicht mehr nutzbar. Vielmehr wurde der öffentliche Raum einem genauen Zweck untergeordnet und so nur noch einseitig nutzbar gemacht. Innerhalb dieser Funktionalisierung des öffentlichen Raumes bleibt heute kein ungenutzter Freiraum, welcher von den Jugendlichen auf ihre Art und mit ihren Inhalten besetzt werden kann. Gerade diese Monofunktionalität führt zu einer Anregungsarmut und lässt keinen Raum für die notwendige Aneignung durch die Kinder und Jugendlichen. Lothar Böhnisch geht hierauf in seinem Werk „Sozialpädagogik der Lebensalter“ genauer ein: „Die moderne Funktionalisierung der räumlichen Wohnumwelt erweist sich gegenüber den Kindern in mehrfacher Hinsicht als hemmend: Es ist die Durchgängigkeit, mit der die Räume inzwischen funktionalisiert sind: aus Hofeinfahrten sind Garageneinfahrten geworden, Gehsteige und öffentliche Plätze lassen inzwischen nur monofunktionale Nutzung zu, die eher den Erwachsenen zukommen, Spielplätze sind nach der funktionalen Raumkalkulation und nicht nach dem Raumbedarf der Kinder eingerichtet und erhalten so den Charakter von Reservaten“ (Böhnisch 2008, S. 137). Auch das Forschungsinstitut GEWOS weist in ihrem „Ergänzenden Bericht zum Kieler Wohnungsmarkt“ von 2008 u.a. auf die Monofunktionalität der Hinterhöfe von Gaarden-Ost und deren ungenutzte Potentiale für Kinder und Jugendliche hin: „Aufgrund der geschlossenen Blockrandbebauung der Baublöcke rund um den Kirchenweg ergeben sich größere Blockinnenbereiche, die sich aufgrund ihrer Abgeschlossenheit zu den Straßenräumen als Spielund Aufenthaltsräume für die Bewohner/-innen eignen, deren Potenziale bislang aber noch nicht ausgeschöpft werden. Zurzeit sind die Hofflächen meist aufgrund der Vielzahl an Einzeleigentümer/-innen sehr kleinteilig parzelliert“ (GEWOS 2008, S. 40). 65 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST Die hier beschriebenen Hinterhöfe sind meist betoniert und von hohen Mauern umgeben. Des Weiteren sind sie durch Garagentore von der Straße abgegrenzt und meist durch Mülltonnen zugestellt. Da diese vordefinierten Räume gerade nicht, die im Aneignungsprozess notwendigen Möglichkeiten der Eigentätigkeit und Veränderung von Räumen aufweisen, ist es laut Reutlinger in dieser Situation unerlässlich für die Kinder und Jugendlichen in Spannung mit der entfremdeten Umwelt zu treten (vgl. Reutlinger 2004, S.125). Das Zerstören oder Verändern von vorgefundenen räumlichen Bedingungen, durch etwa das Beschädigen von städtischem Eigentum oder das Sprayen von Graffitis, stellt diesen Aufbau von Spannung dar. Gerade auch an den für sie vorgesehenen Räumen und Plätzen, bietet sich den Jugendlichen kaum die Möglichkeit der Veränderung und Aneignung. Die räumliche Welt ist hier bereits fertig gestaltet. Um sich dennoch ihre Umwelt anzueignen und selbst etwas zu bewirken, zerstören sie diese vorgefundene und bereits mit kulturellen Codes behaftete Umwelt und deuten sie in ihrem Sinne um. Somit geben sie den Gegenständen eine neue, von den Jugendlichen bestimmte Funktion und machen sich diese somit zu eigen. Die Parkbank wird somit zu ihrer Parkbank und das Spielplatzhäuschen zu ihrem Spielplatzhäuschen und damit z.B. zum Mittelpunkt ihres Treffpunktes (vgl. Reutlinger 2004, S. 123). Die Jugendlichen ecken immer da an, wo sie die glatten Strukturen ihrer Umwelt angreifen und durch eigene wertgeladene Inhalte ersetzen bzw. umdeuten. Die multikulturelle Ausrichtung des Stadtteils bietet viele Möglichkeiten der Aneignung unterschiedlicher kultureller Verhaltensweisen und des Erlernens von Toleranz. Des Weiteren stellen die großflächigen Grünanlagen an den Rändern des Sozialraums ein großes Potential für die räumlichen Aneignungshandlungen von Jugendlichen in Gaarden-Ost dar. Hierbei ist insbesondere das Gebiet der Sophienhöhe zu nennen, welches durch relativ ungepflegte Parks, Schrebergärten und Wald geprägt ist. Dieses Gebiet bietet viele Gelegenheiten außerhalb der Kontrolle Erwachsener zu agieren. Die räumliche und soziale Struktur von Gaarden-Ost ist fast durchgängig von Angehörigen einer weit unten im sozialen Raum angesiedelten Klasse geprägt. Dennoch weist auch dieser Stadtteil eine soziale Abstufung auf, die u.a. in dem Gebiet um den Kirchenweg deutlich wird und sich hier auch anhand der räumlichen Struktur vermittelt (vgl. Kapitel 5.2). Anhand dieser räumlichen Struktur ist es den Jugendlichen möglich, sich die Klassenstruktur der Gesellschaft sowie die eigene Lage im sozialen Raum anzueignen. Auch bei Besuchen der Kieler Innenstadt wird diese soziale Differenzierung und die hiermit einhergehende eigene gesellschaftliche Ausgrenzung für die Jugendlichen aus Gaarden-Ost erlebbar. 66 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST So ist es den Jugendlichen aus Gaarden-Ost durch die nahe Lage zu der Innenstadt von Kiel und der fußläufigen Erreichbarkeit möglich, eigenständig Sozialräume mit einer ganz anderen Ausstattung an Kapital zu erkunden, sowie die hier präsenten Verhaltensweisen der gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure anzueignen. Somit sind die Jugendlichen in ihren Aneignungshandlungen nicht auf den Klassenhabitus von Gaarden-Ost beschränkt. Die Innenstädte bzw. die kommerziellen Zentren stellen eine Besonderheit innerhalb der Aneignungsmöglichkeiten von Jugendlichen im urbanen Raum dar. Im Gegensatz zu einer Vielzahl der nach Klassen differenzierten Sozialräume in den Städten, sind die Innenstädte nur in einem geringen Maße durch symbolische Grenzen für die Jugendlichen der unteren sozialen Klassen verschlossen. Dieser Umstand, welcher auch in dem Experteninterview zu den Aneignungshandlungen von Jugendlichen aus Gaarden-Ost deutlich wird (vgl. Kapitel 5.5), ist auf den unbegrenzten Konsum, wie er von Lothar Böhnisch in seiner Auswirkung auf die Lebensphase Jugend beschrieben wird, zurückzuführen (vgl. Böhnisch 2008, S. 151). Durch die Schaffung von unterschiedlichen Konsumgütern mit unterschiedlicher Qualität ist es heute für annähernd alle gesellschaftlichen Klassen möglich zu konsumieren. „Die Konsumindustrie stellt – dem ökonomischen Gesetz der Produktdifferenzierung folgend – sehr wohl schichtunterschiedliche Produkte und Accessoires her, für betuchte und weniger betuchte Leute auf der Schichtskala von der exklusiven Marke über die Imitationsware bis hin zum Massenramsch. Auch noch die Ärmsten können kaufen, haben Zugang zu der Konsumszenerie, in der auch die Reichen - wenn auch in einem anderen Produkthimmel – es ihnen gleich tun. Es gibt nur noch Konsumniveaus und keine Klassenunterschiede mehr, heißt die soziale Botschaft“ (Böhnisch 2008, S. 151). Dieser, von Böhnisch beschriebenen Produktdifferenzierung folgend, stehen auch die Zugänge zu den Konsumzentren für alle gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure offen. In diesem Sinne ist der Zugang zur Innenstadt für Jugendliche aus den unteren sozialen Klassen, im Interesse der Profitmaximierung der wirtschaftlichen Unternehmen, relativ problemlos möglich. Allerdings findet auch in den Konsumzentren eine soziale Segregation anhand des Konsumniveaus und der hiermit verbundenen Klassenlage statt. Als anschauliches Beispiel hierfür kann die exklusive Einkaufstraße Neuer Wall in Hamburg genannt werden, aus welcher private Sicherheitsleute die Angehörigen der sozial schwachen Klassen, symbolisch und ganz direkt, fernhalten. Des Weiteren kann den Jugendlichen der Zugang aufgrund des relativ weiten und kostenaufwendigen Zugangsweges verwehrt bleiben. Ist es den Jugendlichen jedoch möglich, die Innenstädte zu betreten, so stellen diese vielfältige Möglichkeiten der Aneignung, insbesondere von sozialen Praktiken, dar. 67 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST 5.4 Methodische Vorgehensweise des qualitativen Experteninterviews 5.4.1 Das Erhebungsverfahren Das qualitative Experteninterview stellt in der vorliegenden Arbeit einen wichtigen Aspekt der umfassenden Sozialraumanalyse nach Lothar Stock dar (vgl. Stock 2004, S.375ff.; Kapitel 5.1). Hierbei dient es insbesondere der Analyse der konkreten Aneignungshandlungen von Jugendlichen in dem untersuchten Sozialraum. Da der Interviewpartner seit mehreren Jahren in der sozialräumlich orientierten Jugendarbeit innerhalb des Quartiers tätig ist, weist er ein fundiertes Expertenwissen in Bezug auf die theoretisch geleitete Fragestellung auf, welches ihn laut Uwe Flick als Interviewpartner innerhalb eines qualitativen Experteninterviews qualifiziert (vgl. Flick 2009, S. 215). Da sich die Fragestellungen an den Experten in der vorliegenden Untersuchung aus den in Kapitel 2, 3 und 4 dargestellten theoretischen Grundannahmen ergeben, eignet sich hier insbesondere ein Leitfadeninterview, um den Experten auf die interessierenden Aspekte seines Wissens zu fokussieren. „Die Orientierung an einem Leitfaden schließt auch aus, dass das Gespräch sich in Themen verliert, die nichts zur Sache tun, und erlaubt zugleich dem Experten, seine Sache und Sicht der Dinge zu extemporieren“ (Meuser/Nagel 2002, S.77). 5.4.2 Das Interview Bei der Auswahl eines geeigneten Interviewpartners habe ich mich für einen pädagogischen Mitarbeiter des Jugend- und Kulturzentrums Räucherei in dem untersuchten Kieler Stadtteil Gaarden-Ost entschieden. Insbesondere aufgrund der sozialräumlichen Ausrichtung und der weit verbreiteten Akzeptanz der Räucherei unter den Jugendlichen des Quartiers erscheint mir ein Mitarbeiter dieser Jugendeinrichtung als Interviewpartner geeignet. Ein weiteres wichtiges Auswahlkriterium für den interviewten Experten stellte die multikulturelle und geschlechtsübergreifende Jugendarbeit innerhalb der Einrichtung dar. Aufgrund seiner langjährigen Arbeit innerhalb des Sozialraums und der umfangreichen Kenntnisse jugendlicher sozialräumlicher Handlungsweisen wurde mir auf Nachfrage bei der Leitung des Jugendtreffs der entsprechende Experte als Interviewpartner empfohlen. Als Ort der Durchführung des Interviews habe ich die Räumlichkeiten der Räucherei am 18.03.2010 außerhalb der Öffnungszeiten gewählt. Leider wurde das Interview trotz vorheriger Information aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Räucherei an einer Stelle kurzfristig aufgrund von Störung unterbrochen. Durch das gewählte Erhebungsverfahren eines Leitfadeninterviews konnte das Interview jedoch schnell wieder aufgenommen werden und es kam hierdurch somit zu keiner Beeinträchtigung der Qualität der erhobenen Daten. Da der Interviewpartner 68 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST auch mich als Experten in Bezug auf jugendliche Lebenswelten wahrgenommen hat, neigte er innerhalb des Interviews dazu, wichtige Aspekte der sozialräumlichen Verhaltensweisen von Jugendlichen als bekannt vorauszusetzen und diese nicht weiter zu erläutern. Dieser Tendenz konnte jedoch durch weitere Nachfragen und der Bitte um Konkretisierungen entgegengewirkt werden. Um jegliche Konsequenzen für den interviewten Experten bei einer Veröffentlichung der vorliegenden Arbeit zu verhindern, wurde das Interview auf Bitte des Interviewpartners anonymisiert. 5.4.3 Das Auswertungsverfahren Im Sinne des Aufbaus der vorliegenden Arbeit erscheint eine qualitative Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring als geeignet, die in Kapitel 2, 3 und 4 dargestellten theoretischen Kategorien wechselseitig anhand der erhobenen Daten des Interviews zu überprüfen und zu modifizieren (vgl. Flick 2009, S. 409). In diesem Sinne werden die vorher festgelegten theoretischen Kategorien an das Material des Interviews herangetragen und dieses einer Auswertung zugänglich gemacht. Hierbei ist auch eine Analyse der Interviewsituation und deren Auswirkung auf das Material vorzunehmen (vgl. Flick 2009, S. 409). Aus diesem Grund habe ich die Interviewsituation in Kapitel 5.4.2 dargestellt. Als konkretes methodisches Vorgehen des Auswertungsverfahrens habe ich die zusammenfassende Inhaltsanalyse, wie diese von Mayring dargestellt wird, gewählt (vgl. Mayring 2009, S. 472). Hierbei wird in einem ersten Schritt das Interviewmaterial paraphrasiert und für die Fragestellung unbedeutende Passagen gestrichen. Anschließend werden in einem zweiten Schritt bedeutungsgleiche und ähnliche Paraphrasen zusammengefasst. Abschließend wird das erarbeitete Material an den theoretischen Überlegungen rücküberprüft und in Richtung der Fragestellung interpretiert. (Vgl. Flick 2009, S. 410ff.) 5.5 Konkrete Aneignungshandlungen von Jugendlichen im Sozialraum Anhand eines Experteninterviews mit einem Mitarbeiter des Jugend- und Kulturzentrums Räucherei in Kiel Gaarden-Ost (siehe Transkript im Anhang) werde ich im Folgenden die konkreten Aneignungshandlungen von jungen Menschen innerhalb dieses Sozialraums aus Sicht der professionellen Sozialen Arbeit vor Ort analysieren und diese durch die Ergebnisse mehrerer Sozialraumbegehungen ergänzen, sowie mit Hilfe der Erkenntnisse der Theorien von Alexej N. Leontjew und Pierre Bourdieu theoretisch untermauern. 69 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST Der Vinetaplatz stellt in Gaarden-Ost für Jugendliche den Mittelpunkt des Stadtteils und den zentralen Treffpunkt dar. „[...] ganz klar der Vinetaplatz, Vinetaplatz is` eigentlich schon der Treffpunkt für Jugendliche“ (Transkript, S. 2). Dieser Platz bietet durch seine zentrale Lage und der Funktion als gesellschaftliches Zentrum des Stadtteils den Jugendlichen einen Raum in dem gesellschaftliche Verhältnisse sichtbar und diese angeeignet werden können. Bezugnehmend auf Martha Muchow wird die große Bedeutung solcher Räume für die Sozialisation von Jugendlichen im Gegensatz zu monofunktionalen Aufenthaltsräumen speziell für Jugendliche abseits der gesellschaftlichen Zentren deutlich (vgl. Deinet 2005, S.40). Hier können gesellschaftliche Werte und Normen sowie klassenspezifische Verhaltensweisen angeeignet werden. Sowohl am Vinetaplatz als auch über das gesamte Gebiet des Stadtteils verteilt ist die symbolische Aneignung von Räumen durch Jugendliche in Form von Graffiti und Plakaten zu erkennen, mit welchem sie in Spannung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen treten (vgl. Reutlinger 2004, S.125) und den Raum als den Ihrigen markieren und Ansprüche auf diesen deutlich machen. Diesen Anspruch auf Teile des sozialen Raumes unterstreichen einige Jugendliche auch durch ihr Auftreten gegenüber anderen Nutzern des Raumes. „Ja, also für/ für 'n Außenstehenden, der sich in Gaarden nich' auskennt so, wirkt es manchmal bedrohlich, weil man muss denn manchmal.. sich 'n Weg durch eine größere Gruppe von Jugendlichen mit Migrationshintergrund bahnen [...] weil klar, da kommt/ da kommen Sprüche, nä und da wird auch nich' gleich Platz gemacht [..] Und /ähm/ es gibt Provokationen und ja [...] Also von/ vom Gebärden her is' es denn manchma' schon so“ (Transkript S. 5). Hierbei wird auch die große Bedeutung von Räumen, in welchen sich die Jugendlichen als Individuen präsentieren und ihre Abgrenzung zu den Erwachsenen spüren können, deutlich. Aber auch die Spielplätze des Stadtteils werden von den Jugendlichen angeeignet und deren Funktion in ihrem Sinne umgedeutet. „Also Kinder und jüngere Jugendlichen halten sich auch gerne auf Spielplätzen auf, da gibt‟s ja verschiedene Spielplätze [...] aber sowas is' für Jugendliche auch interessant, weil da kann man auch wunderbar chill'n“ (Transkript, S. 2). Bei der Nutzung und Umdeutung der Spielplätze durch die Jugendlichen steht weniger die Selbstpräsentation als das Agieren abseits der Kontrolle durch die Eltern im Vordergrund. Hierbei erlangen auch die Parkanlagen an den Rändern von Gaarden-Ost für viele Jugendliche eine große Bedeutung. „Also das sind natürlich alles so so Orte, da halten sich denn auch Jugendliche auf [...] Was sie denn dort machen, nä [...] Manchmal die legalen Sachen, manchmal die illegalen Sachen [...]“ (Transkript S. 4). 70 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST Somit werden diese relativen Freiräume zur Aneignung von, durch die Eltern bzw. die Gesellschaft sanktionierten, Verhaltensweisen genutzt. Der durch den Interviewpartner indirekt angesprochene Drogenkonsum der Jugendlichen weist auf ein typisches jugendkulturelles Risikoverhalten innerhalb der Aneignungshandlungen hin. Insbesondere im Zusammenhang mit einer starken Sanktionierung der Verhaltensweisen gewinnt das Eingehen von Risikosituationen zur Erhaltung von Eigentätigkeit innerhalb des Aneignungsprozesses an Bedeutung. Dieses Risikoverhalten ist im Zusammenhang mit der Aneignungstheorie aus der Perspektive der Akteurinnen und Akteure als plausibel und sinnhaft zu bewerten, birgt jedoch auch immer Gefahren für die Akteure. Hier wird ein Interventionsansatz für die Jugendarbeit deutlich, diese riskanten Aneignungshandlungen innerhalb der pädagogischen Arbeit aufzugreifen und ähnliche Aneignungshandlungen mit vermindertem Risiko zu ermöglichen. Erlebnispädagogische Maßnahmen erscheinen hier als geeignet. Allerdings müssen auch gesellschaftlich bei Erwachsenen akzeptierte Verhaltensweisen wie Alkoholkonsum als Teil der Lebenswelt der Jugendlichen im pädagogischen Handeln aufgegriffen werden und den Jugendlichen hier Aneignungsmöglichkeiten mit einem verminderten Risiko bereitgestellt werden. Benedikt Sturzenhecker hat für den Bereich des Alkoholkonsums ein tragfähiges Konzept entwickelt, welches sehr gut mit der Aneignungstheorie kompatibel ist (vgl. Sturzenhecker 2002, S. 217ff.). Große Bedeutung haben diese Rückzugsmöglichkeiten aus der Kontrolle der Erwachsenen auch für Mädchen und junge Frauen, insbesondere aus den muslimischen Familien im Stadtteil. Hierbei werden die Mädchen von dem interviewten Experten in zwei Gruppen unterschieden: „[...] also bei den Mädchen mit Migrationshintergrund /ähm/... da muss man einfach zwei Fälle unterscheiden einmal die, die 'ne relativ lockere Erziehung genießen, die jetzt kein Kopftuch tragen, die sich 'n bisschen mehr/ also die besser integriert sind ((zieht Luft durch Nase)) /ähm/ die treffen sich schon mal, aber die treffen sich jetzt nich' als geballte Gruppe oder, nä. /ähm/ Bei den anderen Mädchen und Frauen, die dürfen das gar nich' ((lacht)) nä, die dürfen gar nich' irgendwo stehen oder im Café sitzen und da denn irgendwie /äh/ sich länger aufhalten oder so, gut die die treffen sich mal zum Gespräch oder so, nä, aber die düsen hier nich' durch 'n Stadtteil oder so, weil sie 's einfach nich' dürfen, die ham dann und dann zuhause zu sein. Und wenn ihr Bruder sie hier findet, dann ham sie 'n Problem [...] aber ich sag mal wo das noch recht streng is' in den Familien, da sind die eher unscheinbar“ (Transkript S. 13f.). Doch auch Mädchen und jungen Frauen aus streng religiösen Familien in Gaarden-Ost finden noch kreative Möglichkeiten, um ihrem Aneignungsbedürfnis nachzugehen. In dieser Hinsicht spielen die Parks innerhalb ihrer Sozialisation eine wichtige Rolle. „Die halten sich zwar auf, die kaufen ein und so, aber ((zieht Luft durch Nase)) die geh'n nich' irgendwo jetzt 'ne Runde chill'n, nä. [...] Und wenn, machen sie es heimlich, nä. Denn machen sie es wirklich heim- 71 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST lich, wo keiner aus der Familie sie erstmal sehen kann, nä. Weil sie's einfach nich' dürfen. [...] da gibt das schon Orte so in den Parks, wo man denn/ sich denn treffen kann, weil da nich' so viele Leute vorbeikommen, aber die würden sich niemals auf „m Vinetaplatz da in so 'n Café setzen und denn (auch brauchen?) [...] Das geht gar nich'. Ja, wenn dann der Papa oder der Onkel oder irgendwer vorbeikommt, denn ham sie echt 'n Problem“ (Transkript S. 14). Die Aussagen des Experten zu den räumlichen Aneignungshandlungen von Mädchen und jungen Frauen in Gaarden-Ost decken sich mit einer Untersuchung von Elke Schön zum räumlichen Verhalten von weiblich sozialisierten Kindern und Jugendlichen, wie ich sie in Kapitel 4.2 dargestellt habe (vgl. Schön 2004, S. 235ff.). Hierbei konnte nachgewiesen werden, dass die Mädchen vielfältige Handlungsweisen, häufig auch kollektiv, entwickeln, um innerhalb der beschränkenden Verhältnisse ihre Handlungsfähigkeit zu erhalten und ihrem Aneignungsbedürfnis nachzugehen. Somit ist auch die von dem Interviewpartner beschriebene und bei der Stadtteilbegehung beobachtete meist ausschließlich zweckgebundene Präsenz von diesen Mädchen und jungen Frauen im Stadtteil, etwa zum Einkaufen oder zur Kinderbetreuung, durch die eigentätige Eröffnung von Aneignungsräumen zu erklären. Auch das Nutzen der Parks für die entwicklungstypischen Handlungsweisen von Mädchen und jungen Frauen und die Erhaltung/Erlangung von Selbstverantwortung und Eigentätigkeit hierdurch, ist auf diese Weise zu begründen. Eine weitere Erkenntnis zum räumlichen Aneignungsverhalten von Mädchen, welche ich in Kapitel 4.2 beschrieben habe, wird innerhalb der vorliegenden empirischen Untersuchung bestätigt. In diesem Sinne wird die Institutionalisierung von Mädchen in pädagogisch betreuten Einrichtungen (vgl. Nissen 1998, S. 185f.) von dem interviewten Experten mit dem häufig sexistischen Auftreten der männlichen Jugendlichen und dem hieraus folgenden Rückzug in spezielle Räume für Mädchen und Frauen erklärt. „Also, es is' schon so, dass dass /äh/ viele M/ Jugendliche, also männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund, das sind schon die kleinen Machos […] Das is' so. Also vom vom Auftreten, je mehr Frauen in der Nähe sind, desto breiter werden sie, sie passen nich' durch die Türen durch und da wird einen auf richtig cool gemacht, klar. Das sind alles geile Macker und die geben sich auch so“ (Transkript S.14). „Würd' ich mir ja gar nich' geben, nä.. ((macht Geräusch mit der Zunge)) Würd' ich ja lieber woanders hingehen oder ich geh' in' Mädchentreff.. So, da bin ich denn.. unter unter Mädchen und muss mir da nich' die Sprüche anhören..“ (Transkript S. 28). „Wir schaffen den Mädchen/ Mädchen natürlich Orte, wo sie sich auch t/ trotzdem treffen können, durch diesen Mädchentag oder die Mädchentreffs. Aber so im offenen Bereich, is' das, is' das schon schwierig so“ (Transkript S. 30). Aufgrund der beschriebenen sehr geringen Wohnungsgröße und den damit einhergehenden beengten Wohnverhältnissen haben viele Jugendliche das Bedürfnis, ihre Freizeit bei jedem Wetter auf den Straßen des Stadtteils zu verbringen. 72 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST „Das sind zwar Altbauwohnungen, das sind schöne Altbauwohnungen, aber die ham nich' so viele Zimmer, oft teilen sich Jugendliche mit ihren Geschwistern 'n Zimmer, teilweise mit jüngeren Geschwistern, teilweise mit wesentlich jüngeren Geschwistern und die wenigsten Jugendlichen ham die Möglichkeit /ähm/ ihre Kumpels mitzunehmen.. das is' ganz schwierig“ (Transkript S. 3). Somit gewinnen die im gesamten Stadtteil präsenten Automatencasinos in den Wintermonaten für die älteren männlichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen an Bedeutung. „[...]da muss man sich natürlich irgendwo treffen und so wenn's regnet, muss man sich dort treffen, wo man 'n Dach über 'm Kopf hat, nä, so ((erklärendes Geräusch)) [...] Denn steht man halt in den Eingangsbereichen von irgendwelchen Läden oder man geht tatsächlich in so 'ne so 'ne Spielhalle rein..“ (Transkript S. 3). Aber auch die Angebote der Offenen Kinder- und Jugendarbeit haben zu dieser Zeit einen starken Zulauf, um das Bedürfnis der Jugendlichen nach Erlebnis- und Gesellungsräumen abseits der elterlichen Kontrolle zu befriedigen. In den Sommermonaten verlagert sich das gesellschaftliche Leben der Jugendlichen wieder mehr nach draußen. „Das merken wir auch in unserer Arbeit, dass /ähm/ in den Sommermonaten die Jugendlichen sich mehr draußen aufhalten und das merken wir einfach an den Besucherzahlen, nä, in im Winter.. Monaten is' es draußen kalt, da kann man halt nur in diese Läden rein geh 'n und denn ham wir natürlich gleich auch wieder das Haus völlig voll /äh/ dass wir aus allen Nähten platzen“ (Transkript S.3). Symbolische Grenzen, wie ich sie in Kapitel 3.5 dargestellt habe, spielen auch in den räumlichen Aneignungshandlungen der Jugendlichen aus Gaarden-Ost eine Rolle. „Wir hatten ja vorhin von den Grenzen gesprochen die Preetzer Straße is' schon so „ne bisschen so „ne Grenze […] Also, die jetzt unten wohnen.. also zum Brook und so die ganze Ecke../äh/ Bielenbergstraße/ da ham wir weniger Kinder aus der Ecke. […] Sondern eher so.. Gaarden Ost oder das ganze Umfeld Vinetaplatz und so.. ich weiß es nich woran es liegt obwohl es eigentlich rein von der Entfernung her viel dichter dran ist... Aber.. da ham wir halt die Erfahrung gemacht, die die dürfen einfach nich' über die Preetzer Straße hier in die Räucherei weil.. weiß ich nich'. […] warum das so is' aber das is' so `ne Art unsichtbare Grenze die Preetzer Straße. […] Hab ich so „n Eindruck“ (Transkript S. 22). Im Gegensatz zu der symbolischen Abgrenzung von Gaarden-Ost zu den Nachbarbezirken in der Wahrnehmung der Jugendlichen ist der Weg zur Kieler Innenstadt inzwischen durch die KaiCity und über die Hörnbrücke auch für Jugendliche sehr einfach zu bewältigen. „Also die Gaardener/ Durch die Brücke, durch die Hörnverbindung is' is' is' der Weg zum Innenstadtbereich geebnet, also das is' so der zentrale Weg, wo die Wanderung einsetzt […].“ (Transkript S. 11). Die baulichen Veränderungen im Bereich der Kai-City und die mit diesen einhergehenden Verbesserungen der Erreichbarkeit der Kieler Innenstadt, sowie die in Kapitel 5.3 beschriebene be73 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST sondere Rolle der kommerziellen Zentren innerhalb der räumlichen Aneignungstätigkeit von Jugendlichen, können als Gründe für das veränderte räumliche Verhalten von Jugendlichen vermutet werden. „So die Jugendlichen wie ich schon sagte, die die geh'n ja auch ma' in die Innenstadt. Das war ja auch nich' immer so. [...] Eher blieb man halt in Gaarden.. unter sich. .. Jetzt.. geht man auch schon mal, aus welchen Gründen auch immer. Und wenn es nur in „s.. CAP is' oder so, nä“ (Transkript S. 20). Bei dem CAP handelt es sich um ein kleines kommerzielles Einkauf- und Freizeitzentrum direkt am westlichen Ende der Hörnbrücke, welches an das Gebäude des Hauptbahnhofes angeschlossen ist und u.a. ein Kino und eine Diskothek beherbergt. Insbesondere die Hörnbrücke, welche als Verbindung zwischen Gaarden-Ost und der Innenstadt fungiert, stellt auf der Gaardener Seite einen beliebten Treffpunkt für die, vorwiegend männlichen Jugendlichen aus Gaarden-Ost dar. „Das is' zum Beispiel auch ein Ort ((zieht Luft durch Nase)) wo man sich an der Brücke aufhält.. und eben halt die Menschen beobachtet, die da geh'n“ (Transkript S. 12). Doch häufig bleibt es nicht bei dem Beobachten der vorbeiziehenden Menschen. „Und irgendwann hat man auch sich das Opfer ausgeguckt [...] Nä, nich' alle Jugendliche, aber das gibt/ bei den Jugendlichen gibt es schon Leute, die gucken sich auch die Opfer aus m/ das is' so..“ (Transkript S. 12f.) „[...] und da kann es denn durchaus passieren, dass man da auf Deutsch gesagt abgezogen wird [...] Auch als Erwachsener [...] So und das wirklich massiv. Also nich' nur so ey, Alter gib Penny, sondern da wird auch schon ma' 'n büschen mit Nachdruck, so nä“ (Transkript S. 12). Ein weiterer Treffpunkt von Jugendlichen stellt die Umgebung der Schwimmhalle Gaarden dar, von welcher eine Brücke die Werftstraße zur Kai-City überspannt. Auch dieser beliebte Treffpunkt ist nach Angaben des Interviewpartners ein gefährlicher Ort in Gaarden-Ost, insbesondere für Außenstehende. „[...] dann gibt‟s ja noch den anderen Übergang Richtung Schwimmhalle /ähm/ da wird's ja noch kritischer, da wird's ja immer dunkler und immer düsterer, weil das so 'n komischer Weg is' da oben zur Schwimmhalle und da hat's auch schon einige erwischt, nä“ (Transkript S. 13). Diese Konzentration der Jugendgewalt auf den Bereich der Kai-City bzw. des Überganges in die Innenstadt ist sicherlich mit ein Grund für das schlechte Image des Stadtteils und die Ängste vieler Bewohnerinnen und Bewohner Kiels, diesen Stadtteil zu betreten. Für die Jugendlichen bietet dieser Treffpunkt jedoch auch die Möglichkeit sich als Gruppe zu präsentieren und den Übergang in „ihr Revier“ zu markieren. Diese symbolische Handlung wird noch durch entsprechende Kleidung verstärkt. 74 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST „Nä, der sich dann auch so äußert, dass /ähm/ 24143. Nä, die renn' dann mit mit /äh/ /äh/ [...] Pullovern, Kapuzenshirts rum, da steht denn 143 drauf. Und dann is' da 'ne Maschinenpistole drauf“ (Transkript S. 9). Die Zahlenkombination 24143 stellt hierbei die Postleitzahl von Gaarden-Ost dar. Durch das martialische Gebärden sollen andere Gruppen, welche einen Anspruch auf den Sozialraum erheben, abgeschreckt werden. Viele männliche Jugendliche demonstrieren ihre räumliche Inbesitznahme der öffentlichen Plätze und Orte symbolisch (z.B. durch Graffiti) aber auch ganz direkt, durch die körperliche oder verbale Ausgrenzung von anderen Gruppen. Beide Verhaltensweisen sind in Gaarden-Ost und insbesondere im Bereich der Kai-City zu beobachten. Insbesondere gegenüber Jugendlichen aus der Großraumsiedlung Mettenhof am Rande Kiels wird diese räumliche Dominanz durchgesetzt. „Nä und wenn da irgendwie mehrere Gaardener sich in Mettenhof aufhalten /äh/ das is' schon mal 'ne andere Geschichte, also da gibt‟s schon Grenzen. [...] Nä und auch wenn Mettenhofer jetzt mit 'm Auto nach Gaarden fahren und da gibt‟s 'ne Schlägerei, dann sind die Mettenhofer in Gaarden [...] Das spricht sich schnell rum. Klar“ (Transkript S. 11). „[...] und ganz oft is' es dieser ewen/ ewig währende Konflikt zwischen Mettenhof und Gaarden“ (Transkript S. 9). Die Kinder des Stadtteils sind in ihrem räumlichen Verhalten weit weniger flexibel als die Jugendlichen. Dies ist nicht ausschließlich durch die eingeschränkten Möglichkeiten in dieser Entwicklungsstufe der Sozialisation zu erklären, sondern resultiert nach Angaben des interviewten Experten auch aus den Ängsten vieler Eltern, ihre Kinder in Gaarden-Ost aus dem eigenen Kontrollbereich zu entlassen. „Bei den Kindern is' es schon 'n bisschen anders so, nä. Viele Kinder dürfen auch nich' vom Vinetaplatz weg, die müssen da in der Nähe bleiben.. weil.. die Mamas auch teilweise Angst haben, wenn sie woanders hingehen weil .. es is' ja alles nich' so ohne hier.. und da is„ es schon 'n bisschen was anderes so, nä. Also die Kinder muss man auch schon 'n Stückchen an die Hand nehmen und../ähm/ es is' auch manchmal 'n Angang vom Vinetaplatz in die Räucherei zu gehen“ (Transkript S. 20). Diese Aussage des Interviewpartners deckt sich mit Untersuchungsergebnissen von Ursula Nissen, in welchen die Beschränkung der räumlichen Aneignungshandlungen von Mädchen auf die Ängste der Eltern vor sexuellen Übergriffen auf ihre Kinder zurückgeführt wird (vgl. Nissen 1998, S. 184; Kapitel 4.2). Diese Beschränkung der Kinder auf den Bereich um den Vinetaplatz wird in jungen Jahren von den Kindern nicht als Einschränkung ihrer Aneignungshandlungen empfunden, da dieser Sozialraum innerhalb der Sozialisation und im Zuge der von Leontjew beschriebenen veränderten do75 DIE ANEIGNUNGSHANDLUNGEN DER JUGENDLICHEN BEWOHNER DES KIELER STADTTEILS GAARDEN-OST minanten Tätigkeiten immer neue Möglichkeiten bietet (vgl. Fuchs 2001, S. 34). Mit zunehmendem Alter verändern sich jedoch auch die dominanten Tätigkeiten und der eingeschränkte Sozialraum gerät für die Befriedigung der Aneignungshandlungen der Kinder an seine Grenzen. Des Weiteren ist es den Kindern im Zusammenhang mit dieser räumlichen Beschränkung fast ausschließlich möglich, die spezifischen Klassenhabitus der Bewohnerinnen und Bewohner von Gaarden-Ost anzueignen. Hier wird ein wichtiger Ansatz für die Offene Kinder- und Jugendarbeit deutlich, neue Aneignungsräume für diese Kinder und Jugendlichen zu eröffnen und sie somit in ihrer Sozialisation positiv zu unterstützen. Die weitgehende räumliche Beschränkung der Jugendlichen aus Gaarden-Ost auf ihren Sozialraum und die hieraus entstehende Notwendigkeit der Intervention durch die Soziale Arbeit wird auch in dem Experteninterview deutlich. „[…] weil wir festgestellt haben, dass.. viele Kinder/ also gerade die Kinder.. wenig aus „m Stadtteil raus kommen.. Also es gibt Kinder, man glaubt es nich', die war' noch nie am Meer.. […] A Also das is' jetzt kein Märchen, es is' so und /ähm/.. Wir nutzen denn halt so auch die Sommermonate, wo wir denn innerhalb der Gruppen/ Also wir machen auch Jungenarbeit, also mit der Jungsgruppe denn auch mal ans Meer fahren.. […] So einfach, dass sie auch mal da hin komm'.. […] Weil sonst kenn' sie halt das Schwimmbad Katzheide, was sie irgendwann bald dicht machen. Das kenn' sie noch, aber so Strand eher weniger.. […] Daher auch so Strandfahrten Falkenstein oder.. ((laut einatmen)) wir fahr'n mal nach Neumünster oder so, nä "Oh, an 'ner Autobahn, es gibt ja ‚ne Autobahn" Also ja..“ (Transkript S. 19). 76 KONSEQUENZEN FÜR DIE PRAKTISCHE SOZIALE ARBEIT 6 KONSEQUENZEN FÜR DIE PRAKTISCHE SOZIALE ARBEIT Durch die Verbindung der theoretischen Grundlagen und Erkenntnisse mit den Ergebnissen der empirischen Untersuchungen konnten bereits in den vorangehenden Kapiteln erste Konsequenzen für die praktische Soziale Arbeit angedeutet werden. In diesem Kapitel werden die Erkenntnisse aus den bisherigen Untersuchungen für die praktische Soziale Arbeit aufbereitet und hieraus Handlungsempfehlungen abgeleitet. Wie in Kapitel 5 dargestellt, ist jedoch eine genaue Kenntnis der räumlichen und sozialen Lebensbedingungen von Jugendlichen in den spezifischen Quartieren notwendig, um adäquate Antworten der Sozialen Arbeit auf deren Bewältigungsaufgaben herauszuarbeiten. In diesem Sinne werde ich im Folgenden keine fertigen Konzepte präsentieren, sondern es werden nur Handlungsempfehlungen dargelegt, welche anhand der konkreten Bedingungen modifiziert oder erweitert werden müssen. Als Konsequenz seiner empirischen Untersuchungen und theoretischen Überlegungen strebt Pierre Bourdieu eine gesellschaftliche Veränderung und die Überwindung von Ausgrenzung und Unterdrückung an (vgl. Kapitel 2.2.3). Will die Soziale Arbeit der Eigendefinition ihrer Aufgaben „… Armut zu lindern, verletzte, ausgestoßene und unterdrückte Menschen zu befreien“ (IFSW 2011) gerecht werden, so muss auch sie gangbare Wege der Gesellschaftsveränderung und der Emanzipation im Rahmen ihrer professionellen Tätigkeit finden. Hierbei kann eine Orientierung an den Überlegungen von Pierre Bourdieu hilfreich sein. Für diesen stellt insbesondere die kritische Bildung und die Erkenntnis gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen durch die Akteurinnen und Akteure eine elementare Voraussetzung für progressive Gesellschaftsveränderung dar. Um gesellschaftliche Akteurinnen und Akteure bei diesen Bildungsprozessen zu unterstützen, reicht es nicht aus, auf formelle institutionalisierte Bildungsangebote zu setzen, vielmehr muss die räumliche Lebenswelt als Sozialisations- und Bildungsraum ernst genommen werden (vgl. Kapitel 3.5). Wie in Kapitel 3.3 dargestellt, spiegeln sich die Herrschaftsverhältnisse der Gesellschaft in den urbanen Räumen wider und können innerhalb dieser angeeignet und somit kritisch reflektiert werden. Um die Aneignungsbemühungen von Jugendlichen produktiv zu unterstützen, ist es notwendig, einer Ausgrenzung aus diesen, von den Angehörigen einer differenten Klasse dominierten Räumen, entgegenzuwirken. Nur erlebbare Räume sind dem Prozess der Aneignung zugänglich. Insbesondere vor dem Hintergrund der in Kapitel 4.1 beschriebenen Ausweitung der räumlichen Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen im Laufe ihrer Sozialisation wird die Notwendigkeit einer Unterstützung durch die Soziale Arbeit deutlich, um einer Verinselung und 77 KONSEQUENZEN FÜR DIE PRAKTISCHE SOZIALE ARBEIT Verhäuslichung entgegenzuwirken. Um neue Räume für Jugendliche im Rahmen der Sozialen Arbeit zu erschließen, können gemeinsame Ausflüge, wie sie von dem interviewten Experten beschrieben werden, als ein probates Mittel betrachtet werden (vgl. Transkript S. 19). Aber auch raumgreifende Spiele, bei welchen die Jugendlichen die neuen Räume eigenständig in dem schützenden Rahmen der Jugendgruppe erkunden, erscheinen hier als geeignet. Im Rückgriff auf die in Kapitel 4.2 dargestellten Erkenntnisse zu den Unterschieden in dem räumlichen Aneignungsverhalten von weiblich und männlich sozialisierten Jugendlichen sowie den Ergebnissen des Experteninterviews, lassen sich einige Konsequenzen für eine geschlechtssensible sozialraumorientierte Jugendarbeit formulieren. In diesem Sinne sollte das große Interesse der Mädchen und jungen Frauen an Aneignungshandlungen im öffentlichen Raum von der professionellen Sozialen Arbeit aufgegriffen werden. Hierbei bietet insbesondere der pädagogische Rahmen der Sozialen Arbeit den weiblich sozialisierten Jugendlichen Schutz vor den Übergriffen und Erniedrigungen durch ihre männlichen Altersgenossen. Jedoch müssen auch die spezifischen Beschränkungen der räumlichen Aneignungsmöglichkeiten von vielen Mädchen und jungen Frauen durch die eigene Familie beachtet werden (vgl. Kapitel 4.2; Transkript S. 13f.). In diesem Zusammenhang hat Elke Schön die hohe Handlungskompetenz der weiblich sozialisierten Jugendlichen in Bezug auf die Erschließung von Aneignungsräumen trotz des starken Einbezugs in familiäre Aufgaben dargestellt (vgl. Schön 2004, S. 239ff.; Kapitel 4.2). Diese Strategien der Mädchen und jungen Frauen sollten innerhalb der pädagogischen Arbeit unterstützt und an diese angeknüpft werden. In dem untersuchten Stadtteil Gaarden-Ost wird der starke Einbezug von Mädchen und jungen Frauen in familiäre Aufgaben insbesondere durch den AWO Treffpunkt für Mädchen und junge Frauen innerhalb der pädagogischen Arbeit aufgegriffen. So ist es den weiblich sozialisierten Jugendlichen hier möglich, ihre Kinder oder kleinen Geschwister mit in die Einrichtung zu bringen und somit, trotz der familiären Belastung, pädagogische Angebote wahrzunehmen (vgl. Kapitel 5.2). Auch unbeobachtete Rückzugsräume außerhalb der Kontrolle von Erwachsenen sollten als wichtige Aneignungsräume von (insbesondere weiblich sozialisierten) Jugendlichen wahrgenommen werden. Innerhalb der geschlechtsspezifischen Arbeit mit männlich sozialisierten Jugendlichen sollte der öffentliche Raum als wichtiger Aneignungsraum von geschlechtstypischen Verhaltensweisen aufgegriffen und kritisch reflektiert werden. Wie in Kapitel 2.1 dargestellt, wird die materielle Welt immer in Verbindung mit den sozialen Akteurinnen und Akteuren angeeignet. Hieraus wird die große Bedeutung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern als Vorbilder in der Entwicklung von Jugendlichen deutlich. Insbesondere innerhalb der kritischen geschlechtsspezifischen 78 KONSEQUENZEN FÜR DIE PRAKTISCHE SOZIALE ARBEIT Jugendarbeit ist somit die Selbstreflektion der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie deren Verhaltensweisen unumgänglich, um einer Reproduktion der symbolischen Herrschaft innerhalb des Geschlechterverhältnisses entgegenzuwirken. Innerhalb der nach Klassen strukturierten Gesellschaft sind die Machtmittel ungleich verteilt. In diesem Sinne ist es für Angehörige der niedrig im sozialen Raum angesiedelten Klassen schwierig, ihren berechtigten Anliegen Gehör zu verschaffen. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sollten daher als „AnwältInnen für Veränderung“ (IFSW 2011) diese Menschen in der Artikulation ihrer Bedürfnisse unterstützen. Anhand der Theorie von Pierre Bourdieu habe ich in Kapitel 2.2.3 die Bedeutung des symbolischen Kapitals innerhalb der politischen Kämpfe dargestellt. Hierbei verweist Bourdieu auf die Möglichkeit der Steigerung des symbolischen Kapitalvolumens durch den Zusammenschluss einer Gruppe von Akteurinnen und Akteuren zur politischen Einflussnahme. Die professionelle Soziale Arbeit kann die Gründung entsprechender Interessensgruppen produktiv unterstützen. Dieter Oelschlägel hat hier im Rahmen der Gemeinwesenarbeit Möglichkeiten der Aktivierung von Bewohnerinnen und Bewohnern zur eigenständigen Interessenswahrnehmung herausgearbeitet (vgl. Oelschlägel 2001, S. 181ff.). Des Weiteren verfügen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter durch ihre institutionalisierten Berufstitel und ihre anerkannte Funktion innerhalb der Gesellschaft über Benennungsmacht in Bezug auf soziale Probleme, welche im Sinne der Interessen des Klientels genutzt werden kann. Ebenso können Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter aufgrund dieses relativ hohen symbolischen Kapitalvolumens produktiv auf gesellschaftliche Akteurinnen und Akteure einwirken und somit einer Ausgrenzung von Jugendlichen aus Räumen aufgrund ihres spezifischen Habitus entgegenwirken. Zur Verhinderung und Bewältigung sozialer Probleme ist es notwendig, dass die Soziale Arbeit sich auch politisch positioniert und auf politische Prozesse Einfluss nimmt. Die Grundlage hierfür kann das dritte Mandat der Sozialen Arbeit, wie dieses von Sylvia Staub-Bernasconi herausgearbeitet wurde, darstellen (vgl. Staub-Bernasconi 2007, S. 198ff.). Anhand der sozialräumlichen Entwicklungen im urbanen Raum, wie ich diese in Kapitel 3.3 und 3.4 dargestellt habe, wird deutlich, dass soziale Probleme häufig auf politische Entscheidungen zurückzuführen sind. Daher ist es notwendig, dass die Soziale Arbeit mit ihrer besonderen fachlichen Perspektive in politische Prozesse interveniert und der Entstehung sozialer Probleme bzw. der Ausgrenzung von Menschen entgegenwirkt. Dies bedeutet auch, dass einer Verdrängung von Menschen aus innerstädtischen Quartieren im Rahmen von Gentrifizierungsprozessen entgegengewirkt werden muss. 79 KONSEQUENZEN FÜR DIE PRAKTISCHE SOZIALE ARBEIT In Bezug auf die Jugendarbeit kann es nicht ausreichen, den Jugendlichen institutionalisierte Aneignungsräume bereitzustellen. Vielmehr muss eine räumliche und soziale Umwelt angestrebt werden, welche eigenständige Aneignungsmöglichkeiten sowohl für weiblich, als auch für männlich sozialisierte Jugendliche bietet. In diesem Rahmen muss die Soziale Arbeit gemeinsam mit den Adressatinnen und Adressaten auch in städtebauliche Maßnahmen intervenieren, um die letzten Freiräume für Kinder und Jugendliche im urbanen Raum zu erhalten oder neue zu schaffen. In den Ausführungen zur Lebensphase Jugend in der nach Klassen strukturierten Gesellschaft habe ich auf die Entstrukturierung dieser Lebensphase hingewiesen (vgl. Kapitel 3.2). Da ein Übergang in das Erwachsenenleben über den Arbeitsmarkt heute für viele Jugendliche nicht mehr einfach möglich ist und einige die ökonomische Unabhängigkeit nie erreichen, ist die Schaffung einer Lebensperspektive abseits des Arbeitsmarktes heute eine wichtige Aufgabe der Jugendsozialarbeit. „Gerade aus dem Blickwinkel und der Bedürfnislage der älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen heraus werden von den Jugendpädagogen, ihren Angeboten und Einrichtungen weniger Leistungen für die Vorbereitung auf die Zukunft, sondern Brauchbares zur Bewältigung und Gestaltung der Gegenwart erwartet. Gegenwart ist in diesem Kontext für die Jugendlichen eben nicht mehr bloß der Rahmen, in dem sich Jungsein vollzieht, sondern Alltagswelt mit spezifischen Lebensproblemen, die zur Lösung anstehen“ (Münchmeier 2005, S. 828). Die Jugendlichen werden somit auf den Nahraum ihres Wohnortes als Aneignungsraum zurückverwiesen. Hier versuchen die Jugendlichen produktiv Antworten auf lebensphasentypische Entwicklungsaufgaben zu finden. Diese Bemühungen der Jugendlichen sollten von der professionellen Jugendarbeit aufgegriffen werden und auch ältere Jugendliche, sowie ihre sozialräumlichen Bedürfnisse, in der pädagogischen Arbeit ernst genommen werden. Hierbei sollten insbesondere solche Angebote mit den Jugendlichen erarbeitet werden, innerhalb derer diese ihre Selbstwirksamkeit erleben können. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich soziale Verhältnisse innerhalb der gegebenen Klassengesellschaft auch in urbanen öffentlichen Räumen niederschlagen. Insbesondere vor dem Hintergrund der Entstrukturierung der Lebensphase Jugend gewinnen diese öffentlichen Räume und die innerhalb dieser Räume möglichen Aneignungshandlungen für Jugendliche an Bedeutung. Für die Herausbildung eines selbstbewussten, kritischen Subjekts innerhalb der Sozialisation ist somit die Nutzung aller öffentlichen Räume, sowie die Aneignung der gesamten Bandbreite der menschlichen Handlungsoptionen, förderlich. Über eine Verbindung der Theo- 80 KONSEQUENZEN FÜR DIE PRAKTISCHE SOZIALE ARBEIT rien von Alexej N. Leontjew und Pierre Bourdieu lässt sich der Raumbezug von Jugendlichen innerhalb der Sozialisation umfassend analysieren und Unterstützungsmöglichkeiten der Lebensbewältigung durch die professionelle Soziale Arbeit herausarbeiten. 81 LITERATURVERZEICHNIS 7 LITERATURVERZEICHNIS Amt für zentrale Informationsverarbeitung Kiel (Hrsg) „Statistischer Bericht Nr. 196“ Kiel 2008 Arbeitskreis Stadtteilmarketing Gaarden, Büro Soziale Stadt Gaarden (Hrsg.) „GaardenWegweiser“ Kiel 2006 Bauer, Ullrich „Sozialisation und die Reproduktion sozialer Ungleichheit“ In: Bittlingmayer, Uwe H. / Eickelpasch, Rolf / Kastner, Jens / Rademacher, Claudia (Hrsg.) „Theorie als Kampf? 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((zustimmend)) mhh I. Ja, is' das okay so für dich? X. Ja I. Okay X. Aber alles mit Jugendlichen bezogen, also jetzt gar nich'/ I. Alles/ X. gar nich' die Vernetzungsarbeit? I. Nee, genau X. ((zustimmend)) mhh I. Genau, nur bezogen auf auf Jugendliche, das 's halt mein Schwerpunkt und.. ja, genau X. Okay 1 ANHANG I. Okay, also ich hatte ja auch schon einmal eine Begehung gemacht hier im Stadtteil, nochmal mit anderen Augen, als wenn ich sonst hier bin bei meiner Freundin /ähm/ und natürlich mit den Informationen, die ich vom Stadtteilbüro gekriegt hab'.. is' mir dann nochmal aufgefallen, wie dicht bebaut der Stadtteil eigentlich im Inneren is' /ähm/ und da wär meine Frage an an dich als als Experten hier /ähm/: Wo halten sich Jugendliche eigentlich auf, wenn sie in Gaarden im Inneren sind /ähm/ und wie halten sie sich hier eigentlich auf X. ((zustimmend)) mhh. Also grundsätzlich für für Jugendliche, aber auch für Kinder gibt's eben halt verschiedene Orte, die interessant sind. Also Kinder und jüngere Jugendlichen halten sich auch gerne auf Spielplätzen auf, da gibt‟s ja verschiedene Spielplätze, der läuft im S/ Jargon auch immer "Räuber" wird der genannt, "Räuber Hotzenplotz" is' ein Spielplatz, aber sowas is' für Jugendliche auch interessant, weil da kann man auch wunderbar chill'n. I. Ja X. Nä /äh/ Anderer Ort is' ganz klar der Vinetaplatz, Vinetaplatz is' eigentlich schon der Treffpunkt für Jugendliche. Wenn man jemand treffen will, geht man zum Vinetaplatz und dort trifft man auch.. den Kumpel oder andere Leute und wenn man sie nich' dort erwarten, denn trifft man sie spätestens dann, also da/ Das is' schon so 'n Zentrum in Gaarden, nä I. Ja X. /ähm/ Andere Orte sind /ähm/ diese diversen /ähm/ ((schnalzt, Wort suchend)) sag' ich mal Spiel ((suchen)) mhh Casinos in Anführungsstrichen, die schießen in Gaarden ja auch wie Pilze aus 'm Boden, wo man eben halt spielen kann, Spielhallen I. Ja X. Manchmal 'n bisschen dubios, manchmal mit Alkohol, manchmal ohne, man weiß es nich' so /ähm/ Internetcafés /äh/ Shishabar. Also das is'/ sind schon so manchmal so 'n bisschen dubiose Geschichten X. ((zustimmend)) mhh X. die hier entstehen /ähm/ die manchmal auch nich' so ganz astrein sind. Also von wegen so Jugendschutz und so, das s/ is' manchmal dann auch übergreifend, weil das sind so.. die Treffpunkte in.. den Sommermonaten natürlich ganz klar mehr draußen I. ((zustimmend)) mhh 2 ANHANG X. Das merken wir auch in unserer Arbeit, dass /ähm/ in den Sommermonaten die Jugendlichen sich mehr draußen aufhalten und das merken wir einfach an den Besucherzahlen, nä, in im Winter.. Monaten is' es draußen kalt, da kann man halt nur in diese Läden rein geh 'n und denn ham wir natürlich gleich auch wieder das Haus völlig voll /äh/ dass wir aus allen Nähten platzen. I. Ja X. Nä I. Is' ja auch, wenn ich mir die Sozialraumdaten angucke, sind ja sehr kleine Wohnungen hier, nä, also nehmt ihr auch so war, dass dass Jugendliche sich viel draußen aufhalten oder/ X. Ja, muss, müssen sie, also gerade /äh/ auch mit Migrationshintergrund und wir haben ja 'n hohen Migrationsanteil hier in Gaarden /ähm/ Das sind zwar Altbauwohnungen, das sind schöne Altbauwohnungen, aber die ham nich' so viele Zimmer, oft teilen sich Jugendliche mit ihren Geschwistern 'n Zimmer, teilweise mit jüngeren Geschwistern, teilweise mit wesentlich jüngeren Geschwistern und die wenigsten Jugendlichen ham die Möglichkeit /ähm/ ihre Kumpels mitzunehmen.. das is' ganz schwierig. Also das ham sie uns auch schon mal gesagt und /ähm/ ja, da muss man sich natürlich irgendwo treffen und so wenn's regnet, muss man sich dort treffen, wo man 'n Dach über 'm Kopf hat, nä, so ((erklärendes Geräusch)) I. Klar X. Denn steht man halt in den Eingangsbereichen von irgendwelchen Läden oder man geht tatsächlich in so 'ne so 'ne Spielhalle rein.. -Kurze Unterbrechung des Interviews aufgrund von StörungI. Okay, gut /ähm/ die Ränder von Gaarden auch hier der der Brook und /ähm/ Werfpark und /äh/ was ham wir noch? Moorteichwiesen und so weiter.. Werden die viel genutzt? X. ((zustimmend)) mhh, also wie gesagt auch die Sommermonate, nä I. Ja X. Das is' ganz klar, also im Jugend/ /äh/ /ähm/ Also der/ Es gibt den Jugendpark Gaarden I. ((zustimmend)) Mhh X. Der is' e/ extra angerichtet für für Jugendliche, der soll jetzt erweitert werden zum Sportpark, also der zieht sich ja denn über 's gesamte Ostufer rüber ((zieht Luft durch Nase)) ((zustimmend)) Mhh 3 ANHANG X. Da gibt‟s eben halt /äh/ Beachvolleyball, da gibt‟s Basketball, da kann man Inlineskating fahren.. das is' natürlich 'n Treffpunkt I. Ja X. So, nä, dann gibt‟s hier weiter unten /ähm/ ((suchendes Geräusch)) da wo/ Heischplatz die Ecke, dann is' da noch ma' 'n Park.. Oh Gott, wie heißt der, das is' auch unten da zum Brook, da is' auch 'n neuer Park entstanden. Also das sind natürlich alles so so Orte, da halten sich denn auch Jugendliche auf I. ((zustimmend)) Mhh X. Nä, gerade in den Sommermonaten, die setzen sich denn da hin und dann ((erklärendes Geräusch)) wie auch immer I. Ja X. Was sie denn dort machen, nä I. Ja X. Manchmal die legalen Sachen, manchmal die illegalen Sachen, aber /ähm/ was ich damit sagen wollte, ganz viel spielt/ sich dann draußen ab und Gaarden is' eigentlich 'n Stadtteil, der hat/ relativ viel Grünzonen und dort verlagert sich denn auch Einiges. I. ((zustimmend)) Mhh X. Also auch ganz viel' Familien gehen dort hin, also man me/ merkt das, wenn man im Sommer unterwegs is', da sind ganz viele Familien mit kleinen Kindern, die sind in den Parks, machen da Picknick, die grillen, nä, also ähnlich wie im Schrevenpark im im Innenstadtbereich machen die das a/ halt hier I. Ja X. Also, das kann man schon sehen und im /äh/ Winter is' es klar, da zieh'n sie sich mehr nach Innen zurück I. ((zustimmend)) mhh X. Und da sie eben halt die die räumlichen Kapazitäten in ihren Wohnungen nich' haben, müssen sie sich halt andere Orte suchen. Und da sind wir jetzt eine M/ Möglichkeit, wo man halt hingehen kann, nä I. Ja 4 ANHANG X. Als Alternative zu den kommerziellen.. Spielhallen I. Ja ((nach Worten suchend)) mhh f/, kannst du da noch genauer drauf eingehen, wie du das wahrnimmst, wenn Jugendliche sich im im Stadtteil oder auch in den Randbezirken in den Grünanlagen aufhalten /ähm/ Wie sie sich da aufhalten, wie sie sich gebärden, wie /ähm/ X. ((leicht belustigt)) mhh I. /ähm/ X. Also /ähm/ I. Mal ganz naiv gefragt ((lacht)) X. Ja, also für/ für 'n Außenstehenden, der sich in Gaarden nich' auskennt so, wirkt es manchmal bedrohlich, weil man muss denn manchmal.. sich 'n Weg durch eine größere Gruppe von Jugendlichen mit Migrationshintergrund bahnen und /ähm/ wenn ich es mach, is' es nochmal 'was anderes, weil ich irgendwie 50 Prozent davon kenn' I. Ja X. So, dann macht man denn erstma' shake hands, aber wenn das jetzt jemand is', der hier neu is', der jemand besucht /äh/ einfach von A nach B gehen will, kann das manchmal auch bedrohlich wirken, weil klar, da kommt/ da kommen Sprüche, nä und da wird auch nich' gleich Platz gemacht I. Ja X. Und /ähm/ es gibt Provokationen und ja I. ((zustimmend)) mhh X. Also von/ vom Gebärden her is' es denn manchma' schon so I. Ja.. Gibt's denn Konflikte unter verschiedenen Gruppen von Jugendlichen im Stadtteil? X. Unter den verschiedenen ethnischen Gruppen? I. Zum Beispiel X. Ja I. Ja? X. ((zustimmend)) mhh. Also ganz aktuell is' eigentlich der langwährende Kurden-Türken Konflikt 5 ANHANG I. ((zustimmend)) mhh X. Nä und /ähm/ ((zieht Luft durch Nase)) durch die Zuwanderung von irakischen Kurden.. und aus anderen Gebieten /ähm/ hat sich das nochmal verschärft I. Okay X. Also man muss ja unterscheiden zwischen irakischen Kurden, zwischen türkischen Kurden, zwischen.. syrischen Kurden, also da da gibt das ja/ die sind/ ganz viel Verbindung, so, aber trotzdem sind ba/ alle Gruppen wieder völlig getrennt. Also, die türkischen Kurden finden noch lange nich' gut, was die irakischen Kurden machen I. ((zustimmend)) mhh X. und da gibt das schon massive Konflikte.. Also, es kann so aussehen, dass 'ne Gruppe von.. Kurden aus Mettenhof an eine Schule geht und sich dort Leute raus greift, mit den' sie gerade Streit haben und /ähm/ und da geht es dann richtig ab I. Ja X. So. Oder s/ die treffen sich hier im Stadtteil, das is' letztes Jahr auch passiert am/ ((zieht Luft durch Nase)) vorm Schwimmbad und da gibt‟s dann Showdown und /äh/ je nach dem welche Gruppe mehr Leute um sich versammelt hat.. die sind denn siegreich I. Ja X. Und dann kann nur noch die Polizei mit 'm Großaufgebot dieses Ganze beenden, weil es manchmal ja auch nich' ganz ungefährlich is'. Sie hau'n sich ja nich' nur 'was auf die Schnauze I. Ja X. Also muss man einfach ma' so wissen I. Ja X. Nä, da hat der eine oder andere halt auch schon ma' 'ne Knarre dabei oder 'n Messer und das.. kann manchmal auch.. schlimmere Probleme geben oder schlimmere Verletzungen geben I. Ja X. /ähm/ Das is' der eine Konflikt hier, nä. Dann gibt es halt so viel verschiedene ethnische Gruppen hier im Stadtteil, also es gibt ja /ähm/ /äh/ sag' ich ma' die die Russen, die vor zig Jahren, also die /ähm/ hier zugezogen sind, nä, Spätaussiedler, so. E/ Die sind in Gaarden halt auch etabliert, nä ((atmet hörbar ein)) Wir haben 'n hohen Arabisch sprechenden Anteil hier in Gar6 ANHANG den.. Ganz neu /äh/ is'/ wir haben ganz viel Bulgaren.. so, die die sind /äh/ da sind ja sogar noch Leute aus 'm EU-Land /ähm/ aber die gehören i/ dort eben halt in Bulgarien auch wieder zu 'ner Minderheit, sag' ich ma' der der Türkisch sprechenden.. Bulgaren I. ((zustimmend)) mhh X. Die sind da auch in/ Bulgarien selber ausgegrenzt und die sind auch hier neu zugezogen und das is' alles Konfliktstoff, nä. Da geht's ja einfach auch drum ((nachdenkliches Geräusch)) ja, wer wer sich hier etabliert oder so, nä. I. Ja Oder die unterscheiden denn ja auch wieder, wer wer wer gehört denn jetzt zu den Underdogs, nä. Sind es die Leute, die schon ganz lange hier sind oder die jetzt neu kommen oder die nich' Türkisch sprechen oder die Arabisch sprechen. Da gibt‟s halt vielerlei Gründe und /ähm/ da gibt es schon Konflikte und die werden auch manchmal .. richtig heftig ausgetragen. I. Also sind die Konfliktlinien eher an /äh/ ethnischen Linien als als an jugendkulturellen oder geht das m/ miteinander einher oft X. Oft is' es Politik. Also Kurden Türken 'is ganz klar Politik I. Ja X. Weil wir wissen, wenn, sag ich mal, die türkische Armee 'ne Offensive in der Türkei startet und da sterben so und so viel Kurden oder umgekehrt sind so und so viele türkische Soldaten werden, schwappt es in, sag ich ma', mit zwei Wochen /äh/ n/ I. ((zustimmend)) Mhh X. Oder nach zwei Wochen schwappt es hier rüber und dann knallt es hier irgendwo. Das is' das is' einfach so, weil der Papa/ Die gucken ja alle türkisches Fernsehen und /äh/ es gibt kurdische Zeitungen und das wird hochgepuscht im Wohnzimmer und der Papa erzählt es seinen Söhnen und die Söhne tragen das mit der Gegenfraktion in der Schule, auf der Straße oder sonstwo aus. I. Ja X. Das is' Politik.. Oft is' es Politik, die sie selber gar nich' verstehen, aber /ähm/ ja, es gibt Feindbilder, nä. Das is'/ Genauso is' es eben halt mit den Bulgaren oder so, nä. Sie/ Eigentlich haben sie a/ ähnliche Wurzeln, sie sprechen ja sogar teilweise die eigene Sprache, aber ((atmet ein)) es sind eben halt, das is' 'ne Minderheit sag ich mal, der der Roma in Bulgarien, so. Und das is' denn in Anführungsstrichen Zigeuner und die sind scheiße 7 ANHANG I. Ja X. So die sind/ sind nichts. Wir sind wer, die sind nichts. Also, da gibt das schon ganz klare Abstufungen, nä. ((zieht Luft durch Nase)) I. Wenn du von dem Konflikt zwischen Türken und Kurden erzählst und es is' ja 'n politischer Konflikt, der ja auch da viel an der/ ja, viele sozialistische kurdische Bewegungen und so weiter /ähm/ Verstehen die Jugendlichen sich hier auch in dieser politischen Bewegung oder is' das was, was ihnen gar nich' deutlich wird? X. Doch, zum Teil schon. I. Ja X. Also, es gibt die Grauen Wölfe hier in Gaaarden wie in anderen Städten auch und/ I. Ja X. Wer sich da bisschen mit auskennt weiß, dass die Grauen Wölfe eher rechts sind I. Ja X. Und /äh/ das wird auch von den Erwachsenen auch 'n bisschen /äh/ werden sie denn auch geschult I. ((zustimmend)) Mhh X. So, und da/ und das is' dann so, die andere/ das das/ der Gegenpart, so nä. I. Ja X. Die Jugendlichen sind /äh/ selber eigentlich relativ unpolitisch, so, da kennen sie sich gar nich' so richtig aus oder sie meinen sie kennen sich aus, aber.. Also ich als Deutscher hab' da glaub' ich noch mehr Ahnung von wie sie selber. Aber sie brauchen eben halt Leute, wo sie sagen /äh/ ((macht unterstützendes Geräusch)) die sind scheiße, also wir sind da jetzt gegen und das sind Kurden und der Kurde der hat hier nichts verloren I. ((zustimmend)) mhh X. Nä und, aber sie können mir nicht sagen, warum denn nun, also p/ wie das politisch zusammen hängt, so nä. Das is' manchmal sehr diffus und dann geht's auch 'ne ganze Zeit gut, nä. Es gibt ja auch Freundschaften zwischen kurdischen Türken und und und den Türken selber. Also das is' ja auch sehr.. sehr merkwürdig das ganze Gebilde, nä. Und .. ja, aber das sind so tagtägliche Geschichten, die wir ganz oft mitkriegen, so.. Da gibt‟s dann auch ganz viel andere Gruppen. 8 ANHANG Es gibt hier 'ne relativ große Gruppe von Tschetschenen und so, nä. Und es is' nun mal auch so, auch im.. sag ich mal, in den kriminellen Milieu, da wird der Markt auch schon aufgeteilt I. ((zustimmend)) mhh X. Nä, also dass is' ja auch kein großes Geheimnis, nä. I. Ja X. Als wer welchen Markt kontrolliert. Wer kontrolliert den Drogenmarkt, wer kontrolliert den Markt der Prostitution, wer /äh/ nä. So, da da läuft ja auch ganz viel, das sind auch verschiedene ethnische Gruppen, nä. Die sich denn auch wieder zusammen tun. Also, ich weiß zum Beispiel von Mettenhof, da ham sich die Kosovo-Albaner mit den Kurden zusammen getan, obwohl es rein politisch, wenn man mal das ganze auf 'm Balkan sich anguckt, is' es völliger Schwachsinn.. Aber da werden denn Allianzen geschmiedet, nä. So, das is' Is' schon sehr interessant und ganz oft is' es dieser ewen/ ewig währende Konflikt zwischen Mettenhof und Gaarden. I. ((zustimmend)) Mhh X. Nä, der sich dann auch so äußert, dass /ähm/ 24143. Nä, die renn' dann mit mit /äh/ /äh/ I. Ja X. Pullovern, Kapuzenshirts rum, da steht denn 143 drauf. Und dann is' da 'ne Maschinenpistole drauf. Die die Mettenhofer machen das denn genauso mit ihrer Postleitzahl.. denn is' da noch manchmal noch die Nationalfahne drauf, also aus dem Land, wo sie kommen, so. I. Ja X. Bei irakischen Kurden is' es denn die irakische Fahne, nä, das is' schon/ die geben sich schon 'n Zeichen, nä. Und wir hatten ja ganz ganz früher hatten wir ja die verschiedenen Jugendbanden in den verschiedenen Stadtteilen, also von den Tigers bis zu den Metfighters, bis zu den Dragons und/ Das sind schon so.. das spukt immer noch in den Köpfen der Jugendlichen und sie rennen nun nich' mit Kutte rum, aber sie finden das schon interessant.. Also wenn man so 'n Markenzeichen hat und man rennt denn eben halt mit so 'm Shirt rum, wo 143 draufsteht, Gaarden und noch die Maschinenpistole da drunter, dat is' schon 'was, nä. I. Ja X. Tigers hatten das früher ja auch, ihre Lederkutte, nä.. die hängt bei manchem Papa noch im Schrank.. Und da ham wir jetzt schon die Jugendlichen von, so also da/ das is' ja auch 'ne Generationsgeschichte, nä ((zieht Luft durch Nase)) 9 ANHANG I. Ja.. Und in Garden-Ost, kannst du das da räumlich fest machen, gibt es Quartiere, wo wo mehr Kurden, wo mehr Araber oder so weiter /äh/ den Raum dominieren, oder? X. ((nachdenklich)) mhh.. Also weiter unten jetzt so zum Brook die ganze Ecke, also unterhalb der Preetzer Straße is' schon mehr so Arabisch sprechend, aber so generell kann man das nich' sagen, das geht eher nach Häusern. Also es gibt schon 'n Haus, wo nur Bulgaren wohnen I. Okay X. Nä, da gibt es schon Häuser, wo denn mehr so die die russische Fraktion wohnt, also d/ das/ aber nich` so ganze Straßenzüge. Das das das is' schon übergreifend. Also das kann man hier nich' sagen also wie in Amerika, so das is' das Latinoviertel und das is' das türkische Viertel, also das is' in Gaarden schon anders I. Ja X. A/ Das is' schon ziemlich gemischt, aber so in den/ innerhalb der Häuser kann man das schon sagen, nä also, da hat/ ham/ gibt es schon Häuser, wo denn mehr Leute aus einem Land wohnen I. Ja X. So, man kennt sich halt, klar. ((zieht Luft durch Nase)) Würd` ich als Deutscher im Irak vielleicht auch machen, das sich da halt seh', wo die Deutschen wohnen I. Ja X. Vielleicht, weiß ich nich' ((zieht Luft durch Nase)) I. Also es gibt keine Gebiete, wo man nm/ nich' hingeht, wenn man innerhalb Gaardens keine X. Nein I. informellen X. Nein I. Grenzen X. Nein, die die gibt es nich' I. Gibt‟s die abgesehen von den Konflikten, dass du sagen kannst.. gut, man bleibt in Gaarden Ost, es gibt vielleicht/ über 'n Ostring geht man eigentlich nich' rüber, weil das is' dann/ nich' unbedingt aus Konfliktgründen, sondern.. weil's einfach 'ne große Barriere is' oder so, so unsichtbare Grenzen? 10 ANHANG X. Nee, eigentlich nich'. Also die Gaardener/ Durch die Brücke, durch die Hörnverbindung is' is' is' der Weg zum Innenstadtbereich geebnet, also das is' so der zentrale Weg, wo die Wanderung einsetzt, aber so dass man sagt so, ich geh' jetzt nich' nach Ellerbek und/ also so is' es nich'. Also Mettenhof und Gaarden, das si' schon, schon was. I. Ja X. Nä und wenn da irgendwie mehrere Gaardener sich in Mettenhof aufhalten /äh/ das is' schon mal 'ne andere Geschichte, also da gibt‟s schon Grenzen. I. Ja X. Nä und auch wenn Mettenhofer jetzt mit 'm Auto nach Gaarden fahren und da gibt‟s 'ne Schlägerei, dann sind die Mettenhofer in Gaarden I. ((zustimmend)) Mhh X. Das spricht sich schnell rum. Klar I. Ja, ja X. Aber so innerhalb von Gaarden oder so mit Ellerbek und Emschenhagen und/ nee ((verneinend)) mhh.. Also wüsst' ich jetzt nich' I. Ja X. Aber b/ ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass es diese Grenzen nich' gibt. I. Du hattest auch den Übergang in die Innenstadt angesprochen, is' das/ wird das viel genutzt, also bewegen sich auch Gaardener Jugendliche in die Innenstadt rein und X. Ja I. Ja X. Is' auch nich' ganz ungefährlich der Übergang. I. Der Überg/ X. Ja, der Übergang is' nich' ganz ungefährlich, also/ I. Inwiefern? X. Naja /ähm/ also es kann schon passieren, dass man.. da sein Handy verliert oder sein Geld verliert I. ((zustimmend)) Mhh 11 ANHANG X. Das is schon /äh/ I. Achso auf auf Gaardener Seite des/ X. Ja, das si' schon 'n Brennpunkt I. ((zustimmend)) Mhh X. Nä, so in 'ner Kriminalitätsstatistik und /äh/ wenn man/ also viele parken ja ihr Auto auf „m Ostufer und geh'n denn über die Brücke in' Innenstadtbereich I. Ja X. So und jetzt so in den Wintermonaten is' da ja noch nich' so viel Betrieb, also die ganzen Eisläden ham da alle noch nich' auf auf auf der anderen Seite von der Förde ((zieht Luft durch Nase)) und da kann es denn durchaus passieren, dass man da auf Deutsch gesagt abgezogen wird I. ((zustimmend)) mhh X. Auch als Erwachsener I. Ja X. So und das wirklich massiv. Also nich' nur so ey, Alter gib Penny, sondern da wird auch schon ma' 'n büschen mit Nachdruck, so nä I. Ja X. Und das is' auch schon einigen Leuten passiert und.. ja, ich hab' manchmal auch 'n mulmiges Gefühl, obwohl ich noch bessere Chancen hab', wie jemand der jetzt aus ((überlegendes Geräusch)) Hamburg kommt oder so I. ((zustimmend)) X. Weil ich eben halt viele kenn', aber ich treff' ganz viele von mein' Jugendlichen, wenn ich mal abends unterwegs bin, treff' ich (so in dem Bereich?) Und im Sommer, da häng' sie auch rum, nä. I. Ja X. Das is' zum Beispiel auch ein Ort ((zieht Luft durch Nase)) wo man sich an der Brücke aufhält.. und eben halt die Menschen beobachtet, die da geh'n. Und irgendwann hat man auch sich das Opfer ausgeguckt I. Ja 12 ANHANG X. Nä, nich' alle Jugendliche, aber das gibt/ bei den Jugendlichen gibt es schon Leute, die gucken sich auch die Opfer aus m/ das is' so.. Deswegen sag' ich ja, dieser Übergang, dann gibt‟s ja noch den anderen Übergang Richtung Schwimmhalle /ähm/ da wird's ja noch kritischer, da wird's ja immer dunkler und immer düsterer, weil das so 'n komischer Weg is' da oben zur Schwimmhalle und da hat's auch schon einige erwischt, nä. I. Ja X. Also das is' schon 'n Brennpunkt I. Ja... okay X. Jeder weiß es eigentlich I. ((zustimmend)) Mhh X. ((lacht)) I. /ähm/ Was i/ Wir sind jetzt ja viel bei bei J/ männlichen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Tauchen auch Mädchen oder junge Frauen im im Stadtteil als eigenständige Gruppe auf? X. ((nachdenkliches Geräusch)) /ähm/ Jein, also bei den/ da muss man einfach gucken, also bei den Mädchen mit Migrationshintergrund /ähm/... da muss man einfach zwei Fälle unterscheiden einmal die, die 'ne relativ lockere Erziehung genießen, die jetzt kein Kopftuch tragen, die sich 'n bisschen mehr/ also die besser integriert sind ((zieht Luft durch Nase)) /ähm/ die treffen sich schon mal, aber die treffen sich jetzt nich' als geballte Gruppe oder, nä. /ähm/ Bei den anderen Mädchen und Frauen, die dürfen das gar nich' ((lacht)) nä, die dürfen gar nich' irgendwo stehen oder im Cafe sitzen und da denn irgendwie /äh/ sich länger aufhalten oder so, gut die die treffen sich mal zum Gespräch oder so, nä, aber die düsen hier nich' durch 'n Stadtteil oder so, weil sie 's einfach nich' dürfen, die ham dann und dann zuhause zu sein. Und wenn ihr Bruder sie hier findet, dann ham sie 'n Problem I. ((zustimmend)) Mhh X. Also das is' so bei den Familien, die/ wo das noch recht streng is' oder so, da da is' es so, nä. I. ((zustimmend)) Mhh X. Und /ähm/ es gibt auch unter den Mädchen auch sag ich mal /äh/ gibt‟s auch kleinere Grüppchen, die auch schon auf „m Weg mit einem Bein so büschen Richtung Kriminalität also /ähm/ mittlerweile is' es schon so, dass die Mädchen den Jungs auch in nichts nachstehen, nä. Also was 13 ANHANG so Brutalität anbelangt oder so, nä. Die tun sich dann manchmal auch zusammen und denn werden halt die Mädchen abgezogen, nä I. Ja X. Die kriegen denn genauso 'was auf die Schnauze wie die Jungs das machen, nä. Das ham sie sich schon abgeguckt, da haben die Mädchen auch sinnvoll emanzipiert, nä, also das hat sich auch geändert, nä. Und die schlagen manchmal auch heftig zu, nä. Und da is' es denn aber allerdings gemischt, dass sind so Deutsch/ deutsche Mädchen auch, Mädchen mit Migrationshintergrund, aber ich sag mal wo das noch recht streng is' in den Familien, da sind die eher unscheinbar. I. Ja X. Die halten sich zwar auf, die kaufen ein und so, aber ((zieht Luft durch Nase)) die geh'n nich' irgendwo jetzt 'ne Runde chill'n, nä. Und wenn, machen sie es heimlich, nä. Denn machen sie es wirklich heimlich, wo keiner aus der Familie sie erstmal sehen kann, nä. Weil sie's einfach nich' dürfen. I. Das heißt dann auch außerhalb des Stadtteils, nä X. Nö, da gibt das schon Orte so in den Parks, wo man denn/ sich denn treffen kann, weil da nich' so viele Leute vorbeikommen, aber die würden sich niemals auf „m Vinetaplatz da in so 'n Cafe setzen und denn (auch brauchen?) I. ja X. Das geht gar nich'. Ja, wenn dann der Papa oder der Onkel oder irgendwer vorbeikommt denn ham sie echt 'n Problem I. ((zustimmend)) Mhh.. Und wie nimmst du das Verhältnis zwischen jungen Frauen und jungen Männern im Stadtteil war, also is' das Konflikt behaftet hauptsächlich oder is' es/ X. ((überlegend)) Mhh, schwierige Frage, also Konflikt behaftet.. Also, es is' schon so, dass dass /äh/ viele M/ Jugendliche, also männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund, das sind schon die kleinen Machos I. ((zustimmend)) Mhh X. Das is' so. Also vom vom Auftreten, je mehr Frauen in der Nähe sind, desto breiter werden sie, sie passen nich' durch die Türen durch und da wird einen auf richtig cool gemacht, klar. Das sind alles geile Macker und die geben sich auch so und /ähm/ also die ham auch auch deutsche 14 ANHANG M/ Mädchen und Frauen, das is' A/ auch 'n besonderes Bild was sie haben /ähm/ Das is' auch oft das Bild naja, die sind ja ganz leicht zu haben I. ((folgend)) Mhh X. Und /ähm/ einige ham auch das Bild, das sind alles kleine Nutten I. ((folgend) Mhh X. Also muss man einfach ma' so sagen, das das is' so I. Ja X. Nä, weil ihre eigenen Geschwister, also Schwestern dürfen s/ dürfen sich ja nich' so so /äh/ sag' ich ma' modern kleiden und die M/ Mädchen, die so rumlaufen ((überlegend)) mhh, ja, das is' denn manchmal auch so' n bisschen, das is' denn Freiwild, so nä. Die werden denn echt e/ also extrem angebaggert und/ das erleben wir dann manchmal auch bei uns in den Einrichtungen, wenn dann mal wirklich Mädchen sind, wir ham allerdings nich' so viele Mädchen ((zieht Luft durch Nase)) das da auch echt ma' 'n paar Sprüche kommen. I. ((folgend)) Mhh X. Wo wir denn auch ma' sagen, also hier /äh/ nä, das geht gar nich' so (da?) eure Sprüche, nä. Und.. also das/ das is' schon so, nä. I. Ja X. Und die ham/ ham schon 'n besonderes Frauenbild, nä, das/ klar, das kommt/ hängt auch mit ihrer ganzen Herkunft zusammen, nä. Gibt's natürlich auch wieder Familien, die/ ((zieht Luft durch Nase)) wo das eigentlich.. recht europäische is', nä. Die sich auch so anziehen und sich so geben und /ähm/ da/ aber selbst diese türkischen Mädchen, die ham auch 'n besonderen Ruf, von diesen Jugendlichen, die sehr konservativ sind. Nä, 'n türkisches Mädchen in/ ohne Kopftuch und die denn im Sommer sag' ich mal so „n bisschen luftiger 'rumrennt oder so, naja. Gehört sich nich', nä. I. Ja X. ((schnalzt)) So.. I. So flirten will ich mit deutschen Mädels, heiraten nur 'ne Türkin X. ((macht Geräusch mit der Zunge)) Oft is' es ja so.. Oft is' ja gar nich', was sie wollen. Oft werden sie ja verheiratet. Das sieht ja ganz oft so aus, dass die Jugendlichen /äh/ im Sommer in die Türkei fliegen.. sind 15, 16 Jahre alt und sie kommen nach 'm Sommer wieder und erzählen 15 ANHANG uns, sie ham geheiratet. ((zieht Luft durch Nase)) Aber die ham nich' freiwillig geheiratet dann, also sie werden ja auch immer verheiratet I. Ja X. Und bei den Mädchen is' es genauso. Und das is' auch nich' nur im Fernsehen, das si' auch hier in Gaarden so, dass 'ne 14jährige auch verheiratet wird.. Obwohl sie da irgendwie überhaupt kein' Bock drauf hat. Aber was soll sie machen I. Ja X. ((zieht Luft durch Nase)) A/ Gut, das sind denn eben halt diese Familienstrukturen und da fängt die Diskussion denn an, nä, wer is' wie weit integriert.. nä. Also für mich is' teilweise der Integrationsprozess rückläufig. In Gaarden. Also ich bin schon ziemlich lange hier und es gab mal 'ne große Bewegung, da am/ ham viele eben halt auch den deutschen Pass beantragt und auch bekommen.. und für mich is' es aber eher.. es geht wieder zurück. I. ((folgend)) Mhh X. Also im Zuge der Arbeitslosigkeit, im Zuge der ganzen Armutsgeschichte /ähm/ geht das Ganze zurück, is' ja auch eigentlich 'ne logische Entwicklung. I. Also du meinst, wenn die Integration über Arbeit nich' mehr funktioniert, dann wird sich zurück gezogen auf die/ X. /ähm/ Nee, so pauschal kann man das nich' lassen /äh/ sagen, sondern /äh/ es geht einfach darum, dass die Familien /äh/ ja auch 'n Stückchen auseinander brechen I. ((folgend)) Mhh X. Also früher war's ja immer noch so der Papa hat /äh/ bei HDW gearbeitet, so nä und da funktionierte noch alles. So, jetzt is' der Papa aber arbeitslos, weil HDW eben ganz viele Leute entlassen hat und auch andere Firmen hier im Stadtteil und Papa is' arbeitslos, so also bricht das Sozialsystem zusammen und /äh/ oft is' es auch so, dass die Familienstrukturen auch zusammen brechen, dass der Papa eben halt geht oder 'ne Freundin hat und die Mama bleibt da mit ihren ganzen Kindern und so, nä. ((holt Luft)) Und da ändert sich ganz viel und wenn man eben halt, sag' ich mal /äh/ in einer sch/ schlechten wirtschaftlichen Situation is', dann sucht man ja auch halt.. Und diesen Halt findet man dann eher in Traditionen, wo man sagt gut, nä, wir suchen jetzt Halt im Islam, wir gehen denn eher zu den /äh/ konservativen türkischen Verbänden und schließen uns da an, weil.. die sind gut für uns, weil da find' ich Halt und die können sich um meine Kinder noch kümmern, weil Papa is' gar nich' mehr da oder so. 16 ANHANG I. Ja X. Und das geht einher, diese Entwicklung, nä. Also ich bin mir ganz sicher, wenn, weiß ich nich', wenn es hier genügend Arbeit gibt für die Gaardener ((atmet durch Nase ein)) dann hättet wir gar nich' so die ganzen Probleme I. ((folgend)) Mhh X. Das is' ja/ In jeder Stadt is' es so, wenn man in Hamburg guckt, wenn man in Frankfurt guckt, überall is' es so, das is' so 'ne Geschichte, die denn einsetzt und genauso is' es mit der Integration, so. Also je schlechter die wirtschaftliche Lage is', desto schlechter is' auch der Wille zur Integration. Weil die sagen, ja, warum soll ich mich hier integrieren, weil /ä/ ((macht unterstützendes Geräusch)) sind ja eh alle arbeitslos.. I. Ja X. Nä und.. Man merkt es an der Sprache oder so, dass es eben halt ganz viele Leute immer noch gibt, auch aus der dritten Generation, die nich' richtig Deutsch können I. ((folgend)) Mhh X. So.. Wie soll man diese Menschen denn integrieren, das is' natürlich schwierig, das fängt bei der Sprache an I. Ja X. Nä... Und die findet/ Und die konservativsten Familien findet man denn auch eher da.. so. Wo sag' ich mal der Papa 'n guten Job hat und die Mama auch noch a/ halbtags arbeitet, da gibt's eigentlich keine Probi/ Probleme in den Familien und die sind eigentlich wunderbar integriert, also/ -Kurze Unterbrechung des Interviews aufgrund von StörungI. Okay, ja, komm' wir auf eure Einrichtung zu sprechen.. X. Ja I. /ähm/ Auch da hat' ich gedacht, teil'n wir das vielleicht, einmal das, was ihr im Sozialraum tatsächlich macht und dann was ihr hier macht. X. ((zustimmend)) Mihm I. /ähm/.. Ja.. Arbeitet ihr im Stadtteil? Wie geht ihr raus in' Stadtteil? Was.. bietet ihr an? 17 ANHANG X. Also wir/ Also grundsätzlich sind alle Angebote, die wir machen/ sind schon nieder schwellig. I. ((zustimmend)) Mihm X. Also, das hängt einfach mit unserer Klientel zusammen. .. Also wir ham .. /äh/ Wir arbeiten mit Kindern und Jugendlichen sag' ich mal, /ähm/ die nun nich' gerade alle vom Gymnasium kommen. I. ((zustimmend)) Mihm X. So, das is' ja einfach von/ Die Grundschulen is' klar und bei den Jugendlichen sind sind es eher Hauptschulen und Förderschulen, 'n Bisschen Realschule, aber ich hab„ ganz wenig Jugendliche, die irgendwie zu 'ner Fachschule gehen. Also Gellert oder Ravensberg.. oder vom Gymnasium kommen. .. Hab' ich nich'. .. so nä .. Also sind alle Angebote nieder schwellig und wi/ wir ham ein Angebot in 'ner Woche, das is' immer montags, da geh'n wir halt auf 'n Vinetaplatz, da sind zwei Kollegen plus noch „ne Wahlkraft.. /äh/ dann ham wir so „n klein' Fahrradanhänger, da sind dann so Spielgeschichten drin und dann bespielen wir halt den Platz, das heißt wir greifen alles auf, was da an Kindern und Jugendlichen rumrennt, dann wird halt Fußball gespielt oder.. andere Spiele gespielt. I. Ja. X. So, das is' eben halt so „n ganz einfach gestricktes Angebot.. /ähm/.. Wo denn teilweise auch die Kinder aus dieser ganzen Alkoholiker- Junkieszene, die da ja auch in der Nähe vom Platz sich aufhält,.. die denn auch noch dazu komm'. ..Und /ähm/.. Da trifft man wie ich eben halt schon sagte ganz viel' Jugendliche und.. wir nutzen halt auch die Möglichkeit eben halt ins Gespräch zu kommen, nä.. sagen "Mensch was machst du gerade?", denn die war'n früher bei uns oder.. I. Ja X. Die wir noch nich' kenn' und, nä.. Das und das kannst du bei uns machen, also/ wo wir halt auch.. /äh/ Kinder und Jugendliche nochmal auf die Einrichtung aufmerksam machen und auch die Eltern/ Elterngespräche, nä. Das.. findet da auch statt, nä.. I. ((zustimmend)) Mihm X. Und wenn das einfach nur shake hands is' oder so, nä.. man kennt sich halt, nä I. Ja 18 ANHANG X. Das is' eben halt so.. die Stadtteilarbeit, die.. wir regelmäßig machen. I. ((zustimmend)) Mihm X. In den Ferien.. gehen wir auch in den Rahmen von Projekten auch mal raus.. also sprich jetzt in diesen Jugendpark, dass wir dort was machen oder.. runter zum Heischplatz.. un/ da das wir da auch nach Möglichkeiten aus „m Stadtteil raus gehen. I. ((zustimmend)) Mihm X. Was wir ganz häufig machen, is' so bei Gruppenaktivitäten, weil wir festgestellt haben, dass.. viele Kinder/ also gerade die Kinder.. wenig aus „m Stadtteil raus kommen.. Also es gibt Kinder, man glaubt es nich', die war' noch nie am Meer.. I. ((zustimmend)) Mihm X. A Also das is' jetzt kein Märchen, es is' so und /ähm/.. Wir nutzen denn halt so auch die Sommermonate, wo wir denn innerhalb der Gruppen/ Also wir machen auch Jungenarbeit, also mit der Jungsgruppe denn auch mal ans Meer fahren.. I. ((zustimmend)) Mhm.. ja X. So einfach, dass sie auch mal da hin komm'.. I. Ja. X. Weil sonst kenn' sie halt das Schwimmbad Katzheide, was sie irgendwann bald dicht machen. Das kenn' sie noch, aber so Strand eher weniger.. I. ((zustimmend)) Mihm X. Daher auch so Strandfahrten Falkenstein oder.. ((laut einatmen)) wir fahr'n mal nach Neumünster oder so, nä "Oh, an 'ner Autobahn, es gibt ja ‚ne Autobahn" Also ja.. I. Ja. X. Nä, so so is' es ja und.. da versuchen wir eben halt.. auch viel raus/.. Genauso die Sommermonaten geh'n wir halt auch mit unsern Angeboten ins Außengelände.. Wir machen unsre' Jugendarbeit ja im Keller.. I. ((zustimmend)) Mihm X. /Ähm/ und im Sommer is' es denn manchmal.. echt/ ja es is' zwar angenehm kühl aber.. man will denn ja auch mal raus.. ans Licht. .. und denn macht man halt auch hier viel draußen/ geht raus.. also und wir beteiligen uns hier an an Stadtteil.. Geschehen.. /ähm/.. also das Gaardener 19 ANHANG Brunnenfest oder so da sind wir dann beteiligt oder bei sonstigen Festivitäten innerhalb von Gaarden.. /äh/ da sind wir dann auch immer über Kooperation/ sind wir da beteiligt. .. Dies Mehrgenerationenhaus zum Beispiel da.. sind wir auch mit.. drin' /äh/ mit 'ner Beratung /äh/ für Migranten.. I. ((zustimmend)) Mihm X. Jetzt nich' direkt als Räucherei aber vom Jugendmigrationsdienst.. /Ähm/.. Also so Stadtteil das.. da komm' wir gar nich' drum rum.. I. ((zustimmend)) Mihm X. Wir könn' keine große Mauer um die Räucherei machen, das is' jetzt die Schutzzone.. Wie müssen halt auch rein,.. ins ins Leben und auch in die.. unangenehmeren Straßen. Das.. muss man einfach ma'... I. Ja... ((atmet laut ein)) und wenn ihr so.. auch Barrieren aufbrecht, in dem ihr auch raus geht und eh.. ja Orte bereit stellt die sie vielleicht zuvor denn nicht kannten, stellt ihr dann fest, dass dass auch.. sich auch in dem eigenverantwortlichen Verhalten der Jugendlichen.. niedersetzt,.. also dass die dadurch vielleicht auch selber mehr raus gehen oder is' das schon so, dass man sie eigentlich an die Hand nehmen muss? X. /Ähm/.. Die Jugendlichen sind eigentlich relativ mobil. .. I. ((zustimmend)) Mihm X. Also.. Jugendliche fang' bei uns sag ich mal so 12, 13 an bi/ bis hoch.. bei den Kindern eher weniger. .. So die Jugendlichen wie ich schon sagte, die die geh'n ja auch ma' in die Innenstadt. Das war ja auch nich' immer so. I. Ja X. Eher blieb man halt in Gaarden.. unter sich. .. Jetzt.. geht man auch schon mal, aus welchen Gründen auch immer. Und wenn es nur in „s.. CAP is' oder so, nä. Bei den Kindern is' es schon 'n bisschen anders so, nä. Viele Kinder dürfen auch nich' vom Vinetaplatz weg, die müssen da in der Nähe bleiben.. weil.. die Mamas auch teilweise Angst haben, wenn sie woanders hingehen weil .. es is' ja alles nich' so ohne hier.. und da is„ es schon 'n bisschen was anderes so, nä. Also die Kinder muss man auch schon 'n Stückchen an die Hand nehmen und../ähm/ es is' auch manchmal 'n Angang vom Vinetaplatz in die Räucherei zu gehen.. I. ((zustimmend)) Mihm 20 ANHANG X. Da muss man schon genau.. miteinander sprechen und mit der Mama sprechen und.. dass das hier alles ordentlich is' und so, die machen sich denn natürlich denn auch so „n bisschen ihre Gedanken, nä. I. Ja ... X. Also von da her/ Da sieht man denn auch „ne Veränderung.. klar. Weil die werden dann auch 'n bisschen freier und kriegen natürlich denn auch was anderes mit.. nä und das is' ja auch mit unsere Aufgabe, dass wir denn de/ schon den Kindern.. deswegen fang' wir auch schon so früh an eb/ eben denn halt auch Sachen an die Hand geben so.. ja was man noch für tolle Sachen machen kann. Man muss nich' nur auf „m Vinetaplatz abhängen.. und chillen.. I. Ja X. Es gibt noch andere Möglichkeiten, die man machen kann und.. sei es jetzt im sportlichen Bereich, wie jetzt so unsere Kletteranlage /ähm/ oder wo man hier draußen Fußball spielen kann und da gibt's halt noch viele Möglichkeiten. I. ((zustimmend)) Mihm X. Und Internetcafé is' auch nich' Internetcafé. Wir ham selber 'n Internetcafé aber bei uns is' es halt betreut. I. ((zustimmend)) Mihm X. Und da müssen sie sich denn manchmal auch Sprüche anhören lassen das diese Seiten/.. die find ich völlig daneben.. wo sie denn sagen "ja wieso?" Also da bezahl ich zwar Geld dafür aber da darf ich das gucken. .. I. ((zustimmend)) Mihm X. Nä.. also man geht ja auch ins Gespräch und.. /äh/ man geht ja auch auf Konfrontation und die müssen sich meine Meinung ja auch anhören, die Kinder wie die Jugendlichen.. und das brauchen sie ja auch I. Ja. X. Das is' ja auch das Problem, dass sie keine Grenzen kennen.. und Grenzen werden nich' gesetzt, aber bei uns werden sie halt gesetzt. .. Also von da her kriegen wir da schon „ne Veränderung mit.. I. Ja.. Du hattest eben gesagt, dass es manchmal schon.. 'n weiter Weg vom vom Vinetaplatz hierher. /Ähm/.. Ihr seid hier jetzt räumlich 'n Stück am Rand.. von Gaarden, so wie ich's wahr21 ANHANG nehme../ähm/ habt ihr.. Ju/ Jugendliche oder auch eher welche von den älteren Kindern aus komplett Gaarden Ost oder stellt ihr fest, na eigentlich is„ das eher hier die die Gegend um uns rum? X. Nö.. es is' auch teilweise aus Gaarden Ost, also die Kinder, also die Wege komm' sie mit 'm Fahrrad.. also die komm' auch aus „m Bereich Schulstraße oder so I. Ok. X. Das komm' sie auch..ja I. ((zustimmend)) Mihm X. Genauso wie jetzt unten zum Brook.. also es immer noch so 'n bisschen/ gibt 's `ne../ wir hatten ja vorhin von den Grenzen gesprochen die Preezerstraße is' schon so „ne bisschen so „ne Grenze I. ((zustimmend)) Mihm X. Also, die jetzt unten wohnen.. also zum Brook und so die ganze Ecke../äh/ Bielenbergstraße/ da ham wir weniger Kinder aus der Ecke. I. ((zustimmend)) Mihm X. Sondern eher so.. Gaarden Ost oder das ganze Umfeld Vinetaplatz und so.. ich weiß es nich woran es liegt obwohl es eigentlich rein von der Entfernung her viel dichter dran ist... Aber.. da ham wir halt die Erfahrung gemacht, die die dürfen einfach nich' über die Preetzerstraße hier in die Räucherei weil.. weiß ich nich'. I. Ja. X. warum das so is' aber das is' so `ne Art unsichtbare Grenze die Preetzer..straße. I. ((zustimmend)) Mihm X. Hab ich so „n Eindruck. I. Ja. I. Damit sind wir ja schon bei.. der Einrichtung, was ihr hier direkt macht /ähm/.. erstmal wie viele Jugendliche/ Wenn wir jetzt mal nur mal die Jugendlichen betrachten, habt ihr im Schnitt in der Woche?.. X. In der Woche?.. Also ich kann's pro Tag sagen. I. Geht auch, auch gerne. 22 ANHANG X. Also pro Tag.. 30, 40 Jugendliche. I. OK. X. So, die so.. sich regelmäßig aufhalten bei uns. Es können gar nich„ so viel mehr werden weil wir nur 120 Quadratmeter reine Fläche zur Verfügung haben.. also ohne die Außenflächen so.. und.. das is' nur der offene Bereich, denn ham wir eben halt ganz viel Gruppenangebote. I. ((zustimmend)) Mihm X. /Ähm/.. Zirkusgruppe zum Beispiel. Die treffen sich regelmäßig. Da sind auch Jugendliche. I. Ja X. Und.. das verteilt sich denn auch auf die Gruppen. Das, was ich mein` das is' rein.. der offene Bereich. .. So, also wir ham pro Tag zwischen.. 50.. 60 Besucher im offenen Bereich.. plus noch die Gruppen.. Angebote oder so.. 70, 80 manchmal bis 100 Besucher.. pro Tag. Aber nich' alle jetzt.. bei uns im Keller. Das würde nich' geh‟n. I. Ja. X. Weil wir teilweise/ sind wir an 'ner Schule. An der Hans Christian Andersen Schule in der Halle. Mit der Zirkusgruppe, weil weil die einfach Platz brauchen und.. Wir ham hier 'ne Ga/ Gartenanlage.. da halten sich auch Kinder auf und.. Internetcafé/ das gibt denn auch verschiedene Räumlichkeiten so, nä... I. Und wie sind die Öffnungszeiten bei euch im Jugendbereich?.. X. ((grübelt)) Hhmm.. Also Montag.. bis Donnerstag.. eigentlich von 15 Uhr bis.. 20 Uhr.. mit der Ausnahme, dass der Dienstag 'n Gruppentag is'. Da gibt's nur Gruppenangebote. Zirkusgruppe, Jungen /äh/ gruppe, /äh/ Klettergruppe.. und am Freitag/ is' eigentlich den Mädchen vorbehalten. I. Okay X. So.. da machen die Mädchen so Angebote und da sind Jungs denn eher unerwünscht.. I. Ja X. Die tummeln sich denn halt im Garten oder in der Zirkusgruppe, so. Und wir ham auch sonntags auf, an zwei Sonntagen im Monat, in de Wintermonaten und immer von 14 bis 17 Uhr I. ((folgend)) Mhh 23 ANHANG X. Können Kinder und auch Jugendliche zu uns kommen und/ Weil sonntags is' eigentlich immer so 'n Tag, da is' nich' los. Wie wir ja schon festgestellt haben, in 'ner eigenen Wohnung kann man sich nich' so aufhalten ((zieht Luft durch Nase)) also wird das Angebot auch so wahr genommen... I. Ja X. Und da kommen auch manchmal schon Eltern mit, also wir sind gerade dabei, immer mehr Eltern zu erreichen, wollen das auch und die Eltern werden teilweise auch in die Angebote mit eingebunden, die wir haben, weil sie sagen Mensch, finden wir klasse, helfen wir gerne aus, weil /ähm/ wir denken, dass Elternarbeit unerlässlich is' I. ((folgend)) Mhh X. Die Zeiten ham sich auch geändert. Offene Jugendarbeit ohne Eltern geht nich' I. ((folgend)) Mhh X. Im Moment sind wir bei den deutschen Eltern, wir hätten gerne aber auch noch die Eltern mit Migrationshintergrund, der Weg is' lang, ganz lang und ganz schwierig, aber ((holt Luft)) wir geben da nich' auf. I. ((folgend)) Mhh X. Weil ohne die geht's nich' I. Ein Punkt, den man in der offenen Jugendarbeit ja immer wieder hat, is'/ sind die Öffnungszeiten mit der Frage einerseits, das was man an personellen Ressourcen hat, wie lange man das eigentlich schafft aufzumachen und dann wie lange das eigentlich/ das Bedürfnis von von Jugendlichen is' /ähm/ seht ihr da 'ne Differenz zwischen den Öffnungszeiten und dem/ X. Ja, klar. I. ((folgend)) Mhh X. Also, wenn man die Jugendlichen fragt.. /äh/ wollen sie natürlich, dass viel länger auf is', nä und /äh/ das genau kriegt man aufgrund der personellen Ressourcen gar nich' hin und auch aufgrund des Auftrages nich', weil man muss ja auch immer zwischen Kindern und Jugendlichen unterscheiden, aber es gibt hier eben halt auch die Kinder und die Kinder, die kommen nun mal halt eher und die bleiben nich' bis 22 Uhr und die Jugendlichen würden lieber bis um 22 Uhr und die möchten am liebsten jedes Wochenende Disko, nä und /ähm/ so. Nä und denn noch Alkohol und denn noch 'ne Shishaecke und und so was. Als wenn man sie mal direkt befragt so, nä. 24 ANHANG I. Ja X. Aber da muss man halt Kompromisse finden oder so, nä. Was ich halt immer ganz.. toll finde oder was auch super klappt, is' so/, ja, wie die mit den Kindern klarkommen, das mischt sich ja, nä, um Drei kommen die Kinder ((zieht Luft durch Nase)) und teilweise kommen um Drei auch die Jugendlichen I. ((folgend)) Mhh X. So und da wär' ich erstmal/ als Jugendlicher wär' ich ja tierisch genervt, da wenn diese Schreihälse da rumrennen und denn diese Kleinen und kreischen da rum. Also manchmal sind sie ja auch genervt I. Ja X. Aber trotzdem kriegt man dann Szenen mit, wo dann so 'n 16jähriger mit 'm Achtjährigen Billard spielt. So, man soll es ja gar nich' glauben, nä. /Ähm/ aber trotz alledem fordern die jugendlichen natürlich auch ihr/ ihren Raum, nä. Und da können wir auch nich' hinterherkommen, so. I. Ja X. Klar.. I. /Ähm/ Wenn ihr um 20 Uhr schließt, müssen die auch vom Gelände runter oder is' das schon so d/ oder kommen sie wieder zurück ((lacht)) vielleicht auch, wenn ihr weg seid X. Ja, ja. Also sie müssen vom Gelände I. ((folgend)) Mhh X. Also gerade im Sommer is' es natürlich attraktiv, wenn man hier eben halt Basketball spielen kann und Kicken kann und.. dann is' es mein mein Job, wenn ich geh', meistens bis hier ganz weg bin is' es halb neun, denn sag ich so ((macht Geräusch mit der Zunge)) time to say goodbye, geh'n sie denn auch nach 'n paar Diskussionen.. aber wenn hier so langsam mit 'm Auto wegfahr' und in Rückspiegel guck', müsst' ich eigentlich wieder zurück.. Is' so, hätt' ich ja auch gemacht, wenn mich da 'n Erwachsener wegschickt, wart' ich bis er weg is', dann geh' ich da wieder rüber oder der Zaum is' ja nich' unüberwindbar, nä. Also wir wissen, dass die Jugendlichen sich hier auch abends aufhalten... Weil is' ja auch attraktiv, wenn ich hier mich vorher aufgehalten hab', denn geh' ich ja nich' ganz zum Vinetaplatz runter (so denn?) geh' ich hier chill'n, is' doch super. I. ((folgend)) Mhh 25 ANHANG X. Also eigentlich müsste man auch/ ja, abends hier noch draußen und/ klar, wenn‟s danach geht, könnte man noch viel mehr Zeit hier investieren. Bloß das kostet Geld, nä.. Und in Anbetracht der Finanzlage der Stadt is' es denn ja eher rückläufig, nä I. ((folgend)) Mhh X. ((schnalzt)) So, nä ((zieht Luft durch Nase)) I. Also das heißt, es is'/ wenn sie rausgehen, is' es meistens, dass sie sich im Umkreis noch aufhalten bis sie dann nach Hause gehen, so. X. Ja I. Ja X. ((zustimmend)) Mhh.. Naja genau aus der/ aufgrund der Tatsache, dass sie halt eben halt ihre Freunde nich' mitbringen dürfen I. ((folgend)) Mhh X. Also die Wenigsten dürfen das, so. Die dürfen halt auch nich' rauchen, nä. Als wenn der Papa sie sieht, wie sie rauchen, dann haben sie auch 'n Problem, obwohl sie schon 16 sind. Also.. treffen sie sich hier, nä. Wenn sie Drogen konsumieren, gut, dat machen sie auch nich' in der Wohnung, dat machen sie auch draußen. I. Ja X. Auf 'm Gelände.. irgendwo I. Ja X. Im Park oder Vinetaplatz I. ((zustimmend)) Mhm X. Wenn wir sie erwischen, haben sie ja auch 'n Problem I. ((folgend)) Mhh X. ((lacht)) I. Ja.. Das heißt auch für/ Du hattest kurz die die Disko angesprochen, macht ihr sowas? X. Ja, für Kinder schon. I. Okay, aber für Jugendliche nich' 26 ANHANG X. Für Jugendliche nich', für Jugendliche machen wir dann so Spezialgeschichten, also sowas hier zum Beispiel ((Knacken vor dem Mikro)) (Jugend?) Kulturfest, das heißt wir ham uns, Jugendbands hol'n wir uns ins Haus und /äh/ da gibt's eben halt 'n netten Abend mit verschiedener Musik von Metal bis Hip Hop, nä. I. Ja X. Also solche Geschichten machen wir halt, nä.. Weil /ähm/ also 'ne kommerzielle Disko.. is' eigentliche unsere Meinung, also auch meine persönliche Meinung /ähm/ das is' nich' unsere Aufgabe.. Da gibt es, sag' ich mal die Profis, wie das Max und die Traumfabrik und wie sie alle heißen, die machen 'ne professionelle Disko und wir können/ von der Ausstattung her is' es auch schon lächerlich.. weil wir einfach diese Ausstattung von 'ner Disko gar nich' haben, weil da muss ja viel mit Laser und Blinken und.. kostet alles Geld.. /ähm/ bevor man sich da lächerlich macht, lässt man 's lieber I. Ja X. Und, was man eben halt auch sehen muss, 'ne Disko hier in Gaarden birgt 'ne menge Konflikte, ganz viele Konflikte, da muss man ziemlich viel Geld in Security investieren, um sag' ich mal sowas.. /äh/ zu etablieren. Weil man bekommt auch ganz schlecht/ ganz schnell 'n Ruf weg, nä. Wenn hier auf einmal der Drogenumschlagplatz Nummer eins is' oder jedesmal wenn Disko is' in der Räucherei gibt's 'ne Massenschlägerei, nä. ((Macht Geräusch)) Leidet der Ruf drunter und ((macht Geräusch mit der Zunge)) es is' schwierig, das Geschäft. Und deswegen ham wir gesagt, ((verneinend)) Mihm, Kinder schon, für Behinderte auch, wir machen auch 'ne Behindertendisko I. ((folgend)) Mhim X. ((macht Geräusch mit der Zunge)) Aber für Jugendliche nein, die bekommen dann solche Spezialgeschichten... Weil da ham sie mehr von, weil Kultur in der offenen Jugendarbeit is' trotzdem wichtig, so aber nich' in Form von Disko. I. Ja.. ((holt Luft)) ((nach Worten suchend)) Mhh, da sind ja auch wieder so Konflikte angeklungen und wir hatten das ja auch vorhin mit den Konflikten im Stadtteil.. /ähm/ Gibt es 'ne bestimmte Gruppe von Jugendlichen, die die Räucherei dominieren? X. Joa.. Das is' /äh/.. naja, also 80 Prozent in türkischer Hand, also bei den männlichen Jugendlichen.. über.. 13 über zwölf Jahre.. kann man so sagen. So, da gibt's/ Wie gesagt, jetzt die bulgarische Fraktion, die jetzt auch auf die Räuk/ Räucherei aufmerksam ge/ geworden is', auch durch Sprachkurse, die bei uns laufen.. ((macht Geräusch mit der Zunge)) /äh/ suchen sie auch die 27 ANHANG Räumlichkeiten, da mischt sich das Ganze.. Aber wenn ich jetzt mal so den rein Türkisch sprechenden Anteil, der is' schon bei 90 Prozent I. ((folgend)) Mhh X. So, wir ham/ gut, wir ham paar Araber ham wir auch dabei und früher hatten wir 'ne größere russische Gruppe hier rum, die auch regelmäßig da waren. ((macht Geräusch mit der Zunge)) Wir hatten auch mal aus der Latinoszene Jugendliche, also es is' schon multikulti, aber ganz klar dominiert das Türkische. I. Ja X. Weniger das Deutsche I. ((folgend)) Mhim X. Weil man.. ja, also wir hatten 'ne Zeit lang mal viele deutsche Jugendliche, so, aber ((holt Luft)) /ähm/ es is' immer noch so.. dass die eben auch so bei bei türkischen Jugendlichen 'n bisschen vorsichtig sind I. ((folgend)) Mihm X. Und man geht nich' gerne in eine Jugendeinrichtung sag' ich mal, wo denn wirklich 90 Prozent türkisch is' und da man/ wenn man da schon mal Probleme hatte, dann guckt man denn schon 'n bisschen so. Also in den Gruppen ham wir mehr deutsche Jugendliche. So, Zirkusgruppe und so wenn man/ I. Okay X. Die kommen auch vorbei, die ham jetzt keine Berührungsängste jetzt sag' ich mal mit den türkischen /äh/ Jugendlichen, aber so, die sind schon 'n büschen unter sich, nä. I. ((folgend)) Mihm X. Ah, die ham zwar auch Freundschaften manchmal mit mit Deutschen, aber is' eher die Minderheit.. Genauso wie /äh/ gibt's wenig deutsche Mädchen, die sich in unsere Einrichtung verirren, weil da gibt's natürlich Gründe für, klar. Nich', weil wir so 'ne scheiß Arbeit leisten, sondern würd' ich als Frau, als Mädchen ja auch nich' unbedingt machen. Würd' ich mir ja gar nich' geben, nä.. ((macht Geräusch mit der Zunge)) Würd' ich ja lieber woanders hingehen oder ich geh' in' Mädchentreff.. So, da bin ich denn.. unter unter Mädchen und muss mir da nich' die Sprüche anhören.. 28 ANHANG I. Wie wird denn der Mädchentreff angen/ Also beziehungsweise es gibt ja den Mädchentreff Gaarden, hier vorne, nä. ((X putzt sich Nase)) Weil ihr habt ja selber noch 'n Mädchentag X. Ja, 'n Mädchentag und wir ham auch 'n Mädchentreff I. Ach so, das auch noch X. ((bestätigend)) Mhim I. Okay, das heißt, wie wird das angenommen? X. Das wird sch/ gut angenommen, ja I. Ja X. Also bei den Mädchen, also es gibt ja auch so M/ Mädchen die die dürfen mhmh/ gar nich' kommen, wenn die Jungs da sind I. ((folgend)) Mihm X. Also die/ also das war ja das andere Thema, das wir I. Ja X. hatten. Die dürfen dann gar nich' kommen, die kommen halt dann. Und da wird dann überwiegend auch getanzt, so als /äh/ Element, was da eben halt an 'ner an 'ner (Rolle?) zur Stelle steht, so nä. Also Tanz is' immer so 'n Medium auch an die Mädchen 'ranzukommen, so Hip/ also Videoclipdancing und Hip Hop Tanz und orientalischer Tanz, so. Und dann eben halt auch so der Freizeitbereich, ähnlich wie bei den Jungs und /äh/ gemeinsames essen und so. I. ((folgend)) Mihm X. ((bestätigend)) Mhim I. Macht das dann 'ne Kollegin, oder? X. Ja ja, das machen denn unsere Mädels vom Team. I. Ja X. ((lacht leise)) I. Und /ähm/ du hattest das ganz kurz schon mal angesprochen, n/ wie is' das, deutsche Mädels sind kaum da, wenn wenn der offene Jugendbereich is' (beide Geschlechter?) X. Bei den Kindern Kindern schon. I. ((folgend)) Mihm 29 ANHANG X. Also bei den Kindern is' es 50/50. Also hält sich/ also 50 Prozent Migrationshintergrund, 50 Prozent deutsch, kann man so sagen. (( holt Luft durch Nase)) /ähm/ Bei den Jugendlichen.. is das Verhältnis ganz anders. I. ((folgend)) Mihm.. Und /ähm/ Mädchen Jungs, das Verhältnis? X. ((nachdenkend)) Mhh... Also im Jugendbereich... je nach Tag, also fast 90 Prozent Jungs. Dat is' schon 'ne Männerwirtschaft I. Ja X. abends.. ja.. I. Ja.. X. es is' auch ganz schwierig, das aufzubrechen, ganz, ganz schwer und.. ((holt Luft)) Wir schaffen den Mädchen/ Mädchen natürlich Orte, wo sie sich auch t/ trotzdem treffen können, durch diesen Mädchentag oder die Mädchentreffs. Aber so im offenen Bereich, is' das, is' das schon schwierig so. I. ((folgend)) Mihm X. Wir reden zwar auch mit den Jungs darüber und sagen naja, ganz ehrlich, nä, also Mädchen würd' ich hier mich auch nich' da zwischen euch setzen, nä. Einfach dumm, warum soll ich das machen, man wird ja nur dumm angelabert, so nä. Also das Gespräch suchen wir schon, aber.. manche kommen nich' aus ihrer Haut raus, die sind so.. drauf und sind auch so einfach gestrickt, dass sie diese Sprüche halt bringen müssen.. ja. I. ((macht Geräusch mit der Zunge)) Gibt es oder habt ihr die Möglichkeit mit den Jugendlichen /ähm/.. Ja beziehungsweise gibt's Gruppen, die eigenverantwortlich im Jugendbereich arbeiten zum Beispiel 'ne Kochgruppe oder/ die sagen, okay, sie mache jetzt ohne, dass sie pädagogisch an die Hand genommen werden müssen X. ((nachdenkend)) Mhh I. irgendwas oder is' das schwierig? X. ((zögerlich)) Nein, also bei den Jugendlichen machen wir das so im im Musikbereich, also sie können sich eben halt im in unserem Tanzraum aufhalten, können da eben halt selber, eigenverantwortlich tanzen I. ((folgend)) Mihm 30 ANHANG X. Also so Richtung Breakdancing und diese Geschichten.. /ähm/ im musikalischen Bereich, also 'n Kollege hat /äh/ so 'n Hip Hop Projekt, also wo die halt singen, (hier?) Rapsongs einspielen und der is' jetzt gerade im Urlaub und jetzt haben wir halt angefangen/ ham gesagt, gut also entweder drei Wochen Pause oder ich stell' euch die Anlage hin, die Anlage is' nachher noch heil, ihr könnt eure Songs singen und alles is' gut, nä. I. ((folgend)) Mihm X. ((macht Geräusch mit der Zunge)) Hat beim letzten Mal eigentlich hervorragend gep/ klappt I. Ja X. Nä, aber ich guck' mir schon genau die Jugendlichen an, /äh/ mit denen ich sowas mach', nä. Das gibt Jugendliche, die sind auch 16.. das würd' ich niemals machen, den würd' ich noch nich' mal 'n Kabel in die Hand geben. I. ((lacht)) X. Also ganz ehrlich, nä. I. Ja X. Also da muss man schon gucken, nä. Und dann gibt's Jugendliche, die identifizieren sich halt mit der Einrichtung und dann gibt's auch Jugendliche, die inter/ identifizieren sich nich' so mit der Einrichtung und bei denen muss man eben halt nochmal ganz anders 'rangehen. Bei den Kindern klappt das schon ganz gut, da üben wir das ja auch immer in den Gruppen, da sind sie ja teilweise auch 'n bisschen selbstständiger und können auch selber ihre Sachen einbringen, also (junge Arbeit?) is' das is' das für uns so 'n so' n Medium, nä. I. ((folgend)) Mihm X. Setzen wir uns zusammen, ja was wollen wir denn jetzt die nächsten Monate mal machen, so (kommt?) was weiß ich, Eisessen oder nach Hamburg fahren oder nach München oder keine Ahnung was. Gibt da unrealistische Sachen und Sachen, die können wir verwirklichen, das machen wir denn auch, nä. I. Ja X. ((macht Geräusch mit der Zunge)) Und das klappt schon ganz gut, so nä. Bei den Jugendlichen.. ja, eigentlich nur in diesem Rahmen, nä. Na wie hatten das früher mal, da ham sie denn eben halt so Naschi verkauft und so und.. ja, das is' aber dann irgendwann auch, nachdem sie dann die Kasse ausgeraubt hatten 31 ANHANG I. ((lacht leise)) X. nach 'm Einbruch is' es denn wieder eingeschlafen, so. Ab und zu macht man mal so, so Vollversammlungen, wo wir uns mit den Jugendlichen einfach mal zusammen setzen, was wir einfach so im Moment mal scheiße finden, sie können das genauso sagen, was sie gerne hätten, alle bleiben da auch im Gespräch, nä. I. Ja X. Das machen wir schon.. ((macht Geräusch mit der Zunge)) Aber so, dass es so alles eigenverantwortlich is' schon schwierig. Also manchmal kann man ja noch nich' mal den, den Raum verlassen.. I. ((folgend)) Mihm X. Also das sind ja so so Basics oder so, nä. Also wer noch nich' ma' eigenverantwortlich Billard spielen kann, ohne dass es Zoff gibt, weil der Eine dominiert und I. Ja X. die Kugel die Treppe langsam runter gehüpft kommt /ähm/ muss man das ja erstmal üben, bevor man I. ((folgend)) Mihm X. irgendwelche anderen Geschichten kriegt, so.. Also, was ganz gut immer is' wir wir kriegen ja auch immer essen. Also es gibt bei uns so 'n Mittagstisch und was übrig bleibt, das essen abends auch die Jugendlichen und denn sitzt man halt so büschen wie in 'ner Familie am Tisch ((macht Geräusch mit der Zunge)) Man isst zusammen und kommt auch in 's Gespräch, das hat so 'n büschen so familiären Charakter und da legen wir bei den Kindern wie auch bei den Jugendlichen großen Wert drauf. I. ((folgend)) Mihm X. Weil das is' bei uns nie anonym. Also ich kenn' eigentlich jeden Jugendlichen beim Namen und jedes Kind I. Ja X. Und die Mamas und Papas auch dazu, weil das is' wichtig, weil ich möchte nich' ((holt Luft)) irgendwie so „n anonymer Jugendtreff, wo ich 'n Schlüssel hab' und alles rennt durch die Gegend und ich weiß nich', wo Hakan hingehört oder ob der überhaupt Hakan heißt oder keine Ahnung, das da g/ das gibt's bei uns nich' 32 ANHANG I. Ja X. Also wir legen ganz viel Wert auf diese familiären Strukturen.. und das is' eben halt Beziehungsarbeit, das is' das Zauberwort und das is' das A und O und nur so kommt man an die Jugendlichen ran.. Und das sind auch einfach so unsere Erfahrungen, nä. Ohne Beziehungsarbeit, läuft da gar nichts und das unterscheidet uns auch von den Schulen. I. Ja, okay. /ähm/ Als abschließende Frage ((lacht)) werd' ich dich nochmal fragen.. ob du das Angebot für Jugendliche oder auch die offenen Angebote für Jugendliche in Garden eigentlich ausreichend findest, beziehungsweise, was würdest du dir noch wünschen für die Jugendarbeit in Gaarden? X. ((macht Geräusch mit der Zunge)) /ähm/ Also generell würd' ich mir wünschen, also nich' nur die Jugendarbeit in Gaarden, sondern dass Jugendarbeit allgemein von der Öffentlichkeit 'n anderen Stellenwert bekommt. Also oft is' es ja noch so, Jugendarbeit, das sind Kaffee trinkende Pädagogen, die mit Jugendlichen Billard spielen, so. Das is' ja so „n, so 'ne Imagegeschichte und das hat sich wirklich /äh/ es mag ja sein, dass es vor 30, 40 Jahren mal so war, aber soweit is' es nich' und der Job is' wirklich sehr hart geworden und /ähm/ der Job is' manchmal auch nich' ungefährlich geworden und trotz alledem mach/ machen wir, aber auch die Kollegen aus anderen Einrichtungen hier auch am Ostufer 'ne super Arbeit, nä. Und ohne die Jugendeinrichtungen würd 's hier richtig zur Sache gehen, das is' meine feste Meinung ((holt Luft)) I. Ja X. Und da hätte der Stadtteil und auch (die andere?) Stadt a/ richtig große Probleme.. /ähm/ Also ich würde mir auf jeden Fall wünschen, dass es in der Öffentlichkeit 'n anderen Stellenwert bekommt, dass man sagt, okay, die Jugendarbeit is' wichtig, also oft gibt's ja jetzt /äh/ Jugendarbeit und Schule, diese ganzen Diskussionen und Ganztagsschule und.. /ähm/ brauchen wir die Jugendarbeit überhaupt noch, nä. Und aber ich denk' mal ohne die Jugendarbeit kommen wir hier nich längs, weil wie ich schon sagte, also ich hab' 'n anderen Stellenwert wie 'n Lehrer und wenn die Jugend /äh/ wenn die Schulen um 16 Uhr dicht machen mit ihrem Freizeitpädagogikbereich, ja was is' dann, wer kümmert sich dann um die (..?) Und da würd' ich mir einfach auch von Politik 'n bisschen mehr wünschen und ich würd' mir auch mehr Geld wünschen an an Ausstattung, weil teilweise unser Zeug is' grottenalt und ((hustet)) ((überlegend)) Ja, man brauch' auch Geld um Sachen in Stand zu setzen oder so. Oder auch den Jugendlichen ma' 'was Neues anzubieten und wir ham das Geld denn nich' dafür, nä. I. Ja 33 ANHANG X. Und es kann nich' sein, dass /äh/ ich sag' immer spiel' nich' mit den Schmuddelkindern, also das is' gerade hier in so 'm Stadtteil wie Garden /ähm/ das da die Stühle eben halt schon 'n büschen älter sind, weil man einfach das Geld nich' hat, so nä. Warum müssen sich die Jugendlichen, die aus so 'm Stadtteil kommen auf alte Stühle setzen oder auf .. 'm Billardtisch spielen, der irgendwie auseinanderbricht, ich übertreib' jetzt einfach mal, nä I. Ja X. Und /äh/ in in Düsternbrook, wär' sowas ganz anders oder so, nä. Und.. da fehlt das Verhältnis, nä. Würd' ich mit einfach, ja einfach schlicht und ergreifend mehr Geld auch von der Politik wünschen und dass vor allen Dingen unsere Arbeit anerkannt wird, nä. Weil das, was wir tun, das kann man nich' messen I. ((folgend)) Mihm X. Absolut nich', also ich kann nich' sagen, wenn ich nich' da wär', was was dann wär', weiß ich nich', nä und das gibt ganz wenig Beispiele, wo, wo wir sagen können, wir ham 'n guten Job gemacht, vielleicht dann, wenn der Jugendliche nachher kommt mit seinen beiden Kindern und sagt, Mensch, is' auch schon oft vorgekommen, wenn ich euch damals nich' gehabt hätte, dann wär' ich richtig auf die schiefe Bahn gekommen und jetzt hab' ich meine Familie und meine beiden Kinder und hab' auch noch 'n Job gekriegt, obwohl ich so scheiße in der Schule war I. Ja X. /ähm/ wollt' ich mich nochmal bedanken, so. Das gibt es ja auch und/ oder wenn Jugendliche e/ mit ihrem Ausbildungsvertrag kommen und sagen, hey geil, das ihr uns geholfen habt, ich hab' jetzt mein Ausbildungsvertrag, nä. Sonst würd' ich hier auf der Straße rumhängen, aber das das war 's dann auch, nä. Hier kommt kein Politiker und sagt 'n sch/ ((macht erklärendes Geräusch)) Ihr macht 'n tollen Job, nä. Also 'n bisschen mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, Kinder und Jugendarbeit, also mp/ is' glaub' ich angesagt. Auch in Zeiten wirtschaftlicher Not. I. ((folgend)) Mihm X. Ganz einfach. ((zieht Luft durch Nase)) I. Ja.. X. Und wie gesagt, das sind nich' nur unsere Einrichtungen so, also das geht ja ganz vielen so und dass man da schon am Limit is' und auch personell..nä. Wir sind eigentlich noch relativ gut ausgestattet, da will ich auch nich' zu doll meckern, aber in diesem Stadtteil, also dieser Stadtteil brauch' noch mehr. Und das sind immer diese unausgegorenen Projekte so, nä. An den Schulen 34 ANHANG gibt's auch Schulsozialarbeiter, aber was was soll 'ne halbe Stelle einer Sozialpädagogin auf 300 Jugendliche, so was, was soll die Frau machen? Nä, das frag' ich mich jetzt einfach mal als Profi, nä. Wie weit is' das effektiv oder so, nä. I. Ja X. Also dieser Stadtteil brauch' noch viel mehr und hier kann man nich' Geld genug rein packen I. ((folgend)) Mihm X. Weil 'n Knastplatz kostet immer 5000 Euro im Monat, den Steuerzahler. Is' immer meine Rechnung, die ich auf I. ((folgend)) Mihm X. /äh/ gebe, wenn mich ma' jemand fragt, naja, also kostet ja auch viel Geld, was ihr da so macht, nä... Kann man ja mal hoch rechnen, so. I. Ja X. Ob sich das Geld lohnt I. ((lacht leise)) X. Ja, das würd' ich mir wünschen I. Ja.. alles klar, ja vielen Dank, soweit 35 ANHANG 8.2 Stadtteilkarte Gaarden-Ost (Stadtvermessungsamt Kiel 2011, Ausschnitt der Stadtkarte 1:5000) 36 Erklärung Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe angefertigt und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet habe. Alle Stellen, deren Ausführungen anderer Autoren wörtlich oder sinngemäß entnommen sind, habe ich durch Angaben von Quellen als Zitat kenntlich gemacht. Die eingereichte schriftliche Fassung der Arbeit entspricht der auf dem elektronischen Speichermedium. Weiterhin versichere ich, dass diese Arbeit noch nicht als Abschlussarbeit an anderer Stelle vorgelegen hat. Hamburg, den 29.08.2011