Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Dr. Karl-Heinz Wellmann Wissenswert Alles wandert – Migration als Prinzip des Lebens (1) Weltall und Kontinente Von Dirk Lorenzen Montag, 18.02.2008, 08.30 Uhr, hr2-kultur WH: Donnerstag, 15.01.2009, 08.30 Uhr, hr2-kultur Zitator: Sprecher: Arne Kapitza Marian Funk 08-028 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Ver-wendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Seite 2 Zitator „Und sie bewegt sich doch!“ Autor: Das soll Galileo Galilei gemurmelt haben, als er 1633 vor der Inquisition in Rom seine Lehren widerrufen musste: „Offiziell“ galt die Erde damals als Mittelpunkt des Universums – unbeweglich im Zentrum thronend, bedeckt von ewig gleichen Kontinenten und Weltmeeren, wie sie im Moment der Schöpfung entstanden waren. Zwar erscheint uns im Alltag die Erde tatsächlich starr und unbewegt. Aber natürlich hatte Galileo recht: Die Erde bewegt sich – und wie! Eine noch ganz offensichtliche Bewegung auf der Erde sind die Gezeiten: Mal steht das Wasser höher an der Küste, mal fällt der Meeresspiegel etwas ab – hervorgerufen durch das Wechselspiel der Kräfte von Erde und Mond. Doch Gezeiten gibt es auch fernab der Küste, erklärt Martin Hensch; er ist Geologe an der Universität Hamburg: O-Ton 1: „Die spielen fürs Festland auch eine Rolle, abgesehen von den küstennahen Gebieten, die natürlich von den Meeresgezeiten beeinflusst werden, hebt sich auch die Erdkruste im Zuge der Gezeiten und das eben mit einer Periode von zwölf Stunden, das heißt, es kehrt etwa zweimal am Tag wieder.“ Autor: Um sage und schreibe 20 bis 30 Zentimeter heben und senken sich ganze Kontinente im Rhythmus der Gezeiten. Diese Bewegung nehmen wir im Alltag nicht wahr: Denn nicht nur etwa die Frankfurter Hochhäuser werden vom Mond 30 Zentimeter angehoben – dem Stadtrand ergeht es genauso; ebenso dem Main und dem Taunus, und Darmstadt, Gießen und Fulda natürlich auch. Weil sich der Kontinent als ganzes hebt und senkt, fällt uns die Veränderung nicht auf. Doch die Kontinente bewegen sich nicht nur nach oben und unten... O-Ton 2: „Zusätzlich kommt die Plattentektonik ins Spiel, wobei die sich in einem Bereich von wenigen Millimetern pro Jahr bewegt. Das ist direkt zunächst nicht feststellbar und äußert sich dann in anderen Dingen wie zum Beispiel Erdbeben und Vulkanismus.“ Seite 3 Autor: Man spricht zwar vom „Festland“, aber unsere Kontinente sind alles andere als fest. Ein Menschenleben reicht nicht aus, die Veränderungen wahrzunehmen. Aber vor vielen Millionen Jahren sah die Verteilung der Landmassen auf der Erde ganz anders aus als heute. Kein Wunder: Denn die Erde ist keineswegs ein ganz fester, starrer Körper wie eine Eisenkugel: Sie ist im Innern kochend heiß – das Gestein ist flüssig, man spricht vom Magma. Auf dem "Magma-Ozean" schwimmen nur ein paar feste Gesteinsschollen. O-Ton 3: „Die Tektonik wird angetrieben durch Konvektionsströme im Erdinneren. Das wird primär hervorgerufen im Erdmantel durch Konvektionsströme im Bereich von einigen Metern pro Sekunde. Die Kruste als solche wird natürlich nur bewegt durch Konvektion im Mantel. Da der Mantel allerdings hochviskos, also annähernd fest ist, bewegt sich im Mantel selbst das Material nur im Bereich von Zentimetern und Dezimetern pro Jahr. Das treibt letztendlich die darauf liegende Erdkruste an. Und die Erdkruste, das heißt die tektonischen Platten, bewegt sich im Bereich von Millimetern und Zentimetern pro Jahr.“ Autor: Was genau die Bewegung der Materieströme im Innern der Erde antreibt, das weiß bis heute niemand. Klar ist nur, dass die zähflüssige Materie im Innern der Erde in Zeitlupe brodelt wie kochendes Wasser auf der Herdplatte: Blasen heißen Gesteins steigen empor, kühlen ab und sinken wieder tief in die Erde hinein. Doch die Details sind unverstanden. Die große Erdkugel unter unseren Füßen birgt noch viele Rätsel. Kein Wunder: Selbst die aufwändigsten Messbohrungen erreichen nicht einmal 20 Kilometer in die Tiefe. Und das bei einer Erdkugel, die fast 13.000 Kilometer Durchmesser hat. Wäre die Erde so groß wie ein Apfel, so hätten die Geophysiker noch nicht einmal die Apfelschale genau untersucht – geschweige denn das Fruchtfleisch oder das Kerngehäuse... Und doch gibt es Wissenschaftler, die mit ungeheurer Intuition das Innere der Erde erforscht haben – und so auch auf Bewegung der Kontinente gestoßen sind. O-Ton 4: „Entdeckt worden oder erstmals beschrieben worden ist das von Alfred Wegener im Jahr 1911. Das ist allerdings von der wissenschaftlichen Fachwelt damals relativ belächelt Seite 4 worden und erst lange nach seinem Tod wieder aufgegriffen und auch anerkannt worden. Wenn man sich das im nach hinein überlegt, ist es relativ logisch, weil einfach an den Plattengrenzen die Plattentektonik sich äußert durch Spannungsabbau durch Erdbeben, durch vulkanische Phänomene und dadurch, dass man mittlerweile auch in der Lage ist, die relativen Verschiebungen der einzelnen Platten zueinander zu messen und auch Geschwindigkeiten zu bestimmen.“ Autor: Hochpräzise astronomische Messungen, bei denen die Forscher Radioteleskope über Kontinente hinweg zusammenschalten, zeigen heute deutlich, dass sich Europa und Amerika Jahr für Jahr um fast zwei Zentimeter voneinander entfernen. Doch Alfred Wegener war damals als Phantast abgetan worden. Dabei hatte er aus einer auffälligen Beobachtung die richtigen Schlüsse gezogen: Die Atlantikküste Südamerikas hat exakt die gleiche Form wie die Atlantikküste Afrikas. Wegener vermutete daher, dass Afrika und Südamerika einst verbunden waren. Doch diesen Schluss konnte er weder belegen noch konnte er angeben, was die Bewegung ganzer Kontinente antreiben könnte. Erst Mitte der 60 Jahre – mehr als 30 Jahre nach Wegeners Tod – haben die Geologen bewiesen, wie die Kontinente in die Gänge kommen. O-Ton 5: „An den mittelozeanischen Rücken steigt heißes Magma auf, erkaltet, bildet dort neue ozeanische Kruste. Die wird auseinander gedrückt und wird irgendwann, wie jetzt zum Beispiel beim Pazifik sichtbar, in so genannten Subduktionszonen, das sind Zonen, in denen die ozeanische Platte abtaucht unter die kontinentale Platte, was sich dann natürlich auch durch Vulkanausbrüche und Erdbeben äußert, wird diese Kruste wieder aufgelöst.“ Autor: Die Erde betreibt ein fast perfektes Recycling: Landmassen oder Ozeanböden quellen empor, sie werden zur Seite geschoben, irgendwann unter einer andere Platte gedrückt; sie werden wieder flüssig und fliegen uns irgendwann als Lava bei einem Vulkanausbruch um die Ohren. Ein solcher „Kreislauf“ dauert aber schon mal 200 Millionen Jahre oder mehr. Seite 5 Was uns als vermeintlich fester Boden unter den Füßen erscheint, ist also eine wie in Superzeitlupe auf einem Magmameer driftende Eisscholle, die sich zweimal am Tag ein ganzes Stück auf und ab bewegt. Aber es kommt noch toller, erklärt Lars Krieger; er ist ebenfalls Geologe an der Universität Hamburg. O-Ton 6: „Die Erde bewegt sich als Ganzes nicht nur durch die Gezeiten, sondern durch eine dynamische Anregung im Inneren, vorzustellen auch als gigantisches Trampolin, auf dem wir uns alle bewegen. Die Ausmaße der Bewegung sind aber noch weit unter denen der normalen Gezeiten. Andererseits ist die Frequenz hier wesentlich höher. Das heißt, die Periode ist nicht ungefähr bei zwölf Stunden, sondern bei einigen wenigen Minuten.“ Autor: Wie eine klingende Glocke schwingt die Erde. Sie wabert geradezu ständig hin und her, wie ein mit Wasser gefüllter Luftballon. Verglichen mit dem Durchmesser der Erde spielen die Vibrationen zwar keine Rolle – aber messbar sind sie dennoch. O-Ton 7: „Die Schwingung wird angeregt durch die fortdauernde Dynamik im Untergrund, wie zum Beispiel Konvektion, aber auch durch starke Erdbeben, deren Signale sich durch das ganze Erdinnere ausbreiten und so auch die oberen Erdschichten zu einer Bewegung veranlassen.“ Autor: Wenn in Indonesien die Erde bebt, laufen diese Wellen durch die gesamte Erde. Eine gute Viertelstunde später zittert die Erde also auch in Mitteleuropa – allerdings viel, viel schwächer im Zentrum des Bebens. So dynamisch die Erde im Innern ist – richtig in Schwung kommt unser Heimatplanet erst bei der Bewegung als ganze Kugel. In Mitteleuropa bewegen wir uns mit ziemlich genau 1000 Kilometern pro Stunde auf diesem Karussell. Am Äquator ist die Erde am dicksten – dort rotiert die Erdoberfläche mit fast 1700 Kilometern pro Stunde. Aber auch das ist kaum der Rede wert gemessen am Tempo, mit dem die Erde um die Sonne fliegt: Das sind im Schnitt knapp 30 Kilometer pro Sekunde (!), also mehr als 100.000 Kilometer pro Stunde. Allerdings ist die Erde nicht immer gleich schnell. Die Erdbahn um die Sonne Seite 6 ist eine Ellipse. Mal ist die Erde etwas näher an der Sonne, mal etwas weiter von ihr entfernt. In Sonnennähe läuft die Erde schneller als in Sonnenferne, denn je näher die Erde der Sonne ist, desto stärker ist die Anziehungskraft der Sonne. Entsprechend muss die Erde etwas schneller laufen, um der solaren Anziehungskraft etwas entgegen zu setzen und auf der eigenen Bahn zu bleiben. O-Ton 8: „Das können wir dadurch wahrnehmen, dass der Sommer auf der Nordhalbkugel länger ist als der Winter. Aus unserer Sicht also nicht gerade nachteilhaft. Die Australier ärgern sich vielleicht darüber." Autor: In unserem Sommer ist die Erde übrigens etwas weiter von der Sonne entfernt als im Winter. Daher ist das Sommerhalbjahr bei uns gut eine Woche länger als das Winterhalbjahr – zählen Sie mal im Kalender nach... Die Bewegung der Erde um die Sonne variiert also etwas im Jahresrhythmus. Doch über Millionen von Jahren scheint sie ziemlich stabil zu sein. Dagegen ist die Drehung der Erde keineswegs immer gleich gewesen. Die Erde ist ein riesiger kosmischer Kreisel. So wie ein Kinderkreisel mit der Zeit ausläuft, wird auch die Erde allmählich langsamer: Schuld ist vor allem die Gezeitenreibung der Ozeane – denn die Flutberge wirken wie gewaltige Bremsbacken, erklärt Lars Krieger. O-Ton 9: „Das hat zur Folge, dass im Laufe der Erdgeschichte die Tageslänge variiert. Das heißt, die Erde brauchte zum Zeitpunkt ihrer Entstehung vor ungefähr 4 Milliarden Jahren 14 Stunden für eine Umdrehung. Das heißt, ein Tag war wesentlich kürzer als heute. Und zum Zeitpunkt, als die Saurier die Erde bevölkerten, war ein Tag immerhin schon 22 Stunden lang. Heutzutage liegt die Zeitdauer bei 24 Stunden, aber im Laufe der weiteren erdgeschichtlichen Entwicklungen wird sich dies weiter verlängern.“ Autor: Die Erde dreht sich immer langsamer. Die irdischen Tage dauern immer länger. Allerdings ist auch dies ein Effekt, der während eines Menschenlebens nicht auffällt. Die Gezeitenreibung hat aber noch eine andere kuriose Folge: Seite 7 O-Ton 10: „Die ganzen Energieumwandlungen, die durch die Gezeitenreibung auftreten, sorgen unter anderem auch dafür, dass der Mond sich auf Dauer weiter von der Erde entfernt. Das bewegt sich im Rahmen von Zentimetern pro Jahr...“ Autor: ... doch künftige Mondastronauten müssen im Schnitt immerhin schon etwa einen Meter weiter reisen als die Kollegen aus Apollo-Zeiten. Denn die Energie, die die Erde aufgrund der Gezeitenreibung verliert, wird auf den Mond übertragen. Der rutscht dadurch immer weiter nach draußen. Zur Zeit der Dinosaurier war der Tag nicht nur einige Stunden kürzer – der Mond war auch viel dichter an der Erde. Die Saurier kamen also in den Genuss viel hellerer Vollmondnächte als wir heutzutage. In einigen Milliarden Jahren wird der Mond fast doppelt so weit von uns entfernt sein wie heute. Doch auch dann wird der Mond sich nicht aus den Fängen der Erdanziehung befreien. Erde und Mond werden auch in ferner Zukunft als kosmisches Doppel um die Sonne rasen. O-Ton 11: „Dazu kommt natürlich noch, dass sich unser Sonnensystem innerhalb der Galaxie bewegt. Die Geschwindigkeiten, die da auftreten, sind jetzt für Leute, die normalerweise mit dem Fahrrad oder sogar einem schnellen Auto unterwegs sind, schwer zu begreifen. Das sind dann nicht so etwas wie mehrere Kilometer pro Stunde, sondern das sind schon im Bereich von Hunderten von Kilometern pro Sekunde, die die Sonne auf dem Weg um das Zentrum der Galaxie zurücklegt.“ Autor: Mit mehr als 200 Kilometern pro Sekunde kreisen Sonne und Planeten um das Zentrum der Milchstraße. Etwa 250 Millionen Jahre dauert eine volle Runde um unsere Heimatgalaxie. Als die Sonne zuletzt da stand, wo sie heute steht, waren Südamerika und Afrika noch ein Kontinent, über den die Saurier trampelten. O-Ton 12: „Die Galaxis steht natürlich auch nicht still. Aber irgendwann wird es dann auch etwas schwierig, sich einen Fixpunkt zu suchen. Man sagt ja immer so schön, das Weltall ist Seite 8 groß und wir bewegen uns darin. Im Bezug auf was? Muss man immer dazu sagen. Das wird dann bei diesen Größenverhältnissen etwas schwierig.“ Autor: Die Bewegung der Milchstraße um das Zentrum des nächstgelegenen Galaxienhaufens lässt sich noch halbwegs messen: Mit mehr als 500 Kilometern pro Sekunde fliegt unsere Milchstraße um den Virgo-Haufen – gut 60 Millionen Lichtjahre entfernt. Und der Virgo-Haufen? Richtig! Zitator: „Panta rhei“ – alles fließt. Autor: Das wussten schon die alten Griechen. Für die Astronomen steht seit kurzem buchstäblich nichts mehr still, stöhnt Andreas Tammann von der Universität Basel, einer der führenden Kosmologen unserer Zeit: O-Ton 13: "Man kann schon sagen, dass sich die Kosmologie seit einigen Jahren sehr grundlegend geändert hat. Man ist auf etwas ganz Geheimnisvolles gestoßen, auf die so genannte Kosmologische Konstante. Sie beschleunigt im expandierenden Universum die Expansion. Es scheint, dass unser Universum immer schneller expandiert. Gegen alle Erwartungen, denn an sich müsste die Masse im Universum bremsen. Aber statt dessen sehen wir, es geht schneller und schneller und das ist diese Kosmologische Konstante." Autor: Andere Forscher sprechen von der Dunklen Energie. Doch egal welcher Name, das Resultat ist das gleiche: Eine geheimnisvolle Kraft treibt den Kosmos immer schneller auseinander. Die vom Urknall in Gang gesetzte Ausdehnung des Universums wird immer schneller. Da kommt für unsere Erde ganz schön was zusammen: Die Erdplatten bewegen sich. Zudem heben und senken sie sich im Rhythmus der Gezeiten. Dann dreht sich die Erde, während sie um die Sonne läuft. Die Sonne wiederum kreist um das Zentrum der Milchstraße und hat die Erde im Schlepptau. Die Milchstraße kreist um andere Galaxien, Seite 9 die wiederum um noch größere Ansammlungen von Galaxien laufen. Und so weiter. Haben Sie die 14 Minuten dieser Sendung irgendwo an einem festen Ort auf einem Stuhl verbracht? Auf einem Stuhl vielleicht... Aber in diesen 14 Minuten haben Sie eine Strecke von gut 700.000 Kilometern zurückgelegt. Zitator „Und Sie bewegen sich doch!“ Autor: Auch wenn Sie es nicht merken.