Gelungene Integration in den Arbeitsmarkt?

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Roland Verwiebe/Matthias C. Müller
Gelungene Integration in den
Arbeitsmarkt?
Die flexiblen Biografien transnational mobiler Europäer zu Beginn
des 21. Jahrhunderts
Der Beitrag thematisiert die sozialstrukturellen Dynamiken, die transnationalen europäischen Wanderungsbiografien inhärent sind. Empirisch lassen sich in der Kontrastierung dieser Mobilitätsformen und
unter besonderer Berücksichtigung berufsbiografischer Aspekte mehrere charakteristische Typen transnationaler Mobilität innerhalb Europas herauskristallisieren. Weiterhin zeigt sich, dass der bestimmende
ökonomische Integrationsmodus innerhalb unserer Studie wesentlich über die Verfügbarkeit kulturellen
und sozialen Kapitals vermittelt wird. Dabei lassen sich nicht nur europäische Elitenbiografien oder Unterschichtsbiografien finden, wie dies aus der neueren transnationalen bzw. der klassischen Migrationsforschung abzuleiten wäre, sondern auch verschiedene Typen transnationaler Mittelschichtsbiografien.
Diese Befunde können als mögliche Erweiterung des soziologischen Verständnisses von Wanderungsbewegungen im 21. Jahrhundert verstanden werden. Empirisch stützt sich der Beitrag auf 27 problemzentrierte Interviews mit in Berlin lebenden Italienern, Franzosen, Briten, Dänen und Polen, die in zwei
Wellen 2002 und 2003 realisiert wurden.
1. Innereuropäische Mobilität
Das Hauptinteresse der bundesdeutschen
Migrationsforschung gilt traditionell der
Untersuchung europäischer Arbeitsmigranten und deren Nachkommen im Hinblick auf
die Ursachen von Wanderungen sowie den
Grad der ökonomischen, sozialen und kulturellen Integration. „Gegenstand der Migrationsforschung sind – etwas überspitzt ausgedrückt – zugewanderte, ethnisch fremde
Unterschichtangehörige. Dabei stellen die
Tätigkeit und Wohnsituation im Aufnahmeland das Kriterium für die Einordnung in das
gesellschaftliche Statusgefüge dar“ (Treibel
2001: 478). Über Migranten, die nicht dem
Schema des „klassischen“ Arbeitsmigranten
(oder seiner Kinder) entsprechen, ist in der
Forschung bisher wenig bekannt. Erst in den
letzten Jahren wendet man sich in der Migrationsforschung auch der Analyse anderer
Wanderungspopulationen zu und argumentiert verstärkt, dass das push-pull-Konzept
(Lee 1966; Castles 1986) und die damit verbundenen Modellannahmen zur Erklärung
der Ursachen und des Verlaufs von Migration nicht mehr ausreichen. Insbesondere für
die transnationale Migrationsforschung war
dies ein wichtiger Ausgangspunkt (Pries
1996, 1999; Hillmann/Rudolph 1997; Levitt/
DeWind/Vertovec 2003; Glick-Schiller/Wimmer 2003). In dieser Forschungsrichtung
stimmt man darin überein, dass die alte Unterscheidung von temporärer und dauerhafter
Wanderung auf viele Migranten nicht mehr
zutrifft, da diese zwischen ihrer alten und
neuen Heimat hin- und herpendeln. Die Lebenspraxis von Wanderungspopulationen
spannt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts
zwischen verschiedenen Wohnorten und unterschiedlichen sozialen und geografischen
Räumen. Migration wird insgesamt im Gesamtzusammenhang eines tiefgreifenden Prozesses wirtschaftlicher, kultureller, politischer und sozialer Globalisierung betrachtet.
An diese noch junge Forschungsrichtung
knüpft der vorliegende Beitrag an.1 Gleichzeitig wird ein Akzent auf innereuropäische
Wanderungen gelegt, die hier als ein Teil
von neuartigen länderübergreifenden, d.h.
transnationalen sozialen Mobilitätsprozes-
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sen2 konzeptualisiert werden. Es wird dabei
gefragt, ob Europa, d.h. die Staaten, die der
Europäischen Union angehören, eigene europäische Wanderungsbiografien hervorbringt,
die nicht nur im Kontext einer allgemeinen
wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen
Globalisierung zu sehen sind, sondern vielmehr im Zusammenhang mit der europäischen Vergemeinschaftung stehen.
Zwischen dem Europäisierungsprozess
und innereuropäischen Wanderungen besteht
insofern ein Zusammenhang, als der europäische Integrationsprozess die Rahmenbedingungen dieser Wanderungen in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verändert und
die Selektion von Mobilitätspopulationen
beeinflusst hat. In den 1960er Jahren waren
vor allem niedrig qualifizierte Personen auf
der Suche nach Beschäftigungsmöglichkeiten in der Industrie von Süd nach Nord mobil. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind es
hauptsächlich Dienstleistungsbeschäftigte, die
aus den verschiedensten Regionen Europas
stammen und unterschiedliche, oft auch hohe
Qualifikationen mitbringen. Die entscheidende Zäsur für innereuropäische Wanderungen
stellte die Implementierung der Beschlüsse
von Maastricht dar. Ursprünglich war die
Freizügigkeit innerhalb der Union an wirtschaftliche Bedingungen und an bilaterale
Abkommen zwischen einzelnen Nationen
geknüpft. So existierte bereits Ende der
1960er Jahre eine erste EU-Verordnung, die
die gegenseitige Anerkennung von Berufsabschlüssen einforderte. In der Praxis wurden
aber die Möglichkeiten der Berufsausübung
durch nationale Regelungen (z.B. Sprachtests für Rechtsanwälte, Mitgliedschaft in
Berufskammern für Handwerker und Dienstleister) lange erschwert. Erst mit den Beschlüssen von Maastricht Mitte der 1990er
Jahre steht die Freizügigkeit allen Bürgern
der Mitgliedsstaaten zu und ist nicht mehr an
Erwerbstätigkeit gebunden. Damit finden innereuropäische Mobilitätsprozesse innerhalb
eines geografischen, institutionellen, politisch besonderen und eingrenzbaren Raumes
statt. Das Überschreiten von Ländergrenzen
ist ein Bestandteil dieser Form geografischer
und sozialer Mobilität. Zugleich stellen Ländergrenzen, als Ausdruck der räumlichen
Bestimmung nationalstaatlicher Regime, für
Europäer aufgrund der institutionellen und
rechtlichen Regulierungen der EU nicht die
Hindernisse dar (Verwiebe 2005), wie das
beispielsweise für Flüchtlinge aus Kriegsgebieten im Nahen Osten der Fall wäre.
2. Fragestellung und empirische
Basis
Für einen Beitrag, der an die neuere Migrationsforschung wie auch an die noch junge soziologische Europaforschung (u.a. Walby
1999; Bach 2000; Eder/Giesen 2001; Heidenreich 2003; Mau 2004; Delhey 2005) anknüpft, stellen sich eine Reihe von Fragen.
Wenn man davon ausgeht, dass innereuropäische Mobilität aufgrund der wirtschaftlichen, institutionellen und politischen Rahmenbedingungen der EU besondere Formen
von Biografien hervorbringt, dann ist zu
analysieren, worin sich diese Besonderheiten
äußern. Zu klären wäre beispielsweise, wie
der europäische Integrationsprozess und seine Institutionen den Verlauf innereuropäischer Mobilität beeinflusst, welche Wanderungsgründe transnationale EU-Bürger haben, über welche Netzwerkstrukturen sie
verfügen oder wie sich transnational mobile
Europäer sozial und ökonomisch im europäischen Raum integrieren können. Zu fragen
wäre auch, wie diese Europäer ihre spezifischen Biografien reflektieren und sich dies
in habituellen Dispositionen manifestiert.
Diese Überlegungen lassen sich in die folgende empirische Leitfrage bündeln: Wie
sind die biografischen Verläufe, insbesondere die Berufsbiografien, von transnational
mobilen Europäern strukturiert und welche
verschiedenen Typen von europäischen Biografien lassen sich dabei ausmachen?
Grundlage der empirischen Analysen dieses Beitrags ist eine leitfadengestützte, problemzentrierte Befragung (Lamnek 1995;
Flick/von Kardorff/Steinke 2003; Bohnsack
2003) von Italienern, Franzosen, Briten, Dänen und Polen, die zum Zeitpunkt der Befragung in der Bundesrepublik gelebt haben.3
Insgesamt wurden 30 Interviews in zwei Wellen zwischen Februar und April 2002 bzw.
Dezember 2002 und Februar 2003 durchge-
Berl.J.Soziol., Heft 1 2006 S. 95-114
führt,4 von denen 27 Interviews für diesen
Beitrag genutzt werden konnten. Mit diesen
Interviews wurden vor allem berufliche Aspekte europäischer Biografien, aber auch
Fragen der Identitätsbildung im Kontext von
innereuropäischen Wanderungen sowie die
soziale und kulturelle Integration von EUBürgern im europäischen Raum empirisch
untersucht.
Eingebettet war die biografische Befragung in einen Projektzusammenhang, in dem
neben der qualitativen Studie von (Berufs-)
Biografien auch eine quantitative Untersuchung der Lebensverläufe transnational mobiler Europäer durchgeführt wurde. Diese
Methoden-Triangulation (Esser 1987; Kelle/Erzberger 1999; Merkens 2003) erschien
im Vorfeld der Untersuchung des soziologisch unerforschten Zusammenhangs von
Europäisierung und sozialstrukturellen Prozessen als angemessene Strategie.
3. Konturen europäischer Biografien
zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Aus der vorgenommenen biografischen Untersuchung transnational mobiler Europäer
aus Frankreich, Großbritannien, Polen, Italien und Dänemark lassen sich fünf verschiedene Typen von biografischen Verläufen
gewinnen: Personen mit einer europäischen
Elitenbiografie (1); innerhalb der Mittelschicht drei verschiedene Formen von europäischen Biografien (2-4); und am unteren
Ende der sozialen Skala Personen mit einer
europäischen Unterschichtsbiografie (5).5 Der
Typologie liegt ein Merkmalsraum zugrunde, der sich durch die Kombination ausgewählter Kategorien und ihrer Ausprägungen
ergibt. Dadurch wird der inhaltliche Zusammenhang der gebildeten Typen gewährleistet, der die Typenbildung an sich erst sinnvoll macht (Wohlrab-Saar 1994; Kelle/Kluge
1999; Kluge 1999, 2000). Vier Kategorien,
die aus der vergleichenden Falldiskussion
gewonnen wurden, sind Grundlage der Typisierung: Verlauf der Berufsbiografie (1),
Verfügbarkeit kulturellen Kapitals (2), Verfügbarkeit sozialen Kapitals (3), Wanderungs- bzw. Mobilitätsgründe (4).
3.1 Europäische Elitenbiografien
Der erste Typ besteht aus Personen mit einer
europäischen Elitenbiografie. Diesem Typus
können zwei Männer im Alter zwischen 40
und 50 Jahren zugeordnet werden. Ihre Berufsbiografien sind durch eine Abfolge hoch
bezahlter Tätigkeiten gekennzeichnet. Sie
übernehmen durchgehend Führungspositionen bzw. Leitungsaufgaben im oberen und
leitenden Management. Berufswechsel, teilweise innerhalb von transnationalen Firmennetzwerken, sind durch Aufstiegsbewegungen gekennzeichnet: „Ich war in Großbritannien zuletzt Leiter einer Abteilung mit 30
Mitarbeitern. (...) Bevor ich (nach Deutschland) kam, habe ich in einem globalen Vorhaben zur Entwicklung von Medikamenten
mitgearbeitet. (…) Dieses Projekt hat wirklich (die Abläufe) jeder Niederlassung in den
wichtigen Märkten in den USA, Japan,
Deutschland und Großbritannien beeinflusst.
(…) In der Mitte des Projekts wurde ich gefragt, ob ich die europäische Leitung dieses
globalen Projekts übernehme würde. (…)
Nun bin ich für 230 Menschen verantwortlich“ (I2: 63ff.).
Es gibt vergleichsweise wenig berufliche
Wechsel in der europäischen Elitenberufsbiografie. Als ein Zeichen von Standardisierung kann gelten, dass in jedem Job mehrere
Jahre gearbeitet wird. Bei einer der interviewten Personen mit einer europäischen
Elitenbiografie liegen Beschäftigungen in
sechs Unternehmen im Bereich Dienstleistungen, Kommunikation und Handel innerhalb europäischer Konzerne vor. Nach seiner
ersten Tätigkeit als Abteilungsleiter Export
arbeitete der Befragte für verschiedene europäische Niederlassungen der Firma X2* an
leitender Stelle: „Ich habe (...) Gesellschaften, die in Schwierigkeiten waren, wiederbelebt, in Frankreich, Österreich erst, in
Deutschland danach“ (I1: 18ff.), formuliert
er nicht ohne Stolz. Danach übernahm er die
Führung eines Medienunternehmens und
später eines großen Kaufhauses in Deutschland, um anschließend zurück nach Frankreich zu gehen und dort die französische
Niederlassung eines deutschen Unternehmens zu leiten. Bei der zweiten befragten
Person mit einer europäischen Elitenbiogra-
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R. Verwiebe/M. C. Müller: Gelungene Integration in den Arbeitsmarkt?
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fie sind es drei Jobs, die innerhalb eines europäischen Firmennetzwerkes realisiert wurden. Diese Tätigkeiten liegen alle in der
pharmazeutischen Branche. Insgesamt weisen diese elitären europäischen Berufsbiografien Ähnlichkeiten auf mit dem in der
Literatur in den letzten Jahren mehrfach
thematisierten Phänomen globaler Elitenwanderung (Hillmann/Rudolph 1997; Cheng/
Yang 1998; Peixoto 2001; Amit 2002; Martin/Lowell 2002; Hartmann 2003; Weiß
2005).
Personen, die europäische Elitenbiografien haben, verfügen über hohes kulturelles
Kapital, einerseits in Form von Ausbildungstiteln und andererseits in Form von inkorporiertem Kapital. Die Bildungsinstitutionen
beider Mitglieder der europäischen Mobilitätselite werben Studenten mit Bestplatzierungen in Ranglisten renommierter Rankingagenturen und Fachzeitschriften. Aufschlussreich ist die Selbstbeschreibung einer der
Einrichtungen: „Wenn man einer der gesuchten internationalen high profile Kandidaten
ist, für den europäisches Management, multikulturelle und persönliche Entwicklung attraktiv sind, dann wird man hier seine höchsten Erwartungen mehr als erfüllen können“
(Forschungsdokumentation 2003: 35). So erwerben beide Befragten dieser Gruppe elitäres institutionalisiertes kulturelles Kapital.
Dies kann als wichtiges Merkmal einer europäischen Elitenbiografie, d.h. als Voraussetzung für das Einnehmen von Führungspositionen in verschiedenen Firmen, betrachtet
werden. Mit dem elitären kulturellen Kapital
korrespondiert auch ein Eliten-Habitus. Dieser Habitus wird generell signalisiert und
verbildlicht sich in verschiedenen Gestalten:
durch die demonstrative Anwendung historischer Ereignisse zur Erklärung allgemeiner
Sachverhalte („das war wie (...) im Mai ’68“
(I1: 11)), durch den Verweis auf europäische
und lateinische Sprachkenntnisse (I1: 174,
416) sowie durch Denk- und Handlungsschemata, die in Bezug auf Positionen in der
politischen Öffentlichkeit artikuliert werden
(I1: 207-247; I2: 303ff.).6
Betrachtet man das soziale Kapital der europäischen Elite bzw. deren Integration in
soziale Netzwerke, dann sind mehrere Dinge
auffällig. Als Bestandteil des sozialen Kapi-
tals sind zunächst Herkunftsnetzwerke wichtig. Die Äußerung „ich habe einen Bruder,
wir sind sehr verbunden wir zwei“ (I1: 367),
charakterisiert exemplarisch den Stellenwert
dieser Netzwerke. Auskünfte über soziale
Netzwerke oder den Charakter des verfügbaren sozialen Kapitals werden von der europäischen Elite jedoch nur zurückhaltend erteilt. Dies kann als ein weiterer Bestandteil
eines Elitenhabitus gesehen werden. Für die
eigene Berufsbiografie ist die Integration in
beruflich orientierte globale Netzwerke noch
bedeutsamer als die Herkunftsnetzwerke. Im
Fall des einen Befragten wird die enge Verbindung mit einem institutionalisierten
Netzwerk seiner Hochschule zur Mobilisierung von beruflichen Spitzenpositionen genutzt: „Meine erste Arbeit (…) habe ich
durch den S*-Verein gefunden“ (I1: 272).
Auch im Verlauf der weiteren beruflichen
Karriere wird dieses soziale Kapital mobilisiert. „Als ich zu X3* gegangen bin, hat sich
ein headhunter mir genähert (…) ein Kerl
vom S*-Verein“ (I1: 274, 291). Ansonsten
sind es „Berufsbeziehungen“ (I1: 280), die er
für sein Karrierefortkommen verwertet. Für
den anderen Befragten ist eine Integration in
globale berufliche und soziale Netzwerke
charakteristisch: „Ich stehe in Kontakt (…)
mit Menschen, die überall auf der Welt leben“ (I2: 214f.). Der globale Charakter der
Netzwerke der europäischen Elite wird noch
dadurch betont, dass deren soziale Integration nicht an einen Ort oder eine Nation gebunden ist, weder an die Herkunftsnation
noch an die Nation, in der sie gerade leben:
„Ich habe noch keine Wurzeln in Berlin entwickelt. Ich könnte mehr oder weniger an
jeden Ort in der Welt gehen“ (I2: 259). Ein
weiteres Indiz für die geringe Bindung an einen Ort bzw. für eine „globale“ Sozialintegration der europäischen Wanderungselite
sind deren relativ geringe deutschen Sprachkenntnisse. So wurden die Interviews mit
beiden Befragten in deren Muttersprache geführt. Ein Grund dafür könnte sein, dass die
berufliche Kommunikation der Befragten in
der Regel in deren Muttersprache oder in
„Business-Englisch“ absolviert wird. Vermutlich trägt auch die kosmopolitische Orientierung des sozialen Umfelds in Deutschland zu diesem Tatbestand bei.
Berl.J.Soziol., Heft 1 2006 S. 95-114
Die sozialen und geografischen Mobilitätsereignisse der europäischen Wanderungselite sind nicht sofort nach Beendigung der Ausbildung bzw. beim Eintritt ins
Erwerbsleben europäisch ausgerichtet. Es
ist eher so, dass die Personen dieses Typus’
nach mehreren Jahren Berufserfahrung in
ihren Heimatländern in Europa mobil werden. Die Verbindung zum jeweiligen „Aufenthaltsland“ bleibt aber lose. Die Wanderungsgründe sind ausschließlich beruflich
bedingt (vgl. Hillmann/Rudolph 1997;
Cheng/Yang 1998; Amit 2002). Es sind
Karrieregründe, die die europäische Elite
dazu bewegt, im europäischen Raum mobil
zu sein (I1: 86-104; I2: 180ff.). Dieses Motiv unterscheidet sie von allen anderen betrachteten Typen dieser Studie. Es waren
„immer professionelle Gründe, ja, ganz und
gar“ (I1: 104), wie einer der Interviewten
formuliert. Der andere Befragte äußert sich
dazu in der folgenden Sequenz: „Ich sagte
ja (zu einem Wechsel nach Deutschland).
Das Projekt ist wichtig. Es ist wichtig für
die Firma. Und es ist eine Herausforderung
für mich, weil es global ist und man mit
verschiedenen Nationalitäten zusammenarbeitet“ (I2: 180f.). Und er führt weiter aus:
„Als ich mehr und mehr in das Projekt involviert wurde, wurde es klar, dass meine
Erfahrung, die zunahm, im Hauptquartier
einer globalen Firma viel nützlicher war als
in einer Niederlassung“ (I2: 182f.).
3.2 Europäische Biografien in der
oberen Mittelschicht
Der zweite Typ besteht aus Personen, die der
oberen Mittelschicht angehören bzw. eine
obere europäische Mittelschichtsbiografie
aufweisen. Die beruflichen Positionen, die
diese Personen innerhalb Europas einnehmen, sind mit hohem Berufsprestige und im
Regelfall mit Weisungsbefugnis ausgestattet.
Diesem Typus innereuropäischer Mobilität
sind insgesamt neun Personen aus der Untersuchungsgruppe im Alter zwischen 30 und
45 Jahren zuzuordnen, davon fünf Frauen
und vier Männer. Alle untersuchten nationalen Gruppen, darunter vor allem Briten,
Dänen und Franzosen, sind vertreten.
Das berufliche Spektrum in dieser Gruppe
umfasst Tätigkeiten als Anwalt, Geschäftsführer, PR-Managerin, Ingenieur, Übersetzerin, Kauffrau oder Mathematiker. Die Aussage eines Juristen zu seiner beruflichen
Biografie ist exemplarisch: „Nach einem Job
in Kopenhagen (für) drei Jahre bei einer
deutsch-dänischen Anwaltskanzlei (...) wohne
(ich) seit Juni 2000 in Berlin und arbeite für
eine andere deutsch-dänische Anwalts-
Tabelle: Typisierung europäischer Biografien
Verlauf der
Berufsbiografie
Verfügung
kulturellen Kapitals
Verfügung
sozialen Kapitals
Wanderungsgründe
Europäische Elite
hoch standardisiert
elitäres Bildungskapital, hohes inkorporiertes Kapital
sehr hoch; multikulturelle, globale Netzwerke
rein karrierebezogene
Gründe
Europäische obere
Mittelschicht
weitgehend
standardisiert
hohes Bildungskapital, hohes inkorporiertes Kapital
relativ hoch; hauptsächlich multikulturelle, auf BRD bezogene Netzwerke
berufliche und soziale
Gründe
Europäische
Mittelschicht
sowohl standardisiert
als auch unstandardisiert
hohes Bildungskapi- relativ niedrig; haupt- berufliche, aber vor
tal, mittleres inkorpo- sächlich herkunftsori- allem soziale Gründe
entierte Netzwerke
riertes Kapital
Europäische untere
Mittelschicht
weitgehend
unstandardisiert
hohes bis niedriges
Bildungskapital,
mittleres inkorporiertes Kapital
relativ hoch; sowohl
herkunftsorientierte
als auch multikulturelle Netzwerke
vor allem soziale,
kaum berufliche
Gründe
Europäische
Unterschicht
vollkommen
unstandardisiert
niedriges Bildungskapital, kaum inkorporiertes Kapital
sehr niedrig; regionale, herkunftsorientierte Netzwerke
verschiedene Gründe,
darunter keine beruflichen Gründe
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R. Verwiebe/M. C. Müller: Gelungene Integration in den Arbeitsmarkt?
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kanzlei (...) als Leiter, (...) (die) hauptsächlich (...) Beratung von dänischen Unternehmen in Deutschland“ (I3: 52ff.) übernimmt.
Ein Italiener, der jetzt als Geschäftsführer
in einem norddeutschen Dienstleistungsunternehmen tätig ist, war vorher in Italien als
stellvertretender Geschäftsführer eines Autohauses beschäftigt und in der Bundesrepublik
als Abteilungsleiter in einem Lebensmittelbetrieb für Verkauf und Produktionsleitung zuständig. Dabei hat er „25 Leute beaufsichtigt“
(I4: 297). Eine Kauffrau war in ihrem Heimatland als Berufsoffizier bei der Armee beschäftigt: „Ein Traum, den ich gern verwirklichen wollte. So (...) fing (ich) an in der dänischen Luftwaffe“ (I7: 28f.). Danach absolvierte sie ein Hochschulstudium und wurde
anschließend innerhalb Europas mobil. In ihrer ersten Tätigkeit arbeitete sie ein knappes
Jahr in Berlin für die dänische Botschaft (I7:
53f.). Insgesamt sind die Berufsverläufe in
dieser Gruppe geradlinig und durch Aufstiegsbewegungen gekennzeichnet. Europäer mit
einer oberen Mittelschichtsbiografie verzeichnen weitgehend standardisierte Berufsbiografien. Sie können auch in der Bundesrepublik
einen guten Lebensstandard realisieren.
Personen, die diesem Typus innereuropäischer Mobilität zuzuordnen sind, verfügen
über ein hohes kulturelles Kapital in Form
von Ausbildungstiteln, im Regelfall Hochschulabschlüsse. Sie haben jedoch, im Unterschied zum ersten Typus, keine Elitenausbildung absolviert. Das Zitat einer Polin verdeutlicht dies: „Ich habe dann zuerst drei
Jahre so ein Lehrerkolleg mitgemacht. Und
das hat dann mit einem Lizenziat geendet.
(...) Danach habe ich ein dreijähriges Ergänzungsstudium (absolviert)“ (I11: 11-13; 35).
Dieses Ausbildungskapital in Verbindung
mit inkorporiertem Kapital können die transnational mobilen Europäer mit einer oberen
Mittelschichtsbiografie nutzbringend auf
dem deutschen Arbeitsmarkt verwenden. Eine Tatsache, die nicht nur den generellen
Stellenwert von Institutionen für individuelle
Biografien belegt (Brose 1986; Fischer/Kohli 1987; Mutz/Kühnlein 1993), wie sich mehrfach in unserer Studie zeigt. Gleichzeitig
deutet sich hier eine hohe Übereinstimmung
mit den programmatischen Absichten der europäischen Integrationspolitik (European
Commission 2002) hinsichtlich der Anerkennung von Berufsabschlüssen an. So bekommt ein befragter Mathematiker in der
Bundesrepublik aufgrund seiner Sprachkenntnisse, seines institutionalisierten kulturellen Kapitals sowie der Tatsache, dass es
„eine Managerin (gab), die einen Assistenten
haben wollte, (...) der international gearbeitet
hat“ (I8: 220ff.), eine gut dotierte Stelle bei
einer Consultingfirma angeboten. Bei einer
anderen Europäerin, die als Betriebswirtin
tätig ist, sind es ihre breiten Sprachkenntnisse und ihr Wissen über internationale Handelsbeziehungen, die sich als ein Vorteil gegenüber deutschen Konkurrenten auf dem
Arbeitsmarkt erwiesen haben: „Ich glaube
am Anfang habe ich nämlich so mir gesagt,
o.k. ich muss mit den Deutschen Wettbewerb machen. (…) (Ich) habe eigentlich
gedacht, dass ist hier nicht einfach, weil
mein Deutsch ist ‚anders’. (...) Aber ich habe
die andern Sachen, die ich mir langsam auch
klar geworden ist, dass ich kann, was
vielleicht viele andere Diplomkaufleute, die
ja in Deutschland geboren sind, nicht
können. Und das sind meine Sprachfähigkeiten und meine interkulturelle Kommunikationsfähigkeit“ (I7: 223ff.; 233ff.).
Personen mit einer oberen europäischen
Mittelschichtsbiografie verfügen über sehr
hohe Sprachkompetenzen, was für den Verlauf der beruflichen Biografien innerhalb Europas von großer Bedeutung ist (vgl. Weiß
2005). Neben der Muttersprache und Deutsch
sind meist noch englische oder französische
Sprachkenntnisse vorhanden. Diese Sprachkenntnisse sind höher als bei dem Typus
Elitenmobilität, der nicht in demselben Maße
über nicht-muttersprachliche Sprachkenntnisse verfügt. „Ich bin (...) zweisprachig aufgewachsen (...) und (kann) Englisch eigentlich auch einigermaßen gut“, ist eine typische Äußerung eines Mitglieds der oberen
europäischen Mittelschicht. „Und weil Französisch mich fasziniert hatte, (...) bin (ich)
auch wegen dem Französischlernen nach
Frankreich gegangen“ (I3: 27ff.), führt der
Befragte weiter aus.
Das soziale Kapital dieser Gruppe ist relativ hoch. Meist ist es in multikulturellen
Netzwerken organisiert, die an die Bundesrepublik als Ort gebunden sind. Die folgende
Berl.J.Soziol., Heft 1 2006 S. 95-114
Beschreibung dieser Netzwerke ist exemplarisch: „Mittlerweile würde ich sagen, vielleicht 40% sind Ausländer (...) der Rest sind
Deutsche. Habe zwei oder drei sehr gute englische Freunde. (…) Sonst habe ich ziemlich
viele Freunde oder Freundinnen, die eher zu
diesen City-Freundschaften gehören“ (I8:
500ff.). Auch bei einem anderen Fallbeispiel
aus dieser Gruppe, einem Geschäftsführer
eines mittelständischen Dienstleistungsbetriebs, ist der Freundeskreis gemischt. Zu
etwa einem Drittel ist er multikulturell, besteht also aus Franzosen, Briten oder Italienern. Zu zwei Dritteln setzt er sich aus Personen deutscher Herkunft zusammen (I4:
466). Dabei war gerade zu Anfang seines
Aufenthaltes in der Bundesrepublik eine
starke Orientierung auf die Gastkultur feststellbar: „Ich hatte ganz bewusst (...) damals
(...) keine große Freundschaften mit Italienern geschlossen. (…) Weil ich wollte nicht
(...) absolut isoliert leben, nur in der italienischen Gemeinschaft“ (I4: 145ff.). Die Mitglieder der oberen europäischen Mittelschicht aktivieren auch gezielt ihre sozialen
Netzwerkpositionen für berufliche Zwecke.
So ließ sich einer der Befragten in den Vorstand eines nationalen Vereins wählen, über
den viele berufliche und soziale Kontakte
realisiert werden: „Und man (wird) auch
durch den *Club (…) zu allen Veranstaltungen in die Botschaft eingeladen, aber auch
wo wichtige Leute dabei sind und die wiederum (einen) anderen interessanten (...)
Umgangskreis (haben), und so bekommt man
verschiedene Einladungen, (...) ins Kanzleramt oder eine Führung durch den Reichstag“
(I3: 549ff.).
Auch bei einem Ingenieur ist das soziale
Kapital funktional für die berufliche Integration in der Bundesrepublik. „Also ich habe
immer Glück beim Stellensuchen. Das war
(...) nie einfach. Aber jedes Mal, wenn ich
eine Stelle gefunden habe, ist das mehr oder
weniger auf Beziehungen gegangen“ (I6:
210ff.). Dieses soziale Kapital besteht aus
Kontakten zu ehemaligen deutschen und
französischen Studienkommilitonen oder zu
Arbeitskollegen. Die berufliche Funktionalität des sozialen Kapitals hat eine wichtige
Funktion für den Erfolg der Migrationsbiografien dieses Typus (Granovetter 1990) und
unterscheidet diesen auch von den weiter unten betrachteten anderen sozialen Gruppen.7
Die Mobilitäts- bzw. Wanderungsgründe
der oberen europäischen Mittelschicht variieren. Neben beruflichen Gründen für den
Wechsel über Ländergrenzen gibt es dafür
vor allem auch soziale Gründe. Die obere
europäische Mittelschicht wandert häufig zur
Familiengründung oder wegen eines Partners
innereuropäisch – eine Bestätigung anderer
Forschungsergebnisse (Beetz/Darieva 1997)
–, wie die Sequenz eines Interviews mit einem Briten zeigt: „Ich hatte (...) eine Freundin hier kennen gelernt, die ist Deutsche. (...)
Dann bin ich zurückgegangen nach England.
Und für die letzten vier, fünf Monate ist sie
nach England gekommen und hat in England
gewohnt. Und dann sind wir Juli 1999 nach
Berlin zurückgekommen“ (I8: 133ff.). Auch
bei einer anderen Befragten sind es soziale
und familiäre Gründe, die zu innereuropäischen Wanderungen führen: „Wir kannten
uns ja schon ein paar Jahre und dann bin ich
auch schwanger geworden. (...) Dann hat er
(mein Mann) sich entschieden, mir und unseres Sohnes wegen, nach Berlin zu kommen“
(I11: 76ff.). Daneben finden europäische
Wanderungen auch auf der Grundlage der
institutionalisierten
Austauschprogramme
(ERASMUS) der EU (I3: 27ff.; I8: 31) oder
aus beruflichen Gründen statt. Eine Kauffrau
äußert sich dazu exemplarisch: „Ich wollte
auch ein Jahr ein (…) Praktikum machen im
Ausland. (…) Dann (…) habe ich mich beworben in der Botschaft hier in Berlin“ (I7:
45ff.). Auch bei einem Juristen sind berufliche Gründe für die Wanderung innerhalb Europas ausschlaggebend: „Ich bin gefragt worden, (...) ob es mich interessieren würde, als
(...) Anwalt in Berlin zu arbeiten, (...) (in einer) Niederlassung der Kanzlei“ (I3: 122ff.).
3.3 Europäische Biografien in der
Mittelschicht
Der dritte Typus innereuropäischer Wanderungsverläufe besteht aus Personen, die eine
europäische Mittelschichtsbiografie aufweisen, also mittlere Positionen in einer emergenten europäischen Sozialstruktur einnehmen. Dieser Gruppe gehören sieben Perso-
101
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nen im Alter zwischen 30 und 45 Jahren an,
überwiegend Frauen, die aus Frankreich,
Großbritannien, Italien und vor allem aus
Polen stammen.
Die Berufsbiografien dieser Gruppe sind
teilweise standardisiert und geregelt, überwiegend jedoch unstandardisiert, mit oft
kurzen, befristeten Anstellungen auf Honorarbasis, welche durch Leerzeiten infolge
von Mutterschaft, Kinderbetreuung oder Arbeitslosigkeit unterbrochen werden. An anderer Stelle wurde schon belegt, dass solche
Brüche zur Normalität von Mittelschichtsbiografien gehören (Mutz/Kühnlein 1993;
Helling 1996). Relativ häufig sind in dieser
Gruppe Beschäftigungsverhältnisse als freie
Mitarbeiter oder Selbstständige zu finden.
Im Unterschied zu den Berufsbiografien der
europäischen Elite und der oberen europäischen Mittelschicht bringt der Wechsel in
die Bundesrepublik für die hier betrachtete
Gruppe berufliche Probleme und damit einen
Bruch in der Erwerbsbiografie mit sich. Dieser Sachverhalt konnte mit quantitativen
Daten bereits nachgewiesen werden (Verwiebe 2004, 2006a) und deckt sich auch mit
anderen Befunden aus der Forschung (Weiß
2005). Sowohl die weitgehend unstandardisierten Berufsbiografien als auch die beruflichen Probleme beim Wechsel in die Bundesrepublik unterscheiden diese Gruppe von den
beiden oben betrachteten Typen. So findet
eine studierte Ökonomin in der Bundesrepublik zunächst keine Arbeit. Erst nach zirka
einem halben Jahr bekommt sie für sechs
Monate in einem Warenhaus eine Anstellung
als Verkäuferin. Sie bezeichnet dies als einen
großen Glücksfall für sich: „Der Personalchef hat mir eine Chance gegeben“ (I16:
147ff.). Exemplarisch ist auch der europäische Berufsverlauf einer Britin. Mit hohem
Ausbildungskapital ausgestattet und fasziniert von der Dynamik des gesellschaftlichen
Wandels in der Bundesrepublik, verlässt sie
Anfang der 1990er Jahre Großbritannien. Sie
begann sofort als freischaffende Englischlehrerin zu arbeiten: „bei einer Sprachschule so
ganz wenig fünf oder sechs Stunden in der
Woche. Habe ein bisschen verdient, war super arm am Anfang. (…) Man arbeitet auf
Honorarbasis“ (I13: 40ff.). Es ist nicht unüblich, gleichzeitig für verschiedene Arbeit-
geber zu arbeiten: „Ich habe mal mit privaten
Sprachschulen gearbeitet, ziemlich viel an
der Volkshochschule (...), aber auch in einem
Ausbildungszentrum einer Berliner Universität“ (I13: 87ff.). Eine promovierte Germanistin kann vor ihrem Wechsel in die
Bundesrepublik auf mehrere Jahre Berufserfahrung in gut bezahlten und hoch qualifizierten Positionen in Frankreich zurückblicken. In der Bundesrepublik geht sie hingegen keiner festen, geregelten Tätigkeit
nach: „Ich wollte als Übersetzerin arbeiten.
Und dann habe ich am Anfang (ein) bisschen
gesucht. Das hat ziemlich lang gedauert“
(I12: 50ff.). Nach einigen Jahren als freie
Übersetzerin für diverse Auftraggeber, in
denen sie sehr wenig verdient hat, arbeitet
sie aktuell als „selbstständige Übersetzerin
technischer Übersetzungen“ (I12: 63f.). Dadurch erzielt sie jetzt ein ausreichendes Einkommen. Eine Bauingenieurin, die ebenfalls
auf mehrere Jahre Berufserfahrung außerhalb
der Bundesrepublik zurückblicken kann, teilweise mit Leitungstätigkeit, findet hier in ihrem angestammten Beruf keine Arbeit. Sie
beginnt nach mehreren Jahren erfolgloser Arbeitssuche als freie Mitarbeiterin in der Versicherungsbranche zu arbeiten. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit ist der Verkauf von Versicherungspolicen an nicht-deutsche Bürger.
Die Personen mit einer europäischen
Mittelschichtsbiografie verfügen, mit einer
Ausnahme, über ein hohes Ausbildungskapital in Form von Hochschul- und Universitätsabschlüssen. In dieser Gruppe finden sich
Journalisten, Ökonomen, Filmwissenschaftler, Sprachwissenschaftler oder Ingenieure.
Zum Teil wurden diese Abschlüsse auch in
der Bundesrepublik realisiert, nachdem bereits ein Hochschulabschluss oder ein Teil
der Hochschulausbildung im Heimatland erzielt wurde. Auch dieser Befund kann als ein
Indiz für die lebensweltliche Bedeutung der
Europäisierung und als ein Erfolg der Europäisierungspolitik gewertet werden (European Commission 2002). Das Beispiel einer
Journalistin ist exemplarisch für das Bildungskapital dieser Personengruppe. Sie hat
zunächst ein Studienkolleg absolviert, dann
ein Hochschulstudium in Literaturwissenschaften und Anglistik in ihrem Heimatland
abgeschlossen. Über ein europäisches Aus-
Berl.J.Soziol., Heft 1 2006 S. 95-114
tauschprogramm kam sie nach Deutschland.
Hier hat sie noch zusätzlich einen Magister
in Kunstgeschichte erworben (I14: 110ff.).
Bei einer Übersetzerin aus dieser Gruppe ist
eine ähnliche Bildungskarriere zu beobachten. Sie hat in ihrem Heimatland eine
sprachwissenschaftliche Promotion abgelegt
und in der Bundesrepublik einen Magistertitel erworben (I12: 22f., 90f.). Auch in dieser
Gruppe wird, weniger erfolgreich als bei der
oberen europäischen Mittelschicht, versucht,
spezifisches kulturelles Kapital beruflich zu
mobilisieren. Bei einer Journalistin ist es exemplarisch die Verbindung von Bildungskapital und inkorporiertem Kapital in Form
von Sprachkenntnissen und landeskundlichen Kenntnissen, welche auf dem Arbeitsmarkt verwertet werden sollen. Sie schreibt
darüber „was passiert zwischen meinem Heimatland und Deutschland“ (I14: 152). Dies
ist jedoch als berufliche Spezialisierung auch
problematisch, da das öffentliche Interesse
an der Bearbeitung einer solchen Thematik
und damit die Nachfrage auf dem Markt
nicht besonders ausgeprägt ist.
Das soziale Kapital basiert bei Personen
mit europäischer Mittelschichtsbiografie auf
herkunftsorientierten, aber auch auf multikulturellen Netzwerken. Als ein Beispiel ist
ein Gastronom zwar in herkunftsorientierte
Netzwerke integriert. Nach eigener Aussage
hat er jedoch einen multikulturellen Freundeskreis und sich seine „Freunde immer selber ausgesucht“ (I17: 680). Bei einer anderen befragten Europäerin kommt „ungefähr
die Hälfte unserer Freunde aus (dem) englischen Freundeskreis, also sprachlich und ungefähr die Hälfte aus dem deutschen (Freundeskreis)“ (I13: 572ff.). Der Kontakt mit
Deutschen und die Einbettung in deutsche
Netzwerke werden von den Befragten mit
einer europäischen Mittelschichtsbiografie
zum Teil aktiv angestrebt. Dies wird als vorteilhaft für die eigene ökonomische und soziale Situation eingeschätzt. Dennoch bleibt
die ökonomische bzw. berufliche Verwertbarkeit dieser Netzwerke eher gering. Eine
interviewte Ökonomin hat beispielsweise
bewusst nur deutsche Freunde und Bekannte
und findet es nicht erstrebenswert, herkunftsbezogene Freundschaften zu etablieren, weil
das die Integration in der Bundesrepublik er-
schweren würde. Diese Sicht wird von einer
weiteren Befragten geteilt, die vor allem auf
die Konsequenzen für die Verfügbarkeit von
sozialem Kapital hinweist. Sie berichtet von
Frauen aus ihrer Heimat, die in der Bundesrepublik nur die eigene Muttersprache sprechen. „Die kommen mit der deutschen Gemeinschaft einfach nicht klar. Die machen
nichts damit. Wir sind ja anders. Wir sind
sehr integriert“ (I13: 596). Diese Beschreibung der sozialen Integration durch die Befragte ist auch deshalb interessant, da sie eine Form der positiven Selbstabgrenzung darstellt. Nach Seitter (2002) kann dies als ein
allgemeines Muster der Selbstpräsentation,
als eine steigerungsbiografische Erzählweise
von Migranten aus der Mittel- oder Unterschicht verstanden werden.
Die Mobilitäts- bzw. Wanderungsgründe
der europäischen Mittelschicht sind heterogen. Neben sozialen und familiären Gründen
finden sich in dieser Gruppe häufig auch
kulturelle Gründe für innereuropäische Wanderungen, was als ein besonderes Kennzeichen aktueller innereuropäischer Mobilitätsbewegungen verstanden werden kann (Verwiebe 2005). Berufliche Gründe spielen in
dieser Gruppe im Unterschied zu den weiter
oben betrachteten Typen nur eine geringe
Rolle. Eine Britin ist beispielsweise Anfang
der 1990er Jahre nach Berlin gekommen,
weil es ihr „einfach sehr spannend vorkam,
(…) alles ein bisschen ungewöhnt. (…) Ich
hatte einen Rucksack dabei und das war’s“
(I13: 32ff.). Bei einem Teil der Befragten
wird der berufliche Karrierebruch bewusst in
Kauf genommen – auch hier sind Brüche ein
Teil der Normalbiografie (Mutz/Kühnlein
1993; Helling 1996) – und durch die Verwirklichung kultureller Interessen kompensiert. Das Berufliche tritt gegen eine kulturell
motivierte Selbstverwirklichung in den Hintergrund: „Geld verdienen, (…) das war für
mich nicht dringend. Ich habe mir Zeit gelassen“ (I12: 56). Bei einem Gastronom
kommt der Mobilitätsentschluss aus Interesse an der deutschen Kultur und Politik, aus
beruflichen Motiven und auf der Basis von
Netzwerken zustande. Ende der 1970er Jahre
gab es in seiner Heimatregion eine Zeit verstärkter Auswanderungen. Der Befragte ist
in unserer Studie als einziger zur Gruppe der
103
R. Verwiebe/M. C. Müller: Gelungene Integration in den Arbeitsmarkt?
„klassischen“ Arbeitsmigranten zu zählen
(Hoffmann-Nowotny 1973; Rist 1978; Morokvasic 1984; Feithen 1985; Bade 1987). Er
hatte den Vorteil, dass sein Vater damals
schon in Deutschland lebte. „(Dies) habe ich
ausgenutzt und bin ich nach Deutschland
ohne einen gelernten Beruf zu haben. (...)
(Dann) habe ich erstmal versucht, in (der)
Industrie zu arbeiten“ (I17: 15ff.). Aber die
„politische Situation in Deutschland und
speziell Berlin hat mich auch sehr interessiert“ (I17: 216f.). Er hätte, wie viele seiner
Freunde aus der Heimat, nach Holland oder
nach Skandinavien gehen können, entschied
sich aber für die Bundesrepublik. Nach relativ kurzer Zeit gab er die Fabrikarbeit auf
und wird als Kellner und Koch in verschiedenen Restaurants und Cafes tätig. Zuletzt
war er Besitzer und Geschäftsführer eines
eigenen Restaurantbetriebs.
3.4 Europäische Biografien in der
unteren Mittelschicht
104
Der vierte Typus umfasst Personen, die eine
europäische untere Mittelschichtsbiografie
aufweisen. Es handelt sich um jeweils drei
Frauen und Männer britischer, italienischer
und dänischer Herkunft im Alter von 24 bis
45 Jahren. Das berufliche Spektrum umfasst
Beschäftigungsverhältnisse als freier Autor,
Künstlerin, Erzieherin, Illustratorin, Postangestellter oder Verwaltungsangestellter. Bis
auf einen Befragten haben alle Interviewten
dieses Typus außerhalb der Bundesrepublik
Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt gesammelt, teilweise im Zuge beruflicher Ausbildungen oder durch wechselnde befristete
Tätigkeiten. Sie verfügen somit über europäische, weitgehend entstandardisierte Berufsbiografien. Am Beispiel eines britischen
Befragten lässt sich dies gut nachvollziehen.
Er hat einen für diese Gruppe typischen Berufseinstieg in Großbritannien: „Meine erste
Arbeitsstelle war in einer Fleischerei als
Fleischer. Ich habe das vielleicht drei Monate gemacht. Ich hab’ das nicht ausgehalten. (...) Ich war (danach) (...) Schmied (in
der) Fabrik sozusagen. Da wurden Metallteile gemacht. Das habe ich vielleicht sechs
Monate gemacht, war auch nicht lange aus-
gehalten, war sehr unzufrieden. Ich hab’ kein
Hauptschul-, kein Schulabschluss gehabt. So
es war schwierig. (…) Ich hab’ einfach
Glück gehabt, dass ich da arbeiten konnte. Ja
dann habe ich in einem elektrischen Großhandel gearbeitet, (...) war kein richtiger Beruf, nur ein bisschen arbeiten. Das war vielleicht ein Jahr, lang hin und her, bisschen da,
bisschen hier. Dann habe ich mich entschieden, (als Berufssoldat) zur Armee zu gehen“
(I20: 8ff.).
Die beruflichen Positionen der Befragten
sind tendenziell mit geringen Verdienstmöglichkeiten9 ausgestattet. So finden sie sich
lediglich im unteren Bereich der Sozialstruktur wieder, obwohl ihre Tätigkeiten vielfach
an kreative Potenziale geknüpft sind. Gemeinsames Merkmal der Berufsverläufe sind
lange Zeiträume der Suche nach beruflicher
Selbstverwirklichung, die über häufig wechselnde Ausbildungs- und Qualifizierungsstrategien vermittelt werden. Die mit den Berufsbiografien einhergehenden individuellen
Risiken sind noch höher als in der europäischen Mittelschicht. Hervorgerufen werden diese weitgehend entstandardisierten Berufsbiografien in einigen Fällen durch die
besonderen arbeitsrechtlichen Vertragsformen und teilweise prekären Arbeitsbedingungen im künstlerischen Bereich. Die einzelnen Erwerbsbiografien weisen Leerzeiten
und Phasen der Arbeitslosigkeit auf, die mit
Hilfe staatlicher Unterstützung oder beruflicher „Notlösungen“ gemeistert werden. Viele Tätigkeiten werden lediglich aus finanziellen Gründen ausgeübt und besitzen den Charakter einer bloßen Überlebensstrategie. Solche Beschäftigungsverhältnisse werden als
ökonomische Grundlage genutzt, um sich
dem „eigentlichen“ beruflichen Ziel widmen
zu können. Wobei auffällt, dass diese Strategie sehr anfällig ist und in einigen Fällen
scheitert. Einzelne Befragte nutzen diese
„Freiräume“ zur weiteren Qualifizierung
(z.B. Nachholen eines Schulabschlusses).
Andere übernehmen ehrenamtliche Tätigkeiten, unternehmen ausgedehnte Reisen oder
realisieren einen langgehegten Kinderwunsch. Insgesamt lässt sich anhand der Berufsbiografien dieser Gruppe die weit verbreitete These nachvollziehen, wonach im
Zuge der Entstandardisierung von (Berufs-)
Berl.J.Soziol., Heft 1 2006 S. 95-114
Biografien die Anteile der entscheidungsverschlossenen Lebensmöglichkeiten abnehmen
und die Anteile der entscheidungsoffenen,
selbst herzustellenden und damit risikoreicheren biografischen Situationen zunehmen
(Kohli/Robert 1984; Beck 1986; Brose 1986;
Fischer/Kohli 1987; Helling 1996).
Ein heterogenes Bild bietet sich, wenn
man das institutionalisierte kulturelle Kapital, die erreichten Ausbildungstitel, betrachtet. Die Spannbreite reicht von Hochschulabsolventen, die jedoch nie direkt in ihrer Disziplin tätig waren, bis hin zu Personen, die
die Schule ohne formalen Abschluss verlassen und sich über individuelle Wege zusätzlich qualifiziert haben, was jedoch mit höheren Risiken und Unsicherheiten verbunden
ist. Das schwach ausgeprägte Ausbildungskapital erschwert auch die Akkumulation
von kulturellem Kapital der Aufnahmegesellschaft (Weiß 2005). Diese Tatsache wiederum beinhaltet Effekte auf das ursprüngliche, herkunftsbezogene kulturelle Kapital,
welches innerhalb dieser Gruppe infolge des
europäischen Mobilitätsereignisses überwiegend abgewertet wurde. Diese Abwertung
herkunftsspezifischen Kapitals kann nach
Eder, Schmidtke und Rauer (2004: 155) zu
einer Rückbesinnung und Glorifizierung der
Herkunftskultur führen. Ein Befund, der sich
in unserer Studie, aber auch bei Seitter
(2002) finden lässt. Ein anderer Weg besteht
darin, diese Entwertung aufzufangen und mit
Hilfe individueller Strategien positiv umzudeuten. In diesem Sinne gelang es der Mehrheit der unter diesem Typus subsumierten
Befragten, sich inkorporiertes kulturelles Kapital anzueignen. Ein Verwaltungsangestellter malt in seiner Freizeit Aquarellbilder.
Mehrmals stellte er seine Bilder öffentlich
aus (I20: 343ff., 950ff.). Eine befragte Künstlerin und Restauratorin hat durch unterschiedliche Tätigkeiten in mehreren europäischen Nationen eine große Bandbreite sprachlichen und beruflichen Spezialwissens akkumuliert (I21: 130ff., 201ff.). Ein freier
Autor hat über diverse Tätigkeiten in der
Kultur- bzw. Medienbranche relevante Fähigkeiten für die Generierung von inkorporiertem kulturellen Kapital erworben (I18:
223). Gerade die Ausstattung mit inkorporiertem kulturellen Kapital sowie bessere
deutsche Sprachkenntnisse grenzen diesen
Typus von dem anschließend beschriebenen
europäischen Unterschichtstypus ab.
Wendet man sich der Verfügbarkeit und
Verwertung von sozialem Kapital zu, dann
fällt auf, dass das relativ hohe soziale Kapital innerhalb dieser Gruppe ein bedeutungsvolles Element für die Bewältigung ihrer
diskontinuierlichen Erwerbsbiografien ist.
Somit erhält das soziale Kapital eine kompensatorische Funktion gegenüber dem geringer ausgeprägten Ausbildungskapital. Das
soziale Kapital beruht mehrheitlich auf multikulturellen Netzwerken, die vorwiegend als
stabil beschrieben werden und integrationsfördernd wirken. „Ich habe Verbindungen
mit verschiedenen Ländern, verschiedenen
Kulturen, verschiedenen Nationalitäten, ist
kunterbunt sozusagen, von Türken bis Russen, bis Chinesen, Vietnamesen“ (I19: 71),
ist hierzu eine charakteristische Aussage eines italienischen Befragten. Der offensive
Einsatz des verfügbaren sozialen Kapitals
hat direkten Einfluss auf das Aufspüren von
möglichen Tätigkeitsfeldern (Granovetter
1990; Goldring 1996). Insbesondere im
künstlerisch-kulturellen Bereich werden diese oftmals über netzwerkartige Strukturen
vermittelt. Ein Referenzbeispiel wäre in diesem Zusammenhang die Akquisition der unterschiedlichen Tätigkeiten eines freien Autors (vgl. Fußnote 15). Auch bei einer Dänin
findet sich dieses Muster. Sie hat sich ihre
Tätigkeiten in der Bundesrepublik in Eigeninitiative beschafft. Zuerst arbeitet sie als
Kulissenmalerin in einem kleineren Theater
auf Projektbasis. Daraufhin folgt eine Episode bei einer Jugendeinrichtung, für die sie
ein Jahr lang Kunstkurse für Jugendliche
betreut. Dessen ungeachtet gilt ihr berufliches Hauptinteresse der freischaffenden
Kunst. So hat sie, unter anderem durch Besuche der Frankfurter Buchmesse, belastbare
Netzwerke aufbauen können, die sich in Tätigkeiten als Illustratorin für verschiedene
Verlage umsetzen ließen. Mittlerweile hat
sie die Jugendarbeit aufgeben, da sie als freischaffende Kinderbuchillustratorin zu stark
beschäftigt ist. Ihre Strategie ist von Erfolg
geprägt, obwohl sie lediglich eine Ausbildung als Maskenbildnerin besitzt. Eine andere Befragte kompensiert ihre begrenzten
105
R. Verwiebe/M. C. Müller: Gelungene Integration in den Arbeitsmarkt?
Kontakte zu Deutschen über ehrenamtliches
Engagement als Vorschulerzieherin in der
bilingualen Schule ihrer Kinder. Diese Strategie erlaubt es, soziales Kapital zu erwerben
und beruflich zu verwerten. Denn nach einigen Monaten wurde ihr angeboten, diese
Stelle über eine staatliche Ausbildung in eine
Vollberufstätigkeit zu transformieren (I23:
87ff.).
Innerhalb der Untersuchungsgruppe herrschen soziale und kulturelle Mobilitätsgründe vor, die zumeist auf Partnerschaften mit
Deutschen beruhen. Berufliche Gründe spielen für die innereuropäische Mobilität der
Befragten nur eine untergeordnete Rolle. Die
Mobilitätsereignisse erscheinen gewissermaßen zufällig europäisch ausgerichtet. Die
Mobilitätsentscheidung wird nach einigen
Jahren der Berufserfahrung im Heimatland
getroffen und vielfach emotional legitimiert.
Beispielhaft ist der Fall einer Britin, deren
Ehemann zuerst aus beruflichen Gründen getrennt von der Familie in Berlin lebte. Daraufhin entschloss sie sich, ihm nach Berlin
zu folgen: „Aber ja, mein Mann möchte gern
in Berlin arbeiten. Und er hat das gemacht
für sechs Monate allein. Und denn hab’ ich
auch gedacht: Das ist nicht fair für die Kinder, dass sie, you know, ihren Papa vielleicht
nur einmal jede sechs Wochen (sehen)“ (I23:
258ff.). Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass die Interviewten nützliche Dispositionen wie Flexibilität und kulturelle Offenheit für eine gelungene Ausgestaltung des Mobilitätsereignisses mitbringen. Die Betrachtung der Mobilitätsgründe
der Befragten weist mehrheitlich auf eine individualistische Verlaufslogik hin, die jedoch in einigen Fällen mit typisierenden Sequenzen kombiniert ist. Bei zwei britischen
Befragten wurde das Mobilitätsereignis institutionell durch Militärdienst bzw. europäische Austauschprogramme induziert (I20:
12; I21: 57f.,111ff.). Der institutionelle Kontext löste sich aber bei beiden Fällen nach
kurzer Zeit auf. Ihr weiterer Aufenthalt in
Berlin unterliegt einer ähnlichen Verlaufslogik wie bei den übrigen Befragten. Beide
bleiben aus sozialen Gründen, wegen ihrer
deutschen Partner.
106
3.5 Europäische Unterschichtsbiografien
Schließlich konnten auf der Grundlage des
erhobenen empirischen Materials drei biografische Verläufe ausgemacht werden, die
Merkmale einer europäischen Unterschichtsbiografie aufweisen. Es handelt sich um
zwei Männer und eine Frau, die zwischen 25
und 47 Jahre alt sind und aus Großbritannien
und Polen stammen. Im Vergleich dieser
Fälle ist es bemerkenswert, dass es sich jeweils um vollkommen unstandardisierte
Berufsbiografien handelt. Insbesondere die
Häufigkeit von einfachen, nur gering entlohnten, mit wenig Prestige verbundenen und befristeten Beschäftigungsverhältnissen, die
oftmals unter prekären Arbeitsbedingungen
ausgeführt werden, sticht hervor. Diese Arbeitsverhältnisse sind nicht stabil. Es bleibt
fragwürdig, ob auf der Basis dieser Anstellungen ein Leben oberhalb des Existenzminimums möglich ist.
Exemplarisch dafür steht die folgende
Erwerbsbiografie einer Britin. Ihre erste Tätigkeit übte sie im Alter von 16 Jahren ohne
formalen Schulabschluss in der ClearingStelle einer Londoner Bank aus. Aufgrund
mangelnder Motivation gab sie diesen Job
allerdings nach sechs Monaten wieder auf.
Die Befragte schätzt diese Episode wie folgt
ein: „Ich denke, ich war ein bisschen am
Rumflippen, oder Verantwortung konnte ich
halt nicht übernehmen. Dann nach sechs
Monate habe ich da aufgehört. Und hatte
einfach diverse Jobs in die Nähe von B., irgendwelche Jobs, das war egal“ (I25: 29ff.).
Diese Tendenz zu einer vollkommen entstandardisierten Berufsbiografie setzt sich bei ihr
auch nach dem Wechsel in die Bundesrepublik fort: „Ich hab’ in alle verschiedenen Jobs
reingeschnuppert, im Prinzip. Von Fotoassistentin im Labor bis zum An- und Abbau von
irgendwelchen Ausstellungen oder Konzerten,
bis zu meinem eigenen Laden, gehabt mit einer Engländerin zusammen, Klamotten genäht und so. Zum Schluss dann bin ich gelandet in einer Kneipe. Da war ich die Kellnerin
und dann Geschäftsführerin. (...) Da war ich
auch ziemlich lange. Aber zum Schluss hat
der Alkohol die Überhand gekriegt. (…) Das
lag wahrscheinlich an einer Flucht irgendwie“ (I25: 99ff.).
Berl.J.Soziol., Heft 1 2006 S. 95-114
In den folgenden drei Jahren ist die Befragte vollständig mit der Bewältigung ihrer
Alkoholabhängigkeit beschäftigt. Im Jahre
1994 nimmt sie erneut eine Tätigkeit in der
Gastronomie an: „als Köchin, (zuerst) war
ich Kochhilfe und auch ganz schnell Köchin.
Alles was ich mache, mache ich gut. Wenn
ich das so entscheide, dass ich das mache,
mache ich das richtig“ (I25: 133). Dennoch
fühlt sie sich aufgrund der Arbeitsatmosphäre genötigt, diese Stelle rasch wieder aufzugeben. Die Interviewte versucht nach diesem
Rückschlag, eine Weiterbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin aufzunehmen. Dies
scheitert jedoch an ihren schlechten Deutschkenntnissen, die nach über einem Jahrzehnt
in der Bundesrepublik noch immer sehr lückenhaft sind. Weiterhin mangelt es ihr an
Erfahrung mit Bürotätigkeiten. Ebenso stellt
die englische Muttersprache kein Plus gegenüber anderen Bewerbern in diesem Bereich dar. Denn „jeder Zweite kann Englisch,
das ist keine großer Vorteil, Englisch zu
können“ (I25: 150). Ihre Erwerbshaltung ist
insgesamt sehr individualistisch und durch
häufigen Wechsel der Tätigkeiten gekennzeichnet. Insbesondere fällt auf, dass sie für
sich einen Hang zum Abbruch von Beschäftigungen „kultiviert“ hat. Nur wenn eine Anstellung und das Umfeld genau ihren Erwartungen entsprechen (I25: 160ff.), gelingt
es ihr, ein Durchhaltevermögen zu entwickeln. Schließlich verwundert ihr Fazit über
die Zeit in Berlin kaum: „Ob ich in Berlin
bleibe, weiß ich nicht. Schwierigkeiten wegen Arbeit, also schwer Arbeit zu kriegen
hier. Und dass ich da schon viele Jahre rumgeklempnert habe, irgendwie, das bereue ich
schwer, also richtig bereue ich. Also wenn
ich alles noch mal machen würde, dann wäre
ich in Schottland geblieben, hätte erst einmal
studiert. Aber als ausgeflippte, durchgedrehte, verprügeltes Mädchen (…) musste ich
erstmals auf die Suche gehen, nach meine(m) innere(n) Frieden, damit denke ich,
finde ich es langsam“ (I25: 208ff.).
Ähnlich unstandardisiert und instabil sind
die Berufsbiografien der beiden anderen Befragten dieser Untersuchungsgruppe. Ein
Brite, der seit über zehn Jahren versucht, in
Berlin als Musiker erfolgreich zu sein, ist
heute noch immer darauf angewiesen, seinen
Lebensunterhalt als Straßenmusiker zu bestreiten. Ein polnischer Interviewter stellt
seine Erwerbsbiografie als Abfolge mehrerer
europäischer befristeter Arbeitsepisoden dar,
darunter Tätigkeiten als Anstreicher, Barkeeper, Kfz-Mechaniker in Tschechien, Großbritannien, den Niederlanden und der Bundesrepublik. Alle drei Interviewten sind bemüht,
eine individualistische Erwerbshaltung zu
vermitteln, die die Berufsbiografie als selbst
gewählt erscheinen lässt. Bei kritischer Betrachtung trifft dies nur in begrenztem Maße
zu. Insgesamt erinnert dieser Typus transnational mobiler Europäer nur partiell an die in
der Forschung thematisierten Ausprägungen
klassischer Unterschichtswanderung (Hoffmann-Nowotny 1973; Rist 1978; Morokvasic 1984; Feithen 1985; Castles 1986; Bade
1987; Bender/Seifert 1998). Denn die Unterschiede zu den klassischen Arbeitsmigranten, die überwiegend in Industrieberufen beschäftigt waren, sind nicht von der Hand zu
weisen. Die ausgeübten Tätigkeiten der Befragten sind fast ausschließlich im Dienstleistungsbereich angesiedelt. Es handelt sich
hier um vollkommen individualisierte Biografien, die sich aus sozialisationsbedingten
und „abweichenden“ Lebenseinstellungen
bzw. Erwerbshaltungen speisen. Die europäischen Mobilitätsereignisse ermöglichen
zusätzlichen biografischen Freiraum.
Das kulturelle Kapital der drei Befragten
ist auf allen Ebenen sehr niedrig, insbesondere wenn man das Ausbildungskapital betrachtet. Nur ein polnischer Befragter schließt
die Schule mit dem Abitur ab. Die anderen
Interviewten haben die Schule ohne formalen Abschluss verlassen. Die Britin holte
noch in Großbritannien ihren Schulabschluss
auf der Abendschule nach (O-Level), während einer Lebensphase, in der sie „keine
Chance auf Arbeit“ (I25: 38) hatte. Inkorporiertes kulturelles Kapital liegt bei ihr lediglich in schwach ausgeprägter, privatistischer
Form vor. Ihre Aussagen entspringen Meinungen und Berichten aus dem Freundeskreis, die zu einer „privaten Philosophie“
verknüpft werden. Dem polnischen Befragten ist es durch zahlreiche mehrmonatige Arbeitsepisoden innerhalb Europas gelungen,
bedingt inkorporiertes kulturelles Kapital zu
akquirieren. Insgesamt bleibt das kulturelle
107
R. Verwiebe/M. C. Müller: Gelungene Integration in den Arbeitsmarkt?
108
Kapital aber bei allen Befragten unterdurchschnittlich ausgeprägt. Diese Tatsache äußert
sich zum einen in den geringen Deutschkenntnissen der Befragten trotz langjähriger
Aufenthalte in der Bundesrepublik.10 Zum
anderen werden diese Mängel durch eine gering ausgeprägte (Selbst-)Reflexion sowie
über die spärlichen Bezüge der Befragten auf
kulturelle Institutionen oder öffentliche Diskurse vermittelt. Man kann annehmen, dass
das ohnehin schon schwache herkunftsbezogene kulturelle Kapital mit dem innereuropäischen Mobilitätsereignis entwertet und
kaum durch location-specific kulturelles Kapital (Weiß 2005) ergänzt werden konnte.
Die Folge sind strukturelle Nachteile dieser
Gruppe auf dem deutschen Arbeitsmarkt.
Das verfügbare Sozialkapital der Befragten kann das prekär ausgeprägte kulturelle
Kapital kaum ausgleichen. Innerhalb der hier
untersuchten Fälle spielen tragfähige soziale
Netzwerke nur eine untergeordnete Rolle.
Da sie kaum in positiven Zusammenhängen
erwähnt werden, scheinen diese Netzwerke
nicht sehr belastbar. Die Personen dieser Untersuchungsgruppe verfügen vor allem über
subkulturell geprägte regionale Freundschaftsnetzwerke. Diese erscheinen zwar zunächst multikulturell, bleiben aber überwiegend herkunftsorientiert. Die Ursache dafür
liegt unter anderem in den sprachlichen Barrieren. Die ambivalente Begrenzung des sozialen Kapitals ist in folgendem Zitat enthalten: „Ich bau’ keine Freundschaften auf,
nur weil, weil die Engländer sind. Kann keine Beziehung zu jemand aufbauen, weil sie
Englisch reden. Entweder da ist Sympathie
oder Antipathie. Das ist eigentlich egal aus
welche(m) Land. (Ich) kann sehr gut mit,
kenne mehrere Afrikaner. Da reden wir auch
auf Englisch“ (I25: 504ff.).
Der britische Musiker betont, dass alle
seine Freunde Englisch sprechen können und
für ihn somit kein Anlass besteht, seine
Deutschkenntnisse zu verbessern. Die Britin
berichtet weiterhin über grundsätzliche
„Schwierigkeiten mit den Berlinerinnen“
(I25: 498). Ihrer Aussage folgend werden
diese durch soziale Kälte, Oberflächlichkeit
und Engstirnigkeit hervorgerufen. Der ökonomische Nutzen der Netzwerke bleibt gering und hat somit kaum einen positiven
Einfluss auf die sozialstrukturelle Positionierung. Die Ursachen für das schwach ausgeprägte Sozialkapital sind in der mangelnden
sozialstrukturellen Verankerung in der deutschen Gesellschaft, dem niedrigen kulturellen Kapital und einem stark individualisierten Lebensstil der Interviewten zu suchen.
Bei den Mobilitäts- bzw. Wanderungsgründen der Befragten mit europäischen
Unterschichtsbiografien findet sich eine Reihe unterschiedlicher Motive, die überwiegend sozialer und kultureller Natur sind.
Verknüpft sind die Mobilitätsgründe zunächst durch eine stark individualistische
Verlaufslogik ihrer Wanderungsgeschichte.
Die zweite Gemeinsamkeit besteht darin,
dass berufliche Gründe innerhalb dieser Untersuchungsgruppe nicht mobilitätserzeugend sind. Vielmehr kommt spontanen Entschlüssen bzw. Begegnungen eine zentrale
Rolle zu, die als Chance wahrgenommen
werden, beispielsweise prekären Verhältnissen in der Heimat zu entkommen. Nicht zuletzt fehlende Perspektiven in der Herkunftsgesellschaft sowie Abenteuerlust erleichtern
den Befragten die Entscheidung, ohne abgeschlossene Berufsausbildung innerhalb Europas mobil zu werden.11 Dabei ist anzumerken, dass es ihnen im Zuge des Wechsels in
die Bundesrepublik nicht gelingt, sich eine
wesentlich vorteilhaftere Arbeitsmarktposition zu verschaffen als in ihrer Heimat. Ein
britischer Befragter kommt nach eigener
Aussage über ein Netzwerk politischer und
kultureller Aktivisten nach Berlin, auch weil
er in seiner Heimat „nichts mehr zu verlieren
hatte“ (I27: 148ff.). Die Aussage einer Britin
verdeutlicht wiederum die Verbindung von
sozialen und kulturellen Mobilitätsgründen:
„Da war ich mit meinem Sohn mehrmals
hier und (es) hat ihm auch total gefallen.
Und dann haben wir beschlossen, dann ziehen wir hierher, war nicht nur wegen meinem Mann, auch wegen Berlin“ (I25: 63).
4. Fazit
Die vorgenommenen Analysen haben sozialstrukturelle Dynamiken im Hinblick auf die
charakteristischen Sequenzierungen der Be-
Berl.J.Soziol., Heft 1 2006 S. 95-114
rufsbiografien von transnational mobilen Europäern zu fassen gesucht. In der Kontrastierung der Mobilitätsformen dieser Europäer
zeigt sich eine Ausdifferenzierung der Formen innereuropäischer Wanderungen. Eine
Doppelbewegung von transnationaler Aufwärts- und Abwärtsmobilität wird unterfüttert von „normalen“ Mobilitätsverläufen, die
keine besondere Aufstiegs- oder Abstiegsdynamik enthalten. Dabei wird deutlich, wie
sozialstrukturelle Biografiemuster in eine soziale und kulturelle Kapitalausstattung eingebunden sind, die die Reproduktion sozialstruktureller Effekte sicherstellt.
Ausgehend von der empirischen Leitfrage
dieses Beitrags nach den Strukturen innereuropäischer Mobilität lassen sich nach unseren Analysen europäische Wanderungsbiografien in fünf verschiedene Typen unterteilen. Dies ist, für sich genommen, ein wichtiges Ergebnis: Transnationale Mobilität innerhalb der Europäischen Union ist ein facettenreiches empirisches Phänomen und
wird in verschiedensten sozialen Schichten
realisiert.
Der Typus europäische Elitenmobilität ist
durch das Ausüben von Tätigkeiten im leitenden Management, eine Ausstattung mit
elitärem Bildungskapital als unmittelbarer
Voraussetzung für die eingeschlagene Berufskarriere sowie durch eindeutig karrierebezogene Gründe für innereuropäische Wanderungen gekennzeichnet. Das soziale Kapital ist nicht national oder regional gebunden,
sondern global organisiert. Es dominieren institutionalisierte Netzwerke, die deutlicher
als bei den anderen untersuchten Gruppen
beruflich kapitalisiert werden.
In den Mittelschichten ergibt sich ein differenziertes Bild im Hinblick auf die Chancen und Risiken europäischer Biografien.
Der Typus obere europäische Mittelschichtsbiografie ist gekennzeichnet durch das Ausüben von hoch qualifizierten Tätigkeiten (bei
standardisierten Berufsverläufen, häufig verbunden mit Leitungsfunktionen) sowie durch
eine Ausstattung mit hohem Bildungskapital
und hohem inkorporiertem kulturellem Kapital, besonders in Form von umfassenden
Fremdsprachenkenntnissen. Das soziale Kapital der oberen europäischen Mittelschicht
ist nicht regional oder national gebunden,
sondern europäisch und multikulturell organisiert. Dabei ist es relativ stark auf die Bundesrepublik als den Ort primärer sozialer
Netzwerke bezogen und funktional für die
Integration in den Arbeitsmarkt. Im Hinblick
auf die Gründe innereuropäischer Wanderungen sind sowohl berufliche und soziale
Argumente, aber auch institutionelle Gründe
zu finden. Der Typus europäische Mittelschichtsbiografie lässt sich durch das Ausüben von Tätigkeiten charakterisieren, für
die mittlere oder hohe Qualifikationen nötig
sind. Die Berufsverläufe sind teilweise standardisiert, häufig aber auch unstandardisiert.
Sie enthalten Leerzeiten, oft kurze, befristete
Anstellungen auf Honorarbasis. Als kulturelles Kapital weisen diese Europäer mehrheitlich ein hohes Ausbildungskapital und
ein mittleres inkorporiertes kulturelles Kapital auf. Ihr Ausbildungskapital können sie
auf dem deutschen Arbeitsmarkt selten verwerten. Der Wechsel in die Bundesrepublik
geht mit erhöhten Abstiegsrisiken einher.
Das soziale Kapital ist eher niedrig, jedenfalls nicht ohne weiteres für berufliche
Zwecke mobilisierbar. Hauptsächlich handelt es sich um herkunftsbezogene Netzwerke. Bei den Wanderungsgründen lassen sich
verschiedene Motive ausmachen. Soziale
Motive (zur Familiengründung) treten besonders häufig auf. Bei Europäern mit einer
unteren Mittelschichtsbiografie sind unstandardisierte Berufsverläufe mit häufig wechselnden Tätigkeiten, gemischt mit Arbeitslosigkeitsphasen sowie eine Häufung von
schlecht entlohnten Anstellungen typisch.
Das institutionalisierte kulturelle Kapital in
Form von Ausbildungstiteln ist heterogen
verteilt. In einigen Fällen, in denen es höher
ist, wird es auf dem deutschen Arbeitsmarkt
nicht nachgefragt. Das inkorporierte kulturelle Kapital ist bei allen Befragten im Gegensatz zum Ausbildungskapital stärker ausgeprägt, was sich beispielsweise in guten
Deutschkenntnissen äußert. Das soziale Kapital ist relativ hoch und erhält eine kompensatorische Funktion bei der Bewältigung der
instabilen Berufsverläufe. Dabei bleiben die
Netzwerke mehrheitlich herkunftsorientiert.
Die Wanderungsgründe sind vor allem sozialen Ursprungs; bindendes Element sind
Partnerschaften.
109
R. Verwiebe/M. C. Müller: Gelungene Integration in den Arbeitsmarkt?
110
Bei Europäern mit einer Unterschichtsbiografie herrschen vollkommen unstandardisierte Berufsverläufe vor, verbunden mit
gering entlohnten, befristeten Jobs sowie
schlechten Arbeitsbedingungen. Die ausgeübten Tätigkeiten haben bei diesem Typus so
gut wie keine integrative Funktion. Das kulturelle Kapital bleibt auf allen Ebenen niedrig. Es entsteht kaum transnationales kulturelles Kapital. Seinen Ausdruck findet dieser
Umstand in den schlechten Deutschkenntnissen der Befragten trotz mehrjährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik. Auch das Ausbildungskapital ist sehr gering. Das soziale
Kapital besteht lediglich aus herkunftsorientierten Netzwerken. Es ist insgesamt schwach
ausgeprägt und kann nicht unterstützend abgerufen werden. Die Wanderungsgründe sind
individualistisch und durch mangelnde Lebensperspektiven in der Herkunftsgesellschaft
hervorgerufen.
Kann auf der Grundlage dieser generellen
Befunde die weitergehende These postuliert
werden, dass innereuropäische Wanderungen
aufgrund der wirtschaftlichen, institutionellen und politischen Rahmenbedingungen in
der EU besondere Formen von Biografien
hervorbringen? Prinzipiell muss diese Frage
auch mit anderen Studien weiter verfolgt
werden. Die vorliegenden Ergebnisse berechtigen jedoch zu der Annahme, dass die
EU tatsächlich auf dem Weg ist, einen eigenen Migrationsraum zu schaffen. Zunächst
ist hier anzumerken, dass die Mehrheit der
untersuchten EU-Bürger von der Niederlassungsfreiheit profitiert, insbesondere von der
wechselseitigen Anerkennung von Berufsabschlüssen. Möglicherweise ist es in diesem
Kontext auch kein Zufall, dass die polnischen Befragten, die aufgrund ihrer nationalen Herkunft nicht über diese Privilegien
verfügen, in der Regel sozial und ökonomisch risikoreichere Migrationsbiografien
aufweisen als die anderen Befragten. Dass
ein wesentliches Moment der europäischen
Integration eine Grenzziehung nach Außen
ist (Mau 2004), wurde in der soziologischen
Europaforschung im Übrigen auch an anderer Stelle herausgearbeitet. Zusätzlich zeigt
sich in den Mittelschichten die Relevanz
kulturell motivierter und von durch die Institutionen der EU geförderter Migration.
Diese kulturell-institutionellen Wanderungsgründe sind sinnvoll im Kontext der besonderen Situation eng verknüpfter, am europäischen Integrationsprozess beteiligter EUStaaten zu interpretieren.
Ferner kann die empirisch beobachtbare
Vielschichtigkeit von europäischen Mittelschichtsbiografien zur Unterstützung dieser
These hinzugezogen werden. Die Ausdifferenzierung in den Mittelschichten kann einerseits als ein Beleg für den Wandel von
Wanderungspopulationen in Europa und als
Indiz für die Relevanz der gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen in Europa verstanden
werden. Andererseits ist sie als Ergänzung
des soziologischen Verständnisses aktueller
Wanderungsbewegungen zu sehen. Denn für
die soziologische Betrachtung innereuropäischer Mobilitätsprozesse scheint die Dualität
der „klassischen“ und neueren Migrationsansätze (Unterschichtswanderung vs. Elitenwanderung) nicht mehr auszureichen. Auch
bei der innereuropäischen Mobilität in der
Unterschicht handelt es sich vermutlich um
einen neuen Typus innereuropäischer Wanderungen. Die Biografien dieser Gruppe erinnern nur noch partiell an die Muster der
klassischen Arbeitsmigration und sind besonders stark von biografischen Risiken und Entstandardisierungstendenzen betroffen. Auch
das Wissen über diesen Typus innereuropäischer Mobilität kann als Erweiterung der
Betrachtung von aktuellen Migrationsbewegungen und als möglicher Beleg der These
eines besonderen, im Kontext der europäischen Integration stehenden Mobilitätsraumes verstanden werden.
Ein etwas detaillierterer Blick auf die
Biografien der untersuchten transnational
mobilen europäischen Männer und Frauen
offenbart, dass deren biografische Formen
insgesamt vielfältiger sind als die der Generation ihrer Väter und Mütter. Wahrscheinlich sind sie auch stärker entstandardisiert,
als das für (Berufs-)Biografien von Menschen gilt, die nur auf regionale oder nationale Arbeitsmärkte orientiert sind. Transnational mobile Europäer sind nach den vorliegenden Ergebnissen jedoch nicht in besonderer Weise von Normalarbeitsverhältnissen
oder attraktiven Positionen auf dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen, weder in der Bundes-
Berl.J.Soziol., Heft 1 2006 S. 95-114
republik noch in anderen europäischen Ländern. Der Wechsel in die Bundesrepublik ist
in europäischen Berufsbiografien eine besondere biografische Phase und hat mindestens eine doppelte Funktion. Zum einen gehen damit Risiken von Entstandardisierungen und Abstiegen einher. Zum anderen ergeben sich dabei für einige auch berufliche
Chancen. Für eine Reihe von Europäern
scheint der Länderwechsel keine besonderen
positiven oder negativen Folgen nach sich zu
ziehen. Neben den individuellen beruflichen
Präferenzen und Suchstrategien ist für die
(Berufs-)Biografie eines Europäers die Fähigkeit entscheidend, kulturelles und soziales
Kapital optimal zu mobilisieren. Dabei spielt
der konkrete Berufsabschluss eine wichtige
Rolle. Juristen haben z.B. risikoärmere europäische Berufsbiografien als Geisteswissenschaftler, was die obere europäische Mittelschicht von den anderen Mittelschichtstypen
mit ähnlich hohen Bildungsabschlüssen abgrenzt. Genauso wichtig ist das soziale Kapital, welches beruflich mobilisiert werden
kann. Rein herkunftsbezogene Netzwerke
sind dabei weniger hilfreich als multikulturelle oder europäische bzw. globale Netzwerke. Insgesamt erscheinen Biografien, die
innerhalb des europäischen Wanderungsraumes realisiert werden, nach unseren Ergebnissen in ihren Strukturen nationalen
Biografieverläufen in westlichen Gesellschaften vergleichbar zu sein. Dies ist insofern nicht überraschend, da die europäischen
Sozialstrukturen ähnlich verfasst und durch
gleichlaufende Wirkungsprinzipien gekennzeichnet sind. Wenn eine emergente europäische Sozialstruktur nicht nur aus der Summe
nationaler Sozialstrukturen besteht, dann
kann mit diesem Beitrag angedeutet werden,
welche transnationalen Mechanismen in einer solchen europäischen Sozialstruktur wirken können.
Anmerkungen
1 Der Beitrag basiert auf Daten der „Berliner
Studie zur transnationalen Mobilität von Europäern“ (BSTME), welche von 01/200108/2004 am Institut für Sozialwissenschaften
2
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der Humboldt-Universität zu Berlin (Leitung
Klaus Eder, Förderung der DFG bis 12/2002)
durchgeführt wurde. Die Autoren danken Johannes Giesecke, Nana Seidel und den Gutachtern dieser Zeitschrift für die kritische
Kommentierung einer Vorfassung dieses Beitrags.
Transnationale Mobilität ist bisher kein weit
verbreitetes Konzept in der Forschung. Erst
seit kurzem wird es von einigen Autoren an
der Schnittstelle zwischen Arbeitsmarkt- und
Migrationsforschung genutzt. Jordan und Düvell (2002) konzeptualisieren beispielsweise
Migration als transnationale Arbeitsmarktmobilität. Fassmann (2003) wiederum versteht
transnationale Mobilität als eine spezifische
Form innereuropäischer Migration.
Polen ist erst seit Mai 2004 EU-Mitglied. Zugleich sind Polen und Deutschland durch
Wanderungsströme über einen langen Zeitraum verbunden, der bis zur Einwanderung
polnischer Arbeiter in das Ruhrgebiet zurückreicht. Überdies ist die Situation von Polen in
Deutschland durch die Grenznähe und die gegebenen Pendel- und Rückkehrmöglichkeiten
nicht ohne weiteres mit „klassischer“ Einwanderung vergleichbar. Es handelt sich eher um
einen Fall „neuartiger“ transnationaler Gesellschaftserfahrung, wie bei Eder/Schmidtke/
Rauer (2004: 152) argumentiert wird.
Grundlage der Befragung war nicht das weitverbreitete Schneeballverfahren, sondern eine
Gruppe von ca. 200 Personen, die per Zufallsauswahl über das Landeseinwohneramt Berlin
ermittelt und schriftlich kontaktiert wurden.
Auf der Grundlage von theoretical sampling
(Lamnek 1995) und vorhandener Interviewbereitschaft wurden schließlich 30 Interviewpartner ausgewählt. Den Untersuchungspersonen
war freigestellt, die Interviews in ihrer Muttersprache oder auf Deutsch zu führen. Alle Angaben zu Personen, Firmen oder anderen Einrichtungen, aus denen Rückschlüsse auf die
Interviewten zu ziehen wären, wurden für diesen Beitrag anonymisiert.
Dieser Beitrag ist als zusammenfassende, systematisierende Analyse des empirischen Materials zu verstehen. Eine detailliertere Auswertung einzelner Biografien wurde an anderer
Stelle vorgenommen (Verwiebe 2006b).
So wird beispielsweise die seinerzeit aktuelle
Debatte um die Aufnahme der Türkei in die
EU von einem der Interviewten auf nahezu
„staatsmännische“ Weise einbezogen: „Ich
verstehe Giscards Position, weil, offen gesagt,
die Türkei in Europa hat zur Folge, dass man
sich viele Fragen stellt“ (I1: 462f.). Verschie-
111
R. Verwiebe/M. C. Müller: Gelungene Integration in den Arbeitsmarkt?
112
dene europäische Gesellschaftssysteme werden innerhalb der eigenen berufsbiografischen
Erzählung gegeneinander abgegrenzt. Die erkennbaren habituellen Muster einer europäischen Elite sind damit geprägt von einem Sinn
für Distinktion (Bourdieu 1982): „Die Franzosen sind polychron. Die Mediterraner im Allgemeinen machen mehrere Sachen in der selben Zeit und drehen in Rotation zu dem Problem, welches ihnen aktuell erscheint. (...)
Während die Deutschen und die (…) Amerikaner synchroner sind: Sie machen eine Sache
auf ein Mal. Wenn man eine Versammlung
abhält, gibt es eine Tagesordnung. Was nicht
auf der Tagesordnung steht, wird nicht behandelt“ (I1: 188ff.).
7 Betrachtet man die bekannten Modellannahmen
der Literatur, so sprechen die vorliegenden Charakterisierungen der Netzwerkintegration dieses
Typus sowohl für klassische Migrations- als
auch für neuere Modellannahmen. Für ersteres
(Seifert 2000; Treibel 2003) spricht, dass für einige Befragte soziale Beziehungen in die Heimat an Bedeutung verlieren und eine soziale
Integration primär im Ankunftsland gesucht
wird (I4; I8). Ein anderer Befragter ist hauptsächlich in transnationale Netzwerke integriert,
die stark ökonomischen Charakter besitzen
(Granovetter 1990; Goldring 1996), aber auch
soziale, politische und kulturelle Komponenten
enthalten (Faist 2000).
8 Der Grund dafür könnte in der überwiegend
geisteswissenschaftlichen Ausrichtung der
Hochschulabschlüsse liegen. Die Ökonomin
und Ingenieurin, beides eigentlich nachgefragte Qualifikationen auf dem deutschen Arbeitsmarkt, kommen aus Polen. Ihre Bildungsabschlüsse werden in der Bundesrepublik faktisch nicht anerkannt.
9 Typisch ist die Aussage einer freischaffenden
Künstlerin: „verdienen kann man nicht so
richtig sagen. Ich glaube es war auch so in der
Zeit 1990 als Glasgow europäische Hauptstadt
war. (...) Da war viel Geld für Kunstprojekte
alles möglich, Kulturprojekte. Und ich hab’
dann selber einige Projekte initiiert und auch
mit Anderen zusammengearbeitet, überhaupt
Projekte gemacht, wo wir was für das Projekt
bekommen haben. Aber selber haben wir von
Arbeitslosengeld gelebt“ (I21: 28).
10 Die Betrachtung der Sprachkenntnisse aller
befragten Personen zeigt interessanterweise,
dass die europäischen Mittelschichten über die
höchsten nicht-muttersprachlichen Sprachkenntnisse verfügen. Am oberen und unteren
Ende der sozialen Skala sind diese, aus unterschiedlichen Gründen, geringer ausgeprägt.
11 Unterstützt wird diese These durch folgendes
Zitat: „Ich brauche Menschen, die ähnlich
denken wie ich auch. Und das findet man
schwieriger in ganz kleinen Orten in Nordschottland, irgendwie, als erstmal hier in Berlin. London hat mich ausgepowert, sehr
schnell, fand ich sogar zu schnell, unübersichtlich und auch ziemlich anonym und kalt
auch“ (I25: 581).
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