Forensische Psychiatrie für Juristinnen und Juristen Einführung Basel, 27. Februar 2013 Dr. med. Marc Graf Forensisch Psychiatrische Klinik Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel Vorlesungsprogramm • • • • • • • • • • • • • • 27. Februar 6. März 13. März 20. März 27. März 3. April 10. April 17. April 24. April 1. Mai 8. Mai 15. Mai 22. Mai 29. Mai Einführung in das Thema und Geschichte der Forensischen Psychiatrie Psychiatrische Diagnostik und Störungsbilder Persönlichkeitsstörungen, Dissozialität und Aggression Psychotrope Substanzen (Alkohol, Drogen, Medikamente etc.) Grundlagen der forensisch psychiatrischen Begutachtung + Schuldfähigkeit Prognose, Risikobeurteilung Sexualstraftäter strafrechtliche Massnahmen, forensische Therapie (Möglichkeiten und Grenzen) deliktorientierte Psychotherapie vorlesungsfrei operative Fallanalyse und Begutachtung der Glaubhaftigkeit zivilrechtliche und verkehrspsychiatrische Begutachtung Repetitorium Prüfung • • 26. Juni 21. Mai Nachprüfung (UPK Basel, Treffpunkt Porte UPK, Wilhelm Klein-Str. 27) Dienstag, 1815-1945, Besichtigung FPK für Interessierte, Treffpunkt Campus UPK vor Gebäude R 1 Download der Scripts • • • http://www.ius.unibas.ch/ Einloggen via unibas e-mail account Downloads > Dr. Marc Graf Vorgeschlagene Bücher • • • • • • • • • Norbert Nedopil: Forensische Psychiatrie Venzlaff/Foerster: Psychiatrische Begutachtung Robert J. Stoller: Perversion Wolfgang Gaebel und Franz Müller-Spahn: Diagnostik und Therapie psychischer Störungen Hans-Dieter Schwind: Kriminologie Peter Fiedler: Integrative Therapie der Persönlichkeitsstörung Peter Fiedler: Sexuelle Orientierung und sexuelle Abweichung Willi Wottreng: Hirnriss (Zur Geschichte der Zürcher Zwangspsychiatrie) Basler Kommentar zum Strafrecht Band 1 2 Berufsgeheimnis Art. 321 StGB 1. Geistliche, Rechtsanwälte, Verteidiger, Notare, nach Obligationenrecht zur Verschwiegenheit verpflichtete Revisoren, Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Hebammen sowie ihre Hilfspersonen, die ein Geheimnis offenbaren, das ihnen infolge ihres Berufes anvertraut worden ist, oder das sie in dessen Ausübung wahrgenommen haben, werden, auf Antrag, mit Gefängnis oder Busse bestraft. Ebenso werden Studierende bestraft, die ein Geheimnis offenbaren, das sie bei ihrem Studium wahrnehmen. Die Verletzung des Berufsgeheimnisses ist auch nach Beendigung der Berufsausübung oder der Studien strafbar. 2. Der Täter ist nicht strafbar, wenn er das Geheimnis auf Grund einer Einwilligung des Berechtigten oder einer auf Gesuch des Täters erteilten schriftlichen Bewilligung oder der vorgesetzten Behörde oder Aufsichtsbehörde offenbart hat. 3. Vorbehalten bleiben die eidgenössischen und kantonalen Bestimmungen über die Zeugnispflicht und über die Auskunftspflicht gegenüber einer Behörde. Vorbemerkungen • Verantwortungsvoller Umgang mit Informationen • • • offener, toleranter Diskurs, aktive Teilnahme Fragenbeantwortung in der Pause und nach der Vorlesung Bei jedwelchen Schwierigkeiten infolge der Vorlesung: Persönlicher Kontakt jederzeit möglich Unterstützung bei wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema – (Berufliche Verschwiegenheitspflicht gilt auch für Studenten) • 3 Definition «Psychiatrie» • Bezeichnung synonym zu «Seelenheilkunde» 1803 von Johann Christian Reil (Halle) • medizinische Disziplin • Mehrdimensionale Diagnostik, Therapie, Rehabilitation und Prävention psychischer Störungen • Vernetzte Institutionen, multiprofessioneller und integrativer Ansatz Psychische Störung • Erhebliche Abweichung von der Norm im Erleben und/oder Verhalten, betreffend die Bereiche des Denkens, Fühlens und Handelns • Problematisch: Voraussetzung des subjektiven Leidensdruckes • Psychische Störung ≠ Psychische Erkrankung WHO: Stigmatisierung 4 Geschichte der Psychiatrie I • Hippokrates 460-377 v. Chr. – – – – Begründer der Medizin als Erfahrungswissenschaft Melancholie bei Überwiegen der schwarzen Galle Hysterie als Folge einer Uteruserkrankung Hippokratischer Eid • Aretaios 1. Jh. n. Chr. – Senile Demenz • Mittelalter – Religiös-magische Krankheitsauffassung – Krankheit als Strafe Gottes – Ausgrenzung, Verfolgung Geschichte der Psychiatrie II • Renaissance ca. 1350 bis 16. Jh. – «Irrenabteilungen» in Allgemeinspitälern Wiener «Narrenturm», erbaut 1783 5 Geschichte der Psychiatrie III • Paracelsus 1491 - 1541 – In Basel Medizin studiert, 15271528 Lehrberechtigung Uni Basel – Geisteskrankheiten als natürliche Krankheiten verstanden – «Dosis (sola) facit venenum» Geschichte der Psychiatrie IV • Aufklärung 18. Jahrhundert: – John Conolly: «No restraint», «Traitment morale» – Immanuel Kant: Psychiatrie als Teilgebiet der Philosophie – Philippe Pinel: 1793 Befreiung der Geisteskranken von ihren Ketten Bicêtre 1793 6 Geschichte der Psychiatrie V • Moderne: – Emil Kraepelin 1896 «Dementia Praecox» – Sigmund Freud 1900: • Abriss der Psychoanalyse • Die Traumdeutung – – – – Eugen Bleuler 1911 «Schizophrenie» Karl Jaspers 1913 «Allgemeine Psychopathologie» Ivan B. Pawlow 1913 Konzept der bedingten Reflexe 1930 Julius Wagner von Jauregg, Behandlung der progressiven Paralyse mit «therapeutischem Fieber, ausgelöst durch Malariaerreger» – Manfred Sackel insulininduzierter hypoglykämischer Schock – Ugo Carletti 1938 Elektrokrampftherapie Geschichte der Psychiatrie VI • Moderne: – 1950er und 1960er Jahre: Skinner und Eysenck «Verhaltenstherapie» auf Basis der Erkenntnisse von Pawlow – ab 1951 Ära der Psychopharmaka, Chlorpromazin – 1975 «Psychiatrie-Enquête» in Deutschland • • • • PUK Basel von > 600 auf 300 Betten reduziert Schaffung von Ambulanzen Skandal chemisch kastrierter chronisch psychisch kranker Männer In Italien Verbot psychiatrischer Kliniken 7 Psychiatrie im Nationalsozialismus I • • • • • • Benedict Morel 1809-1873 Lenkungsideen Platons («Politeia») im Sinne einer Optimierung des Erbgutes. Degenerations- oder Entartungstheorie. Charles Darwin 1859 Evolutionstheorie «On the origins of species by means of natural selection» Francis Galton 1883 «Eugenik» Wissenschaft von der Verbesserung des Erbgutes Friedrich Nietzsche 1883 Konzeption des «Übermenschen» in «Also sprach Zarathustra» 1905 Gesetz zur «Verhinderung von Schwachsinn und Kriminalität» in den USA 1920 Alfred Hoche und Karl Binding (D) «Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens» (..»leeren Menschenhülsen», «Ballastexistenzen») Psychiatrie im Nationalsozialismus II • • • • • 1933 Gesetz zur «Verhütung erbkranken Nachwuchses» > Zwangssterilisationen, später Tötungen 1930er und 1940er Exodus «nichtarischer» Psychiater und Psychotherapeuten 1.1.1939 bis August 1941 Vernichtungsprogramm «Aktion T4», «Gnadentod», Meldepflicht für Kinder mit schweren Missbildungen (z.B. Mongolismus), Schizophrenie, senile Erkrankungen, insgesamt ca. 70’000 Menschen getötet Ab August 1941 bis 1945 «Wilde Euthanasie» vorwiegend auf Anstaltsebene durch Hungerkost und Todesspritzen Insgesamt mindestens 200’000 Menschen getötet 8 Antipsychiatriebewegung • 20. Jhdt. allgemeine Hypothesen: – Ablehnung der traditionellen Schulpsychiatrie – Leugnen oder idealisieren psychischen Krankseins – Ablehnung des wissenschaftlichen Diskurses – Forderung nach mehr staatlicher Kontrolle – Ablehnung der staatlichen Psychiatrie – «Schuld» für psychische Störungen bei Familie («schizophrenogene Mutter»), Gesellschaft und Psychiater Antipsychiatriebewegung • Laing 1959: «The divided self» • • • Szasz 1961: «The myth of mental illness» Goffman 1961: «Asylums: Essays on the social situation of mental patients and other inmates» Szasz und Laing: «Labeling-Theorie» • Basaglia 1971: «La maggioranza deviante» – Schizophrenie = Folge unerträglicher äusserer Bedingungen – Etikett Schizophrenie = ideologisches Produkt des Kapitalismus – Schliessung psychiatrischer Krankenhäuser in Italien, gemeindepsychiatrische Betreuung • Van Praag 1978: «The scientific foundation of antipsychiatry» • http://www.youtube.com/watch?v=ilmmn4Ev_-U 9 Das menschliche Gehirn • • • • • ca. 100 Milliarden Neuronen (Milchstrasse dito Sterne) ca. 100 Billionen Synapsen ca. 2 Petabyte (1015) Speicher verbraucht ca. 20% des Sauerstoffs und > 25% der Glukose des Körpers http://www.youtube.com/watch ?v=SwuBk4l4y5E Zellen und Zytoarchitektur • • Neurone = «Nervenzellen» Glia – Astrozyten = Ernährung der Neurone – Oligodendroglia = elektrische Isolation der Axone von Neuronen – Mikroglia = Immunabwehr 10 Funktionsweise der Synapsen I 11 Re-uptake von Transmittern Funktionsweise der Synapsen II Y.Geinisman, L.de Toledo-Morrell, F.Morrell, I.S.Persina, M.Rossi (1992) Structural synaptic plasticity associated with the induction of long-term potentiation is preserved in the dentate gyrus of aged rats. Hippocampus 2, 445-456 12 Untersuchungsmethoden • Psychiatrisch-klinische Untersuchung • Pathologie/Rechtsmedizin • Angiographie (Darstellung der Gefässe) 13 Untersuchungsmethoden • Elektroencephalographie EEG = Hirnstromableitung Stroop-interference EEG controls paedosexuals black line = adult pictures red line = child pictures 14 Kernspintomographie MRI • MRI • fMRI (funktionelle) Aufgaben der forensischen Psychiatrie • • • • • Objektive Beratung von Juristen Beantwortung von Fachfragen, die ausserhalb juristischer Kompetenz liegen Psychiatrisches Fachwissen transparent vermitteln Diagnosen stellen Auf Rechtsbegriffe anwenden 15 Wichtige Arbeitsbereiche der forensischen Psychiatrie • • • • • • • • • Schuldfähigkeit Kriminalprognose und Risikokalkulation Behandlungsbedürftigkeit und Behandlungsfähigkeit Täterprofile und Fallanalysen Therapie von Straftätern Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen Beratung und Behandlung von Verbrechensopfern Zivilrecht Versicherungsrecht Geschichte der forensischen Psychiatrie I • • • • • Whs. früheste Erwähnung eines Gerichtsverfahrens wegen Mordes im altbabylonischen Reich (18. bis 15. Jahrhundert v. Chr.) und dabei erste Expertenaussage einer Hebamme. Im hebräischen Recht (ca. 250 v.Chr.) im alten Testament Erwähnung von «Refugien» zum Schutz solcher, die nicht vorsätzlich töteten > Motiv, Intention Im antiken Griechenland erstmals forensische Experten erwähnt (Einschätzen eines an einem Sklaven entstandenen Schadens). Plato und Aristoteles: «Verhältnismässigkeit von Schuld und Strafe», «moralische Verantwortung» Ptolemäus (2. Jhdt. n.Chr.) erwähnt erstmals «demosios iatros», eine frühe Art Amtsarzt Im römischen Recht trotz Einführung von «adsessores», z.B. Hebammen, Landvermesser, Schriftexperten, keine Verwendung von Ärzten vor Gericht 16 Geschichte der forensischen Psychiatrie II • • • «Lex aquila» 286 v.Chr.: «Wer, ohne Nachlässigkeit oder Boshaftigkeit, aber durch ein Unglück, Schaden verursacht, soll unbestraft bleiben.» «Lex Cornelia» 82 v.Chr.: «Kinder, wegen der Unschuld ihrer Absichten und psychisch Kranke, wegen der Natur ihres Unglücks, sollen von Bestrafung befreit werden.» Mittelalter: Vor allem Kirchenrecht – Ehefähigkeit, Bewilligung von Scheidung? – Empfang von Sakramenten? – Weiterführen des Priesteramtes bei psychischer Störung? – Keine Hinweise, dass forensische Experten beigezogen wurden Geschichte der forensischen Psychiatrie III • • • • England ca. 1256 Henry Bracton: «Tests of legal insanity», «Wild beast test» England 13. Jhdt. «Praerogative Regis»: Unterscheidung zwischen angeborener und erworbener psychischer Störung. Entscheidung ohne Beiziehen von Ärzten. Paolo Zacchia, Leibarzt des Papstes und Berater der «Rota Romana» (oberster Gerichtshof des Vatikans und der katholischen Kirche), 1621: «Dementia, ac similes morbi, passiones cerebri sunt solis medicis notae.» Samuel Pufendorf (Rechtsphilosoph) 17. Jhdt., Zurechnungsfähigkeit (imputatio): – «praelucens intellectus», vorleuchtende Einsicht – «decernas voluntas», unterscheidender Wille 17 Geschichte der forensischen Psychiatrie IV • • Joh. Zacharias Platner 1740: «Programma, quo ostenditur medicos de insanis et furiosi audiendos esse», Konzept, in dem gezeigt wird, dass Ärzte über Geisteskranke und Rasende zu hören sind. 19. Jhdt.: Debatte zwischen Psychikern und Somatikern zu Determinismus und Indeterminismus – • • Umdeutung des falsch verstandenen Perversionsbegriffes von Freud («Sexualität, die evolutionär nicht sinnvoll ist») durch Giese 1962 und Schorsch 1988 ab 1990: Konzentration auf Kriminalprognose: – – – • Johann Heinroth, Psychiker, 1825: «Der Mensch hat es sich jederzeit selber zuzuschreiben, wenn er melancholisch, verrückt, wahnsinnig usw. wird: denn er hat das köstlichste Gut seines Lebens, die Freiheit, im Widerspruche gegen das Gesetz derselben, dessen er sich gar wohl bewusst ist, nicht bewahrt.» Kriterienkatalog (Dittmann) PCL-R (Hare et al.) FOTRES (Urbaniok) ab 2000: Neurobiologische Forschung Hypothesen zur forensischen Psychiatrie • Die Psychiatrische Forschung und Klinik steht da, wo sich die Medizin vor 100 Jahren befand. – 1882 entdeckte Robert Koch das Mycobacterium tuberculosis • Gehirn ungleich komplexer als restlicher Körper • Forensische Psychiatrie als Schnittstelle der Psychowissenschaften zur Rechtsprechung und damit Gesellschaft 18