Otto Benkert · Martin Hautzinger · Mechthild Graf-Morgenstern Psychopharmakologischer Leitfaden für Psychologen und Psychotherapeuten Unter Mitarbeit von P. Heiser und E. Schulz für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und C. Hiemke für Arzneimittelinformationen und -interaktionen Otto Benkert Martin Hautzinger Mechthild Graf-Morgenstern Psychopharmakologischer Leitfaden für Psychologen und Psychotherapeuten Unter Mitarbeit von P. Heiser und E. Schulz für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und C. Hiemke für Arzneimittelinformationen und -interaktionen Mit Checkfragen und Antworten für Studierende 1 23 1 2 3 4 5 6 7 8 Prof. Dr. med. Otto Benkert Prof. Dr. rer. nat. Christoph Hiemke Ehemals: Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universität Mainz Untere Zahlbacher Straße 8 55131 Mainz www.ottobenkert.de Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universität Mainz Untere Zahlbacher Straße 8 55131 Mainz Priv.-Doz. Dr. med. Philip Heiser Prof. Dr. med. Eberhard Schulz Prof. Dr. Dipl.-Psych. Martin Hautzinger Abt. für Klinische Psychologie und Entwicklungspsychologie Universität Tübingen Christophstraße 2 72072 Tübingen Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychosomatik Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter Universitätsklinikum Freiburg Hauptstraße 8, 79104 Freiburg Dr. med. Dipl.-Psych. Mechthild Graf-Morgenstern Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Untere Zahlbacher Straße 8 55131 Mainz 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 ISBN-13 978-3-540-47957-4 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2008 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literarturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Renate Scheddin Projektmanagement: Renate Schulz Lektorat: Dr. Astrid Horlacher, Dielheim Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin Satz: medionet Prepress Services Ltd. SPIN: 11677833 Gedruckt auf säurefreiem Papier 2126 – 5 4 3 2 1 0 V Vorwort Dieser Leitfaden ist aus der Idee heraus entstanden, Psychologen und Psychotherapeuten einen kompakten und aktuellen Überblick über das psychopharmakologische Wissen anzubieten. Die Darstellung ist etwas ausführlicher, als es für das Wissen im täglichen Umgang mit psychisch kranken Menschen für Psychologen und Psychotherapeuten notwendig ist, dafür kann der Leitfaden aber auch als psychopharmakologisches Nachschlagewerk genutzt werden. Die Autoren sind davon ausgegangen, dass bei dem Wunsch nach einer noch tieferen Kenntnis der Psychopharmakologie auf vorhandene Werke zu diesen Themen zurückgegriffen wird, etwa bei der Notwendigkeit, Details über Einzelpräparate oder Arzneimittelsicherheit zu erfahren (Benkert u. Hippius 2007) oder bei dem Wunsch, sich in die Grundlagenforschung und die Literatur zur Psychopharmakologie einzuarbeiten (Holsboer et al. 2008). Der Kern des psychopharmakologischen Wissens wird in Checkfragen und -antworten für den (Kinder- und Jugend-)Psychotherapeuten und Psychologen zusammengefasst. Die Antworten befinden sich am Ende des Buches. Ihnen wird auch in den »Grundlagen« ein ausführlicher Überblick über das in der Prüfungsordnung für psychologische Psychotherapeuten geforderte Grundlagenwissen über Arzneimittel und den Umgang mit Arzneimitteln bei psychisch kranken Patienten angeboten. In der Sektion »Präparate« werden die einzelnen Psychopharmakagruppen wirkstoffspezifisch besprochen. Danach wird die Pharmakopsychiatrie von den Diagnosen geleitet und ist ab dann störungsspezifisch. Der Leitfaden schließt mit speziellen Aspekten zur Pharmakopsychiatrie. Dieses Ordnungsprinzip erlaubt dem Leser zwei verschiedene Einstiege in die psychiatrische Pharmakotherapie: entweder über die Psychopharmakagruppen, mit deren Wirkungsweise und möglicher Indikation bei den entsprechenden Diagnosen (7 Kap. 5–14) oder über die Krankheitsbilder entsprechend den ICD-10-Diagnosen (7 Kap. 15–33). Ohne Psychopharmaka ist eine optimale Therapie bei den meisten psychischen Erkrankungen nicht mehr vorstellbar, genauso wie eine Behandlung ohne Psychotherapie in der Psychiatrie heute nicht mehr zeitgemäß ist (7 Kap. 4). Über den Synergieeffekt beider Therapieformen ist sich die Fachwelt weitgehend einig. Für jedes Krankheitsbild werden jeweils die durch Studien belegbaren besten Möglichkeiten für die Pharmakotherapie, die Psychotherapie oder die Kombination beider beschrieben. Dieses Wissen übersichtlich darzustellen, ist den Autoren deswegen so wichtig, weil die Ergebnisse aus Studien für viele Therapien keineswegs eindeutig das Pro oder Contra einer Methode belegen. So ist etwa das psychotherapeutische Vorgehen bei chronisch depressiven Störungen noch nicht befriedigend evaluiert; ebenso wenig sind die immer neuen Therapievorschläge mit weiteren Antidepressiva bei der therapieresistenten Depression empirisch abgesichert. Die Darstellung des psychopharmakologischen klinischen Wissens geht mit dem Wunsch der Autoren einher, immer auch die Bedeutung einer Psychotherapie oder einer Kombinationstherapie herauszustellen. Diese Strategie nimmt in dem Leitfaden einen breiten Raum ein. Soweit Studien zu diesem Thema in den klinischen Alltag Einlass gefunden haben, werden sie zitiert und entsprechend ihrer Wichtigkeit diskutiert. Basis unserer Empfehlungen sind die wissenschaftliche Literatur und die klinische Erfahrung der Autoren, nicht aber allein die Zulassung eines Präparates oder die Zulassung einer Psychotherapiemethode oder aber die Zusammenfassung von evidenzbasierten Studien. Sehr ausführlich werden die angebotenen Therapiemöglichkeiten bewertet. Bewährte Therapien werden bewusst empfohlen, von anderen wird abgeraten. Jedes Kapitel endet mit einem Beitrag aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. So kann schnell erkannt werden, wo mögliche Unterschiede im therapeutischen Vorgehen bestehen. Störungen, die nur im Kindes- oder Jugendalter auftreten, werden in einem ergänzenden Kapitel beschrieben (7 Kap. 33). VI Vorwort 19 Die Kapitel sind unterschiedlich lang. Ausführlicher werden jene psychischen Krankheiten und deren Therapien beschrieben, mit denen es der Psychotherapeut bzw. Psychologe auch am häufigsten zu tun hat, z. B. die depressiven Störungen oder die Angststörungen. Durch diesen Leitfaden erhoffen sich die Autoren über die Anwendung des aktuellen Wissens hinaus auch einen Beitrag zur noch besseren Kommunikation zwischen Ärzten, Psychotherapeuten, Psychologen und Psychopharmakologen. Das würde dem Ziel dieses Leitfadens näherkommen, psychisch kranken Patienten die optimale Therapie anzubieten, damit die bestmögliche Lebensqualität erreicht werden kann. Die intensive Grundlagenforschung und die klinische Forschung in dem Fachgebiet der psychiatrischen Pharmakotherapie haben der Therapie psychischer Störungen völlig neue Perspektiven eröffnet. Die Entwicklung der modernen Psychopharmaka gehört mit zu den großen Fortschritten der Medizin der letzten 50 Jahre. Wir sind heute in der Lage vielen Patienten mit einer Depression, einer Angststörung oder einer Schizophrenie durch die Verordnung des richtigen Psychopharmakons und der Auswahl der adäquaten Psychotherapie eine hohe Lebensqualität zu garantieren. Auf einer solchen Basis können auch sozialpsychiatrische Maßnahmen gut eingesetzt werden. Dieser Gewinn für die Patienten wird in der Öffentlichkeit nicht ausreichend gewürdigt. Auch in diesem Leitfaden werden oft die kritischen Befunde der neuesten Forschung bewusst in den Vordergrund gerückt, um dem Therapeuten einen Einblick in den langen Weg bis zur klinischen Etablierung eines Therapieverfahrens zu geben. Dieser methodenkritische Ansatz darf aber in keinem Fall über die vielen Chancen, die sich durch die Psychopharmakotherapie für den einzelnen Patienten schon heute eröffnet haben, hinwegtäuschen. Allerdings sind viele psychische Krankheiten sehr behandlungsresistent gegen neue Wirkansätze potentieller Psychopharmaka und auch die vorhandenen Medikamente stellen den Forscher oder den Kliniker längst nicht zufrieden. Solange nicht die neurobiologischen Systeme, die den einzelnen Krankheiten zu Grunde liegen, identifiziert sind, wird es kein optimales Psychopharmakon für eine bestimmte Störung geben. Wir befinden uns heute z. B. in der Depressionsforschung, etwa auf dem Stand der Erforschung des Bluthochdrucks in der inneren Medizin. Auch die Ursachen der Hypertonie sind nur in Ansätzen bekannt und so ähneln sich auch die Therapiestrategien: Es werden Medikamente gewählt, die im Sinne eine Mehrkomponententherapie viele Systeme gleichzeitig beeinflussen. Dies ist auch der derzeitige Weg in der Therapie der meisten Störungen in der Psychiatrie. Ob es auf der Basis heutiger biomedizinischer Forschung in absehbarer Zeit eine maßgeschneiderte Therapie für jeden einzelnen Patienten geben wird – das zumindest wäre aus den bisherigen molekulargenetischen Forschungen bei psychischen Krankheiten ableitbar –, ist aufgrund der enormen Kosten, die auf die Gesellschaft zukommen werden, sehr fraglich. Darüber hinaus kennen wir heute nicht einmal ansatzweise die Ursachen für das differenzierte, oft sogar fehlende Ansprechen des gleichen Psychopharmakons im Verlaufe einer depressiven oder schizophrenen Erkrankung bei einem Patienten. Hier gilt es also, die über die Genetik hinausgehenden Faktoren, die die Plastizität der neurobiologischen Systeme beeinflussen, zu charakterisieren. Zunächst aber soll das heutige Wissen um die optimale Anwendung der psychiatrischen Pharmakotherapie in Kombination mit psychotherapeutischen Verfahren in diesem Leitfaden gebündelt werden. Dieser Leitfaden geht in Teilen immer wieder auf Texte und Tabellen des Kompendiums der Psychiatrischen Pharmakotherapie, 6. Auflage, zurück. Somit sei auch an dieser Stelle den Koautoren dieses Kompendiums für ihre ständige Mitarbeit herzlich gedankt: I. Anghelescu, E. Davids, C. Fehr, G. Gründer, C. Lange-Asschenfeldt, O. Möller, M.J. Müller und F. Regen. Durch die grundlegenden Artikel von C. Hiemke und die Beiträge zur Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie von P. Heiser und E. Schulz kann das Spektrum der psychiatrischen Pharmakotherapie deutlich erweitert werden. 20 Mainz und Tübingen, im Herbst 2007 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 Otto Benkert Martin Hautzinger Mechthild Graf-Morgenstern VII Inhaltsverzeichnis I Grundlagen 1 Pharmakologische Grundlagen . . . . . . . . 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.2 Pharmaka. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmakologisch wirksame Stoffe . . . . Wirkstoffentwicklung . . . . . . . . . . . . Arzneimittelwirkung. . . . . . . . . . . . . Therapeutischer Einsatz von Pharmaka . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Pharmakokinetik, Pharmakodynamik und Interaktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.1 2.2 2.2.1 2.3 2.4 2.5 2.6 Pharmakokinetik und - dynamik im Zusammenspiel . . . . . . . . . . . . . Pharmakokinetik . . . . . . . . . . . . Pharmakokinetische Phasen. . . . . Pharmakodynamik . . . . . . . . . . . Arzneimittelwechselwirkungen. . . Therapeutisches Drug-Monitoring . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Arzneimittelinformation. . . . . . . . . . . . . 21 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.5 Information und Aufklärung . . . . . . . . . . . . Informationen für Therapeuten . . . . . . . . . . Informationen für Patienten und Angehörige . Informationsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftlich überwachte Information . . . Primärliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tertiärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Institutionell überwachte Information . . . . . Datenbankgestützte Information. . . . . . . . . Bewertung von Informationen und evidenzbasierter Medizin. . . . . . . . . . . . . . Neue Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . Neu beobachtete nützliche Wirkungen . . . . . Neu beobachtete unerwünschte Wirkungen . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Psychopharmaka und Psychotherapie . . . . 29 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsätzliche Probleme. . . . . . . . . . . . . . Klinische Kompetenzen und Grundmerkmale. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 4 4 5 6 8 10 5.2 5.3 5.4 5.5 5.13 Wirkungsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Therapieprinzipien . . . . . . . . . . . Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dosierung, Plasmakonzentration und Behandlungsdauer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nebenwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontraindikationen und Intoxikationen. . . . . . Wechselwirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Routineuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . Antidepressiva im höheren Lebensalter . . . . . Präparategruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selektive Serotoninrückaufnahmehemmer (SSRI). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selektive Serotonin-Noradrenalinrückaufnahmehemmer (SNRI). . . . . . . . . . . . Selektive Noradrenalinrückaufnahmehemmer Noradrenerges/spezifisch serotonerges ntidepressivum mit α2-Adrenozeptor antagonistischer Wirkung . . . . . . . . . . . . . . Noradrenalin-Dopaminrückaufnahmehemmer Trizyklische Antidepressiva (TZA). . . . . . . . . . MAO-Hemmer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pflanzliche Präparate . . . . . . . . . . . . . . . . . Antidepressiva in der Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Stimmungsstabilisierer . . . . . . . . . . . . . 61 6.1 6.1.1 6.2 6.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.13 Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ordnungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Therapieprinzipien . . . . . . . . . . . Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lithium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antikonvulsiva, Antipsychotika und Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dosierung, Plasmakonzentration und Behandlungsdauer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lithium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antikonvulsiva und Antipsychotika . . . . . . . . Nebenwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontraindikationen und Intoxikationen. . . . . . Wechselwirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Routineuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . Stimmungsstabilisierer im höheren Lebensalter Präparategruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stimmungsstabilisierer in der Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Antipsychotika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 7.1 7.2 7.3 Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Therapieprinzipien . . . . . . . . . . . 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10 5.11 5.11.1 5.11.2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 13 14 16 18 19 20 . . . . . . . . . . 22 22 22 22 22 23 23 23 23 25 . . . . . 26 27 27 27 28 . . . . . 30 30 31 32 33 II Präparate 5 Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 5.1 5.1.1 5.1.2 Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . Ordnungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 38 39 5.11.3 5.11.4 5.11.5 5.11.6 5.11.7 5.11.8 5.12 6.5 6.5.1 6.5.2 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10 6.11 6.12 40 43 43 45 45 50 51 51 52 53 53 54 55 55 56 57 57 58 58 60 62 62 62 63 63 63 65 65 65 65 65 66 66 66 66 68 68 70 72 72 73 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 VIII Inhaltsverzeichnis 7.4 7.5 7.13 Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dosierung, Plasmakonzentration und Behandlungsdauer. . . . . . . . . . . . . . Nebenwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . Kontraindikationen und Intoxikationen. Wechselwirkungen. . . . . . . . . . . . . . Routineuntersuchungen . . . . . . . . . . Antipsychotika im höheren Lebensalter Präparategruppen . . . . . . . . . . . . . . Antipsychotika in der Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Anxiolytika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 8.1 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.3 8.4 8.4.1 8.4.2 8.4.3 8.5 8.13 Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . Benzodiazepine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buspiron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Anxiolytika. . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Therapieprinzipien . . . . . . . . . Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benzodiazepine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Buspiron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Anxiolytika. . . . . . . . . . . . . . . . . Dosierung, Plasmakonzentration und Behandlungsdauer. . . . . . . . . . . . . . . . . Nebenwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abhängigkeitsrisiko unter Benzodiazepinen Absetzprobleme unter Benzodiazepinen. . . Vorbeugung von Benzodiazepinentzugssymptomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontraindikationen und Intoxikationen. . . . Wechselwirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . Routinehinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anxiolytika im höheren Lebensalter . . . . . . Präparategruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . Benzodiazepine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Anxiolytika. . . . . . . . . . . . . . . . . Anxiolytika in der Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Hypnotika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 9.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . Benzodiazepinhypnotika . . . . . . . . . . . . Non-Benzodiazepinhypnotika. . . . . . . . . Andere Hypnotika und schlafinduzierende Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Therapieprinzipien . . . . . . . . Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dosierung und Behandlungsdauer . . . . . Nebenwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Abhängigkeitsrisiko unter Hypnotika . . . . Andere Nebenwirkungen unter Hypnotika Kontraindikationen und Intoxikationen. . . Wechselwirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . Routinehinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 7.7 7.8 7.9 7.10 7.11 7.12 8.6 8.6.1 8.6.2 8.6.3 8.7 8.8 8.9 8.10 8.11 8.11.1 8.11.2 8.12 9.3 9.4 9.5 9.6 9.6.1 9.6.2 9.7 9.8 9.9 . . . . . 73 . . . . . . . . . . . . . . 74 75 77 77 78 78 78 . . . . . . . . . . 80 81 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 84 84 85 86 86 87 87 88 88 . . . . . . . . 89 89 90 90 . . . . . . . . . . . . . . . . 91 91 91 91 91 92 92 93 . . . . 93 94 . . . . . . . . . . . . 96 96 96 97 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 . 97 . 98 . 98 . 98 . 98 . 99 . 99 . 100 . 100 9.10 9.11 9.12 9.13 Hypnotika im höheren Lebensalter Präparategruppen . . . . . . . . . . . Hypnotika in der Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Antidementiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6 10.7 Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkmechanismus . . . . . . . . . . . Allgemeine Therapieprinzipien . . . Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . Dosierung und Behandlungsdauer Präparategruppen . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Medikamente zur Behandlung von Abhängigkeit und Entzug . . . . . . . . . . . . 109 11.1 11.2 11.2.1 . . . . . . . . 100 . . . . . . . . 101 . . . . . . . . 102 . . . . . . . . 103 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präparategruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmakotherapie von Abhängigkeitserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.2 Gesamtbehandlungsplan bei Abhängigkeitserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.3 Medikamente zur Behandlung von Alkoholkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.4 Medikamente zur Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.5 Medikamente zur Behandlung von Benzodiazepinabhängigkeit . . . . . . . . . . . . 11.2.6 Medikamente zur Behandlung von Opiatabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.7 Medikamente zur Behandlung von Kokainund Amphetamin-Abhängigkeit . . . . . . . . . 11.2.8 Medikamente zur Behandlung von Ecstasyund Eve-Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.9 Medikamente zur Behandlung von Abhängigkeiten von Psychotomimetika (LSD, Meskalin, Psilocybin) . . . . . . . . . . . . . 11.2.10 Medikamente zur Behandlung von Cannabisabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.11 Medikamente zur Behandlung von Nikotinabhängigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Medikamente zur Behandlung von Abhängigkeit und Entzug in der Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 106 106 107 107 108 108 . 110 . 110 . 110 . 110 . 110 . 111 . 112 . 112 . 113 . 113 . 113 . 113 . 114 . 114 . 115 12 Medikamente zur Behandlung von sexuellen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . 117 12.1 12.2 12.2.1 12.2.2 12.3 12.4 12.4.1 12.4.2 12.4.3 Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . PDE-5-Hemmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sexualhormone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Therapieprinzipien . . . . . . . . . . . Indikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erektionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vermindertes sexuelles Verlangen . . . . . . . . . Störungen der sexuellen Erregung bei der Frau 118 118 118 119 119 120 120 120 120 IX Inhaltsverzeichnis 12.4.4 12.4.5 12.7 Ejaculatio praecox und Orgasmusstörungen . Gesteigertes sexuelles Verlangen und Paraphilie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präparategruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . PDE-5-Hemmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikamente zur Behandlung von sexuellen Störungen im Kindes- und Jugendalter . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Antiadiposita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 13.1 13.2 13.3 Einteilung . . . . . . . . . . . . . . Präparategruppen . . . . . . . . . Antiadiposita in der Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . 12.5 12.5.1 12.6 13.4 . 120 16 Panikstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 . 120 . 121 . 121 16.1 16.2 16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.4 Gesamtbehandlungsplan . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benzodiazepine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . β-Rezeptorenblocker in der Therapie von Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung der Panikstörung im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Generalisierte Angststörung . . . . . . . . . . 161 17.1 17.2 17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4 17.2.5 17.3 17.4 Gesamtbehandlungsplan . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . Benzodiazepine . . . . . . . . . . . . . . . Buspiron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pregabalin . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung der GAD im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Phobische Störungen . . . . . . . . . . . . . . 167 18.1 18.2 18.2.1 18.2.2 18.3 18.4 Gesamtbehandlungsplan . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antidepressiva und andere Medikamente . Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung der phobischen Störungen im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Zwangsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 19.1 19.2 19.2.1 19.2.2 19.2.3 19.3 19.4 Gesamtbehandlungsplan . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Medikamente . . . . . . . . . . . . . . . Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung der Zwangsstörung im Kindesund Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Posttraumatische Belastungsstörung . . . . 177 20.1 20.2 20.2.1 20.2.2 20.2.3 20.3 Gesamtbehandlungsplan . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . Andere Psychopharmaka . . . . . . . . . Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung der PTSD im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 . 122 . . . . . . . . . . 124 . . . . . . . . . . 124 . . . . . . . . . . 124 . . . . . . . . . . 125 14 Medikamente zur Behandlung von ADHS, Hypersomnien und Bewegungsstörungen 127 14.1 14.2 14.3 Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präparategruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikamente zur Behandlung von ADHS, Hypersomnien und Bewegungsstörungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . . ADHS in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. . Hypersomnien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungsstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.4 . 128 . 128 . . . . . 130 130 132 132 132 III Krankheitsbilder 15 Depressive Störungen . . . . . . . . . . . . . . 135 15.1 15.2 15.3 15.4 Gesamtbehandlungsplan . . . . . . . . . . . . . . Antidepressiva und Psychotherapie . . . . . . . . Akuttherapie mit Antidepressiva . . . . . . . . . . Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe mit Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungenügende Response, Therapieresistenz und chronische Depression . . . . . . . . . . . . . Andere Medikamente und Verfahren zur Depressionsbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . Spezielle pharmakotherapeutische Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Depressive Episode und rezidivierende depressive Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dysthymie und Double Depression . . . . . . . . Minor Depression und unterschwellige Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezidivierende kurze depressive Episoden . . . Atypische Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . Saisonal abhängige affektive Störung . . . . . . Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Depression bei körperlichen Erkrankungen . . . Depression und Stress. . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung depressiver Störungen im Kindesund Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.5 15.6 15.7 15.7.1 15.7.2 15.7.3 15.7.4 15.7.5 15.7.6 15.7.7 15.7.8 15.8 15.9 15.10 136 137 140 141 143 146 147 148 149 149 149 149 149 150 150 151 152 153 16.2.4 16.3 20.4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 157 157 158 . 158 . 159 . 159 . 160 . . . . . . . 162 162 162 163 163 163 163 . . . . . . 164 . . . . . . 165 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 168 168 169 . . . 169 . . . 170 . . . . . . . . . . . . . . . 172 172 173 173 174 . . 174 . . 175 . . . . . . . . . . 178 178 178 178 179 . . . . . . 179 . . . . . . 180 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 X Inhaltsverzeichnis 21 Akute Belastungsstörung und Anpassungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . 181 21.1 21.2 21.3 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Behandlung der akuten Belastungsstörung und der Anpassungsstörung im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 22 Somatoforme Störungen . . . . . . . . . . . . 185 22.1 22.1.1 22.1.2 22.1.3 22.2 22.2.1 22.4 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Medikamente . . . . . . . . . . . . . . . Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezifische Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . Somatisierungsstörung und somatoforme autonome Funktionsstörung . . . . . . . . . . Hypochondrische Störung . . . . . . . . . . . . Somatoforme Schmerzstörung . . . . . . . . . Körperdysmorphe Störung. . . . . . . . . . . . Chronisches Müdigkeitssyndrom. . . . . . . . Fibromyalgiesyndrom . . . . . . . . . . . . . . . Prämenstruelles Syndrom . . . . . . . . . . . . Colon irritabile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung der somatoformen Störung im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 23.1 23.1.1 23.2 23.2.1 23.3 23.4 23.5 23.6 Anorexia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie der Anorexia nervosa . . . . . . . . . . Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie der Bulimia nervosa . . . . . . . . . . . Binge-eating-Störung . . . . . . . . . . . . . . . . Adipositas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung der Essstörungen im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 24.1 24.1.1 Primäre Insomnie. . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtbehandlungsplan der primären Insomnie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie der primären Insomnie . . . . . . . . Therapie der Insomnie bei psychiatrischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hypersomnie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Narkolepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlafapnoesyndrom . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung der Schlafstörungen im Kindesund Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22.2.2 22.2.3 22.2.4 22.2.5 22.2.6 22.2.7 22.2.8 22.3 24.1.2 24.1.3 24.2 24.3 24.4 24.5 24.6 . . . . . . . . . . 187 187 188 188 188 25.3 25.4 Behandlung von Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 26 Sexuelle Funktionsstörungen . . . . . . . . . 215 26.1 26.2 26.3 26.4 26.5 Erektionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vermindertes sexuelles Verlangen . . . . . . . . . Störungen der sexuellen Erregung bei der Frau Ejaculatio praecox und Orgasmusstörungen . . Gesteigertes sexuelles Verlangen und Paraphilie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Substanzinduzierte sexuelle Funktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmakotherapie und Psychotherapie bei sexuellen Funktionsstörungen . . . . . . . . . . . Behandlung sexueller Funktionsstörungen im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26.6 26.7 . . . . . . . . . . . . . . . . 188 188 189 189 189 190 190 190 . . 191 . . 191 . . . . . . 195 195 196 196 197 197 . 198 . 198 . . 200 . . 201 . . 202 . . . . . . . . 203 204 204 205 . . 205 . . 206 26.8 26.9 20 25 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen 207 25.1 25.2 25.2.1 Gesamtbehandlungsplan . . . . . . . . . . . . . . 208 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Spezifische Therapie bei Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 217 218 218 219 219 27 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 27.1 27.2 27.2.1 27.2.2 27.3 27.4 Gesamtbehandlungsplan . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychostimulanzien und andere Medikamente Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung von ADHS im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Abhängigkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . 225 28.1 28.1.1 28.1.2 28.1.3 28.1.4 28.1.5 28.1.6 28.1.7 28.1.8 28.2 28.3 Suchtmittel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alkohol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benzodiazepine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opiate/Opioide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kokain und Amphetamin. . . . . . . . . . . . . . Ecstasy und Eve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychotomimetika (LSD, Meskalin, Psilocybin) Cannabis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nikotin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung der Abhängigkeitsstörungen im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Bipolare affektive Störungen . . . . . . . . . . 235 29.1 29.2 29.2.1 29.2.2 29.2.3 29.4 Gesamtbehandlungsplan . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manische Episode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bipolare affektive Störung . . . . . . . . . . . . . . Psychotherapie bei bipolaren affektiven Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Behandlung der Bipolaren Störung im Kindesund Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 30.1 30.2 Gesamtbehandlungsplan . . . . . . . . . . . . . . 245 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 29.3 19 216 217 217 217 . . . . . . . . . 222 222 222 223 223 224 227 227 229 230 231 231 232 232 232 . 233 . 234 237 237 238 238 240 241 241 XI Inhaltsverzeichnis 30.2.1 30.2.2 30.2.3 30.2.4 30.2.5 30.2.6 Akutphase/Positivsymptomatik. . . . . . . . . . . Negativsymptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . Depressive Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Störungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . Katatone Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . Komorbide psychiatrische Störungen bei Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30.2.7 Schizoaffektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . 30.2.8 Schwere Depression mit psychotischen Symptomen (»wahnhafte Depression«). . . . . . 30.2.9 Schizotype Störungen, wahnhafte Störungen, induzierte wahnhafte Störungen . . . . . . . . . . 30.2.10 Akute vorübergehende psychotische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30.2.11 Langzeittherapie, ungenügende Response und Therapieresistenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30.2.12 Psychotherapie und psychosoziale Interventionen bei Schizophrenie . . . . . . . . . 30.3 Behandlung der Schizophrenie im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30.4 Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 246 247 247 247 247 248 249 249 253 254 Gesamtbehandlungsplan . . . . . . Medikamentöse Therapie . . . . . . Nichtmedikamentöse Maßnahmen Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Bewegungsstörungen in der Psychiatrie . . 261 32.1 32.2 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Behandlung von Bewegungsstörungen im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . 263 Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 32.3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 258 259 260 33 Spezielle Störungen im Kindes- und Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 33.1 33.1.1 33.2 33.2.1 33.3 33.3.1 33.4 33.4.1 33.5 Tief greifende Entwicklungsstörungen Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trennungsangst . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enuresis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bindungsstörungen . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 267 268 268 269 269 270 270 270 IV Spezielle Aspekte der Psychopharmakotherapie 34 Notfallpsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 34.1 34.2 34.3 34.4 34.5 Psychomotorische Erregungszustände . . . . . Delirante Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . Stuporöse Zustände . . . . . . . . . . . . . . . . . Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychopharmaka als Ursache psychiatrischer Notfallsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Psychopharmaka in Schwangerschaft und Stillzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 35.1 35.2 35.3 35.4 35.5 35.6 Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lithium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antikonvulsiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antipsychotika . . . . . . . . . . . . . . . . . . Benzodiazepine und Non-Benzodiazepinhypnotika. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Psychopharmaka und Fahrtüchtigkeit . . . . 287 36.1 Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 251 Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 . . . . Notfallsituationen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Checkliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 . . . . . . . . . . . . 282 283 283 283 . . . 284 . . . 285 249 31.1 31.2 31.3 31.4 . . . . 34.7 249 31 . . . . 34.6 275 276 276 277 . 278 Anhang A1 Übersicht über die erwähnten Wirkstoffe und die entsprechenden Präparate. . . . . . 292 A2 Antworten zu den Checkfragen . . . . . . . . 295 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Diagnoseverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Pharmakaverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 XIII Abkürzungsverzeichnis AAP ACh AChE AChE-I AD ADHS AKdÄ ASP BLIPS BPS BPSD BtM cAMP CRH DA DBT EKB EMDR EPS GAD GHRH HEE HPA-Achse HKS HWZ IPT KVT MAO MCI NA NO PLMS PTSD RLS rTMS SIADH SNRI SSRI atypische Antipsychotika Acetylcholin Acetylcholinesterase Acetylcholinesterasehemmer Alzheimer-Demenz Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft alkoholismusspezifische Psychotherapie brief limited intermittend psychotic symptoms Borderline-Persönlichkeitsstörung behavioral and psychological symptoms in dementia Betäubungsmittel zyklisches Adenosinmonophosphat Kortikotropin-releasing-Hormon Dopamin dialektisch-behaviorale Therapie Elektrokrampfbehandlung eye movement desensitization and reprocessing extrapyramidalmotorische Störungen generalisierte Angststörung Growth-hormone-releasing-Hormon high expressed emotions Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse hyperkinetische Störungen Halbwertszeit Interpersonelle Psychotherapie kognitive Verhaltenstherapie Monoaminoxidase mild cognitive impairment Noradrenalin Stickstoffmonoxid periodic limb movements in sleep posttraumatische Belastungsstörung Restless-legs-Syndrom repetitive transkranielle Magnetstimulation Syndrom der inadäquaten ADHSekretion selektive Serotonin-Noradrenalinrückaufnahmehemmer selektive Serotoninrückaufnahmehemmer TRH TZA UAW VD VT Thyreotropin-Releasing-Hormon trizyklische(s) Antidepressiv(um/-a) unerwünschte Arzneimittelwirkungen vaskuläre Demenz Verhaltenstherapie 1 1.1 · Pharmaka Grundlagen 1 Pharmakologische Grundlagen –3 2 Pharmakokinetik, Pharmakodynamik und Interaktionen – 11 3 Arzneimittelinformation 4 Psychopharmaka und Psychotherapie – 21 – 29 1I 3 1.1 · Pharmaka Pharmakologische Grundlagen 1.1 Pharmaka –4 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 Pharmakologisch wirksame Stoffe – 4 Wirkstoffentwicklung – 5 Arzneimittelwirkung – 6 Therapeutischer Einsatz von Pharmaka – 8 1.2 Checkliste – 10 1 4 Kapitel 1 · Pharmakologische Grundlagen 1.1 Pharmaka 1 Definition 2 3 4 5 6 7 Pharmakologie ist die Lehre von den Wechselwirkungen zwischen Stoffen und Lebewesen. Ein Stoff, der Wechselwirkungseigenschaften besitzt, ist im Sinn der Pharmakologie ein Pharmakon. Psychopharmaka sind solche, die auf das Zentralnervensystem wirken und psychische Funktionen verändern. Die Anwendung von Pharmaka am Menschen ist die Pharmakotherapie. Sie erfolgt heute in der Regel durch Einsatz von Fertigarzneimitteln. 1.1.1 Pharmakologisch wirksame Stoffe 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Ein Stoff ist im Sinne der Pharmakologie dann ein Pharmakon, wenn er auf den Organismus einwirkt (Aktories et al. 2006; Brunton 2006). Die Wirkung kann nützlich sein, also erwünscht, und ist so für eine therapeutische Anwendung geeignet. Sie kann aber auch schädlich, und damit unerwünscht sein, weil sie toxisch auf den Organismus wirkt. Mit den Stoffen mit erwünschter Wirkung, den Arzneistoffen, befasst sich die experimentelle und klinische Pharmakologie, mit den schädlichen Eigenschaften von Stoffen und Wirkungen die Toxikologie. Die Unterscheidung, ob ein Stoff nützlich oder schädlich ist, hängt wesentlich von der Konzentration ab, in der er eingesetzt wird. Daher ist die Bewertung, ob ein Stoff als therapeutisch oder toxisch einzuordnen ist, nicht nur von der Qualität des Stoffes, sondern ganz wesentlich auch von seiner Quantität abhängig. Ein Pharmakon kann ein chemisch reiner Stoff sein, aber auch ein Stoffgemisch. Es kann ein chemisch präparativ hergestellter oder einer aus der Natur, z. B. aus Pflanzenteilen, extrahierter Stoff sein. Während früher die meisten Arzneimittel aus der Natur extrahierte Stoffe waren, sind die meisten modernen Wirkstoffe das Ergebnis einer chemischpräparativen Darstellung im Labor. Als Ausgangstoffe werden für die Synthese Vorläuferstoffe eingesetzt, die dann chemisch modifiziert werden. Bei der Neusynthese eines potenziellen Arzneistoffes wird zunächst vom Hersteller ein Code generiert. Wenn sich ein Stoff bei pharmakologischen Tests als interessanter Kandidat darstellt, wird ein Name für den Wirkstoff erzeugt. Er wird von der WHO als Freiname festgelegt, der dann in der wissenschaftlichen Literatur für den Wirkstoff durchgängig verwendet wird. Wenn der Wirkstoff oder eine Wirkstoffmischung von einem pharmazeutischen Unternehmen zur Zulassung gebracht wird, wird ein gesetzlich geschützter Markenname für das Fertigarzneimittel (s. unten) neu erzeugt. Arzneistoffe werden so gut wie nie als reiner Stoff verabreicht. Sie werden zusammen mit sog. Hilfsstoffen in eine für den Menschen anwendbare Arzneiform gebracht. Bis vor gut 100 Jahren wurden Arzneimittel für den individuellen Patienten ad hoc vom Apotheker zubereitet. Letzterer war damit auch verantwortlich für die Qualität des Präparates. Die heute bei uns therapeutisch eingesetzten Pharmaka sind in der Regel Arzneistoffe, die pharmazeutisch-technologisch hergestellt wurden. Man spricht dann von einem Fertigarzneimittel. Sie werden im Voraus produziert und in einer für den Verbraucher bestimmten Form in den Verkehr gebracht. Den Verkehr mit Arzneimitteln regelt das Arzneimittelgesetz. Fertigarzneimittel müssen zugelassen sein. Die in Deutschland dafür zuständige Behörde ist das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Für die Zulassung müssen Daten über die pharmazeutische Qualität des Fertigarzneimittels, seine therapeutische Wirksamkeit und seine Sicherheit vorgelegt werden. Definition Bezeichnung von Stoffen oder Stoffgemischen mit pharmakologischer Wirkung: 5 Pharmakon: – Stoff oder Stoffgemisch mit Wirkung auf ein Lebewesen. 5 Arzneistoff : – Pharmakon mit therapeutisch nützlicher Wirkung. 5 Arzneimittel = Medikament: – Arzneistoff, der technisch mit Hilfsstoffen durch galenische Zubereitung in eine für den Menschen anwendbare Form gebracht wurde. 5 Arzneiform: – Zubereitung eines Arzneimittels mit pharmazeutischen Hilfsstoffen, z. B. als Tablette, Injektionslösung, Tropfen oder Salbe. 6 1.1 · Pharmaka 5 Fertigarzneimittel: – Arzneimittel aus industrieller Fertigung. 5 Freiname: – Name eines chemisch definierten Wirkstoffs, englisch als »generic name« oder »international non-propriatary name = INN« bezeichnet und von der WHO festgelegt. 1.1.2 Wirkstoffentwicklung Die Entwicklung eines Arzneimittels ist zeit-, personal- und kostenaufwändig. Dies gilt auch und besonders für Psychopharmaka. Für die Behandlung psychiatrischer Erkrankungen stehen derzeit etwa 120 Wirkstoffe zur Verfügung. Fast alle innovativen Psychopharmaka sind zufällig an Patienten entdeckt worden. Meilensteine waren Chlorpromazin zur Behandlung von Psychosen, Imipramin und Iproniazid zur Behandlung der unipolaren Depression und Lithium zur Behandlung von bipolaren Erkrankungen. Einzig bei Benzodiazepinen schloss man vor der Anwendung am Menschen bereits aus tierexperimentellen Befunden, dass sie zur Behandlung von Angsterkrankungen geeignet sein könnten. Für die notwendige Entwicklung neuer Psychopharmaka mit verbesserter Wirkung besteht das Problem, dass es für die meisten Erkrankungen keine guten Tiermodelle gibt. Daher sind die Folgeentwicklungen der oben genannten Meilensteinmedikamente zunächst bevorzugt durch Abwandlung der chemischen Struktur (trizyklische Antidepressiva) entstanden. Nach Aufklärung, über welche Zielstrukturen (Rezeptoren, abbauende Enzyme oder Transporter für Neurotransmitter) die unterschiedlichen erwünschten und unerwünschten klinischen Wirkungen zu Stande kommen, hat man gezielt nach rezeptorselektiven Verbindungen gesucht. So wurden z. B. selektive Serotoninrückaufnahmehemmer entwickelt, wobei der Fortschritt der Entwicklung in der Hauptsache in der erhöhten Sicherheit und nicht in einer verbesserten Wirkstärke bestand. Für die Suche nach neuen Psychopharmaka wird heute insbesondere die technische Möglichkeit genutzt, Rezeptoren für humane Neurotransmitter in Zellsystemen zu exprimieren. Durch sog. Bindungsstudien kann man an den Zellsystemen prüfen, ob ein Stoff distinkte Rezeptoren erkennt und möglichst nur einen bestimmten Subtyp. So ist es auch möglich, eine Aussage über die Stärke und Selektivität der Bindung 5 1 5 Markenname: – Bezeichnung eines gesetzlich geschützten Fertigarzneimittels eines bestimmten Herstellers. 5 Generikum: – Bezeichnung eines Fertigarzneimittels, welches unter dem Freinamen (generic name) nach Ablauf des Patentschutzes auf dem Markt gebracht wird. zu untersuchen. Dies ist nützlich, um die Wirkstärke und die Wirkspezifität der geprüften Verbindung einschätzen zu können. Mit den Bindungsassays kann eine Vielzahl von Stoffen innerhalb kurzer Zeit charakterisiert werden, um Kandidaten zu bestimmen, die in aufwändigen Tierexperimenten geprüft werden. Nachdem erkannt wurde, dass pharmakokinetische Arzneimittelwechselwirkungen bei der Anwendung von Medikamenten von erheblicher Bedeutung sind, insbesondere mit Blick auf die Sicherheit der Medikamente, müssen seit etwa 10 Jahren auch Daten zum pharmakokinetischen Interaktionspotenzial erhoben werden. Dazu stehen ebenfalls In-vitro-Testsysteme zur Verfügung. Es sind Zellsysteme oder subzelluläre Fraktionen (z. B. Mikrosomen) mit definierter Ausstattung arzneimittelmetabolisierender Enzyme. Aus diesen Untersuchungen wird auf Substrat- und Hemmeigenschaften geschlossen. Wenn bekannt ist, welche Enzyme an der Metabolisierung der Medikamente beteiligt sind, können mögliche pharmakokinetische Wechselwirkungen für die In-vivo-Situation am Menschen relativ sicher vorhergesagt werden. Tierexperimente, die den In-vitro-Untersuchungen folgen, liefern Hinweise auf mögliche therapeutische Anwendungen, aber auch auf die Sicherheit der Substanzen. Bei Psychopharmakaentwicklungen sind die Tierexperimente auch informativ bezüglich Hirngängigkeit der Testsubstanzen. In diesem Stadium erfolgt in der Regel die Patentanmeldung, wobei immer einer Reihe von Verbindungen eingebracht werden, um nicht nur auf einen Wirkstoff festgelegt zu sein, um ähnliche potenzielle Wirkstoffe zu schützen und um die Herstellung von Nachahmungspräparaten (»me-too«) zu erschweren. Bereits vor Abschluss der tierexperimentellen Testung beginnt in der Regel die Anwendung am Menschen, die drei Phasen unterscheidet, Phase I bis Phase III, die vor der Zulassung durchlaufen werden müssen (Kohnen u. Beneš 2007). Weitere laufende Tierexperimente prüfen derweilen die chronische 6 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 1 · Pharmakologische Grundlagen Toxizität und Effekte auf die Reproduktion und Keimentwicklung (Teratogenitätstest). die Kosteneffizienz geführt. Eine Phase V der Medikamentenentwicklung kann sich anschließen, wenn für den Wirkstoff eine neue Indikation gefunden wird. Definition Phasen der Medikamentenentwicklung am Menschen, die vor Beantragung einer Zulassung durchlaufen werden müssen: 5 Phase I Überprüfung durch klinischen Pharmakologen, ob die Daten aus den Tiermodellen auf den Menschen übertragbar sind. Erste Hinweise bezüglich Sicherheit und biologischer Effekte, erste Daten zur Pharmakokinetik und Metabolisierung, Erstellung von ersten Dosierrichtlinien (10–50 Probanden, in der Regel »healthy male subjects«, keine Risikogruppe). 5 Phase II Offene Prüfung der Wirksamkeit und relativen Ungefährlichkeit an einigen selektionierten Patienten durch klinischen Pharmakologen und/oder Facharzt, Hinweise auf therapeutische Wirksamkeit, Dosisbereich, Pharmakokinetische Daten und Metabolisierung (20–100 Patienten). 5 Phase III Kontrollierte klinische Prüfung (bevorzugt randomisiert, doppelblind) zum Nachweis der Wirksamkeit und Überprüfung der Sicherheit an vielen Patienten mit gut definierten Einschluss- und Ausschlusskriterien durch Facharzt mit Erfahrung in klinischen Prüfungen, (meist über 1000 Patienten). Wenn die Entwicklungsphasen erfolgreich abgeschlossen wurden, kann die Zulassung bei der Behörde beantragt werden. Ein Medikament wird dann zugelassen, wenn 5 das Einsatzgebiet oder der Wirkmechanismus neu sind, wenn 5 eine verbesserte Wirksamkeit im Vergleich zur Standardbehandlung nachgewiesen wurde, wenn 5 eine bessere Verträglichkeit gezeigt wurde, z. B. weniger Nebenwirkungen oder wenn 5 eine neue Darreichungsform entwickelt wurde. Nach der Markteinführung ist die Erforschung eines Medikaments noch nicht abgeschlossen. Es folgt die Phase IV, in der die Patienten nach den zugelassenen Indikationen behandelt werden. Es werden seltene Nebenwirkungen entdeckt und Erfahrungen in Langzeitstudien gesammelt, oder es werden Nachweise über 1.1.3 Arzneimittelwirkung Dosis-Wirkungs-Beziehung Die Wirksamkeit eines Medikaments hängt ab von der Konzentration am Ort der Wirkung (»effective concentration«, EC). Da die Konzentration am Wirkort in der Regel nicht messbar ist, wird die Wirkung über die Dosis gesteuert, die sich direkt proportional zur Konzentration verhält. Am Menschen lässt sich die Konzentration am Wirkort allerdings aus der Dosis nur grob abschätzen (Hiemke et al. 2005). Die Konzentrations-Wirkungs-Beziehung entspricht einer Sättigungsfunktion. Es gibt eine untere Konzentration, bei der keine Wirkung messbar ist, und eine Konzentration, mit der ein maximaler Wirkeffekt erzielt wird. Viele Psychopharmaka sind nicht stimulierend, sondern inhibierend wirksam. Auch dieser Zusammenhang unterliegt einer Sättigungsfunktion. Bei der mathematischen Beschreibung der Konzentrations- bzw. Dosiswirkungs-Beziehungen geht man davon aus, dass das Medikament durch Aktivierung oder Hemmung eines Rezeptors wirkt. Ein maximaler Effekt ist dann erreicht, wenn der Rezeptor zu 100% mit dem Medikament beladen ist. Anfangs- und Endpunkte der Konzentrations-Wirkungs-Kurven sind oft schwierig zu bestimmen. In der Praxis bewährt haben sich als Kenngrößen für Medikamente, Konzentrationen bzw. Dosen, bei denen 50% des maximalen Effektes erzielt werden (EC50, ED50 IC50). Diese Größen kennzeichnen die Wirkstärke von Medikamenten (s. unten »Definition«). Bei Kindern und Jugendlichen kann nicht davon ausgegangen werden, dass ähnliche Dosierung wie im Erwachsenenalter zu ähnlichen Wirkungen führen. Deshalb müssen entwicklungsabhängige physiologische und psychopathologischen Besonderheiten berücksichtigt werden (7 Kap. 2; Schulz u. Fleischhaker 2005). 7 1.1 · Pharmaka Definition Definition Die pharmakologische Wirkung eines Pharmakons hängt ab von der Konzentration am Wirkort. Die Konzentration am Wirkort ist proportional mit der Dosis. Es gibt charakteristische Kenngrößen, die die Wirkstärke eines Medikaments beschreiben: 5 EC50: Konzentration des Wirkstoffs, mit der 50% des maximalen Effektes erzielt wird. 5 IC50: Konzentration des Wirkstoffs, mit der der Effekt um 50% gehemmt wird. 5 ED50: Dosis, mit der 50% des maximalen Effektes erreicht wird. Die toxische Wirkung eines Pharmakons hängt ab von der Konzentration am Wirkort. Die Konzentration am Wirkort ist proportional mit der Dosis. Es gibt charakteristische Kenngrößen, die die Wirkstärke eines Medikaments beschreiben: 5 LD50: Dosis des Wirkstoffs, bei der 50% der behandelten Tiere sterben. 5 Therapeutische Breite: Quotient von LD50/ED50. 5 Therapeutischer Index: Quotient von LD5/ ED95, d. h. das Verhältnis der Dosis, bei der 5% der Versuchstiere sterben zur Dosis, bei der 95% des therapeutischen Effektes erzielt werden. Therapeutische Breite Jeder Stoff, der mit dem Organismus Mensch in Wechselwirkung steht und von therapeutischem Nutzen ist, kann auch schädigend, also toxisch, wirken. Dies ist seit langer Zeit bekannt und wurde durch den Arzt und Philosophen Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493– 1541), formuliert in dem Satz: »Alle Ding’ sind Gift und nicht ohn’ Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.« Entsprechend ist sogar das lebensnotwendige Wasser bei Überdosierung toxisch, weil es zu Elektrolytentgleisungen führt. Daher müssen bei der Anwendung eines Medikaments immer auch die unerwünschten und toxischen Effekte beschrieben werden. Toxische Wirkungen gehorchen wie die therapeutischen einer Sättigungsfunktion. Für Medikamente wird angestrebt, dass toxische Wirkungen möglichst bei deutlich höheren Konzentrationen auftreten als therapeutische. Eine in der Entwicklung von Medikamenten seit langem etablierte Methode ist die Bestimmung der Letaldosis (LD). Die mittlere Dosis, bei der 50% der Tiere nach einer Behandlung sterben, ist die sog. LD50. 1 Als Kenngrößen, die die Sicherheit eines Wirkstoffs beschreiben, haben sich die Größen therapeutische Breite und therapeutischer Index bewährt, Quotienten, die aus Kenngrößen zur therapeutischen Wirkstärke und zur toxischen Wirkung gebildet werden (s. oben »Definition«). Bei modernen Arzneistoffen wird ein therapeutischer Index von mindestens 1000 angestrebt. Toleranzbildung 5 Bei wiederholter Einnahme eines Medikaments kann es durch adaptive Veränderungen zu einer Abschwächung der Wirkstärke kommen. Um wieder den gleichen Effekt zu erzielen wie zuvor, muss die Dosis gesteigert werden. Dieses Phänomen wird als Entwicklung einer Toleranz bezeichnet. Sie ist reversibel und kehrt nach Absetzen des Medikaments wieder auf die Ausgangswirkstärke zurück. Toleranz kann durch unterschiedliche Mechanismen zu Stande kommen. In einem Fall wird durch eine verstärkte Synthese des inaktivierenden Enzyms (Enzyminduktion) der Abbau des Wirkstoffs beschleunigt. Es steht dann für die Wirkung pro Zeiteinheit weniger Substanz zur Verfügung. Diese Art von Toleranz wird als pharmakokinetische Toleranz bezeichnet. Sie besteht z. B. für das Antikonvulsivum Carbamazepin, eine Substanz, die auch für die Behandlung bipolarer Störungen eingesetzt wird (7 Kap. 29). Es ist daher 2–3 Wochen nach Ersteinstellung auf Carbamazepin notwendig, die Dosis heraufzusetzen. Die Entwicklung einer pharmakokinetischen Toleranz kann sich auch auf die Wirkung anderer Medikamente auswirken, wenn diese vom induzierten Enzym abge- 8 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 1 · Pharmakologische Grundlagen baut werden. So kann z. B. durch Einnahme von Johanniskraut durch den Inhaltsstoff Hyperforin ein Enzym der Cytochrom-P450 (CYP)-Familie induziert werden und den Abbau des Immunsuppressivums Cyclosporin A induzieren. Es gibt Berichte von organtransplantierten Patienten, bei denen es durch die Kombination mit Johanniskraut zu Abstoßungsreaktionen kam. Von einer pharmakodynamischen Toleranz spricht man, wenn der Rezeptor, über den das Medikament wirkt, herunterreguliert wird und damit unempfindlicher reagiert. Dieser Effekt wird v. a. dann beobachtet, wenn das Medikament stimulierend, also agonistisch wirkt. Pharmakodynamische Toleranz ist ausgeprägt bei Einnahme von Opioiden, wie Morphin oder Heroin. Sie ist auch möglich beim Einsatz von Benzodiazepinen. Bei therapeutischem Einsatz von Benzodiazepinen zur Anxiolyse entwickelt sie sich in der Regel nicht. Entsprechend ist keine Dosissteigerung notwendig (7 Kap. 8). Bei hypnotischer oder muskelrelaxierender Wirkung ist eher eine Dosissteigerung bei wiederholter Gabe notwendig. Gegenüber Antidepressiva oder Antipsychotika entwickelt sich keine pharmakodynamische Toleranz. 1.1.4 Therapeutischer Einsatz von Wichtig Um ein bestmögliches Therapieansprechen zu erreichen und das Risiko des Auftretens von Nebenwirkungen möglichst gering zu halten, sind vor Beginn der Behandlung mit einem Psychopharmakon folgende Einzelheiten zu beachten: 5 Diagnosestellung; 5 Schweregrad der Erkrankung; 5 Dauer der Erkrankung; 5 Medikamentöse Vorbehandlungen; 5 Besonderheiten, die sich auf die Pharmakokinetik auswirken, z. B. eingeschränkte Nierenfunktion oder hohes Alter; 5 Besonderheiten, die sich auf die Pharmakodynamik auswirken, z. B. Begleiterkrankungen oder hohes Alter; 5 Suchtanamnese; 5 Wirkprofil des Psychopharmakons; 5 Nebenwirkungen und Kontraindikationen des Psychopharmakons; 5 mögliche Wechselwirkungen des Psychopharmakons mit anderen Medikamenten; 5 Aufklärung und Information des Patienten über Dosis, Wirkung und mögliche Nebenwirkungen, bei Bedarf Hinweis auf Wechselwirkung mit anderen Medikamenten einschließlich Alkohol oder anderen Stoffen. Pharmaka Die Behandlung mit einem Pharmakon nennt man Pharmakotherapie, die mit einem Psychopharmakon entsprechend Psychopharmakotherapie. Es ist zu unterscheiden zwischen 5 Akuttherapie, 5 Erhaltungstherapie, 5 Langzeittherapie/Rezidivprophylaxe. Akuttherapie Eine Akuttherapie hat das Ziel, bestehende Krankheitssymptome zu heilen oder zu lindern. Eine Akutbehandlung mit einem Psychopharmakon setzt voraus, dass eine Indikation besteht. Die Psychopharmakotherapie ist Teil eines Gesamtbehandlungsplans, der auch andere Therapieformen einschließt, wie Gespräche, Psychotherapie oder sozialpsychiatrische und physikalische Maßnahmen (Benkert u. Hippius 2007). Wenn eine Indikation für eine Behandlung mit einem Psychopharmakon besteht, dann ist es das Ziel der Behandlung für den Patienten den bestmöglichen Funktionszustand – möglichst eine Remission – zu erreichen. Ob letzteres erreichbar ist, hängt von der Erkrankung und den individuellen Gegebenheiten des Patienten ab. Bei einem Patienten mit einer Demenz bei einer Alzheimer-Krankheit ist mit den derzeitig verfügbaren Medikamenten selten mehr als eine Stabilisierung oder Verlangsamung des Verlaufs zu erreichen, während bei einem Patienten mit einer Depression eine vollständige Remission möglich ist. Bei den meisten psychiatrischen Erkrankungen, so bei der Behandlung depressiver oder schizophrener Erkrankungen, tritt eine klinisch relevante Besserung erst mit einer Verzögerung von Wochen bis Monaten ein. Es kommt oft vor, dass eine geplante medikamentöse Behandlung nicht oder unzureichend wirksam ist und eine Änderung der Behandlung erforderlich ist (. Abb. 1.1). Daher ist es wichtig, den Verlauf der Behandlungen klinisch regelmäßig zu überprüfen. Bei der Behandlung depressiver (Szegedi et al. 2003) und schizophrener (Leucht et al. 2007) Patienten wurde 9 1.1 · Pharmaka Patient, krank Vorgeschichte Diagnose Symptome Auswahl des Medikamentes und der Dosierung Klinische Symptome Änderung der Dosierung, Wechsel der Medikation Besserung, Response Klinische Symptome Besserung, Response 1 . Abb. 1.1. Schematische Darstellung des Verlaufs einer Psychopharmakotherapie. Ziel der Behandlung ist das Erreichen einer Remission. Wenn eine Remission nicht erzielt werden kann, ist die Einstellung des bestmöglichen Funktionszustands das Behandlungsziel. Nach Feststellung der Diagnose und des Schweregrads der Erkrankung und ihrer Vorgeschichte mit früheren Behandlungen (Medikation und Ansprechen bzw. Nichtansprechen) werden die Medikation und die Zieldosis festgelegt. Die Besserung wird durch regelmäßige klinische Kontrollen überwacht. Bei fehlender oder unzureichender Besserung wird eine Änderung der Dosierung oder Wechsel der Medikation vorgenommen. Oftmals ist die Behandlung mit einem Medikament nicht ausreichend Patient, remittiert in den vergangen Jahren festgestellt, dass das spätere Ansprechen oder Nichtansprechen schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt, nämlich 2 Wochen nach Therapiebeginn durch eine frühere Besserung vorhergesagt werden kann. Daher ist für diese Patienten eine objektive Symptomerfassung sinnvoll und offenbar auch eine frühere Anpassung der medikamentösen Therapie als bisher üblich. Erhaltungstherapie und Langzeittherapie/ Rezidivprophylaxe Psychiatrische Erkrankungen erfordern oft eine Therapie über Monate, oft auch Jahre (z. B. 7 Abschn. 15.4). Während durch die Erhaltungstherapie in den ersten 4–6 Monaten versucht wird, das Wiederauftreten der Symptome durch fortgesetzte medikamentöse Therapie zu verhindern, soll die Langzeittherapie bzw. die Rezidivprophylaxe einen möglichst überdauernden, oft lebenslangen Schutz bieten. Das Ziel der Rezidivprophylaxe ist das Verhindern von neuen möglichen Phasen bei einer unipolaren oder bipolaren Depression oder bei einer in Schüben auftretenden Schizophrenie. Mit Ausnahme einer Behandlung mit Lithium sind die Dosen für die Erhaltungstherapien oftmals gleich hoch wie die bei der Akutbehandlung. In der Langzeittherapie kann der Versuch einer minimal effektiven Dosis versucht werden. In Phasen der Erhaltungs- und Langzeittherapie ist eine regelmäßige klinische Überwachung der Pharmakotherapie notwendig, um das Risiko des Auftretens von Rückfällen zu verringern. Die ärztliche Überwachung beinhaltet auch regelmäßige Kontrollen von Laborparametern (Benkert u. Hippius 2007) und ggf. auch die Messung von Medikamentenspiegeln im Blut (Hiemke et al. 2005), bei Lithium insbesondere aus Gründen der Sicherheit. Bei anderen Psychopharmaka ist eine Blutspiegeluntersuchung während der Erhaltungstherapiephase angezeigt, wenn eine Symptomverschlechterung beobachtet wird. Die Wirksamkeit einer antipsychotischen oder antidepressiven Behandlung lässt in der Regel nicht nach, weil die Medikamente nicht mehr wirken, also eine pharmakodynamische Toleranz eintritt, sondern weil die Medikamente nicht mehr eingenommen werden. Daher sollten Patienten, die an einer Depression, Schizophrenie oder bipolaren Störung leiden, nachdrücklich darin bestärkt werden, ihre Medikamente kontinuierlich einzunehmen. 10 Kapitel 1 · Pharmakologische Grundlagen 1.2 Checkliste 1 ? 2 1. 3 2. 4 3. 4. 5 5. 6 6. 7 7. 8 8. 9 9. 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Was versteht man unter dem Begriff Arzneimittel? Was versteht man unter einem Fertigarzneimittel? Was bedeutet der Begriff »therapeutische Breite«? Welche Art von Untersuchung wird in der Phase III angestellt? Was versteht man unter pharmakokinetischer Toleranz? Bei welchen Psychopharmaka besteht kein Risiko der Entwicklung einer pharmakodynamischen Toleranz? Welche Aspekte müssen vor Einstellung auf ein Psychopharmakon beachtet werden? Warum ist bei vielen Patienten nach Ansprechen auf die Akuttherapie eine Weiterführung der medikamentösen Einstellung notwendig? Warum scheint es bei der Behandlung mit einem Antidepressivum sinnvoll, den Verlauf der Besserung in einer frühen Phase durch objektive Symptomerfassung zu analysieren? 2 11 2.1 · Pharmakokinetik, Pharmakodynamik und Interaktionen 2.1 Pharmakokinetik und - dynamik im Zusammenspiel 2.2 Pharmakokinetik 2.2.1 Pharmakokinetische Phasen 2.3 Pharmakodynamik 2.4 Arzneimittelwechselwirkungen 2.5 Therapeutisches Drug-Monitoring 2.6 Checkliste – 20 – 13 – 14 – 16 – 18 – 19 – 12 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 12 Kapitel 2 · Pharmakokinetik, Pharmakodynamik und Interaktionen 2.1 Pharmakokinetik und - dynamik im Zusammenspiel Definition Der Begriff der Pharmakokinetik umfasst die Absorption, Distribution, Metabolisierung und Exkretion von Pharmaka. Die Pharmakodynamik beschreibt die Wirkungen der Pharmaka auf den Organismus und deren Wirkmechanismen. Pharmakokinetik und Pharmakodynamik eines Medikamentes können bei Patienten sehr variabel sein. Ursache hierfür kann eine unterschiedliche genetische Ausstattung mit Arzneimittel abbauenden Enzymen oder mit unterschiedlichen Wirkrezeptoren sein. Bei Kombination von Medikamenten kann es zu pharmakokinetischen oder pharmakodynamischen Wechselwirkungen kommen, die beachtet werden müssen. Die meisten Psychopharmaka werden oral verabreicht. Nach der Einnahme werden sie vom Körper aufgenommen (Absorption), über den Blutstrom verteilt (Distribution) und gelangen so an ihren Wirkort. 11 Applikation 12 Absorption 13 Distribution Metabolisierung Akkumulation 14 Rezeptor-Bindung 15 16 Durch Bindung an »Rezeptoren« entfalten sie ihre Wirkungen, erwünschte ebenso wie unerwünschte. Die Wirkungen werden in der Regel durch Abbau der Medikamente (Metabolisierung) und anschließende Ausscheidung (Exkretion) über die Niere oder die Galle beendet. Dieser als Pharmakokinetik bezeichnete Vorgang steht im Zusammenspiel mit der Pharmakodynamik, der Wirkung von Pharmaka auf den Organismus. Um einen pharmakologischen Effekt zu erzielen, wird ein Medikament in der Regel nicht direkt an den Ort der Wirkung appliziert. In den meisten Fällen wird es appliziert und erreicht dann über die Blutbahn den Wirkort (. Abb. 2.1). Welche Konzentration ankommt, hängt von der Dosis, aber darüber hinaus von den Gegebenheiten des Organismus ab. Das Medikament muss Barrieren überwinden, den First-pass-Effekt in der Leber überstehen und im Körper verteilt werden. Erst dann bindet es an seinen Zielrezeptor und entfaltet seine Wirkungen. Die Bindung an den Rezeptor ist nicht dauerhaft anhaltend. Das Medikament löst sich wieder vom Rezeptor und wird schließlich unverändert oder nach Biotransformation über die verfügbaren Wege ausgeschieden, im Wesentlichen über Niere und Galle. erwünschte und unerwünschte Wirkungen Metabolisierung Exkretion 17 18 19 20 . Abb. 2.1. Pharmakokinetik und Pharmakodynamik. Ein Stoff tritt mit einem Individuum in Kontakt, indem er z. B. geschluckt oder injiziert wird (Applikation). Wenn er geschluckt wird, wird er im Magen-Darm-Trakt in die Blutbahn aufgenommen (Absorption). Mit dem Blutstrom wird er verteilt (Distribution) und gelangt dann entweder mit oder ohne chemische Umwandlung (Metabolisierung) an seine Zielstruktur (Rezeptorbindung). Über einen Rezeptor im weiteren Sinne entfaltet das Pharmakon seine Wirkung unmittelbar oder zeitlich verzögert. Manche Arzneimittel werden im Gewebe gespeichert (Akkumulation), z. B. in Gehirn oder Fettgewebe, und verzögert wieder freigesetzt und verteilt. Pharmaka und ihre Metaboliten werden entweder unverändert oder nach Metabolisierung ausgeschieden (Exkretion). Metabolisierung und Exkretion zusammengenommen werden als Elimination bezeichnet. Absorption, Distribution, Metabolisierung und Exkretion (ADME) sind die wesentlichen Prozesse der Pharmakokinetik, über die der Organismus auf den Fremdstoff wirkt. Prozesse, über die der Stoff auf den Organismus wirkt, gehören zur Pharmakodynamik 13 2.2 · Pharmakokinetik Pharmakokinetische Prozesse bestimmen wesentlich Intensität und Dauer von pharmakodynamischen Prozessen. Eine seltene aber häufig gefürchtete Veränderung ist bei Dauermedikation die Entwicklung einer Toleranz. Sie ist in der Praxis für Benzodiazepine, Psychostimulanzien oder Opiate bedeutsam. Bei Kombination von Medikamenten kann es zu pharmakokinetischen oder pharmakodynamsichen Wechselwirkungen kommen, die beachtet werden müssen. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie muss auch der jeweilige Entwicklungsstand des Kindes bzw. Adoleszenten bei der Behandlung mit Psychopharmaka berücksichtigt werden. Dabei werden entwicklungsabhängige physiologische und psychopathologische Besonderheiten berücksichtigt. Sowohl die Pharmakokinetik als auch die Pharamkodynamik unterliegen von der Neonatalperiode, über das Kindesalter und die Pubertät hinweg bis hinein in die Adoleszenz, bedeutenden Entwicklungsprozessen. Unter Zugrundelegen von Plasmaspiegelbestimmmungen ist für die psychotropen Substanzen eine deutliche Altersabhängigkeit der auf die Medikamtendosis bezogenen Plasmakonzentrationen dokumentiert. Ursachen hierfür sind u. a. Veränderungen der Hormone, des autonomen Nervensystems, der Fettmasse und der Proteinbindung. Zusätzlich bestehen noch alterstypische Veränderungen im ZNS, wie z. B. unterschiedliche Rezeptordichten und -affinitäten (Schulz u. Fleischhaker 2005). 2.2 Pharmakokinetik Die Pharmakokinetik beschreibt und erklärt insbesondere den zeitlichen Konzentrationsverlauf der Medikamente und ihrer Metabolite in Flüssigkeiten und Geweben des Körpers. Medikamente und so auch Psychopharmaka werden vom Organismus in der Regel als Fremdstoffe erkannt. Viele Mechanismen sorgen dafür, dass unser Körper mit diesen Fremdstoffen nicht oder nur wenig belastet wird. Psychopharmaka müssen nach meist oraler Einnahme im Magen oder Darm freigesetzt werden (Liberation). Während der Passage durch den Magen-Darm-Trakt werden sie aufgenommen (Absorption). In der Leber werden sie chemisch modifiziert (Metabolismus) und schließlich während der Verteilung im Körper (Distribution) die Blut-Hirn-Schranke überwinden, um im Gehirn wirksam zu werden, bevor sie dann wieder ausgeschieden werden (Exkretion). Absorption, Distribution, Metabolisierung und Exkretion werden unter der Abkürzung ADME zusammengefasst. 2 Definition Die drei wichtigsten physiologischen Variablen, die den zeitabhängigen Verlauf der Arzneimittelkonzentrationen im Blut bestimmen, sind 5 Bioverfügbarkeit (F) Anteil des applizierten Medikamentes, welcher den Wirkort erreicht. 5 Verteilungsvolumen (V) Quotient der Pharmakonkonzentration im Körper zur Konzentration im Plasma. 5 Clearance (CL) Blut- oder Plasmavolumen, aus dem ein Pharmakon in einer definierten Zeit eliminiert wird. Für die Praxis ist außerdem relevant: 5 Eliminationshalbwertszeit (t1/2) Zeit, innerhalb derer die Konzentration des Pharmakons im Plasma um die Hälfte abnimmt. Bioverfügbarkeit Unter Bioverfügbarkeit (F) wird die Verfügbarkeit eines Pharmakons für systemische Wirkungen verstanden. Nach dieser Definition ist ein Pharmakon nach i.v.-Gabe zu 100% bioverfügbar. Aus dem Vergleich der Flächen unter den Konzentrations-ZeitKurven nach intravenöser und extravasaler Gabe errechnet sich die relative Bioverfügbarkeit. Für die meisten Psychopharmaka liegt sie über 50%. Sie kann jedoch nach oraler Einnahme bei der ersten Passage durch die Leber individuell sehr unterschiedlich sein und durch enzymatischen Abbau erheblich eingeschränkt werden, durch den sog. First-pass-Effekt. Bei eingeschränkter Leberfunktion oder im Alter kann die Bioverfügbarkeit erhöht sein. Verteilungsvolumen Das Verteilungsvolumen (V) ist ein Maß für die Verteilung der Plasmakonzentration (C) und der im Organismus vorhandenen Gesamtmenge (M) des Pharmakons: V = M/C Die meisten Psychopharmaka weisen wegen ihrer guten Fettlöslichkeit hohe Verteilungsvolumina auf. Für Amitriptylin beträgt z. B. das Verteilungsvolumen 15 l/kg. Daraus ist abzulesen, dass Amitriptylin bevorzugt im Gewebe gebunden wird. Aus dem Verteilungsvolumen kann allerdings nicht geschlossen werden, wie hoch die Konzentrationen im Gehirn oder in anderen Organen sind. 14 Kapitel 2 · Pharmakokinetik, Pharmakodynamik und Interaktionen Clearance 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 Die Clearance ist ein Maß für die Fähigkeit des Organismus, ein Pharmakon zu eliminieren. Die Clearance umfasst die Exkretionsleistung der Niere und andere Prozesse, etwa die Metabolisierung in der Leber oder die Ausscheidung über die Galle. Die totale Clearance (CL) ist die Summe aus renaler Clearance (CLR) und extrarenaler Clearance (CLNR) und lässt sich nach i.v.-Gabe einer Einzeldosis eines Medikaments durch Messung der Plasmakonzentrationen nach folgender Beziehung ermitteln: 16 17 18 19 20 Css = (F×D)/τ×1/CL CL = M/AUC Dabei ist M die in den systemischen Kreislauf gelangte Menge des Pharmakons und AUC die Fläche unter der Konzentrations-Zeit-Kurve. In der Praxis wird die Clearance unter Einbeziehung der Bioverfügbarkeit (F) berechnet: CL = F × Dosis/AUC Eliminationshalbwertszeit Die Eliminationshalbwertszeit (t1/2), auch terminale oder dominierende Halbwertszeit genannt, gibt die Zeit an, in der die Konzentration des Medikaments im Plasma um die Hälfte abgenommen hat. Die Eliminationshalbwertszeit ergibt sich aus dem zeitlichen Verlauf der Konzentration im Plasma nach Abschluss einer Verteilungsphase aus der Eliminationskonstante ke: ke = ln2/t1/2 demnach ist: t1/2 = ln2/ke = 0,693/ke Gleichgewichtszustand (Steady State) 15 Tages zu hohe toxische oder zu niedrige unwirksame Konzentrationen eingestellt werden. Die Amplitude ist abhängig von der Halbwertszeit und vom Verteilungsvolumen. Die im Steady State zu erwartende mittlere Plasmakonzentration (Css) eines Medikaments lässt sich aus den pharmakokinetischen Kenndaten Bioverfügbarkeit (F), Clearance (CL) sowie der Dosis (D) und dem Dosierungsintervall (τ) berechnen: Bei Kenntnis der pharmakokinetischen Kenngrößen lässt sich der zeitliche Verlauf einer Medikamentenkonzentration im Blut berechnen. Ist der therapeutische Bereich bekannt, so lassen sich daraus die für eine Wirkung notwendige Dosis und die Wirkdauer ermitteln. Dies ist für eine Einmalgabe möglich. Noch wichtiger als Berechnungen nach Einmaldosen sind in der Psychiatrie pharmakokinetische Berechnungen für wiederholte Dosierungen, da die meisten Psychopharmaka über lange Zeiträume verabreicht werden. Nach etwa 5 Halbwertszeiten eines Medikaments wird ein Gleichgewichtszustand (Steady State) erreicht. Auch in dieser Phase sind die Konzentrationen im Blut nicht konstant, sondern mehr oder weniger fluktuierend. Fluktuationen können für den Patienten problematisch sein, wenn im Verlauf des 2.2.1 Pharmakokinetische Phasen Die meisten Psychopharmaka werden oral als Tabletten eingenommen. Bei dieser Darreichungsform kann die Freisetzung (Liberation) für die Pharmakokinetik bedeutsam sein, während sie bei i.v.- oder i.m.-Gabe in der Regel keine Rolle spielt, da das Medikament nach der Verabreichung zu 100% verfügbar ist. Tablettenformulierungen können den Verlauf der Konzentrationen im Blut und, daraus resultierend, auch den Wirkeintritt und die Wirkdauer beeinflussen. Bei Darreichung der Wirksubstanz als Lösung ist die orale Verfügbarkeit rasch, da das Medikament vor der Resorption nicht gelöst werden muss. Es gibt auch retardierte Psychopharmakapräparate, z. B. von Clomipramin oder Venlafaxin, bei denen durch galenische Zubereitung eine langsame Freisetzung des Wirkstoffs erreicht wurde. Dies kann bei Substanzen mit kurzer Halbwertszeit (<4 h) vorteilhaft sein; es muss dann weniger oft dosiert werden als bei Gabe einer nichtretardierten Form. Eine weitere Möglichkeit, die Freisetzung eines Medikaments zu verzögern und lange Zeit anhaltende, wirksame Konzentrationen im Blut aufzubauen, ist die Verwendung von chemisch gebundenen Depotpräparaten (z. B. Haloperidol- oder Fluphenazindekanoat). Bei diesen Depotpräparaten sind Antipsychotika mit Dekansäure oder anderen langkettigen Fettsäuren über eine obligate Hydroxygruppe verestert. Nach Gabe des Depots wird die Esterbindung enzymatisch gespalten. Dadurch wird eine über 1–4 Wochen anhaltende Wirkung erreicht. Depotformen, die als Erhaltungstherapie oder für die Rezidivprophylaxe in der Psychopharmakotherapie sehr sinnvoll sein können, dürfen aber nur angewandt werden, wenn vorher die Verträglichkeit und Wirksamkeit der oralen Therapie gesichert wurden. 2.2 · Pharmakokinetik Absorption Die erste pharmakokinetische Phase im engeren Sinne ist die Absorption. Bei einem oral eingenommenen Psychopharmakon ist dies die enterale Resorption. Diese hängt ab von der Molekülgröße und von physikochemischen Eigenschaften des Pharmakons, insbesondere Ionisierbarkeit und Fettlöslichkeit. Die meisten Psychopharmaka passieren die Magen-DarmWand und müssen dabei, ebenso wie bei der späteren Wanderung zum Erfolgsorgan, viele biologische Membranen überwinden. Distribution Nachdem Psychopharmaka in die systemische Zirkulation gelangt sind, werden sie mit dem Blutstrom im Körper verteilt. Im Blut werden die meisten Psychopharmaka nicht frei, sondern an Proteine gebunden transportiert. Das Gehirn ist gut durchblutet, und ein dichtes Netzwerk feinster Kapillaren sorgt für einen raschen Stoffaustausch zwischen Blut- und Hirnmilieu (Graff u. Pollack 2004). Die meisten Psychopharmaka sind lipophil, daher gelangen sie rasch in ihr Zielgewebe, wahrscheinlich über passive Diffusion. Der Übertritt in das Zentralnervensystem ist allerdings erschwert, da das Gehirn durch sehr effektive Barrieren – die Blut-Hirn-Schranke und die BlutLiquor-Schranke – vor dem Eindringen von Fremdstoffen geschützt ist. Metabolisierung Bis auf wenige Ausnahmen, z. B. Lithium oder Amisulprid, die im Wesentlichen unverändert über die Niere ausgeschieden werden, werden die meisten Psychopharmaka umfangreich metabolisiert. Dabei werden Phase-I- und Phase-II-Reaktionen durchlaufen. Wichtigster Ort der Metabolisierung ist die Leber. In Phase-I werden die meist lipophilen Psychopharmaka chemisch »funktionalisiert«, indem z. B. eine Hydroxylgruppe eingeführt oder eine Sauerstoffgruppe freigesetzt wird. In der Leber können auch Metabolite entstehen, die pharmakologisch aktiv sind. Es gibt auch sog. Prodrugs, bei denen die Muttersubstanz nur eine Vorstufe darstellt, die durch Metabolisierung in der Leber aktiviert werden. So werden aus dem pharmakologisch inaktiven Amitriptylin-NOxid die aktiven Metabolite Amitriptylin und Nortriptylin. Durch Phase-I-Reaktionen werden Psychopharmaka in der Regel hydrophiler, sind aber oft noch nicht nierengängig und damit ausscheidbar. Phase-IReaktionen sind häufig die Vorbereitung für Phase-IIReaktionen, bei denen Moleküle konjugiert werden. 15 2 Psychotrope Medikamente, die eine geeignete funktionelle Gruppe für eine Konjugationsreaktion besitzen, gehen in der Regel ohne Umweg über eine PhaseI-Reaktion in eine Phase-II-Reaktion, so z. B. Oxazepam oder Lorazepam durch O-Glucuronidierung. Eine besonders wichtige Phase der Metabolisierung ist die bereits erwähnte erste Passage durch die Leber, der sog. First-pass-Effekt. Über den Pfortaderkreislauf fluten aus dem Darm hohe Konzentrationen der Medikamente an. Wenn das Medikament über Enzyme abgebaut wird, die in der Leber in großer Menge vorhanden sind, kann dies zu einer sehr effektiven Elimination und damit einer geringen systemischen Bioverfügbarkeit führen. Am Abbau von Psychopharmaka sind zahlreiche Enzyme beteiligt: 5 Enzyme der Cytochrom-P450-Familie, 5 Aldehydoxidasen, 5 Alkoholdehydrogenasen, 5 Epoxidhydrolasen, 5 Esterasen, 5 Flavinmonooxygenasen oder Monooxygenasen bei Phase-I-Reaktionen und 5 UDP-Glucuronyltransferasen, Sulfotransferasen oder Katechol-O-Methyltransferase bei Phase-IIReaktionen. Von besonderer Relevanz für den Metabolismus von Psychopharmaka sind Isoenzyme von Cytochrom-P450 (CYP), die insgesamt eine große Familie von Enzymen darstellen (Ingelman-Sundberg 2004). Mittlerweile sind mehr als 1000 verschiedene Gene im Tierund Pflanzenreich bekannt, die für distinkte CYP-Isoenzyme kodieren. Der Mensch besitzt 39 funktionelle Isoenzyme (Nelson et al. 2004). Die Enzyme der CYPFamilie sind nicht nur für den Ab- und Umbau von Fremdstoffen, sondern auch für die Verwertung und den Metabolismus von fettlöslichen physiologischen Substraten verantwortlich. Die einzelnen Isoenzyme werden CYP-Familien (arabische Ziffern) und -Unterfamilien (großer Buchstabe) zugeordnet. Am Abbau von Psychopharmaka sind im Wesentlichen die Isoenzyme CYP1A2, CYP2C9, CYP2C19, CYP3A4, CYP2D6 beteiligt. Sie werden zu 90–95% in der Leber exprimiert. Das in der menschlichen Leber am stärksten exprimierte Isoenzym ist CYP3A4. Es macht im Durchschnitt 30% der CYP-Isoenzyme aus. Die Expression der einzelnen CYP-Isoenzyme kann interund intraindividuell stark variieren. Dies hängt einerseits von der genetischen Ausstattung (Genotyp) des Patienten ab (Kirchheiner et al. 2005), variiert aber auch in Abhängigkeit von Alter, Lebensgewohnheiten, Erkrankung, Medikation oder anderen Faktoren. Rau- 16 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 2 · Pharmakokinetik, Pharmakodynamik und Interaktionen cher können z. B. eine höhere CYP1A2-Aktivität in der Leber aufweisen als Nichtraucher. Die meisten Psychopharmaka werden von mehr als einem Isoenzym abgebaut, denn CYP-Enzyme besitzen eine breite und überlappende Substratspezifität, und die Rolle der einzelnen Isoenzyme kann mit der Konzentration variieren. Es gibt allerdings auch Medikamente, die so gut wie ausschließlich über ein einziges Isoenzym abgebaut werden, z. B. Nortriptylin über CYP2D6. Wichtig Alle Psychopharmaka, die Substrate von CYP-Isoenzymen sind, sind auch mögliche Inhibitoren dieser Enzyme und können so pharmakokinetische Arzneimittelwechselwirkungen verursachen. Einige neue Antidepressiva sind hochpotente Inhibitoren von CYP-Enzymen. Fluvoxamin hemmt z. B. CYP1A2 und CYP2C19 und Fluoxetin und Paroxetin hemmen CYP2D6. Diese Antidepressiva sind daher bei gleichzeitiger Anwendung mehrerer Medikamente vorsichtig einzusetzen. Alle Enzyme, die an der Metabolisierung von Psychopharmaka oder anderen Fremdstoffen beteiligt sind, werden genetisch und epigenetisch reguliert. Da die Umwelt sehr variabel ist, ist es nicht erstaunlich, dass sich im Verlauf der Evolution viele fremdstoffmetabolisierende Enzyme entwickelt haben und eine hohe genetische Variabilität in der Ausstattung der Leber mit diesen Enzymen vorliegt (Evans u. Relling 1999). Genetische Unterschiede sind daher eine Ursache für die hohe interindividuelle Variabilität, die sich für Plasmakonzentrationen verschiedener Patienten bei gleicher Dosis findet, und letztendlich auch ein Grund für die Heterogenität im Ansprechen auf Psychopharmaka oder andere Medikamente. Kommen genetische Varianten in einer Häufigkeit von mindestens 1% in der Population vor, so spricht man definitionsgemäß von einem genetischen Polymorphismus. Als klinisch relevant wird er für ein Medikament dann angesehen, wenn mindestens 30% der Dosis durch das betreffende Enzym metabolisiert werden (Griese et al. 1998). Exkretion Die Ausscheidung oder Exkretion umfasst alle Prozesse, durch die Fremdstoffe und ihre Metabolite nach außen befördert werden. Ausscheidungsorgane sind die Niere, die Leber im Verbund mit der Galle, die Lunge, die Haut und der Speichel. Für mehr als 90% der Psychopharmaka stellt die Niere das Hauptexkretionsorgan dar. An der renalen und biliären Exkreti- on sind in der Regel Transportproteine beteiligt, über die die Psychopharmaka bzw. ihre Metabolite unter Energieverbrauch entsorgt werden. Psychopharmaka, die mit Glucuronsäure konjugiert sind, werden im proximalen Tubulus unter Energieverbrauch ausgeschleust. 2.3 Pharmakodynamik Pharmakodynamik umfasst Wirkungen und Wirkmechanismen von Medikamenten auf den Organismus. Das Konzept geht auf Überlegungen von Paul Ehrlich und John Newport Langley zurück. Es geht davon aus, dass jedes Medikament an einen Rezeptor binden muss, um zu wirken. Pharmakarezeptoren in diesem Sinne können unterschiedlichster funktioneller Natur sein, z. B. Enzyme, Hormonrezeptoren, Neurotransmitterrezeptoren, Transportproteine, Ionenkanäle oder DNA. Die meisten Psychopharmaka greifen direkt oder indirekt in die Neurotransmission ein, im Wesentlichen in die neuro-neuronale Übertragung (. Abb. 2.2). Psychopharmaka modulieren somit die Signalübertragung innerhalb der Synapse durch Aktivierung oder Hemmung, was zu unterschiedlichen Effekten führt (. Tab. 2.1). Rezeptorbindung Nach dem Konzept, dass jedes Medikament über einen Rezeptor wirkt, unterscheidet man zwei Arten von Wirkungen: eine stimulierende und eine hemmende. Dabei wird eine Substanz als stimulierend angesehen, wenn sie die Wirkung des endogenen Liganden imitiert und als inhibitorisch, wenn sie die Wirkung hemmt. Substanzen, die die Rezeptorfunktion aktivieren, werden als Agonisten bezeichnet. Eine Substanz, welche am Rezeptor die Bindungsstelle für den endogenen Transmitter blockiert, aber selbst keine Aktivierung auslöst, ist ein Antagonist, genauer ein kompetitiver Antagonist. Die Wirkstärke von Agonisten und Antagonisten ist abhängig von der Bindung an den Rezeptor. Eine Kennzahl, die dies umschreibt, ist die Affinität des Pharmakons zum Rezeptor, die Gleichgewichtsdissoziationskonstante KD. Sie kann experimentell durch Bindungsstudien mit radioaktiv markierten Liganden einfach ermittelt werden kann. Der Wert von KD entspricht der Konzentration, die notwendig ist, um die Hälfte der Rezeptoren mit dem Pharmakon zu besetzen. Die Dimension ist mol/l. Wirksame Psychopharmaka haben KD-Werte im Bereich von wenigen nmol/ l. 17 2.3 · Pharmakodynamik 2 NT-Metaboliten 4 4 NT Präsynaptisches Neuron NT 3 Postsynaptisches Neuron NT 2 1 NT . Abb. 2.2. Schematische Darstellung einer Kontaktstelle zwischen einem präsynaptischen und postsynaptischen Neuron. Solche Kontaktstellen (Synapsen) im Gehirn sind der wichtigste Angriffsort von Psychopharmaka. Im präsynaptischen Neuron wird Neurotransmitter (NT) gebildet und vesikulär gespeichert. Nach Reizung des Neurons wird der NT in den synaptischen Spalt freigesetzt. Der NT bindet an postsynaptische (1) und präsynaptische (2) Rezeptoren, letztere (2) werden auch Autorezeptoren genannt. Der NT wird durch Transporter (3) unter Verbrauch von Energie wieder in das präsynaptische Neuron aufgenommen. Dies ist für die meisten NT der Definition Agonist: Substanz, die an einen Rezeptor bindet und diesen stimuliert. Antagonist: Substanz, die an einen Rezeptor bindet, ohne diesen zu stimulieren, die jedoch die Stimulation durch einen Agonisten hemmt. Intrinsische Aktivität: stimulierende Wirkung eines Agonisten. wichtigste Inaktiverungsmechanismus. Ein weiterer Inaktivierungsmechanismus ist enzymatischer Abbau durch z. B. Monoaminoxidase in der äußeren Mitochondrienmembran (4). Viele Antidepressiva wirken durch Hemmung der Wiederaufnahme (3) oder durch Hemmung des NT-Abbaus (4), Antipsychotika durch Hemmung von post- und präsynaptischen Rezeptoren (1 und 2), anxiolytisch oder hypnotisch wirksame Benzodiazepine fördern die Aktivierung postsynaptischer Rezeptoren durch den inhibitorischen Neurotransmitter Gammaaminobuttersäure (GABA), Lithium wahrscheinlich durch Angriff von Signalkaskaden, die Rezeptoren nachgeschaltet (1) sind makawirkungen wird über metabotrope Rezeptoren vermittelt, die auch G-Protein-gekoppelte-Rezeptoren genannt werden. G-Proteine sind Bestandteile einer den Rezeptoren nachgeschalteten Signalkaskade. Durch Aktivierung von G-Proteinen kommt es in der Zelle zu einer Veränderung des Stoffwechsels mit An- oder Abschalten von verschiedenen Effektorsystemen, z. B. der Bildung von zyklischem Adenosinmonophosphat (cAMP). Irreversible Wirkungen Rezeptor-Signal-Transduktion Es gibt zwei große Klassen von NeurotransmitterRezeptoren, ionotrope Rezeptoren und metabotrope Rezeptoren. Zu den ionotropen Rezeptoren, auch Ionenkanal-gekoppelte-Rezeptoren genannt, mit psychopharmakologischer Relevanz gehören GABAARezeptoren, über die Benzodiazepine wirken, oder Acetylcholin-Rezeptoren. Sie bilden einen Ionenkanal, der bei Aktivierung durch einen Agonisten geöffnet wird, bei GABAA-Rezeptoren führt der vermehrte Einstrom von Chlorid-Ionen zu einer Hyperpolarisation der Zelle und damit zu einer Hemmung der Reizweiterleitung. Die Mehrzahl der Psychophar- Normalerweise ist die Bindung eines Medikamentes an seinen Rezeptor reversibel. Die Wirkung lässt nach, indem das Pharmakon vom Rezeptor dissoziiert. Es gibt jedoch Wirkstoffe, die mit ihrem »Rezeptor« eine kovalente Bindung eingehen und diesen damit in seiner Funktion lahm legen. Meist handelt es sich dabei um Giftstoffe. Ein Pschopharmakon mit einem solchen Wirkprinzip ist der Monoaminoxidasehemmer Tranylcypromin. Es bindet im aktiven Zentrum des Enzyms und inaktiviert damit das Enzym. Die messbare Hemmwirkung lässt erst nach, indem neues Enzym gebildet wird. 18 Kapitel 2 · Pharmakokinetik, Pharmakodynamik und Interaktionen . Tab. 2.1. Beispielhafte Zielstrukturen von Psychopharmaka und deren Wirkung 1 Zielstrukturen 2 Medikament und pharmakologischer Effekt in der Synapse Klinische Effekte Acetylcholinesterase Donepezil (Antidementivum) wirkt hemmend; Anstieg der Konzentration des Neurotransmitters Acetylcholin Gesteigerte Vigilanz NW: Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, Tremor, Schlaflosigkeit, Verwirrtheit, Delir, Muskelkrämpfe Monoaminoxidase Tranylcypromin (Antidepressivum); Anstieg der Konzentrationen der Monoamine Noradrenalin, Serotonin und ggf. Dopamin Langfristig depressionslösend NW: Kurzfristig Übelkeit, Schlafstörungen Dopamin-Transporter Cocain (Suchtmittel) wirkt hemmend; Anstieg der Konzentrationen von Dopamin Gesteigerte Aufmerksamkeit, Euphorie NW: Schlaflosigkeit, Appetitminderung NoradrenalinTransporter Reboxetin (Antidepressivum) wirkt hemmend; Anstieg der Konzentration von Noradrenalin Langfristig depressionslösend NW: Kurzfristig Tremor, Unruhe, Kopfschmerzen, Miktionsstörungen, Schwindel, Schwitzen Serotonin-Transporter Fluoxetin (Antidepressivum) wirkt hemmend; Anstieg der Konzentration von Serotonin Langfristig depressionslösend NW: Kurzfristig Appetitminderung, Übelkeit, Diarrhö, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Unruhe, Schwitzen, sexuelle Funktionsstörung Dopamin-Rezeptoren Haloperidol (Antipsychotikum) wirkt hemmend; blockiert die Rezeptorstimulation Antipsychotische Wirkung NW: Extrapyramidal-motorische Störungen, Prolaktinanstieg, antiemetisch, sexuelle Funktionsstörungen, Störungen der Thermoregulation, neuroleptisches Syndrom GABAA-Rezeptoren Diazepam (Anxiolytikum); wirkt funktionell agonistisch auf den GABA-induzierten Chlorid-Ionenstrom Stimulation wirkt angstlösend, schlafinduzierend, muskelrelaxierend NW: Dysarthrie, Ataxie, Apathie, Schwäche Enzyme 3 4 5 6 Transporter 7 8 9 10 11 Rezeptoren 12 13 14 15 16 Unerwünschte Effekte treten in Abhängigkeit von der Dosis und von der individuellen Disposition in unterschiedlicher Häufigkeit auf. NW Nebenwirkungen Arzneimittelwechselwirkungen 17 2.4 18 Wenn sich die Wirkung eines Medikaments durch die Zugabe eines zweiten Medikaments ändert, liegt eine Wechselwirkung vor. Diese kann pharmakodynamischer oder pharmakokinetischer Natur sein (Jefferson 1998). Pharmakokinetische Wechselwirkungen sind in allen Phasen möglich, während der Resorption, der Verteilung, der Metabolisierung und der Exkretion. 19 20 Die meisten pharmakokinetischen Interaktionen von Psychopharmaka betreffen nach derzeitiger Kenntnis die Metabolisierung in der Leber. Enzyme der Biotransformation werden gehemmt oder induziert. Dadurch steigen oder fallen die Wirkspiegel des Medikaments ab. Wenn das Medikament einen engen therapeutischen Bereich hat und die Hemm- oder Induktionseffekte ausgeprägt sind, kann es bei therapeutisch üblichen Dosen zu einer Intoxikation oder zum Wirkverlust kommen. Pharmakokinetische Arzneimittelwechselwirkungen sind in der Psychopharmakothera- 2.5 · Therapeutisches Drug-Monitoring pie relevant. Es gibt eine Reihe von Psychopharmaka, die Enzyme der Biotransformation hemmen. Von den 6 auf dem Markt befindlichen selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) sind 3 potente Hemmstoffe von CYP-Enzymen: Fluoxetin und Paroxetin hemmen CYP2D6, Fluvoxamin hemmt CYP1A2 und CYP2C19. Weil es viele Patienten gibt, die auf eine Monotherapie nicht ansprechen, sind Kombinationsbehandlungen in der Praxis der Psychopharmakotherapie nicht zu vermeiden. Um bei einer vorgesehenen Medikamentenkombination abzuschätzen, ob mit Wechselwirkungen zu rechnen ist, sind mehrere Faktoren zu beachten. Wesentliche Faktoren, die bei Medikamentenkombinationen zu beachten sind 5 Metabolisierende Enzyme und deren quantitative Bedeutung für den Abbau 5 Substrateigenschaften an den arzneimittelmetabolisierenden Enzymen 5 Hemmeigenschaften an den arzneimittelabbauenden Enzymen 5 Pharmakologische Eigenschaften der Metabolite 5 Substrat- und Hemmeigenschaften der Metabolite 5 Therapeutische Breite der Medikamente und ihrer Metabolite 5 Individuelle Gegebenheiten des Patienten (z. B. Metabolisierer-Status) Pharmakokinetische Wechselwirkungen sind für den verordnenden Arzt kaum überschaubar. Sie unterliegen einer Systematik, die sich an Substrat- und Hemmeigenschaften arzneimittelabbauender Enzyme orientiert und nicht an pharmakologischen Wirkmechanismen. Um die Vorhersage von Wechselwirkungen zu erleichtern, sind Computerprogramme hilfreich. Über das Internet verfügbar sind z. B. die Programme PsiacOnline (http://www.psiac.de), Kompendium-online (http://www.psychiatrische-pharmakotherapie.de) oder MediQ (http://www.mediq.ch). 2.5 Therapeutisches DrugMonitoring Resorption, Metabolisierung, Verteilung oder Exkretion von Psychopharmaka ist zwischen verschiedenen Patienten in Abhängigkeit von Faktoren wie Alter, Lebensgewohnheiten, Erkrankung oder Medi- 19 2 kation sehr unterschiedlich. Daher ist bei der Einstellung eines Patienten auf ein Psychopharmakon nicht sicher vorhersagbar, welche Medikamentenkonzentrationen aufgebaut werden. Bei der medikamentösen Behandlung von Patienten mit psychischen Erkrankungen sind deshalb und auch wegen pharmakodynamischer Varianzen Dosiskorrekturen oder Medikamentenwechsel an der Tagesordnung; auch die unsichere Compliance ist ein Problem bei der Pharmakotherapie dieser Patienten. Diese Varianzen und die pharmakokinetische Variabilität können durch Messung der Medikamentenkonzentrationen in Blutplasma oder -serum kontrolliert und korrigiert werden. Blutspiegelmessungen, sog. therapeutisches DrugMonitoring (TDM), sind die praktische Anwendung von pharmakokinetischen Kenntnissen für die Therapieoptimierung (Baumann et al. 2004; Hiemke et al. 2005; Jaquenout Sirot et al. 2006). Die Aufgabe von TDM ist es herauszufinden, ob für die Therapie eines individuellen Patienten eine wahrscheinlich wirksame Dosis gewählt wurde. Dabei sind die angestrebten Blutspiegel (Synonyme: Plasmaspiegel, Serumspiegel, Plasmakonzentration oder Serumkonzentration) eine wesentliche Orientierungsgröße. Man geht davon aus, dass es für therapeutische und toxische Wirkungen jeweils eine minimal effektive Konzentration gibt. Der Bereich zwischen beiden Konzentrationen wird als therapeutisches Fenster einer Substanz definiert. Typische Indikationen für TDM 5 Vermeidung von Intoxikationen (z. B. Lithium) 5 Verdacht auf Nichteinnahme der verordneten Medikamente 5 Kein oder ungenügendes Ansprechen bei klinisch üblicher Dosis 5 Ausgeprägte Nebenwirkungen bei klinisch üblicher Dosis 5 Verdacht auf Arzneimittelinteraktionen 5 Kombinationsbehandlung mit einem Medikament mit bekanntem pharmakokinetischem Interaktionspotenzial 5 Rezidiv unter Erhaltungsdosis 5 Bekannte pharmakogenetische Besonderheiten 5 Kinder und Jugendliche 5 Alterspatienten über 65 Jahre 20 1 2 3 4 5 6 7 Kapitel 2 · Pharmakokinetik, Pharmakodynamik und Interaktionen Fazit Medikamente werden in der Regel oral verabreicht. Bevor sie wirken können, müssen sie absorbiert und verteilt werden. Im Körper werden sie chemisch umgewandelt, bevorzugt in der Leber, und wieder ausgeschieden, meist über die Niere oder Galle. Die Pharmakokinetik beschreibt den zeitlichen Verlauf der Medikamente im Körper. Wichtige pharmakokinetische Kenngrößen, die bei verschiedenen Medikamenten sehr unterschiedlich sein können und auch von Patient zu Patient variieren, sind die Bioverfügbarkeit, die Clearance, das Verteilungsvolumen und die Eliminationshalbwertszeit. Die Pharmakodynamik beschreibt die Wirkung und Wirkmechanismen der Medikamente. Die Kenntnis pharmakokinetischer und -dynamischer Eigenschaften der Medikamente ist eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Anwendung. 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Checkliste 2.6 ? 1. Welches sind die wesentlichen Phasen der Pharmakokinetik? 2. Was versteht man unter dem pharmakokinetischen Begriff Elimination? 3. Was beschreibt der Begriff Verteilungsvolumen? 4. Welche Enzyme sind mit Blick auf die Metabolisierung von Psychopharmaka besonders relevant? 5. Welches Enzym wird durch Rauchen induziert? 6. Welche Psychopharmaka hemmen das CYPIsoenzym 2D6 7. Welche beiden Typen von Neurotransmitterrezeptoren gibt es? 8. Wie wirkt Tranylcypromin? 9. Was besagt das Rezeptor-Konzept von Ehrlich und Langley? 10. Welche Gründe gibt es, Plasmaspiegelkonzentrationen bei Gabe eines Psychopharmakons zu messen? 21 3.1 · Arzneimittelinformation 3.1 Information und Aufklärung 3.1.1 3.1.2 Informationen für Therapeuten – 22 Informationen für Patienten und Angehörige 3.2 Informationsquellen 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 Wissenschaftlich überwachte Information – 22 Primärliteratur – 23 Sekundärliteratur – 23 Tertiärliteratur – 23 Institutionell überwachte Information – 23 Datenbankgestützte Information – 25 3.3 Bewertung von Informationen und evidenzbasierter Medizin – 26 3.4 Neue Informationen 3.4.1 3.4.2 Neu beobachtete nützliche Wirkungen – 27 Neu beobachtete unerwünschte Wirkungen – 27 3.5 Checkliste – 28 – 22 – 22 – 22 – 27 3 22 Kapitel 3 · Arzneimittelinformation 3.1 Information und Aufklärung 1 Definition 2 3 4 5 Für eine erfolgreiche Pharmakotherapie ist eine valide und zuverlässige Information äußerst wichtig: Für Therapeuten, um nach dem neusten Stand behandeln zu können und für Patienten, um umfassend über Wirkungsweise und Risiken informiert zu sein. Wichtige Informationsquellen sind hierbei der Beipackzettel, Fachliteratur sowie das Internet mit zahlreichen Datenbanken, wie z. B. Cochrane Library, PubMed u. a. 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 3.1.1 Informationen für Therapeuten Erfahrene Therapeuten wenden bevorzugt Medikamente an, mit denen sie eigene Erfahrungen erworben haben. Das betrifft therapeutisch erwünschte Eigenschaften ebenso wie unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Wechselwirkungen. Neue Erkenntnisse mit den alten Wirkstoffen, die Einführung neuer Medikamente und Nichtansprechen der Patienten machen es notwendig, dass auch der erfahrene Therapeut sich stetig neu informieren muss. Es ist für den praktisch tätigen Therapeuten dabei von Bedeutung, wie mit der Fülle angebotener Information umzugehen ist, um eine Therapie nach dem aktuellen Stand des Wissens anzuwenden. 3.1.2 Informationen für Patienten und Angehörige Vor Beginn einer medikamentösen Therapie muss der Patient, und wenn erforderlich auch die Angehörigen, über die Notwendigkeit der Anwendung des Arzneimittels und auch über die damit verbundenen Risiken aufgeklärt werden. Dies beinhaltet die Information über die Dosis und die erwarteten therapeutischen Effekte, aber auch unerwünschte Wirkungen. Der Patient soll verstehen, warum eine medikamentöse Behandlung für ihn sinnvoll ist. Er muss auch über mögliche unerwünschte Wirkungen aufgeklärt werden. Dies muss umso ausführlicher sein, je risikoreicher das Medikament ist. Ein Hinweis auf den Beipackzettel ist nicht ausreichend und nach Rechtsprechung auch nicht das Unterzeichnen eines standardisierten Aufklärungsbogens. Es muss eine mündliche Aufklärung durch den Therapeuten stattfinden. Dabei sollte vom Therapeuten bedacht werden, dass Pati- enten durch die Informationen im Beipackzettel verunsichert werden, wenn sie die Informationen nicht ausreichend verstehen. Die Aufklärung des Patienten muss dokumentiert werden, z.B. durch einen Vermerk in der Krankenakte. Die ausführliche Aufklärung gilt ganz besonders für Medikamente die »off-label« verordnet werden, d.h. es besteht keine Zulassung des Medikaments für die geplante Indikation. Ein Beispiel ist der Einsatz von selektiven Serotoninrückaufnahmehemmern (SSRI) bei der Behandlung von depressiven Syndromen bei kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen. Dies entspricht einem sog. individuellen Heilversuch. 70% der im Kindes- und Jugendalter eingesetzten Arzneimittel sind für eine solche Anwendung nicht geprüft oder zugelassen. In der Kinderund Jugendpsychiatrie müssen der Patient und die Bezugspersonen (Eltern, Lehrer) aufgeklärt werden. Darüber hinaus wird sich der Patient über die verordneten Medikamente in der Apotheke oder aus anderen Quellen informieren. Dazu zählt auch das Internet. Es ist hilfreich, wenn der Therapeut Hinweise auf gute Information geben kann, und er sollte die Formulierungen und Inhalte des Beipackzettels kennen. 3.2 Informationsquellen 3.2.1 Wissenschaftlich überwachte Information Wenn für ein Medikament eine Zulassung zur Behandlung einer Erkrankung beantragt wird, dann sind vom Hersteller umfangreiche präklinische und klinische Daten erhoben worden, die der Behörde mit den Zulassungsunterlagen vorgelegt werden (Kohnen u. Beneš 2008). Die wesentlichen Inhalte werden in der Investigator-Broschüre zusammengefasst, die in der Regel auch nach der Zulassung nicht allgemein zugänglich ist. Nach der Zulassung werden die auf 4– 10 Seiten kondensierten präklinischen und klinischen Eigenschaften international in den Summary of Product Characteristics (SPC) und national in den Fachinformationen zusammengestellt. Diese Informationen sind allgemein zugänglich, und in ihnen findet der Anwender auch die wesentlichen pharmakologischen Eigenschaften der Arzneimittel beschrieben. Viele Untersuchungen aus der Medikamententwicklung werden als Originalarbeiten (s. unten) publiziert, sowohl vor als auch nach der Zulassung. Nach der Zulassung entstehen durch Folgeuntersuchungen, oft unabhängig vom Hersteller, neue Erkenntnisse. Viele 23 3.2 · Informationsquellen Wechselwirkungen von Medikamenten sind z. B. erst nach der Zulassung entdeckt worden oder man findet Hinweise auf neue Indikationen. Grundsätzlich wird unabhängig davon, wie die Information technisch aufbereitet wurde (gedruckt oder elektronisch), zwischen Primär-, Sekundär und Tertiärliteratur unterschieden. 3.2.2 Primärliteratur Primärliteratur umfasst die Veröffentlichungen der Originalarbeiten von Forschungsergebnissen in Journalen. Hier werden Untersuchungen und Studien vorgestellt, in denen die Wirkmechanismen bestimmter Medikamente aufgezeigt und deren klinische Wirksamkeit sowie die erwünschten und unerwünschte Wirkungen beschrieben werden. Es wird unterschieden nach Journalen mit und ohne Gutachtersystem. Als Informationsquelle sollten unbedingt solche mit Gutachtersystem bevorzugt werden, da die Begutachtung erreichen soll, dass für die Untersuchungen geeignete Methoden verwendet wurden und dass die Ergebnisse korrekt ausgewertet und kritisch beurteilt wurden. 3 3.2.4 Tertiärliteratur Lehrbücher, Standard- und Nachschlagewerke sind Tertiärliteratur. Bei ihrer Abfassung wird der Stand des Wissens aus Originalarbeiten und Review-Artikeln kompakt und systematisch aufgearbeitet. In der seriösen Tertiärliteratur werden gesicherte Erkenntnisse dargestellt. Die Tertiärliteratur ist eine Quelle zur Basisinformation. In Lehrbüchern der allgemeinen Pharmakologie werden grundlegende Prinzipien erklärt, bezogen auf die Physiologie bzw. Pathophysiologie der Organe, wie Medikamente wirken. In der Regel wird hier nach Wirkstoffgruppen systematisiert. Damit kann ein Grundverständnis über Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten erworben werden, vor allem für Studierende. Spezielle Lehrbücher differenzieren fachspezifisch und gehen auf Besonderheiten von Einzelmedikamenten ein, in der Psychopharmakotherapie z. B. das Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie (Benkert u. Hippius 2007). Sie informieren in erster Linie den verordnenden Arzt in der Weiterbildung oder den Facharzt. 3.2.5 Institutionell überwachte Information 3.2.3 Sekundärliteratur Sekundärliteratur fasst Originalarbeiten themenbezogen zusammen, in sog. Review-Artikeln oder Monographien. Sie werden üblicher Weise von langjährig erfahrenen Experten verfasst, die in der Lage sind, die Originalliteratur zu lesen und durch eigene Erfahrung zu bewerten. Auch bei Review-Artikeln sind solche aus Journalen zu bevorzugen, die von Expertenkollegen begutachtet wurden. Dies mindert die Gefahr, dass in einem zusammenfassenden Artikel ein Inhalt falsch, einseitig oder unzureichend dargestellt wird. Review-Artikel stellen in der Regel den Stand des Wissens über ein bestimmtes Gebiet dar. Zur Sekundärliteratur gehören auch Kurzberichte, die über wichtige einzelne Originalarbeiten referieren und/oder diese kommentieren. Beispiele für solche Literaturquellen im deutschen Sprachraum sind der Arzneimittelbrief, das Arznei-Telegramm oder Mitteilungen der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. Kurzmitteilungen werden von Experten verfasst, die regelmäßig die wissenschaftliche Literatur sichten und daraus besonders wichtig erscheinende Artikel auswählen und auf die Inhalte aufmerksam machen. Beipackzettel Der sog. Beipackzettel ist eine Gebrauchsinformation, die gesetzlich vorgeschrieben ist. Er muss jeder Medikamentenpackung beiliegen, meist als gefaltetes Blatt. Der Beipackzettel ist für den Patienten eine wesentliche Informationsquelle; er soll für den bestimmungsgemäßen Gebrauch des Präparates sorgen. Gesetzlich vorgegeben müssen bestimmte Angaben enthalten sein (. Tab. 3.1). Nach Befragungen von Patienten werden die Informationen der Beipackzettel oft nicht verstanden. Dies kann zu Verunsicherung führen und sogar zur Nichtanwendung des Arzneimittels. Daher ist die Aufklärung des Patienten über das Medikament durch den Behandler unbedingt notwendig. Ein einfacher Hinweis auf den Beipackzettel ist keine ausreichende Aufklärung des Patienten. Er muss über Dosis, mögliche Unverträglichkeit und Nebenwirkungen ins Bild gesetzt werden. Je gefährlicher ein Medikament ist, umso ausführlicher muss die Aufklärung sein. Rote Liste Vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie wird gemeinsam mit dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller, dem Bundesfachverband der Arzneimittelhersteller und vom Deutschen Generi- 24 1 2 3 4 5 6 7 8 Kapitel 3 · Arzneimittelinformation . Tab. 3.1. Inhaltsangaben des Beipackzettels Anwendungsgebiet Patient erfährt, bei welchen Krankheiten das Medikament angewandt werden darf Gegenanzeigen Patient erfährt, bei welchen Bedingungen das Medikament nicht angewandt werden darf, z. B. in der Schwangerschaft Vorsichtsmaßnahmen/Warnhinweise Hinweise auf mögliche Beeinträchtigungen, wenn etwa die Fahrtüchtigkeit oder das Bedienen von Maschinen eingeschränkt sind Wechselwirkungen mit anderen Mitteln Hier werden die möglichen Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten beschrieben und evtl. Warnhinweise gegeben Dosierung, Art und Dauer der Anwendung Anweisungen zu Dosierung, Einnahmezeitpunkt und -dauer des Präparats Nebenwirkungen Hier wird nach festgelegtem Schema auf die Häufigkeit des Auftretens von Nebenwirkungen hingewiesen: »Sehr häufig«: bei mehr als 10% der Behandelten, »häufig«: mehr als 1%, »gelegentlich«: mehr als 0,1%, »selten«: mehr als 0,01% und »sehr selten«: weniger als 0,01% 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 kaverband die Rote Liste herausgegeben. Sie erscheint jährlich und ist das wesentliche Verzeichnis der in Deutschland erhältlichen Fertigarzneimittel. Die Medikamente mit etwa 1500 Wirkstoffen werden lexikalisch nach 88 Indikations- und Wirkstoffgruppen geordnet aufgelistet. Die Rote Liste enthält ein Verzeichnis der Fertigarzneimittel, alphabetisch geordnet nach Präparatenamen und ein Verzeichnis der Wirkstoffe, alphabetisch geordnet nach den gebräuchlichen Kurzbezeichungen. In Letzterer findet man für die arzneilich wirksamen Stoffe die Eliminationshalbwertszeiten angegeben, die sich in der Regel auf leberund nierengesunde Erwachsene beziehen. Des Weiteren wird in der Präparateliste angegeben, ob eine Substanz durch Hämolyse oder Hämoperfusion eliminiert werden kann; eine Information, die bei einer Intoxikation von Bedeutung ist. Am umfangreichsten und wichtigsten ist in der Roten Liste der Präparateteil. Er enthält kurzgefasste Informationen zu folgenden Themen: 5 Zusammensetzung der Fertigarzneimittel 5 Anwendungsgebiete 5 Dosierung 5 Gegenanzeigen 5 Warnhinweise 5 Anwendungsbeschränkungen 5 Anwendungen in der Schwangerschaft und während der Stillzeit 5 Nebenwirkungen 5 Wechselwirkungen 5 Überdosierung 5 Intoxikationen Zusätzlich findet man Angaben über verfügbare Packungsgrößen, Preise und Lagerungshinweise, Gegenanzeigen sowie Anwendungsbeschränkungen. Neben- und Wechselwirkungen werden noch einmal systematisch in einem Sonderteil abgehandelt. Seit einigen Jahren ist die Rote Liste auch als CD erhältlich und über das Internet einsehbar. Für Ärzte und Apotheker ist über DocCheck ein kostenfreier Zugang möglich. Fachinformation Nach § 11 des Arzneimittelgesetztes werden von den pharmazeutischen Unternehmern über deren Arzneimittel Fachinformationen (Summary of Product Characteristics, SPC) erstellt. Auf 2–6 Seiten wird, mit ähnlicher Gliederung wie in der Rote Liste und im Beipackzettel, über Anwendungsgebiete, Nebenwirkungen, Wechselwirkungen, Warnhinweise, Inkompatibilitäten, Dosierung, Notfallmaßnahmen, Pharmakologie des Arzneimittels informiert. Das für die Erstellung verwendete wissenschaftliche Material entstammt in der Regel aus eigenen Studien, die für die Zulassung durchgeführt wurden. Für die formale und inhaltliche Gestaltung liefert die Zulassungsbehörde Musterfachinformationen, in Deutschland das 25 3.2 · Informationsquellen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Durch Spontanerfassung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen und -wechselwirkungen (s. unten) kann es dazu kommen, dass neue Informationen aufgenommen werden müssen, entweder eigeninitiativ durch den Hersteller oder veranlasst durch die Zulassungsbehörde. Von wissenschaftlichen Originalarbeiten unterscheiden sich die Fachinformationen im Wesentlichen dadurch, dass die für die Erstellung der Inhalte verwendeten Daten in der Regel nicht dargestellt werden und keine Quellen angegeben werden. Die Richtigkeit der Angaben wird allerdings durch die Zulassungsbehörde überwacht. Darüber hinaus werden bei der Abfassung der Texte auch rechtliche Aspekte berücksichtigt, um den Hersteller haftungsrechtlich zu schützen. Fachinformationen sind eine wesentliche Quelle für Arzneimittelinformationen. Die Angaben werden in Lehrbüchern, d.h. in Sekundär- und Tertiärliteratur, übernommen. Sie beeinflussen daher das Verschreibungs- und Therapieverhalten direkt und indirekt. 3.2.6 Datenbankgestützte Information Non-Printmedien umfassen alle Informationen, die auf elektronischen Datenträgern abrufbar sind. Der- zeit werden in erster Linie CD-ROM und OnlineDatenbanken als Medien genutzt, von denen Information abgerufen werden. Wichtige Internetseiten sind in . Tab. 3.2 aufgelistet. PubMed Zur schnellen Suche von Originalarbeiten stehen verschiedene Datenbanken zur Verfügung, am wichtigsten ist der PubMed-Service, ein weltweit frei zugänglicher Service der National Library of Medicine in den USA (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/). In dieser Datenbank findet man über 16 Millionen Zitierungen aus MEDLINE und anderen wissenschaftlichen Journalen. Sie reicht zurück bis in das Jahr 1950. Über PubMed sind auch Zugänge zu Volltextversionen möglich. Wie weitgehend dies ist, hängt davon ab, welche Zugänge freigeschaltet sind. Für jedermann zugänglich sind in der Regel die sog. Abstracts, die die wesentlichen Ergebnisse der Originalarbeit darstellen und diskutieren. Man sollte sich allerdings auf die Schlussfolgerungen in den Abstracts nicht blind verlassen, besonders dann, wenn Zahlenangaben fehlen. In Abstracts werden von den Autoren Positivbefunde mehr hervorgehoben als Negatgivbefunde. Daher ist das Abstract nicht mehr und nicht weniger als eine erste Orientierung über den Inhalt der Originalarbeit. . Tab. 3.2. Internetadressen zum Abrufen von Arzneimittelinformationen Datenbank Internetadressen Für Experten Datenbank für die Suche von Originalarbeiten und ReviewArtikeln http://www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez Cochrane-Datenbank für die Bewertung von Therapien nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin http://www.cochrane.de Internetportal für medizinische Fachberufe in Europa http://www.doccheck.com/de/ Fachinformationen für Deutschland, einschließlich EU-Zulassungen http://www.fachinfo.de/ Rote Liste, Verzeichnis von Fertigarzneimitteln in Deutschland http://www.rote-liste.de/ Internationale Fertigarzneimittel basierend auf der ABDA-Datenbank http://www.pharmavista.ch/content/default.aspx Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie für deutschsprachige Länder http://www.psychiatrische-pharmakotherapie.de/ Für Patienten und Angehörige Datenbank gebräuchlicher Fertigarzneimittel auf der Grundlage einschlägiger Fachliteratur 3 http://www.netdoktor.de/ 26 Kapitel 3 · Arzneimittelinformation DIMDI 1 2 3 4 5 6 7 8 Nach § 67a des Arzneimittelgesetzes (AMG) hat das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) den Auftrag, ein zentrales datenbankgestütztes Informationssystem über Arzneimittel zu errichten. Unter http://www.dimdi.de/ findet man amtliche Zulassungsinformationen und umfassende Informationen zu Zusammensetzung, Dosierung, (Kontra-) Indikationen, Anwendung, Neben- und Wechselwirkungen von Arzneistoffen und Fertigarzneimitteln im In- und Ausland. Außerdem sind auch packungsbezogene und ökonomische Daten recherchierbar. Die Information entstammt aus etwa 70 Datenbanken. Neben den speziellen Datenbanken des Medizinprodukte-Informationssystems findet man weitere Informationen zu Medizinprodukten in den medizinischen Literaturdatenbanken wie MEDLINE, EMBASE und SciSearch. Für seine Leistung erhebt das DIMDI Gebühren. Heilberufler mit DocCheck-Passwort erhalten über dieses Infosystem kostenfrei Arzneimittelinformationen. 9 3.3 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Bewertung von Informationen und evidenzbasierter Medizin Über die oben aufgeführten Informationsquellen gelangt man zu Veröffentlichungen von guter Qualität. Dies wird erreicht durch Begutachtung der Publikationen durch Experten in wissenschaftlichen Einrichtungen. Gesetzliche Regelungen haben dafür gesorgt, dass klinische Studien seit 1991 in Europa nach den Richtlinien der sog. guten klinischen Praxis (GCP) durchgeführt werden (Kohnen u. Beneš 2008). In besonders aufwändiger Weise geschieht die Sichtung der Qualität der wissenschaftlichen Literatur nach den Regeln der sog. evidenzbasierten Medizin (EBM). EBM hat das Ziel, für die medizinische Versorgung eines einzelnen Patienten, die gegenwärtig beste Evidenz zu nutzen und angemessen einzusetzen (Sackett et al. 1999). Das bedeutet, eine therapeutische Maßnahme soll nach dem Stand des Wissens durchgeführt werden, die in der wissenschaftlichen Literatur formuliert ist. EBM verbindet so wissenschaftliche und praktische Medizin. Die Anwendung von evidenzbasierter Medizin erfolgt in 4 Schritten: 1. Formulierung einer beantwortbaren klinischen Frage 2. Suche nach der besten Evidenz 3. Kritische Bewertung der Evidenz 4. Praktische Anwendung der Information Der aufwendigste Schritt dieser Folge ist die Suche nach der besten Evidenz. Er erfordert eine kritische Sichtung der Literatur nach festgelegten Regeln (Sackett et al. 1999). Als Ergebnis der Auswertungen wird die Qualität einer Maßnahme mit I bis III beurteilt. I Evidenz aufgrund mindestens einer adäquat randomisierten kontrollierten Studie II-1 Evidenz aufgrund einer kontrollierten nichtrandomisierten Studie mit adäquatem Design II-2 Evidenz aufgrund von Kohortenstudien oder Fall-Kontrollstudien mit adäquatem Design II-3 Evidenz aufgrund von Vergleichsstudien, die Populationen in verschiedenen Zeitabschnitten, an verschiedenen Orten mit oder ohne Intervention vergleichen III Meinungen von respektierten Experten, gemäß klinischer Erfahrung, beschreibender Studien oder Berichten von Experten Ob eine medizinische Maßnahme für die Diagnose oder Therapie einer Erkrankung zu empfehlen ist oder nicht, wird mit A bis E klassifiziert A Gute Evidenz, eine Maßnahme zu empfehlen B Ausreichende Evidenz, eine Maßnahme zu empfehlen C Ungenügende Evidenz, eine Maßnahme zu empfehlen oder nicht zu empfehlen. Aufgrund bestimmter Gegebenheiten kann eine Maßnahme gerechtfertigt sein. D Ausreichende Evidenz, eine Maßnahme nicht zu empfehlen E Gute Evidenz, eine Maßnahme nicht zu empfehlen Mit dieser Vorgehensweise lässt sich auch die Datenlage bezüglich der Anwendung von Psychopharmaka für die Behandlung eines individuellen Patienten überprüfen. Cochrane-Datenbank und evidenzbasierte Medizin Es wurden in den letzten Jahren Institutionen und Arbeitsgruppen gebildet, die den medizinischen Nutzen therapeutischer Verfahren nach dem aufwändigen Procedere der evidenzbasierten Medizin auswerten. Die bekannteste Einrichtung ist die Cochrane Collaboration. Sie setzt sich zusammen aus Wissenschaftlern und Ärzten. Nach systematischer und umfassender Suche wird die Literatur nach den oben genannten Kriterien bewertet und daraus Übersichtsarbeiten erstellt, aktualisiert und verbreitet. Dafür gibt es eine eigene Datenbank, The Cochrane Libra- 27 3.4 · Neue Informationen ry (http://www.cochrane.de). Damit soll eine wissenschaftlich fundierte Informationsgrundlage des aktuellen Standes der klinischen Forschung in kurzer Zeit verfügbar gemacht werden, um Entscheidungen im Gesundheitssystem zu verbessern. Die Cochrane Library wird vierteljährlich veröffentlicht und ist als Online-Zugang oder als CD-ROM über den englischen Verlag Wiley InterScience verfügbar. 3.4 Neue Informationen Nach der Zulassung eines Medikamentes kann es vorkommen, dass bis dahin nicht bekannte therapeutisch nützliche oder unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) beobachtet werden. Auch diese Erkenntnisse finden Eingang in die Literatur, die wie oben beschrieben abrufbar ist und bewertet wird. 3.4.1 Neu beobachtete nützliche Wirkungen Bei Einsatz eines zugelassenen Arzneimittels kann es vorkommen, dass beobachtet wird, dass mit dem Medikament eine Wirkung erzielt werden kann, die bei der klinischen Prüfung nicht beachtet worden ist. Dies kann zu einer Indikationserweiterung führen. So wurde z. B. erkannt, dass Antikonvulsiva, die entwickelt wurden, um Krampfanfälle zu verhindern, stabilisierend auf phasische Krankheitsverläufe wirken, etwa bei bipolaren affektiven Störungen. Diese neuen Erkenntnisse führen nicht automatisch zu einer behördlich akzeptierten Indikationserweiterung eines Präparates. Die neue Indikation muss beantragt und genehmigt werden. Bei individuellen Patienten, die auf eine Standardbehandlung nicht oder nicht ausreichend ansprechen, kann es sinnvoll sein, eine nur durch Literatur belegte neue Behandlungsoption zu nutzen. Wenn so vorgegangen wird, ist es wichtig, dass der verordnende Therapeut die Literatur greifbar hat und beurteilen kann, ob eine berichtete neue Behandlungsoption zuverlässig erscheint oder nicht. 3.4.2 Neu beobachtete unerwünschte Wirkungen Häufiger als nützliche Wirkungen werden nach der Zulassung eines Medikamentes unerwünschte Wirkungen neu entdeckt. Wenn sie eine stationäre Behandlung erforderlich machen oder verlängern oder gar zum Tode führen, dann handelt es sich defini- 3 tionsgemäß um eine schwerwiegende UAW. Nach der Berufsordnung für Ärzte müssen UAW der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AKdÄ) gemeldet werden. In der Geschäftsstelle der AKdÄ werden die eingehenden UAW-Berichte analysiert, bewertet und in Zusammenarbeit mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in eine Datenbank aufgenommen. Bei den Meldungen, die auch im Verdachtsfall erfolgen sollte, wird insbesondere überprüft, ob bei der Gabe eines Arzneimittels bisher nicht bekannte unerwünschte Arzneimittelwirkungen aufgetreten sind. Weisen die gewonnenen Erkenntnisse auf die Möglichkeit von Arzneimittelrisiken hin, leitet die zuständige Bundesoberbehörde (BfArM) die ggf. erforderlichen Maßnahmen auf der Grundlage des Arzneimittelgesetzes ein. Diese können dann z. B. in Änderungen des Beipackzettels bestehen oder gar ein Verbot des Arzneimittels zur Folge haben. Die AkdÄ teilt die UAW-Meldungen aus der Ärzteschaft grundsätzlich nur den zuständigen Bundesoberbehörden mit. Die Daten aus der gemeinsamen Datenbank von AkdÄ und BfArM sind der allgemeinen Öffentlichkeit nicht zugänglich, weil deren Interpretation spezielle Kenntnisse und Erfahrungen voraussetzt. Speziell für die Psychiatrie gibt es im deutschsprachigen Raum Pharmakovigilanzprogramme (Grohmann et al. 2004; Haen 2004), die die Sicherheit der Anwendung von Psychopharmaka verbessern sollen. Fazit Information über Arzneimittel, die für Therapeuten und Patienten leicht und umfangreich verfügbar ist, ist ein wichtiger Bestandteil des Therapieerfolgs. Therapeuten und Patienten sollten wissen, warum eine medikamentöse Behandlung notwendig ist, was damit erreicht werden kann und welche Risiken damit verbunden sind. Die Fülle der angebotenen Information macht es allerdings erforderlich, dass man nicht nur wissen muss, wo und wie man Kenntnisse erwirbt, sondern auch wie man zwischen guter und schlechter Qualität von Mitteilungen unterscheiden kann. Gesetzliche Vorgaben und Begutachtung durch Experten sollen für gute Qualität sorgen, damit Therapieentscheidungen und die vorher erforderliche Aufklärung des Patienten auf wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen beruhen. 28 Kapitel 3 · Arzneimittelinformation 3.5 Checkliste 1 ? 2 3 1. 2. 4 5 3. 4. 6 7 5. 8 6. 9 7. 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 8. 9. Über welche Inhalte muss ein Therapeut einen Patienten mindestens aufklären, wenn er ihm ein Medikament verschreibt? Welches ist die Basis, auf der die Therapieentscheidung gefällt werden soll und nach der die Aufklärung des Patienten erfolgen soll? Was ist unter dem Begriff Primärliteratur zu verstehen? Welche Art von Originalarbeiten ist zu bevorzugen, wenn man sich über pharmakologische Wirkungen eines Medikamentes informieren will? Was verbirgt sich unter der Abkürzung »SPC« für ein Arzneimittel? Welches wesentliche Ziel soll durch die Cochrane-Datenbank für den Therapeuten erreicht werden? Wie kommt man ohne Verfügbarkeit einer eigenen Bibliothek zu Zusammenfassungen (Abstracts) von Originalarbeiten oder Übersichtsartikeln (Reviews)? Wie häufig ist mit einer Nebenwirkung zu rechnen, wenn im Beipackzettel für den Patienten steht, dass sie »gelegentlich« auftreten kann? Was ist zu tun, wenn bei einem Patienten nach Einnahme eines verordneten neuen Medikamentes ein Delir aufgetreten ist, welches nach Angaben des Herstellers bisher nicht erwartet worden war und der Patient deshalb stationär aufgenommen werden musste? 29 4.1 · Psychopharmaka und Psychotherapie 4.1 Einleitung – 30 4.2 Grundsätzliche Probleme 4.3 Klinische Kompetenzen und Grundmerkmale 4.4 Schlussfolgerungen 4.5 Checkliste – 33 – 32 – 30 – 31 4 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 30 Kapitel 4 · Psychopharmaka und Psychotherapie 4.1 Einleitung Auch heute noch wird das Verhältnis von Psychopharmakologie und Psychotherapie von Nichtwissen, Missverständnissen und Vorurteilen geprägt. Dies liegt zum einen daran, dass Psychotherapeuten, insbesondere die psychologischen Psychotherapeuten, unzureichend in den Grundlagen, den Möglichkeiten und Wirkweisen der modernen Psychopharmakotherapie ausgebildet sind. Zum anderen gibt es unverändert rein psychopharmakologisch orientierte Ärzte, die Möglichkeiten, Stärken, Effekte und Vorgehensweisen der modernen Psychotherapie nicht zur Kenntnis nehmen. Häufig wird eine Konkurrenzsituation erlebt, die nicht dem Wohl der Patienten dient, sondern eher dem Überlegenheitsnachweis der einen oder anderen fachlichen Position. Es beharren manche Fachvertreter auf einseitigen, rein biologischen oder rein psychologischen Störungsmodellen, die in den meisten Fällen verkürzt, falsch oder wissenschaftlich überholt sind. Schließlich fehlen für viele Störungsbereiche noch angemessene Studien, die über den Nutzen und die differenzielle Indikation der Psychotherapie bzw. der Pharmakotherapie oder der Kombination beider Verfahren, Auskunft geben. Psychische Krankheiten sind komplexe Störungen, die sich in den seltensten Fällen alleine auf biologische, z. B. genetische Ursachen oder alleine auf lebensgeschichtliche, traumatische, zwischenmenschliche, also psychologische Ursachen, zurückführen lassen. Wir wissen heute, dass z. B. eine Zwangsstörung, eine Panikstörung, eine Schizophrenie, eine Depression, eine Suchterkrankung oder eine Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung durch multiple Faktoren, die in komplexer Interaktion miteinander stehen, verursacht und in ihrem weiteren Verlauf geprägt werden. Dies soll an einem Beispiel gezeigt werden: Zur Bedeutung des Serotoninrezeptors ist im Jahre 2003 die wichtige Arbeit von Caspi et al. (2003) erschienen. Sie legt empirische Daten zur Interaktion von Genotyp, Umwelt (Stress) und Depression vor. Die Autoren konnten nachweisen, dass die Kurzform des Promotors des 5-HT-Transporter-Gens (s/s) für die veränderte Stresssensivität verantwortlich ist. Individuen mit diesen 2 kurzen Allelen (s/s) entwickelten im Gegensatz zu Individuen mit langen Allelen (l/l) signifikant häufiger depressive Symptome auf mehrere stressreiche Lebensereignisse. Es wird vermutet, dass der l/l-Genotyp bessere Copingstrategien gegen Stressoren besitzt. Die Befunde sind im Kern mehrfach bestätigt (7 Kap. 15). Wir sprechen daher heute von psychobiologischen oder neurobiologischen Konzepten, die zum Verständnis der psychischen Störungen und deren Behandlung erforderlich sind und im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans auch Berücksichtigung finden sollten. Mehr und mehr Befunde zeigen, dass durch Psychotherapie nicht nur das Erleben, also die subjektive Seite einer Störung oder das Denken und Verhalten beeinflussbar sind, sondern eine erfolgreiche Psychotherapie immer auch neurobiologische Prozesse (Neurotransmitter, Funktionen, Strukturen) verändert. Das ist inzwischen für Zwangsstörungen, Panikstörungen oder auch Depressionen mittels bildgebender Verfahren nachgewiesen. Gleichzeitig wissen wir, dass eine erfolgreiche Pharmakotherapie über die Regulation von z. B. Rezeptorstrukturen in bestimmten Hirnarealen darüber hinaus auch die Funktionsweise neuronaler Systeme moduliert und damit auch das Erleben, Denken und Verhalten verändert. Psychotherapie und Pharmakotherapie wirken zunächst auf unterschiedliche Systeme ein, beeinflussen darüber dann weitere, vermittelnde Prozesse, um letztlich zu demselben Ziel zu führen: die Störung zu beheben, zu lindern oder durch Substitutionsprozesse ertragbar bzw. bewältigbar zu machen. Es verwundert daher nicht, wenn in einer Studie (Mayberg et al. 2002) herausgefunden wurde, dass erfolgreiche Pharmakotherapie und in einigen Fällen auch Placebomedikation zu denselben neurobiologischen und psychologischen Veränderungen führten oder in einer anderen Studie (Goldapple et al. 2004) erste Hinweise geliefert wurden, dass kognitive Verhaltenstherapie und Antidepressiva zu vergleichbaren Effekten gelangten, dies jedoch – zumindest in einzelnen Abschnitten – auf unterschiedlichen neurobiologischen Wegen. 4.2 Grundsätzliche Probleme Man hört immer wieder die Äußerung, dass die Einnahme von Psychopharmaka negative Auswirkungen auf die Kooperation und Veränderungsbereitschaft bei Patienten habe. Dies soll zum einen dadurch bedingt sein, dass die Einnahme von Medikamenten sehr viel schneller wirke, also zur raschen Symptomreduktion führe und damit dem Patienten die Motivation zur Psychotherapie nehmen könne. Zum anderen würde durch Medikamente eine passive Haltung bei Patienten gefördert werden, was sich langfristig auf die Gesundung ungünstig auswirke. Diese Vermutungen stellen aber eher Vorurteile dar, denn die bislang vorliegenden Befunde zur Kombination von Pharmako- 31 4.3 · Klinische Kompetenzen und Grundmerkmale therapie und Psychotherapie bzw. zur anfänglichen Pharmakotherapie und späteren Psychotherapie widersprechen dieser Behauptung. Es muss zusätzlich hervorgehoben werden, dass die empirische Befundlage zu dieser Hypothese nicht stark ist und keine abschließende Bewertung, und schon gar nicht für alle Störungsbereiche bzw. alle Medikamentengruppen, erlaubt. Psychotherapeuten befürchten oft, dass sich Patienten durch die Empfehlung zur Einnahme von Psychopharmaka abgewertet, abgeschoben oder unverstanden vorkommen und darüber hinaus ungünstige Auswirkungen auf die Therapeuten-Patienten-Beziehung entstehen. Auch hier bestimmen eher Vorurteile als reale Erfahrungen oder gar empirische Belege die Diskussion. Tatsächlich fühlen sich Patienten durch die offene Ansprache und die Erklärung des Nutzens eines Medikaments, z. B. parallel zu einer Psychotherapie, ernst genommen und an Entscheidungsprozessen beteiligt. Das therapeutische Arbeitsbündnis wird eher gestärkt. Fragt man Patienten nach dem Grund einer erfolgreichen Kombinationsbehandlung aus Psycho- und Pharmakotherapie, dann führen sie in der Regel die Erfolge auf die Wirkung der Psychotherapie, also auf ihre eigenen Anstrengungen zurück. Befürchtungen des psychodynamisch orientierten Psychotherapeuten bezüglich des Einsatzes von Psychopharmaka während einer Psychotherapie gehen vor allem davon aus, dass Regressionsbedürfnisse seitens des Patienten gefördert werden und ungünstige Auswirkungen auf die Therapeuten-Patienten-Beziehung (Medikament als »symbolischer Dritter«) eintreten, Gegenübertragungen seitens des Therapeuten (Patient ruhig stellen, aggressive Impulse) unerkannt vorliegen oder Reaktionsbildungen bei Patienten (soll ruhig gestellt werden, Fremdkontrolle) hervorgerufen werden. Diese Befürchtungen entbehren der empirischen Grundlage. Es sind Überlegungen, die aus den theoretischen Konzepten dieser Therapieform resultieren, ohne mit klinischen oder gar empirischen Erfahrungen übereinzustimmen. Psychodynamisch orientierte Psychotherapeuten sehen heute selbst, dass es an der Zeit ist, sich von »antiseptischen analytischen Attitüden, wie z. B. die Kur muss in der Abstinenz durchgeführt werden, frei zu machen« und zu einer rationalen, patientengerechten Abwägung verschiedenster Hilfsmöglichkeiten zu kommen. Ein guter Psychotherapeut sollte sich also von der »Entweder-oder«-Haltung zu einer »Sowohl-als-auch«-Haltung entwickeln (Rüger 1979). Die Einnahme von Psychopharmaka hat insofern Vorteile, als insbesondere bei ausgeprägten Symptomen und einer starken Beeinträchtigung die initi- 4 ale und rasch einsetzende Wirkung der Medikamente eine psychotherapeutische Behandlung überhaupt erst ermöglicht: Oft ist bei schwer depressiven Patienten, bei schweren Zwangsstörungen oder bei psychotischen Symptomen der Zugang zu den Betroffenen nicht möglich. Erst der Wirkeintritt der Psychopharmaka schafft diese zentralen Voraussetzungen für eine Psychotherapie. Oft kommt eine Medikation dem subjektiven Krankheitsverständnis der Patienten entgegen. Sie können sich als »richtig« (organisch) krank erleben, was im Verlauf jedoch die Möglichkeit eröffnet, allmählich ein psychobiologisches Modell und damit auch den Wert von Lernen, Selbstkontrolle, also Psychotherapie, zu erarbeiten. Die Kombination aus Pharmakotherapie und Psychotherapie hat folglich einen synergistischen Effekt, der sich meist günstig auf den Therapieerfolg und den längerfristigen Therapieverlauf auswirkt. Bei einigen psychischen Störungen (z. B. bei chronischen Depressionen) hat sich die Kombination aus Pharmakotherapie und Psychotherapie als eindeutig besser herausgestellt als die jeweiligen Monotherapien. Zur Akzeptanz der Kombinationsbehandlung bei Patienten und bei Therapeuten ist jedoch das Wissen über Psychopharmakotherapie und Psychotherapie wesentlich. Durch die psychotherapeutische Begleitung wird die Medikamentencompliance (z. B. bei schizophrenen oder bipolaren Patienten) verbessert, was sich günstig auf den Verlauf und insgesamt auf den Therapieerfolg auswirkt. Schließlich besteht die berechtigte Vermutung, dass Misserfolge (sog. Non-Responder oder Teilremissionen) in der Psychotherapie durch ergänzende oder nachfolgende Psychopharmakotherapie erfolgreich behandelt werden können. Die empirische Befundlage hierzu ist jedoch noch sehr schwach. 4.3 Klinische Kompetenzen und Grundmerkmale Die Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie ist mehr als die simultane Anwendung von zwei Interventionsformen. Es gilt Interaktionen zwischen beiden Behandlungen und die Integration in einen problembezogenen und zielorientierten Gesamtbehandlungsplan zu bedenken. Für den Psychotherapeuten bzw. den Kinder- und Jugendpsychotherapeuten haben wir es immer mit einem »Dreiecksverhältnis« von Patient (bzw. dessen Familie), Psychotherapeuten und Pharmakotherapeuten zu tun. Dies erfordert die von Vertrauen geprägte offene Kommunikation zwischen allen Beteiligten. Gerade bei Kin- 32 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 4 · Psychopharmaka und Psychotherapie dern und Jugendlichen ist die Abstimmung der psychotherapeutischen und psychopharmakologischen Maßnahmen auf das jeweilige Alter bzw. den jeweiligen Entwicklungsstand wichtig. Vor dem Beginn einer Kombinationsbehandlung sollte die Indikation sowohl zur Psychotherapie als auch zur Psychopharmakotherapie sowie deren Stellenwert im Gesamtbehandlungsplan geprüft werden. Zwischen den Beteiligten sollte ein Konsens über die Notwendigkeit der Kombinationstherapie bestehen. Bei psychotischen Symptomen, Schizophrenien, schweren Depressionen, Manien und akuter Suizidalität besteht absolute Indikation für eine Pharmakotherapie und die Psychotherapie hat adjuvanten Stellenwert. Bei einigen Angststörungen, leichteren Depressionen, somatoformen Störungen, Essstörungen oder der Entwöhnungstherapie bei Substanzabhängigkeiten (nicht bei der Entgiftung) ist die Psychotherapie vorrangig und die Pharmakotherapie hat oft den Stellenwert eines additiven Verfahrens. Bei Störungen im Kindes- und Jugendalter haben bei den meisten Störungen psychologische Maßnahmen unter Einbezug der Eltern Vorrang, doch ist bei schweren Störungen, z. B. den stark ausgeprägten Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen, heute die Kombination aus Psychopharmakotherapie und Psychotherapie die Regel. Zur detaillierteren Diskussion der Indikation von Psychopharmaka und der Kombination mit Psychotherapie, vor allem auch die differenzielle Indikation bei speziellen Patientengruppen bzw. schweren Störungsformen, verweisen wir auf die nachfolgenden Kapitel. Ein Psychotherapeut muss folglich über Grundinformationen zu den verordneten Medikamenten verfügen. Diese wird ihm in diesem Leitfaden vermittelt. Auch die Psychotherapeuten sollten in der Lage sein, die Patienten über die verordneten Medikamente zu informieren, um sie dann in Detailfragen auf den Psychopharmakotherapeuten zu verweisen. Meist hat ein Psychotherapeut sehr viel regelmäßiger und häufiger Kontakt zu Patienten, als der Psychopharmakotherapeut. Die Beobachtung von erwünschten und unerwünschten Wirkungen eines Medikaments ist dadurch sehr viel eher möglich. Entsprechend sind regelmäßige Kontakte zwischen Psychotherapeuten und Pharmakotherapeuten notwendig, um Dosisanpassungen, Korrekturen oder Ergänzungen rasch durchzuführen. Sind bestimmte Psychotherapien geplant, etwa Expositionsübungen im Rahmen einer Angstbehand- lung, dann kann der Effekt durch parallele Medikation u. U. geschmälert werden. Dies bezieht sich auf das Erregungsniveau, die Habituation, die kognitive Verarbeitung oder das Vermeidungsverhalten. Folglich sind rechtzeitig vor Durchführung dieser Psychotherapie Absprachen mit Patienten und Psychopharmakotherapeuten zu treffen, um eine Reduktion der bestehenden Medikation einzuleiten. 4.4 Schlussfolgerungen Es ist ethisch bedenklich, wenn ein Psychotherapeut seinen Patienten Schaden zufügt, weil er gegen Medikamente eingestellt ist, diese im Einzelfall vorenthält oder gar gegen empirisch nachweisliche Evidenz die Indikation für eine Pharmakotherapie nicht sieht. Es ist jedoch ebenso problematisch, Patienten, bei entsprechender Indikation, psychotherapeutische Hilfen nicht zukommen zu lassen und allein auf medikamentöse Therapie zu vertrauen. Im Einzelfall gilt es immer abzuwägen, welcher Nutzen bzw. Schaden mit einer therapeutischen Maßnahme (sei sie psychotherapeutisch oder pharmakotherapeutisch) verbunden ist, aus welchen subjektiven Motiven heraus ein Patient eher eine Pharmakotherapie oder eher eine Psychotherapie favorisiert. Im Zentrum einer jeden Therapie stehen das Gespräch und das professionelle, offene und aufrichtige Verhältnis zwischen Therapeuten und Patienten. In diesem Sinne muss es selbstverständlich werden, dass eine gute Psychopharmakotherapie von einer zumindest unterstützenden, erklärenden, die Probleme und Konflikte des Patienten verstehenden sowie bewältigenden Psychotherapie begleitet wird. Dabei ist es sowohl bei der Pharmakotherapie als auch bei der Psychotherapie wichtig auf Hinweise zu achten, die eine Störung der Therapeuten-PatientenBeziehung signalisieren, z. B. dass Patienten zu wenig kooperativ sind (verordnete Medikation nicht einnehmen, ständig über neue aber unwahrscheinliche Nebenwirkungen berichten, Termine versäumen, vereinbarte Verhaltensübungen oder andere »Hausaufgaben« nicht durchführen) oder auf nicht offen gelegte Ziele orientiert sind (z. B. Berentung). Solche Probleme sind nicht durch die Verordnung immer neuer Psychopharmka oder immer neue Vorschläge auf der psychotherapeutischen Ebene zu lösen, sondern müssen direkt angesprochen werden. 4.5 · Checkliste Checkliste 4.5 ? 1. 2. Welche Beispiele einer sinnvollen Kombination von Pharmakotherapie und Psychotherapie kennen Sie? Wann besteht eine absolute Indikation für eine Pharmakotherapie? 33 4 35 5.1 · Präparate 5 Antidepressiva – 37 6 Stimmungsstabilisierer 7 Antipsychotika – 71 8 Anxiolytika – 83 9 Hypnotika 10 Antidementiva – 105 11 Medikamente zur Behandlung von Abhängigkeit und Entzug – 109 12 Medikamente zur Behandlung von sexuellen Störungen – 117 13 Antiadiposita – 123 14 Medikamente zur Behandlung von ADHS, Hypersomnien und Bewegungsstörungen – 61 – 95 – 127 II 5 37 5.1 · 5 Antidepressiva 5.1 Einteilung 5.1.1 5.1.2 Historische Entwicklung Ordnungsprinzip – 39 5.2 Wirkungsmechanismus 5.3 Allgemeine Therapieprinzipien 5.4 Indikationen 5.5 Dosierung, Plasmakonzentration und Behandlungsdauer – 45 5.6 Nebenwirkungen 5.7 Kontraindikationen und Intoxikationen 5.8 Wechselwirkungen 5.9 Routineuntersuchungen 5.10 Antidepressiva im höheren Lebensalter 5.11 Präparategruppen 5.11.1 5.11.2 5.11.5 5.11.6 5.11.7 5.11.8 Selektive Serotoninrückaufnahmehemmer (SSRI) – 53 Selektive Serotonin-Noradrenalinrückaufnahmehemmer (SNRI) – 54 Selektive Noradrenalinrückaufnahmehemmer – 55 Noradrenerges/spezifisch serotonerges Antidepressivum mit α2-Adrenozeptor antagonistischer Wirkung – 55 Noradrenalin-Dopaminrückaufnahmehemmer – 56 Trizyklische Antidepressiva (TZA) – 57 MAO-Hemmer – 57 Pflanzliche Präparate – 58 5.12 Antidepressiva in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 5.13 Checkliste 5.11.3 5.11.4 – 38 – 38 – 40 – 43 – 43 – 60 – 45 – 50 – 51 – 51 – 52 – 53 – 58 38 Kapitel 5 · Antidepressiva 5.1 Einteilung 1 Definition 2 3 4 5 6 7 8 Antidepressiva sind eine heterogene Gruppe von Pharmaka, die bei depressiven Syndromen unterschiedlicher nosologischer Zuordnung und Charakteristik einen stimmungsaufhellenden und/oder antriebsverbessernden Therapieeffekt haben. Aufgrund dieser Wirkkomponente erhielt die gesamte Gruppe die Bezeichnung »Antidepressiva«. Zusätzlich sind sie bei einer Reihe weiterer Störungsbilder, etwa den Angststörungen (7 Kap. 17) oder den Zwangsstörungen (7 Kap. 19) wirksam, sodass der Begriff »Antidepressiva« nur einen Aspekt ihrer therapeutischen Potenz darstellt; aus historischen Gründen hat man ihn aber beibehalten. Die Bedeutung der Antidepressiva bei den einzelnen Indikationen wird in den entsprechenden Kapiteln beschrieben. 9 5.1.1 Historische Entwicklung 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Die Entwicklung von antidepressiven Substanzen begann mit der Beschreibung der therapeutischen Wirksamkeit des Imipramins bei depressiven Patienten. Der Schweizer Psychiater Kuhn hatte sich seit der Entdeckung des Chlorpromazins (7 Kap. 7.1) im Jahre 1957 mit der klinischen Erprobung von potenziellen Psychopharmaka befasst, weil er schon 1950 bei schwach hypnotisch wirkenden Antihistaminika eine therapeutische Wirkung bei psychotischen Patienten gesehen hatte (Kuhn 1957). Im Rahmen dieser Untersuchungen behandelte er Patienten mit unterschiedlichen psychiatrischen Krankheitsbildern mit Imipramin und beschrieb das Wirkungsspektrum der Substanz als »schwaches Chlorpromazin«. Er engte dann seine Untersuchungen auf Patienten mit »endogenen Depressionen« ein. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen veranlassten ihn dann zur Feststellung, dass Imipramin Verstimmungen aufhellen und depressive Gehemmtheit beseitigen könne. Imipramin gehört zu der Gruppe der trizyklischen Antidepressiva (TZA). Sie haben eine charakteristische Anordnung von 3 Ringen (»Trizyklus«); Unterschiede der Substanzen am Zentralring und/ oder an der Seitenkette sind zwar strukturchemisch häufig nur gering, doch resultieren daraus oft erhebliche qualitative Änderungen des pharmakologischen und klinischen Wirkungsbildes. Zeitgleich wurde von den amerikanischen Psychiatern der Monoaminoxidasehemmer (MAO-Hemmer) Iproniazid, der bisher als Tuberkulostatikum verwendet wurde, als Antidepressivum entdeckt (Loomer et al. 1957). Die Entdeckung, dass MAO-Hemmer antidepressiv wirken und dass der Mechanismus auf einer Erhöhung der Neurotransmitterkonzentration in den Synapsen beruhen musste, war ein Meilenstein in der psychiatrischen Forschung und führte zu den »Noradrenalin- und Serotoninhypothesen der Depression«. Mit dem Wissen, dass eine psychiatrische Erkrankung ein biochemisches Korrelat hat und durch Medikamente beeinflussbar ist, begann die weltweite biologisch-psychiatrische Forschung. Eine Parallele konnten die Forscher am Beispiel einer neurologischen Krankheit, der Parkinson-Krankheit, verfolgen: Durch die Gabe der Dopaminvorstufe L-DOPA kann der Dopaminmangel in den Stammganglien kompensiert werden und ein rascher Therapieerfolg stellt sich ein. Allerdings musste man schnell feststellen, dass sich die Depression durch Substitution von Neurotransmittervorstufen, wie L-Tryptophan für Serotonin oder L-Tyrosin für Noradrenalin, klinisch nicht beeinflussen ließ. TZA und MAO-Hemmer waren bis in die 1980erJahre hinein die wichtigste Gruppe der Antidepressiva. Die Entdeckung der selektiven Serotoninrückaufnahmehemmer (SSRI) als gleichwirksame Substanzen, aber bei deutlich weniger Nebenwirkungen und geringerer Toxizität, führte seit den 90er-Jahren zur langsamen Ablösung der TZA und MAO-Hemmer. Der erste SSRI wurde 1977 klinisch angewandt (Benkert et al. 1977). Die SSRI hemmen relativ selektiv die Rückaufnahmehemmung von Serotonin im synaptischen Spalt. Da man Ende der 1980er-Jahre endlich selektiv wirkende Antidepressiva zur Verfügung hatte, war die Hoffnung groß, weitere Grundlagen der Depression über diesen neuen Wirkmechanismus zu erforschen. Im jüngsten Schritt der Entwicklung von Antidepressiva versucht man, über die selektive Wirkung der SSRI hinaus gleichzeitig ein zweites Monaminsystem selektiv zu aktivieren, um die Wirksamkeit zu verstärken. Zumeist ist es neben dem serotonergen noch das noradrenerge System. Einen allgemein akzeptierten Begriff für diese »dualen Antidepressiva« hat man noch nicht gefunden. Wenn die Serotonin- und die Noradrenalinrückaufnahme gehemmt wird, spricht man von selektiven Serotonin-Noradrenalin-Rückaufnahmehemmern (SNRI). Da nur 50–70% der depressiven Patienten auf Antidepressiva beim ersten Therapieversuch respondieren, ist große Forschungsaktivität nötig, um Anti- 39 5.1 · Einleitung depressiva mit völlig neuen Wirkprinzipien zu entwickeln. Der Unterschied von Placebo und den Antidepressiva ist immer noch geringer, als man sich ihn erhofft. Der Unterschied wird aber tendenziell größer, je schwerer depressiv die untersuchten Patienten bei Behandlungsbeginn sind (Khan et al. 2004). Auf der anderen Seite wurde auch in einer Metaanalyse von 31 placebokontrollierten Studien ein hoch signifikanter Wirksamkeitsunterschied mit Relapseraten in der Erhaltungstherapie von 41% unter Placebo und immerhin nur 18% unter Antidepressiva gesehen (Geddes et al. 2003). Tatsächlich nimmt in kontrollierten Studien der Anteil jener Studien zu, in denen kein Unterschied zwischen Placebo und dem neuen Prüfpräparat oder sogar von lang bewährten Antidepressiva gesehen wird. Als Ursache dafür ist die zunehmende Anzahl von Einflussgrößen auf die antidepressive Behandlung anzunehmen. Dabei stellt der pharmakologische Effekt des Prüfpräparates nur einen mehrer Behandlungseffekte dar. So wird auch immer wieder die Methodik der Antidepressivastudien diskutiert und gerade die Anwendung des Placeboarms in Frage gestellt. Ein weiteres methodisches Problem wird bei der Auswertung von Studien zur Kombination von Psychotherapie und Antidepressiva evident, weil sich der bekannte Placeboeffekt bei der Anwendung zweier kombinierter Therapien nicht addieren kann und so eine mögliche Überlegenheit der Kombinationstherapie nicht nachweisbar ist (Huber 2005). Die Weiterentwicklung nur der bisherigen Strategien hat zwar insgesamt zu einer besseren Verträglichkeit, nicht aber zu einer besseren Wirksamkeit der Antidepressiva geführt. Die jüngste Einführung eines neuen Antidepressivums ist der Noradrenalin-Dopaminrückaufnahmehemmer Bupropion. Agomelatin, ein Melatoninrezeptoragonist, steht im Zulassungsprozess. Agomelatin hat eine agonistische Wirkung an den Melatoninrezeptoren 1 und 2, aber gleichzeitig auch eine 5-HT2C-antagonistische Komponente. Unter den vielen neuen alternativen pharmakologischen Ansätzen ist zu hoffen, dass sich der Corticotropin-releasing-Hormon (CRH)-Rezeptor-1-Antagonist als Antidepressivum bewähren wird. Die Strategie leitet sich aus der Vielzahl von empirischen Befunden ab, die eine Hyperaktivität des hypothalamisch-hypophysär-adrenalen (HPA)-Systems, das u. a. die Ausschüttung des Stresshormons Kortisol reguliert, bei depressiven Störungen annimmt. Auch der Einsatz von Kortisolsynthesehemmern liegt theoretisch hierin begründet. Eine endgültige Bewertung der Wertigkeit dieser Strategien ist derzeit noch nicht möglich. 5 5.1.2 Ordnungsprinzip Definition Heute werden die Antidepressiva nach dem primären Angriffspunkt im ZNS eingeteilt. Dieses Einteilungsprinzip ist zu bevorzugen, da es pharmakologisch am aussagekräftigsten ist. 5 Selektive Serotoninrückaufnahmehemmer (SSRI): – Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin 5 Selektive Serotonin-Noradrenalinrückaufnahmehemmer (SNRI, duale Antidepressiva): – Duloxetin, Milnacipran, Venlafaxin 5 Selektive Noradrenalinrückaufnahmehemmer: – Reboxitin 5 noradrenerges/spezifisch serotonerges Antidepressivum mit α2-Andrenozeptor antagonistischer Wirkung: – Mirtazapin 5 Noradrenalin-Dopaminrückaufnahmehemmer – Bupropion 5 Monoaminoxidasehemmer (MAO-Hemmer): – Moclobemid – Tranylcypromin 5 Trizyklische Antidepressiva (TZA): – Amitriptylin, Clomipramin, Imipramin, Trimipramin 5 Pflanzliche Präparate: – Hypericum-Extrakte Das frühere Ordnungsprinzip war einfacher, bezog sich aber nur auf die chemische Struktur: 5 Trizyklische Antidepressiva 5 Tetrazyklische Antidepressiva: Maprotilin, Mianserin, strukturchemisch auch Mirtazapin. 5 Chemisch neuartige Antidepressiva: Sie zeigen untereinander keine strukturchemische Ähnlichkeit mehr, z. B. Duloxetin, Reboxetin, Venlafaxin oder SSRI. Gerade weil die modernen Antidepressiva keiner chemischen Gruppe mehr zugeordnet werden können, ist die Einteilung nach pharmakologischen Gesichtspunkten sinnvoll. 1 2 3 4 5 6 40 Kapitel 5 · Antidepressiva 5.2 Wirkungsmechanismus Bei der Pathophysiologie depressiver Syndrome sind Veränderungen des zentralnervösen Stoffwechsels einiger Neurotransmitter (als Ursache oder als Folge anderer Einflussgrößen wie etwa Stressoren) besonders relevant für die Entstehung oder Unterhaltung klinischer Symptome. Dies gilt für Serotonin, NA und DA. Der eigentliche Wirkmechanismus von Antidepressiva ist noch unbekannt. Die meisten heute bekannten Antidepressiva beeinflussen pharmakologisch eines oder mehrere dieser Neurotransmittersysteme im ZNS. Die folgenden Ausführungen sind zum Teil dem Handbuchartikel zu diesem Thema entnommen (zit. nach Eckert u. Müller 2008, S. 31–32). Rezeptorfunktion Die Rezeptorfunktion mit der chemischen Neurotransmission wird in . Abb. 5.1 erklärt. Wichtig Im Neuron werden zur Synthese des Neurotransmitter Vorstufen aufgenommen. Neben der schnellen Freisetzung des Neurotransmitters ist die sofortige Inaktivierung in der Synapse genauso wichtig. Dies kann über drei Wege geschehen: 5 Die Wiederaufnahme (»reuptake«) in das präsynaptische Neuron (am jeweiligen Transportermolekül), 5 den enzymatischen Abbau oder 5 durch Aufnahme in die Gliazellen. 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 . Abb. 5.1. Schematische Darstellung einer chemischen Synapse zwischen 2 Nervenzellen. Der Transmitter selbst – oder meist seine Vorstufe – wird von spezifischen Systemen ins Neuron aufgenommen (A). Der aufgenommene Transmitter wird über axonalen Transport an die Nervenendigungen transportiert (B) und dort in Vesikeln gespeichert (C). Durch ein Aktionspotenzial des Axons und ein damit verbundener Ca2+-Einstrom wird der Transmitter durch Exozytose aus den Vesikeln in den synaptischen Spalt freigesetzt (D) und kann nach Diffusion (E) mit Rezeptoren auf der postsynaptischen Seite reagieren (F). Die Inaktivierung des Transmitters erfolgt durch Abbau oder Aufnahme an der postsynaptischen Seite (G), durch Rückdiffusion (H) und Aufnahme ins präsynaptische Neuron (1) bzw. in synapsebegleitende Gliazellen (J). Präsynaptische Autorezeptoren (K) bzw. präsynaptische Heterorezeptoren (L) können die Menge des freigesetzten Transmitters beeinflussen oder auch die Syntheserate regulieren. (Aus Eckert u. Müller 2008) 41 5.2 · Wirkungsmechanismus 5 Die Blockade dieser Inaktivierungsmechanismen stellt einen für Psychopharmaka wichtigen Angriffspunkt dar. So blockieren viele Antidepressiva die neuronale Wiederaufnahme der Transmitter NA und Serotonin. Inhibitoren des in den Mitochondrien lokalisierten Enzyms Monoaminoxidase hemmen den intra- und extraneuronalen Abbau aminerger Transmitter. 5 Die Informationsweitergabe wird auf der postsynaptischen Seite von Rezeptoren übernommen, die vom freigesetzten Neurotransmitter besetzt werden und die das über die Besetzung ausgelöste Signal dann über verschiedene Transduktionsmechanismen in das rezeptive Neuron weiterleiten. Ähnlich wie im peripheren Nervensystem ist dieser Teil der chemischen Neurotransmission im ZNS ein ganz wesentlicher Angriffspunkt für Pharmaka. 5 Solche Effekte treten schnell ein. Antidepressiva dagegen zeigen ihre volle Wirksamkeit erst nach tagelanger, oft wochenlanger Latenz. Dies hat zu der Vorstellung geführt, dass akute pharmakologische Effekte möglicherweise nicht den eigentlichen Wirkungsmechanismus der Antidepressiva darstellen, sondern dass adaptive Veränderungen der Neurone eine entscheidende Rolle spielen. Mit dieser Fähigkeit können die Neurone ihren Funktionszustand verschiedenen Bedingungen anpassen und überschießende oder ungenügende Aktivitäten in bestimmten Bereichen des ZNS kompensieren. Die adaptiven Vorgänge werden durch die akute Blockade der neuronalen Wiederaufnahme und der damit verbundenen initialen Konzentrationserhöhung von NA bzw. Serotonin in den jeweiligen Synapsen auf der postsynaptischen Seite angestoßen. An den postsynaptischen Rezeptoren verändert sich nun Dichte und Funktionalität, die schließlich zu der antidepressiven Wirkung führen. Pharmakologische Wirkprofile Viele Antidepressiva beeinflussen verschiedenste Neurotransmittersysteme im ZNS (z. B. acetylcholinerge oder histaminerge Systeme). Effekte auf diese Transmittersysteme bestimmen oft das klinische Wirkprofil der Substanz, also sowohl den eigentlichen antidepressiven Effekt als auch eine Reihe unerwünschter Wirkungen. Komplexe Zusammenhänge ergeben sich dadurch, dass für jedes Neurotransmittersystem Untergruppen von Rezeptoren, die die zelluläre Wirkung des Transmitters vermitteln, und Inaktivierungsmechanismen 5 des Neurotransmitters (z. B. Rückaufnahmemechanismen und Abbauvorgänge) bekannt sind. So hat z. B. die Lokalisation eines Rezeptors Bedeutung für seine funktionelle Wirkung; ebenso ergibt sich eine differenzielle Wirkung, je nachdem, welcher Rezeptorsubtyp eines Neurotransmittersystems aktiviert wird. Darüber hinaus entfalten die einzelnen Pharmaka eine unterschiedlich starke Wirkung an den Komponenten eines Neurotransmittersystems (. Tab. 5.1). Die indirekte oder direkte Stimulation der Rezeptorsysteme führt auf der Ebene der intrazellulären Secondmessenger-Systeme und der nachgeschalteten Genexpression zu einer Fülle von adaptativen Vorgängen (s. oben), die man mit der antidepressiven Wirkung in Zusammenhang bringt. Zusätzlich stehen die verschiedenen Neurotransmittersysteme miteinander in funktionellen Beziehungen, sodass bei Beeinflussung eines Systems eine indirekte Wirkung auf ein zweites ausgeübt werden kann. Die Wirkung eines Medikaments hängt somit von einer Vielzahl von Faktoren ab. Selektive Wirkung Man muss davon ausgehen, dass einzelne Funktionen des Gehirns bestimmten Kerngebieten bzw. bestimmten Verbänden von Neuronen zugeordnet werden können, die zusätzlich über verschiedenartigste Querverbindungen modulierende Impulse aus anderen Arealen des Gehirns erhalten. Ausgehend von dem klinischen Wunsch, bestimmte psychopathologische Symptome bzw. Syndrome möglichst selektiv korrigieren zu können, wird nach Psychopharmaka gesucht, die gezielt bestimmte Funktionen oder gegebenenfalls bestimmte Areale des ZNS beeinflussen. Diesen selektiven Mechanismus kann man jetzt immer genauer durch die Anwendung bildgebender Verfahren studieren. Die heute in der Regel verfolgte Strategie, biochemisch hochselektive Psychopharmaka zu entwickeln, die z. B. nur noch eine Unterklasse eines Rezeptors aktivieren, ist sicher berechtigt, weil so die Chance besteht, dass eine Beeinflussung dieses hochselektiven Systems dann funktionell nur in spezifischen Arealen des ZNS relevant wird. Insofern kann diese Strategie durchaus zu funktionell spezifischen Pharmaka führen. Die neuen Antidepressiva haben eine deutlich stärkere Selektivität als die TZA. Eine klinische Spezifität im Sinne eines besseren oder schlechteren Ansprechens bestimmter Untergruppen depressiver Patienten konnte für diese Substanzen bis heute, bis auf geringe klinische Unterschiede, aber nicht belegt werden. Darüber hinaus entwickelt man heute, nach einer Phase hochselektiver Substanzen, ganz bewusst auch 42 Kapitel 5 · Antidepressiva . Tab. 5.1. Übersicht der pharmakologischen Angriffspunkte von wichtigen Antidepressiva. (Benkert u. Hippius 20071) 1 5-HTTa NAT MAO mACh H1 5-HT2 DA α1 α2 Amitriptylin ++ ++ 0 ++ +++ ++ +/– +++ 0 Amitriptylinoxid ++ ++ 0 ++ ++ ++ 0 ++ 0 Citalopram +++ +/– 0 0 +/– 0 0 +/– 0 4 Clomipramin +++ ++ 0 ++ + + +/– ++ 0 Desipramin + +++ 0 + + + +/– + 0 5 Doxepin + ++ 0 + +++ ++ 0 +++ 0 Duloxetin +++ ++ 0 +/– +/– 0 + +/– 0 Escitalopram +++ +/– 0 0 +/– 0 0 +/– 0 7 Fluoxetin +++ +/– 0 +/– +/– 0 +/– +/– 0 Fluvoxamin +++ +/– 0 0 0 0 +/– +/– 0 8 Imipramin +++ ++ 0 + +/– + 0 + 0 Maprotilin 0 ++ 0 ++ +++ + 0 + 0 Milnacipran ++ ++ 0 0 0 0 0 0 0 10 Mirtazapin +/– 0 0 + +++ ++ 0 + ++ Moclobemid 0 0 ++ 0 0 0 0 0 0 11 Nortriptilyn + +++ 0 + ++ + 0 + 0 Paroxetin +++ ++ 0 + 0 0 + +/– 0 Reboxetin 0 +++ 0 0 0 0 0 0 0 13 Sertralin +++ +/– 0 +/– 0 0 + 0 0 Tranylcypromin 0 + +++ 0 0 0 0 0 0 14 Trimipramin 0 0 0 ++ +++ + + +++ 0 Venlafaxin +++ + 0 0 0 0 +/– 0 0 2 3 6 9 12 15 16 17 18 19 20 1 Tabellen wurden hier und in den folgenden Kapiteln direkt bzw. modifiziert aus dem Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie (Benkert u. Hippius 2007) übernommen. 5-HTT 5-HT-Transporter; NAT NA-Transporter; MAO Monoaminoxidase; mACh Antagonismus an muskarinischen Azetylcholinrezeptoren; H1 Antagonismus an Histaminrezeptoren (Typ 1); 5-HT2 Antagonismus an 5-HT2-Rezeptoren; DA Antagonismus an DA-Rezeptoren; α1 Antagonismus an α1-Adrenorezeptoren; α2 Antagonismus an α2-Adrenorezeptoren; +++ sehr stark; ++ stark; + schwach; +/– sehr schwach; 0 nicht wirksam. a Der Serotonin (5-HT)-Transporter, 5-HTT, sorgt für den Transport von Serotonin in das präsynaptische Neuron, beendet damit die synaptische Wirkung und führt Serotonin wieder zurück in den Neurotransmitterpool. Der 5-HTT-Polymorphismus hat für die therapeutische Wirkung bei depressiven Patienten wahrscheinlich eine besonders wichtige Bedeutung. Psychopharmaka mit mehreren biochemischen Wirkungsmechanismen (z. B. die dualen Antidepressiva). Insgesamt scheint aber diese Entwicklungsstrategie jetzt beendet zu sein; die Suche nach völlig neu- en Wirkansätzen muss jetzt im Vordergrund stehen (7 Abschn. 5.1.2). 43 5.4 · Indikationen 5.3 Allgemeine Therapieprinzipien 5 Grundsätzlich soll die Verordnung von Antidepressiva im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans erfolgen, der neben der medikamentösen Behandlung psychotherapeutische, psychosoziale und psychoedukative Maßnahmen umfasst. (7 Abschn. 15.1). 5 Die Therapie sollte von Beginn an unter Berücksichtigung der Schwere und Art der aktuellen Symptomatik unter Vermittlung eines Krankheits- und Therapiekonzepts mit dem Patienten besprochen werden. 5 Bei der Behandlung mit Antidepressiva ist damit zu rechnen, dass sich erwünschte Therapieeffekte erst im Verlauf von 4–8 Wochen voll ausbilden. Typischerweise treten im Behandlungsverlauf zunächst Nebenwirkungen, danach erst der antidepressive Effekt auf. Darüber sollte der Patient informiert werden, um die Compliance zu sichern. 5 Eine zuverlässige Vorhersage eines individuellen Therapieerfolgs bei einem bestimmten Antidepressivum ist auch heute noch nicht möglich. 5 Bei der Behandlung mit Antidepressiva besteht kein Risiko einer Abhängigkeitsentwicklung. Diese Befürchtung wird von den Patienten häufig geäußert. 5 Die Auswahl des Antidepressivums erfolgt besonders nach: – dem Zielsyndrom, – dem früheren Ansprechen und Bevorzugung durch den Patienten, – dem Nebenwirkungsprofil. 5 Prinzipiell ist eine Monotherapie mit einem Antidepressivum zur besseren Steuerbarkeit anzustreben. Allerdings gibt es heute immer mehr Gründe für Kombinationsbehandlungen z. B. im Rahmen einer Augmentationstherapie (7 Abschn. 15.5); sie sollten mit einem klaren Rationale erfolgen. Sie beinhalten aber ein erhöhtes Risiko von pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Wechselwirkungen (7 Abschn. 5.8). 5 Besonders bei schweren Erkrankungen sollte die Therapie mit Antidepressiva möglichst frühzeitig begonnen werden. Umso schwerer die Krankheit ist, desto mehr Profit erbringt die Behandlung. 5 Bei akuter Suizidalität sollte die zusätzliche Verordnung eines Benzodiazepins erwogen werden (7 Kap. 6 und 34). 5 Bei Non-Compliance sollten mit dem Patienten die Gründe für die Nichteinnahme bespro- 5 chen werden. Gleichzeitig kann die Informationsvermittlung über die Nutzen-Risiko-Abwägung vertieft werden. Auch kann ein Umsetzversuch auf ein Antidepressivum mit einem günstigeren Nebenwirkungsprofil eine neue Perspektive bringen. Wichtig Bei einer Langzeittherapie sind die folgenden Nebenwirkungen besonders zu beachten; sie sind für die Entwicklung einer Non-Compliance von großer Bedeutung: 5 sexuelle Funktionsstörungen, 5 Gewichtszunahme, 5 Sedierung. 5.4 Indikationen Standen früher die depressiven Störungen für eine Therapie mit Antidepressiva ganz im Mittelpunkt, erweitert sich heute das Indikationsspektrum stetig. Antidepressiva sind bei einer Vielzahl weiterer Indikationen wirksam. Die Indikationen werden in diesem Abschnitt nach dem Zulassungsstatus aufgelistet (. Tab. 5.2). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die älteren Antidepressiva schon zugelassen wurden, bevor die ICD-Kriterien (Internationale Klassifikation psychischer Störungen) gültig waren. Erst die SSRI und die neueren Antidepressiva sind bei diesen fest umrissenen Diagnosen ausführlich geprüft worden. Die Darstellung der Diagnosen, bei denen z. T. auch Antidepressiva eingesetzt werden, erfolgt in 7 Kap. 15–36. Weitere Indikationen für Antidepressiva Zu den folgenden Diagnosen gibt es positive Fallstudien, langjährige klinische Erfahrung mit Antidepressiva oder auch schon randomisierte Kontrollstudien. 5 Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion 5 Persönlichkeitsstörungen 5 Schlafstörungen 5 Schmerzsyndrome 5 Fibromyalgie 5 Neurasthenie und Chronic-Fatigue-Syndrom 5 Prämenstruell-sysphorisches Syndrom (PMS) 5 Klimakterisches Syndrom 5 Entzugssyndrome verschiedener Substanzgruppen und Rezidivprophylaxe der Alkoholabhängigkeit 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 44 . Tab. 5.2. Indikationen für Antidepressiva Zugelassene Indikationen Depressive Störungen Depressive Episode (F32a) Dazugehörige Syndrome Bemerkungen Mit allen Unterformen F32.0–32.3 »Minor depression« und unterschwellige Depression Saisonal abhängige affektive Störung (SAD, Winterdepression) Atypische Depression (F32.8) Rezidivierende depressive Störung (F33) Anhaltende affektive Störung (F34) Mit allen Unterformen F33.0–33.4 Persönlichkeitsstörung Dystymie (F34.1) und »Double Depression« Rezidivierende kurze depressive Episode (»recurrent brief depression«) (F38.10) Depression bei körperlichen Erkrankungen Möglich bei allen Depressionsdiagnosen Depression bei kardiovaskulären Erkrankungen Depression bei dermatologischen Erkrankungen Depression bei Demenz Post-Stroke-Depression Depression bei Morbus Parkinson Mit allen Unterformen F31.3–31.6; Risiken bei Antidepressiva (7 Abschn. 5.6) bei Rapid Cycling keine Antidepressiva! Bipolare Depression (F31) (=bipolare affektive Störung, gegenwärtig depressive Episode); s. aber 7 Abschn. 29.2.2 Angststörungen Panikstörung mit/ohne Agoraphobie (F41) Generalisierte Angststörung (F41.1) Gemischte Angststörungen Phobische Störungen (F40) Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) Zwangsstörung (F42) Andere Diagnosen a Somatisierungstörung (F45.0) Weitere somatoforme Störungen Bulimia nervosa (F50.2) In dieser Tabelle wird wegen der Komplexizität der Diagnosen, bei denen Antidepressiva verordnet werden, auf die ICD-10-Diagnosen hingewiesen. Kapitel 5 · Antidepressiva Diagnosengruppe 45 5.6 · Nebenwirkungen 5.5 Dosierung, Plasmakonzentration und Behandlungsdauer 5 Eine langsame Aufdosierung kann den Wirkeintritt eines Antidepressivums verzögern; eine zu rasche Aufdosierung kann zu vermehrten Nebenwirkungen und zu Complianceproblemen führen. 5 Generelle Dosisempfehlungen sind wegen der Heterogenität der Substanzen nur schwer zu erstellen. TZA (Zieldosis: 100–150 mg tägl.), Moclobemid und Venlafaxin werden schrittweise innerhalb von 3–7 Tagen erhöht. Bei SSRI und den neuen Antidepressiva ist es aber in vielen Fällen möglich, von Beginn an mit einer wirksamen Regeldosis zu beginnen. 5 Bei SSRI ist ein verbesserter Therapieerfolg durch Dosiserhöhungen über die Regeldosierung hinaus bei der Behandlung depressiver Störungen bisher nicht nachgewiesen worden (. Tab. 5.7). Allerdings wurde jetzt in einer post-hoc-Analyse für Escitalopram gezeigt, dass 10 mg bei geringerem und 20 mg bei stärkerem Schweregrad die optimale Dosis darstellen. 5 Bei Einmalgabe (wie bei den SSRI) ist die Compliance, wenn die Substanz gut vertragen wird, oft besser. Wenn Nebenwirkungen auftreten, kann eine Verteilung der Tagesdosis ohne Dosisreduktion bereits eine Verbesserung der Verträglichkeit bewirken (z. B. bei sedierender Antidepressiva Gabe der Hauptdosis zur Nacht; hierdurch kann sich auch ein zusätzliches Hypnotikum bei Schlafstörungen erübrigen). 5 Bei Panikstörungen sollte die initiale Dosierung besonders vorsichtig erfolgen, da diese Patienten auf mögliche Nebenwirkungen oft empfindlich reagieren. Die Startdosis ist geringer als bei der Depression (. Tab. 5.7), die Erhaltungsdosis meist geringer. 5 Bei Zwangsstörungen sind in der Regel Dosen im oberen Dosierungsbereich der Substanzen erforderlich (7 Kap. 19). 5 Bei älteren Patienten und Patienten mit Risikofaktoren in Bezug auf die unerwünschten Wirkungen der Substanzen sind meist niedrigere Dosen notwendig (7 Abschn. 5.10). 5 Für einige Antidepressiva (insbesondere TZA) ist die therapiebegleitende Kontrolle der Konzentrationen in Plasma oder Serum (»Plasmaspiegel«) (therapeutisches »Drug-Monitoring«, TDM) zur 5 Therapieoptimierung sinnvoll. Dies ermöglicht eine individuelle Dosisanpassung für den Patienten, da gleiche Dosierungen bei oraler Gabe in unterschiedlichem Ausmaß vom Patienten resorbiert und verstoffwechselt werden. Die Konzentration am Wirkort ist die entscheidende Größe für Wirksamkeit und Nebenwirkungen. Plasmakonzentrationen korrelieren mit den Wirkspiegeln im Gehirn wesentlich besser als die Dosis. 5 Ein Zusammenhang zwischen antidepressiver Wirkung und Plasmakonzentration ist bei vielen Substanzen allerdings nicht eindeutig, insbesondere nicht bei den SSRI; die unerwünschten Wirkungen zeigen jedoch oft eine Abhängigkeit von der Plasmakonzentration. 5 Am besten belegt ist ein »therapeutisches Fenster« für Nortriptylin; Empfehlungen für Plasmakonzentrationen können zudem für Imipramin, Desipramin und Amitriptylin gegeben werden. 5.6 Nebenwirkungen Aus dem Ausmaß einer Blockade verschiedener postsynaptischer Rezeptoren sind typische Nebenwirkungen abzuleiten (. Tab. 5.3 und 5.4). 5 Nebenwirkungen treten bevorzugt zu Beginn (2– 4 Wochen) einer Therapie auf. Es können einzelne oder eine Vielzahl der genannten Effekte auftreten. 5 Im Verlauf einer Behandlung bilden sich die Nebenwirkungen (besonders vegetative Symptome) zurück, ohne dass die Dosierung verändert werden muss. 5 Einige der Effekte können persistieren (z. B. orthostatische Dysregulation, Mundtrockenheit, sexuelle Störungen). Eine Dosisanpassung oder ein Präparatewechsel kann dann notwendig werden. Kardiale Nebenwirkungen 5 Wichtigste kardiale Wirkung von TZA ist die Verlangsamung der kardialen Erregungsleitung. Im EKG resultieren Blockbilder. Vorbestehende Erregungsleitungsstörungen oder gleichzeitige Gabe anderer Medikamente, die solche induzieren können, sind daher kontraindiziert. 46 Kapitel 5 · Antidepressiva . Tab. 5.3. Nebenwirkungen bei Blockade verschiedener postsynaptischer Rezeptoren 1 Rezeptortyp Nebenwirkungen bei Rezeptorantagonismus 2 Muskarinische Azetylcholinrezeptoren Akkomodationsstörungen, Mundtrockenheit, Obstipation, Sinustachykardie, Miktionsstörungen, Gedächtnisstörungen, Verwirrtheit, Delir 3 Histamin-1-Rezeptoren Müdigkeit, Sedation, Gewichtszunahme, Verwirrtheit 5-HT2-Rezeptoren Gewichtszunahme, Sedation DA-Rezeptoren Prolaktinanstieg, Libidoverlust, EPS α1-adrenerge Rezeptoren Orthostatische Hypotonie, Schwindel, Müdigkeit, reflektorische Tachykardie 4 5 6 . Tab. 5.4. Nebenwirkungen bei Hemmung der Rückaufnahme von Serotonin und Noradrenalin (z. B. durch SSRI oder selektive NA-Rückaufnahmehemmer) 7 Hemmung der Rückaufnahme Nebenwirkungen 8 NA Tremor, Tachykardie, Unruhe, Kopfschmerzen, Miktionsstörungen, Schwitzena, Mundtrockenheit 5-HT Zu Behandlungsbeginn (erste 2–4 Wochen): Appetitminderung, Übelkeit, Diarrhö, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Schwitzena, Agitiertheit: sexuelle Funktionsstörungen (diese auch persistierend) 9 Effektvermittelt durch indirekte Rezeptorstimulation an den Rezeptorsubtypen: 10 11 5 5-HT2A 5 5-HT2C 5 5-HT3 a Ängstlichkeit, Agitiertheit, sexuelle Funktionsstörungen Appetitminderung, Reizbarkeit Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen NA stimuliert die Schweißdrüsen peripher, SSRI wirken zentral auf die Raphekerne mit Regulation der Körpertemperatur. 12 13 14 15 Cave 5 Grundsätzlich gilt eine QTc-Verlängerung als Risikofaktor; dies insbesondere in Kombination mit Pharmaka, die selbst wiederum zu einer QTc-Verlängerung führen. 5 TZA sollten bei kardialer Vorschädigung nicht verordnet werden. 16 17 18 19 20 5 Weitere kardiale Nebenwirkungen sind Tachykardie und orthostatische Hypotonie. 5 Während einer Therapie mit irreversiblen MAOHemmern (Tranylcypromin) muss eine tyraminarme Diät eingehalten werden, um hypertensive Krisen zu vermeiden. Dies gilt nicht für Moclobemid in den vom Hersteller empfohlenen Dosierungen. Darüber hinaus tritt unter ansteigender Dosierung von Tranylcypromin öfter eine orthostatische Hypotonie auf. Besonders aufgrund dieser kardialen Nebenwirkungen wird die Verschreibung von MAO-Hemmern vermieden. 5 Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind SSRI-Mittel der ersten Wahl, weil sie ein günstiges Nebenwirkungsprofil haben. Allerdings gibt es Einschränkungen: Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen nehmen oft auch Aspirin oder Antikoagulantien; die Kombination führt häufiger als unter alleiniger SSRI-Therapie zu gastrointestinalen Blutungen (s. unten: »Hämatopoetisches System«). Da es auch unter SSRI einige wenige Fälle von Arrhythmien, QTc-Verlängerung, orthostatischer Hypotension und Elektrolytveränderungen bei vorherigem unauffälligem kardialem Befund gibt, ist insbesondere bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen eine regelmäßige Kontrolle anzuraten. Vegetative Nebenwirkungen 5 TZA führen häufig zu ausgeprägten anticholinergen Effekten, wie Schwitzen, Miktionsstörungen oder ausgeprägter Obstipation. 47 5.6 · Nebenwirkungen Cave Akute Notfälle unter TZA sind: 5 Harnverhalt 5 Paralytischer Ileus und 5 das zentrale anticholinerge Syndrom 7 Abschn. 34.5. 5 halt) erhöht sein (7 Abschn. »Kardiale Nebenwirkungen«) (Wessinger et al. 2006). Cave 5 Die Kombination von SSRI mit Aspirin oder anderen Medikamenten, die das Blutungsrisiko erhöhen, ist zu vermeiden. Sedierung 5 Eine klinisch relevante Sedierung kann bei Antidepressiva auftreten, bei denen die 5-HT2- und Histamin-1-Rezeptoren antagonisiert werden. Die Sedierung wird bei Agitation oder Schlafstörungen genutzt; sie kann aber auch störend oder gefährlich bei Arbeit an Maschinen oder beim Führen von Kraftfahrzeugen sein. Eine Beeinträchtigung der Reaktionsfähigkeit kommt bei Antidepressiva mit sedierender Komponente meist bei Behandlungsbeginn vor und bildet sich im Verlauf von 2–4 Wochen oft zurück. Patienten müssen über die Möglichkeit einer verminderten Reaktionsfähigkeit, z. B. beim Autofahren, aufgeklärt werden. Der Grad der Sedierung der einzelnen Antidepressiva kann der . Tab. 5.5, Spalte »Sedierung« entnommen werden. Hämatopoetisches System 5 Leukopenien und Agranulozytose treten sehr selten unter TZA, aber auch unter Mianserin auf. Meist muss die Substanz abgesetzt werden. Regelmäßige Blutbildkontrollen bei diesen Präparaten ist deshalb indiziert. Cave Es ist möglich, Blutbildveränderungen entsprechend den Empfehlungen der . Tab. 5.6 frühzeitig, aber niemals sicher zu erkennen. Die Empfehlungen können daher nur ein Kompromiss aus Risikoverhütung und Praxisnähe sein. Bei risikoreichen Substanzen müssen Patienten angewiesen werden, bei Auftreten von Symptomen wie Fieber, Halsschmerzen oder Infektionen der Mundschleimhaut keinen eigenen Behandlungsversuch durchzuführen, sondern den Arzt aufzusuchen. 5 Eine Alteration der Thrombozytenfunktion wird selten unter SSRI gesehen. Das Risiko gastrointestinaler Blutungen kann aufgrund gestörter Thrombozytenfunktionen (verminderte Aggregationsfähigkeit bei herabgesetztem Serotoninge- Neurologische Störungen 5 Generalisierte zerebrale Krampfanfälle oder Myoklonien treten unter TZA gehäuft auf. Begünstigend sind zerebrale Vorschädigungen, hohe Dosen, rasches Aufdosieren oder schlagartiges Absetzen hoher Dosen. 5 Tremor, sehr selten rigorartige Tonuserhöhungen der Muskulatur oder dystone Bewegungsstörungen treten unter allen Antidepressiva auf. Allergische Reaktionen 5 Allergische Exantheme sind besonders unter TZA, aber auch bei allen anderen Antidepressiva möglich. Gewichtszunahme 5 Gewichtszunahme kann besonders bei längerfristiger Therapie je nach pharmakologischem Wirkprofil eines Antidepressivums auftreten und die Compliance des Patienten gefährden. Bei Antidepressiva, die 5-HT2- und Histamin-1Rezeptoren antagonisieren, tritt die Gewichtszunahme häufiger auf (. Tab. 5.5, Spalte »Gewichtszunahme«). 5 Da einer Gewichtszunahme oft eine Veränderung des Essverhaltens vorausgeht, können verhaltenstherapeutische Maßnahmen (z. B. Vermeiden hochkalorischer Zwischenmahlzeiten) hilfreich sein. Sexuelle Funktionsstörungen 5 Unter SSRI treten häufiger verzögerte Ejakulation, selten verminderte Libido und Erektionsfähigkeit auf. Sie scheinen größtenteils auf eine Erhöhung der serotoninergen Transmission an 5HT2-Rezeptoren zurückzuführen zu sein. Substanzen mit zusätzlich antagonischer Wirkung an 5-HT2-Rezeptoren, wie Mirtazapin, scheinen diesen Effekt seltener zu induzieren. Unter Reboxetin können schmerzhafte Ejakulationen auftreten. TZA mit anticholinerger Wirkung führen häufiger zu Erektionsstörungen. Der MAO-Hem- 48 Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö Sedierung Agitation, Schlafstörungen Sexuelle Funktionsstörungen Orthostatische Hypotonie Gewichtszunahme EKG-Veränderungen Letalität bei Überdosierung . Tab. 5.5. Häufigkeit relevanter unerwünschter Wirkungen von wichtigen Antidepressiva Anticholinerge Nebenwirkungen 1 Kapitel 5 · Antidepressiva Amitriptylin +++ 0 +++ 0 ++ +++ +++ ++ +++ Citalopram 0 ++ 0 ++ ++ 0 0 0 0 Clomipramin ++ + + + ++ ++ ++ ++ ++ Desipramin + 0 0 ++ + + + + +++ Doxepin +++ 0 +++ 0 ++ +++ ++ ++ +++ Duloxetin 0 ++ 0 ++ ++ 0 0 0 ? Escitalopram 0 ++ 0 ++ ++ 0 0 0 0 Fluoxetin 0 ++ 0 ++ ++ 0 0 0 0 Fluvoxamin 0 ++ 0 ++ ++ 0 0 0 0 Imipramin ++ 0 + ++ + ++ ++ ++ +++ Milnacipran 0 ++ 0 ++ ++ 0 0 0 0 Mirtazapin 0 0 ++ 0 0 + + 0 0 Moclobemid 0 0 0 + 0 0 0 0 0 Nortriptylin + 0 + + + + + + +++ Paroxetin 0 ++ 0 ++ ++ 0 0 0 0 Reboxetin 0 + 0 ++ + + 0 0 0 Sertralin 0 ++ 0 ++ ++ 0 0 0 0 Tranylcypromin 0 0 0 ++ 0 +++ 0 0 +++ Trimipramin +++ 0 +++ 0 ++ +++ +++ ++ +++ Venlafaxin 0 ++ 0 ++ ++ 0 0 0 + 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 +++ häufig bis regelmäßig; ++ mäßig häufig; + selten; 0 unerheblich oder nicht vorhanden. 18 19 20 mer Moclobemid scheint sexuelle Funktionsstörungen kaum zu induzieren. 5 Da sexuelle Funktionsstörungen das depressive Krankheitsbild negativ beeinflussen können, sind diese besonders bei einer Langzeitbehandlung sorgfältig zu erfragen. Absetzsyndrome 5 Absetzsyndrome sind nach schlagartigem Absetzen von Antidepressiva nach langfristiger Therapie mit TZA, Venlafaxin, Mirtazapin, SSRI (mit kurzer HWZ, besonders Paroxetin) und auch Duloxetin möglich. Symptome sind Schwindel, Gangunsicherheit, Übelkeit, Erbrechen, grip- 49 5.6 · Nebenwirkungen peähnliche Symptome (Abgeschlagenheit, Gliederschmerzen), sensible Störungen (Parästhesien, elektrisierendes Gefühl) und Schlafstörungen. Auch Irritabilität, gedrückte Stimmung, psychomotorische Unruhe, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen bis hin zur Verwirrtheit können auftreten. 5 Die Symptomatik ist meist leicht ausgeprägt und bildet sich spontan nach wenigen Tagen zurück. Das Wiederansetzen des Antidepressivums führt meist zu einer umgehenden Rückbildung der Symptome. Wichtig Antidepressiva sollen langsam, bei schon lang bestehender Therapie, auch über Wochen abgesetzt werden. Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH) 5 In sehr seltenen Fällen kann unter Antidepressiva (meist in den ersten Behandlungswochen) ein SIADH ausgelöst werden. Durch vermehrte ADH-Sekretion wird Flüssigkeit vermindert ausgeschieden, was sich klinisch als konzentrierte Harnausscheidung, laborchemisch in Form einer Hyponatriämie zeigt. Die Symptome sind: körperliche Schwäche, Lethargie, Gewichtszunahme, Kopfschmerz bis hin zu Verwirrtheit, Krampfanfällen und Koma. Im Verdachtsfall wird das Antidepressivum abgesetzt. Cave Bei alten Menschen sollte, besonders unter SSRI und Venlafaxin, regelmäßig Natrium überprüft werden, um die Vorboten eines SIADH zu erkennen. Risiken sind: Alter, weibliches Geschlecht und die Einnahme von Diuretika. Induktion einer manischen Episode 5 Unter TZA ist das Risiko für die Induktion (hypo)manischer Episoden erhöht, wahrscheinlich aber nicht bei den SSRI; 7 Kap. 29, bipolare affektive Störungen. 5 Suizidalität 5 Die Frage, ob SSRI bei Jugendlichen bis zum 24. Lebensjahr (für diese Altersgruppe hat die FDA im Mai 2007 eine Warnung ausgesprochen) suizidale Handlungen und Suizidideen auslösen können, wird kontrovers diskutiert. Es wird angenommen, dass die bei SSRI und auch SNRI im Vergleich zu TZA ausgeprägtere psychomotorische Unruhe sowie auch in Einzelfällen die Entstehung dranghafter suizidaler Impulse zu Beginn der Therapie eine Rolle spielen könnten. Aufgrund der Datenlage wurde für Paroxetin ein Warnhinweis ausgesprochen, dass das Risiko für suizidales Verhalten bei jungen Erwachsenen sowie bei Patienten mit suizidalem Verhalten oder Suzidideationen in der Vorgeschichte möglicherweise erhöht sein kann. Zu den neuesten Befunden über den Zusammenhang zwischen verringerter SSRI-Verschreibung und Suizidalität im Kindes- und Jugendalter 7 Abschn. 5.12. 5 Suizidversuche mit Überdosierungen sind bei neueren Antidepressiva (SSRI, Mirtazapin, Ausnahme: Venlafaxin) viel seltener mit vital bedrohlichen Komplikationen als bei TZA belastet (. Tab. 5.5, Spalte »Letalität bei Überdosierungen«). Wichtig 5 Patienten, Angehörige und behandelnde Psychologen und Ärzte sollten um ein zu Beginn der antidepressiven Behandlung möglicherweise zunehmendes oder auch neu auftretendes Risiko suizidalen Verhaltens wissen. Zu Beginn einer antidepressiven Behandlung und im Verlauf sollten Patienten, insbesondere bei Vorliegen eines hohen Risikos für suizidales Verhalten (suizidales Verhalten in der Vorgeschichte oder Suizidideationen zu Beginn der Behandlung), engmaschig überwacht werden. 5 Ein Antidepressivum mit sedierenden Eigenschaften kann bei suizidalen Patienten als Monotherapie Vorteile bieten. Beim geringsten Zweifel sollte begleitend passager ein Benzodiazepin-Anxiolytikum verordnet werden. Dies gilt besonders bei Antidepressiva ohne sedierende Komponente. 6 50 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 Kapitel 5 · Antidepressiva 5 Die zzt. geführte kritische Diskussion zur Frage des Suizidrisikos unter den neuen Antidepressiva erfordert, depressive Patienten besonders zu Beginn der Therapie einem engmaschigen Monitoring zu unterziehen. Sie darf in keinem Falle die Tendenz stützen, Antidepressiva bei entsprechender Indikation seltener zu verordnen oder gar wieder auf die TZA zurückzugreifen. TZA besitzen bei Suizidversuchen ein erhöhtes toxisches Risiko (. Tab. 5.5, letzte Spalte).In der jüngsten Literatur ist man sich darüber einig, dass der Vorteil einer Therapie mit Antidepressiva bei schweren Depressionen zur Verhinderung von Suizidversuchen groß ist und gerade im Langzeitverlauf die Suizidrate durch SSRI verringert wird (Sondergard et al. 2007). Zentrales Serotoninsyndrom 5 Eine seltene Neben- bzw. Wechselwirkung ist das zentrale Serotoninsyndrom bei Pharmaka mit serotonerger Wirkkomponente (SSRI, Venlafaxin, TZA, MAO-Hemmer, 5-HT-Agonisten, Tryptophan, Kokain, Amphetamine, aber auch Lithium). 5 Es tritt vorwiegend in einer Kombinationstherapie auf und ist als pharmakodynamische Interaktion auf der Ebene der serotonergen Neurotransmission im Sinne einer serotonergen Überaktivität zu verstehen. 5 Es ist eine potenziell lebensbedrohliche Notfallsituation und tritt überwiegend innerhalb der ersten 24 h nach Gabe der Medikation auf. Cave 15 16 17 18 19 20 Das zentrale Serotoninsyndrom besteht aus der Trias 5 Fieber, 5 neuromuskuläre Symptome (Hyperrigidität, Hyperreflexie, Myoklonie, Tremor), 5 psychopathologischen Auffälligkeiten (delirante Symptome wie Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsstörungen, Desorientiertheit, Verwirrtheit, auch Erregungszustände). Weiterhin möglich sind gastrointestinale Symptome. Vital bedrohliche Komplikationen ergeben sich durch epileptische Anfälle, Herzrhythmusstörungen, Koma, Multiorganversagen oder Verbrauchskoagulopathie. 5.7 Kontraindikationen und Intoxikationen 5 Für alle Antidepressiva gibt es Kontraindikationen; sie sind für MAO-Hemmer und TZA zahlreich und für die neueren Antidepressiva relativ gering. Sie lassen sich leicht aus dem pharmakoligischen Profil (. Tab. 5.1), den Angriffspunkten am Rezeptor ( . Tab. 5.3 u. 5.4) und den unerwünschten Wirkungen (. Tab. 5.5) ableiten. Eine mögliche Einschränkung der Gabe eines Antidepressivums hängt auch von dem Interaktionspotenzial ab (7 Abschn. 5.8). 5 Die Verordnung von TZA soll bei folgenden Krankheiten wegen der anticholinergen Begleitwirkung nicht erfolgen: Prostatahypertrophie, Harnverhalt, Engwinkelglaukom, Pylorusstenose, paralytischer Ileus und schließlich deliriante Syndrome. Auch bei kardialen Reizleitungsstörungen und zerebralen Krampfanfällen sind TZA kontraindiziert. 5 Unter MAO-Hemmern kommen hypertone Blutdruckkrisen, besonders nach Diätfehlern mit tyraminhaltiger Nahrung vor. Cave 5 Bei älteren Patienten sollten TZA und MAO-Hemmer wegen der höheren Risiken bei Grunderkrankungen gar nicht mehr gegeben werden. Einnahmefehler erhöhen noch das Risiko. 5 Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Leber- und Nierenerkrankungen sollte man auf TZA und MAO-Hemmer bei allen Patienten verzichten. 5 Bei bestehenden Leber- und Nierenerkrankungen müssen auch die neueren Antidepressiva auf mögliche Risiken hin geprüft werden. 5 Auf die Risiken unter Antidepressiva beim Autofahren wird in 7 Kap. 36, während der Schwangerschaft und in der Stillzeit in 7 Kap. 35 hingewiesen. 5 Die Beliebtheit der SSRI ist besonders auf ihre Sicherheit bei Überdosierung zurückzuführen. Am häufigsten treten Symptome bei Überdosierung noch unter Fluoxetin auf. Es kann dann zu gastrointestinalen Symptomen, Müdigkeit und Tremor kommen. Erst in Dosen, die 75-mal höher über der Tagesdosis liegen, kommt es zu kardiovaskulären Symptomen, Krampfanfällen und veränderter Bewusstseinslage (7 Abschn. 5.6, kardiale Nebenwirkungen). 51 5.9 · Routineuntersuchungen Cave Bei Suizidalität sind TZA und MAO-Hemmer aufgrund der relativ hohen Toxizität zu meiden (. Tab. 5.5, Spalte »Letalität bei Überdosierung«). SSRI und die anderen neueren Antidepressiva (Ausnahme: Venlafaxin) sind dann vorzuziehen. 5.8 5 ganz besonders bei älteren Menschen. Es sind Erregungszustände bis hin zum Delir möglich. 5 Kombinationen von Antidepressiva mit Sympathomimetika oder Antihypertensiva sind vorsichtig abzuwägen. 5 Generell sollten Antidepressiva nicht mit Alkohol in größeren Mengen kombiniert werden. Es besteht die Gefahr der wechselseitigen Wirkungsverstärkung bis hin zum Koma. Wechselwirkungen 5.9 Viele Antidepressiva entfalten Wechselwirkungen mit anderen Psychopharmaka und Medikamenten. Während man früher nur die pharmakodynamischen Wechselwirkungen kannte (s. unten), müssen heute, nachdem in den letzten Jahren der enzymatsche Abbau der Psychopharmaka genauer bekannt ist, auch die pharmakokinetischen Wechselwirkungen beachtet werden (7 Abschn. 2.4): Routineuntersuchungen Routineuntersuchungen werden zur Therapieüberwachung bei allen Antidepressiva empfohlen, da es in seltenen Fällen zu Nieren- und Leberfunktionsstörungen sowie, besonders unter TZA, zu Blutbildveränderungen und EKG-Veränderungen kommen kann. SSRI und die neueren Antidepressiva erfordern seltenere Routineuntersuchungen. Kontrollen empfehlen sich dennoch. Cave 5 Werden mehrere Medikamente gleichzeitig mit Antidepressiva verabreicht, kann es zu Interaktionen mit dem Resultat einer Erhöhung oder Verminderung der Plasmakonzentration von Antidepressiva kommen. 5 Besonders wenn die Fluoxetin, Paroxetin oder Fluvoxamin und TZA kombiniert werden, können die Plasmakonzentrationen des TZA stark ansteigen und zu toxischen Spiegeln führen. Alle wichtigen Interaktionen sind an anderer Stelle aufgelistet (Benkert u. Hippius 2007) und müssen bei Verordnung eines Antidepressivums berücksichtigt werden. Wichtige Vorsichtsmaßnahmen zur Verhütung von pharmakodynamischen Wechselwirkungen 5 SSRI dürfen nicht mit MAO-Hemmern kombiniert werden, da die Gefahr eines seltenen zentralen Serotoninsyndroms besteht (7 Abschn. 5.6). 5 Auch Kombinationen von MAO-Hemmern oder SSRI mit L-Tryptophan oder Lithium können, wenn auch seltener, wegen des synergistischen Effektes auf die serotoninerge Neurotransmission ein Serotoninsyndrom auslösen. 5 Kombinationen von Antidepressiva mit Anticholinergika oder anticholinerg wirkenden Antipsychotika (7 Abschn.. 7.8) sollten vermieden werden, Wichtig Unabhängig von der Verordnung von Antidepressiva sollte bei depressiven Patienten bekannt sein, ob eine Herz-Kreislauf-Erkrankung vorliegt. Denn neben dem Suizid ist besonders das Risiko an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben bei depressiven Patienten besonders hoch. Eine Übersicht der empfohlenen Kontrollen gibt . Tab. 5.6. Häufigere Kontrollen sind nötig, wenn ein untersuchter Parameter pathologisch ausfällt oder klinische Symptome auftreten, die einer Abklärung bedürfen. Wichtig Patienten müssen auf folgende Punkte hingewiesen werden: 5 Es besteht eine Potenzierungsgefahr bei gleichzeitiger Einnahme anderer sedierender Pharmaka und von Alkohol. 5 Es dürfen andere Medikamente nur nach Absprache mit dem Arzt eingenommen werden. 5 Eine eingeschränkte Fahrtüchtigkeit und Reaktionsfähigkeit zu Beginn der Behandlung muss beachtet werden (7 Kap. 36). 5 Über das Risiko in der Schwangerschaft und Stillzeit muss aufgeklärt werden (7 Kap. 35). 52 Kapitel 5 · Antidepressiva Plasmakonzentration von Antidepressiva 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 Die Plasmakonzentration eines Pharmakons ist ein Maß für seine Aktivität nach Verabreichung einer bestimmten Dosis. In manchen Fällen stellen die Konzentrationen ein genaues Abbild der Konzentration am Wirkort, dem Rezeptor, dar, welche in einer quantitativen Beziehung zum Ausmaß der pharmakologischen Wirkung stehen. 5 Für einige Antidepressiva (insbesondere TZA) und für spezifische Indikationen ist die therapiebegleitende Kontrolle der Konzentrationen in Plasma (»Plasmaspiegel«) zur Therapieoptimierung sinnvoll. Dies ermöglicht eine individuelle Dosisanpassung für den Patienten, da gleiche Dosierungen bei oraler Gabe in unterschiedlichem Ausmaß vom Patienten resorbiert und verstoffwechselt werden. 5 Die Streuung der resultierenden Plasmakonzentrationen ist so hoch, dass von einer gegeben Dosis nicht zuverlässig auf die Plasmakonzentration geschlossen werden kann. Dies gilt für alte und neue Antidepressiva. 5 Für einige Antidepressiva existiert eine untere und obere Schwellenkonzentration zwischen denen die Plasmakonzentration für einen optimalen Therapieerfolg eingestellt werden sollte (»therapeutisches Fenster«). 17 18 19 20 5 5 Wichtig Allerdings ist ein Zusammenhang zwischen antidepressiver Wirkung und Plasmakonzentration bei vielen Substanzen, besonders denen, die heute als Antidepressiva empfohlen werden, nicht eindeutig. Die unerwünschten Wirkungen zeigen jedoch meistens eine Abhängigkeit von der Plasmakonzentration. 15 16 5 5 dar, weil eine begleitende Depression die Prognose der körperlichen Erkrankung verschlechtert. Die Behandlung depressiver Syndrome bei somatischen Erkrankungen hat einen signifikanten Vorteil gegenüber einer Placebobehandlung oder fehlender Behandlung. Dies ist für den Schlaganfall gezeigt und wird für den Herzinfarkt diskutiert. Depression bei der Parkinson-Erkrankung ist häufig. Es werden neurochemische Gemeinsamkeiten diskutiert. TZA waren in randomisierten Studien wirksam. Trimipramin und Clomipramin sollten wegen der D2-antagonistischen Komponente gemieden werden. Bei kombinierter Therapie ist auf einen möglichen Blutdruckabfall zu achten. Manchmal können auch SSRI zu einer Verschlechterung der extrapyramidal-motorischen Störung führen. Es gibt hohe Evidenzen zum engen, wahrscheinlich ursächlichen Zusammenhang zwischen Depression (und Dauerstress) und körperlichen Folgekrankheiten gerade auch im höheren Lebensalter. An erster Stelle stehen Herz-Kreislauf-Erkrankungen (mit Arteriosklerose und Hypertonie); diskutiert werden auch Diabetes Typ 2 und Osteoporose (7 Abschn. 15.8). Bei geriatrischen Patienten ist immer die Gefahr anticholinerger zentralnervöser Nebenwirkungen (Delir, Verwirrtheits- und Desorientiertheitszustände) zu bedenken, welche insbesondere bei älteren Patienten auch bei den üblichen Dosierungen besteht. TZA sind dabei am risikoreichsten. Antidepressiva und Psychotherapie im höheren Lebensalter 7 Abschn. 15.2. Fazit Therapieempfehlung für Antidepressiva im höheren Lebensalter 5.10 Antidepressiva im höheren Lebensalter Antidepressiva sollten viel häufiger in der Geriatrie eingesetzt werden, weil 10% der über 60-Jährigen unter einer behandlungsbedürftigen depressiven Störung leiden. Nur die wenigsten depressiven geriatrischen Patienten werden jedoch antidepressiv behandelt, viele von ihnen nur mit TZA in zu niedriger Dosierung (Wilson et al. 2001). 5 Depressive Störungen stellen einen behandlungsbedürftigen und prognostisch relevanten Komplikationsfaktor bei körperlichen Erkrankungen 5 SSRI sind gerade bei geriatrischen Patienten sicherer und besser verträglich als TZA. Unter den SSRI sind die Präparate zu wählen, die das geringste pharmakokinetische Interaktionspotenzial besitzen (. Tab. 5.7). 5 Auch die neueren Antidepressiva Venlafaxin sowie Mirtazapin zeigen eine gute Verträglichkeit bei geriatrischen Patienten. 5 Die Behandlung mit TZA ist aufgrund möglicher arrhythmogener Wirkungen im Alter besonders risikoreich. Vor Behandlungsbeginn empfiehlt sich daher dringend die Ableitung eines EKG. 5 53 5.11 · Präparategruppen . Tab. 5.6. Empfehlungen für Routineuntersuchungen unter Antidepressiva Vorher Monate 1 2 3 4 5 6 ×× ×× ×× × × Vierteljährlich Halbjährlich TZA Blutbild × ×× Kreatinin × × Leberenzyme × × Natrium × × EKG × × EEG × (×) RRb, Puls × × × × × × × × × × ×a ×a ×a a × × × × × ×a, d × Andere Antidepressiva Blutbildc × × × ×e Kreatinin × × × ×e Natrium × × Leberenzyme × × × EKG ×a ,d ×d ×d RRb, Puls × ×a ×a ×a × ×a ×a × ×a ×e ×f × Kontrollen; die Anzahl der notwendigen Routinekontrollen ist bisher nicht empirisch abgesichert, (×) optional. a Kontrolle bei allen Patienten über 60 Jahre empfehlenswert. b Unter Venlafaxin in hoher Dosierung ist der Blutdruck häufiger zu kontrollieren, weil es in seltenen Fällen zu anhaltend erhöhten Werten kommen kann. c Für Mianserin empfehlen die Hersteller in den ersten Behandlungsmonaten wöchentliche Blutbildkontrollen. d Bei Patienten mit einem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. e Bei langfristig stabilen Patienten können jährliche Kontrollen ausreichen. f Bei langfristig stabilen Patienten können halbjährliche Kontrollen ausreichen. 5.11 Präparategruppen1 Es werden in den . Tab. 5.7–5.13 nur die wichtigen Antidepressiva aufgelistet. 5.11.1 Selektive Serotoninrückaufnahmehemmer (SSRI) Der durchschlagende Erfolg der SSRI liegt darin, dass sie die gleiche Wirksamkeit, aber deutlich weniger unerwünschte Wirkungen (7 Abschn. 5.6) und gerin- gere Toxizität bei Überdosierungen im Vergleich zu den TZA und MAO-Hemmer haben. Die Einführung von Fluoxetin (Prozac®) in den amerikanischen Markt 1988 durch die Firma Lilly ebnete den weltweiten Siegeszug für die SSRI. Sie wurden die Mittel der ersten Wahl bei der Behandlung von leichten und mittelschweren Depressionen und Angststörungen. Bis heute sind weitere SSRI entwickelt worden, die sich durch höhere Selektivität und weniger Interaktionen von Fluoxetin abgrenzen. Fazit Therapieempfehlung für SSRI 1 Eine Übersicht über die im Leitfaden genannten Wirkstoffe mit den jeweiligen Handelsnamen gibt . Tab. A1 im Anhang. 5 SSRI sollten bei allen Indikationen immer häufiger die TZA und MAO-Hemmer ablösen; das Nutzen-RisikoVerhältnis ist bei SSRI besser. 54 1 Kapitel 5 · Antidepressiva . Tab. 5.7. SSRI Präparat Dosis Indikationen mit Zulassung Wichtigste Nebenwirkungen; sonst 7 Abschn. 5.6 Behandlungshinweise Citalopram Cipramil®, Sepram® 10–20 mg bis 40 mg Depression, Panikstörung Gastrointestinale Beschwerden, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Libidomangel, Schlafstörungen Sehr geringes Interaktionspotenzial Escitalopram Cipralex® 5–10 mg bis 20 mg; bei Zwangsstörung 20 mg Depression, Panikstörung, Zwangsstörung wie Citalopram Sehr geringes Interaktionspotenzial Fluoxetin Fluctin® Depression 20 mg bis 60 mg, Panikstörung zunächst 10 mg, Zwangsstörung und Bulimie bis 60 mg Depression, Zwangsstörung, Bulimie wie Citalopram Starkes Interaktionspotenzial Fluvoxamin Fevarin® Depression 100–200 mg, Panikstörung 150 mg, Zwangsstörung 250 mg Depression wie Citalopram Starkes Interaktionspotenzial, leichte Absetzsymptome Paroxetin Seroxat®, Tagonis® Depression, GAD und PTSD 20 mg bis 50 mg, Panikstörung zunächst 10 mg, Zwangsstörung bis 60 mg Depression, Panikstörung, GAD, Zwangsstörung, PTSD wie Citalopram Stärkere Absetzsymptome, mäßiges Interaktionspotenzial Sertralin Gladem®, Zoloft® 50 mg bis 200 mg Depression wie Citalopram Leichte Absetzsymptome, geringes Interaktionspotenzial 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Depression depressive Störung; GAD generalisierte Angststörung; PTSD posttraumatische Belastungsstörung. Die allgemeinen Hinweise 7 Abschn. 5.5–5.9 müssen zusätzlich für alle SSRI berücksichtigt werden. 5 Bei der leichten bis mittelgradigen Depression und bei den Angststörungen sind SSRI-Mittel der ersten Wahl, wenn eine medikamentöse Therapie indiziert ist. 5 Auch bei der schweren Depression entspricht die Wirksamkeit der SSRI den TZA; nur die SNRI scheinen noch wirksamer zu sein. Die Nebenwirkungen der SNRI sind aber auch stärker. 5 Bei Zwangsstörungen sind SSRI Mittel der ersten Wahl (7 Kap. 19). 5 Bei Suizidalität und der Verordnung von SSRI ist ein häufigeres Monitoring nötig (7 Abschn. 5.6). 5.11.2 Selektive SerotoninNoradrenalinrückaufnahmehemmer (SNRI) Neben der Serotoninrückaufnahmehemmung haben diese Präparate eine zusätzliche Noradrenalinrückaufnahmehemmung. Bei Duloxetin ist sie stärker als bei Venlafaxin (. Tab. 5.8). Venlafaxin hat einen relativ geringen serotoninblockierenden Effekt. Zwar gibt es Hinweise, dass diese Gruppe in ihrer Wirksamkeit bei schweren Depressionen den SSRI überlegen ist, dabei ist aber noch nicht gesichert, ob dieser Effekt sicher auf der Noradrenalinkomponente beruht. Die Grup- 55 5.11 · Präparategruppen 5 . Tab. 5.8. SNRI Präparat Dosis (täglich) Indikationen mit Zulassung Wichtigste Nebenwirkungen; sonst 7 Abschn. 5.6 Behandlungshinweise Duloxetin Cymbalta® 60 mg Depression Urologische Indikation: Inkontinenz Gastrointestinale Beschwerden, Schwitzen, Schwindel, Schlafstörungen Mäßiges Interaktionspotenzial Milnacipran Dalcipran® 100–200 mg Depression Unruhe, Tremor, anticholinerge Wirkungen, Schlafstörungen, sexuelle Funktionsstörungen Keine Hinweise auf Interaktionen. Nicht in allen deutschsprachigen Ländern im Handel Venlafaxin Trevilor® retard 75-300 mg, Panikstörung mit 37,5 mg langsam beginnen Depression, GAD, Panikstörung, Soziale Phobie Gastrointestinale Beschwerden, Unruhe, Schlafstörungen Geringes Interaktionspotenzial Depression depressive Störung; GAD generalisierte Angststörung. Die allgemeinen Hinweise 7 Abschn. 5.5–5.9 müssen zusätzlich für alle SNRI berücksichtigt werden. Milnacipran steht nicht in allen deutschsprachigen Ländern zur Verfügung. pe scheint auch bei allen Indikationen, die über die Depression hinausgehen, wirksam zu sein. Es bestätigt sich zzt. der Befund, dass diese Gruppe einen stärkeren antinozizeptiven Effekt als die SSRI hat. Für Duloxetin und Milnacipran gibt es mehrere Studien, die eine Wirksamkeit auch bei der Fibromyalgie zeigen, für Duloxetin auch bei diabetesbedingtem neuropathischen Schmerz. Fazit Therapieempfehlung für SNRI 5 Bei der schweren Depression scheint Venlafaxin den SSRI überlegen zu sein. 5 Venlafaxin hat einen schnelleren Wirkungseintritt als SSRI. 5 Die Nebenwirkungen sind unter SNRI etwas stärker als unter SSRI. 5 SNRI sind bei chronischen Schmerzzuständen wirksam. Der antinozizeptive Effekt ist bei dieser Gruppe aufgrund der dualen Komponente besonders stark ausgeprägt. 5 SNRI haben bisher keine Wirkung bei der Zwangsstörung, ähnlich wie die SSRI, gezeigt. 5 Ob Duloxetin einen stärkeren antinozizeptiven Effekt als die anderen SNRI hat, ist noch nicht genügend evaluiert. 5.11.3 Selektive Noradrenalinrückaufnahmehemmer Reboxetin hat einen selektiven Noradrenalinrückaufnahme blockierenden Effekt (. Tab. 5.9). Fazit Therapieempfehlung für selektive Noradrenalinrückaufnahmehemmer 5 Reboxitin ist eine Alternative, wenn ein eigenständiger pharmakologischer Wirkansatz bei fehlender Response gesucht wird. 5 Die gastrointestinalen Nebenwirkungen sind zwar geringer als bei den SSRI, die urogenitalen Risiken schränken die Indikation bei Männern ein. 5.11.4 Noradrenerges/spezifisch serotonerges Antidepressivum mit α2-Adrenozeptor antagonistischer Wirkung Mirtazapin ist die Nachfolgesubstanz von Mianserin. Chemisch hat es eine tetrazyklische Struktur, aber nicht die wesentlichen pharmakologischen Eigenschaften, die den TZA entsprechen. Unter den Antidepressiva sind die Eigenschaften sehr eigenständig. 56 1 Kapitel 5 · Antidepressiva . Tab. 5.9. Selektive Noradrenalinrückaufnahmehemmer Präparat Dosis (täglich) Indikationen mit Zulassung Wichtigste Nebenwirkungen; sonst 7 Abschn. 5.6 Behandlungshinweise Reboxetin Edronax® 4, später 8 mg Depression Gastrointestinale Beschwerden, Schwitzen, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Tachykardie Sehr geringes Interaktionspotenzial Cave: Harnverhalt bei Männern 2 3 4 5 6 Depression depressive Störung. Die allgemeinen Hinweise 7 Abschn. 5.5–5.9 müssen zusätzlich berücksichtigt werden. . Tab. 5.10. D2-Adrenorezeptor-Antagonisten Präparat Dosis (täglich) Indikationen mit Zulassung Wichtigste Nebenwirkungen; sonst 7 Abschn. 5.6 Behandlungshinweise Mirtazapin Remergil® 30 mg, Erhöhung auf 45 mg möglich Depression Müdigkeit, Mundtrockenheit, Gewichtszunahme Geringes Interaktionspotenzial, kaum sexuelle Funktionsstörungen 7 8 9 10 11 12 13 14 Depression depressive Störung. Die allgemeinen Hinweise 7 Abschn. 5.5–5.9 müssen zusätzlich berücksichtigt werden. Wesentlich ist die α2-adrenergen Rezeptor blockierende Wirkung. Der verstärkte noradrenerge Tonus führt zu einer sekundären serotonergen Freisetzung in den Synapsen. Mirtazapin blockiert die 5-HT2und 5-HT3-Rezeptoren, ist aber auch ein potenter H1Rezeptorantagonist, worauf die wesentlichen Nebenwirkungen zurückzuführen sind (. Tab. 5.10). Fazit Therapieempfehlung für Mirtazapin 15 16 17 18 19 20 5 Bei Depressionen mit Schlafstörungen ist Mirtazapin Mittel der Wahl; auch geeignet zur Schlafinduktion ohne depressive Störung. 5 Mirtazapin hat wie Venlafaxin einen schnelleren Wirkungseintritt als SSRI. 5 Auch Mirtazapin hat aufgrund seines dualen Wirkmechanismus wie die SNRI einen antinozizeptiven Effekt. 5 Mirtazapin lässt sich in der Augmentationstherapie ohne große Risiken mit SSRI und SNRI kombinieren. 5 Nachteilig ist die Gewichtszunahme. 5.11.5 NoradrenalinDopaminrückaufnahmehemmer Neu zugelassen als Antidepressivum ist der Noradrenalin-Dopamin-Rückaufnahmehemmer Bupropion (Elontril®). Damit hat sich das Indikationsspektrum von Bupropion nach seiner Einführung als Raucherentwöhnungsmittel (Zyban®) (7 Abschn. 11.2) auf depressive Störungen erweitert. Die Anfangsdosis zur Behandlung depressiver Episoden liegt bei 150 mg/Tag als Einmalgabe. Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählen Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Mundtrockenheit sowie gastrointestinale Beschwerden. Von Seiten des Nebenwirkungsprofils bietet Bupropion bei einer den SSRI und Venlafaxin vergleichbaren antidepressiven Wirksamkeit Vorteile durch fehlende Gewichtszunahme und geringeren sexuellen Funktionsstörungen. Es muss noch gezeigt werden, dass Bupropion eine Alternative zu den anderen neuen Antidepressiva ist. Deswegen wurde auf eine eigenständige Tabelle für Bapropion verzichtet. 57 5.11 · Präparategruppen 5.11.6 Trizyklische Antidepressiva (TZA) TZA haben einen breiten polypharmazeutischen Wirkansatz (7 Abschn. 5.2); dadurch ist das Risiko für Nebenwirkungen und Komplikationen bei Überdosierung hoch. Da die neuen Antidepressiva eine mindestens gleich gute Wirksamkeit haben, sind sie in der Regel bei den entsprechenden Indikationen vorzuziehen. Auch die große historische Bedeutung dieser Gruppe rechtfertigt heute nicht mehr einen Einsatz als Mittel der ersten Wahl. Ein Vorteil der TZA liegt in der Möglichkeit bei unbefriedigender Response das TDM einzusetzen (7 Abschn. 5.9, . Tab. 5.11). Fazit 5 MAO-Hemmer 5.11.7 MAO-Hemmer gehörten zu den ersten Antidepressiva (7 Abschn. 5.1.1). Die Risiken darunter sind aber heute zu groß, um sie in der Routinetherapie zu empfehlen, z. B. hypertensive Krisen. Tranylcypromin ist ein irrereversibler nicht-selektiver MAO-Hemmer, wogegen Moclobemid ein selektiver reversibler MAOHemmer vom A-Typ ist. Die Nebenwirkungen unter Moclobemid sind gering. Es kommt darunter nicht zu einer Rückaufnahmehemmung biogener Amine (. Tab. 5.12). Fazit Therapieempfehlung für MAO-Hemmer Therapieempfehlung für TZA 5 Der Hauptgrund für den Einsatz von TZA sind die relativ geringen täglichen Verschreibungskosten bei allen Indikationen. Wenn möglich sollten die Antidepressiva der obigen Gruppen vorgezogen werden. 5 Die meisten TZA haben aufgrund ihres breiten pharmakologischen Profils auch einen antinozizeptiven Effekt. 5 Moclobemid ist eine Alternative, wenn ein eigenständiger pharmakologischer Wirkansatz bei fehlender Response gesucht wird. 5 Es gibt Hinweise, dass unter Moclobemid sexuelle Funktionsstörungen kaum auftreten. . Tab. 5.11. TZA (Auswahl) Präparat Dosis (täglich) Indikationen mit Zulassung Wichtigste Nebenwirkungen; sonst 7 Abschn. 5.6 Behandlungshinweise Amitriptylin Saroten® 150 mg Depression, Schmerzbehandlung Anticholinerge Wirkungen, Müdigkeit Starkes Interaktionspotenzial, schlafanstoßende Wirkung Clomipramin Anafranil® 150 mg Depression, Panikstörung, Phobien, Zwangsstörung, Schmerzbehandlung Anticholinerge Wirkungen, Müdigkeit, Unruhe Starkes Interaktionspotenzial, starke Serotoninrückaufnahmehemmung Imipramin Tofranil® 150 mg Depression, Schmerzbehandlung Anticholinerge Wirkungen, Unruhe, Harnverhalt Starkes Interaktionspotenzial Nortriptylin Nortrilen® 100–150 mg Depression Geringere Nebenwirkungen als bei anderen TZA Interaktionspotenzial, bei Schwangerschaft günstigstes Profil Trimipramin Stangyl® 150 mg Depression Anticholinerge Wirkungen, starke Müdigkeit Starkes Interaktionspotenzial, schlafanstoßende Wirkung Depression depressive Störung. Die allgemeinen Hinweise 7 Abschn. 5.5–5.9 müssen zusätzlich berücksichtigt werden. 58 1 Kapitel 5 · Antidepressiva . Tab. 5.12. MAO-Hemmer (Auswahl) Präparat Dosis (täglich) Indikationen mit Zulassung Wichtigste Nebenwirkungen; sonst 7 Abschn. 5.6 Behandlungshinweise Moclobemid Aurorix® 300 mg, dann 600 mg Depression, soziale Phobie Geringe vegetative Nebenwirkungen, bei Moclobemid kein Risiko für hypertensive Krisen Stark tyraminhaltige Nahrung muss vermieden werden. Keine Kombination mit serotoninhaltigen Medikamenten 2 3 4 5 6 7 Depression depressive Störung. Die allgemeinen Hinweise 7 Abschn. 5.5–5.9 müssen zusätzlich berücksichtigt werden. . Tab. 5.13. Pflanzliche Präparate (Auswahl) Präparat Dosis (täglich) Indikationen mit Zulassung Wichtigste Nebenwirkungen; sonst 7 Abschn. 5.6 Behandlungshinweise Hyperikumextrakt Wahrscheinlich 900 mg Depression Kaum Nebenwirkungen Unterschätztes, mäßiges Interaktionspotenzial 8 9 10 Depression depressive Störung. Die allgemeinen Hinweise 7 Abschn. 5.5–5.9 müssen zusätzlich berücksichtigt werden. 11 5.11.8 12 Es gibt mehrere Johanniskrautextrakte in verschiedenen Präparaten, die ohne Rezeptpflicht zur Behandlung der Depression erhältlich sind. Eine größere Anzahl von placebokontrollierten Studien zeigt bei leichter bis mittelschwerer Depression eine Überlegenheit für Johanniskrautpräparate. Neue Studien zeigen allerdings gegenüber Placebound Standardantidepressiva uneinheitliche Ergebnisse. Das gilt jetzt auch für die schwere depressive Störung, obwohl eine erste Studie bei dieser Krankheitsgruppe unter Hypericum über 24 Wochen einen gleich guten Effekt wie ein SSRI gezeigt hat. Die Dosis-WirkungBeziehung von Johanniskrautextrakten ist ungeklärt. 13 14 15 16 Pflanzliche Präparate 17 Fazit 18 Therapieempfehlung für Johanniskrautextrakte 19 20 5 Bei der Verordnung von Hypericumpräparaten sollte bedacht werden, dass es vom wissenschaftlichen Standpunkt zzt. noch sehr viele Unsicherheiten zur Wirksamkeit, Dosis, Präparatewahl und Interaktionen gibt. 5.12 Antidepressiva in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Bei der Behandlung mit Antidepressiva im Kindesund Jugendalter sind die Auswahlkriterien für ein Antidepressivum in erster Linie die klinische Symptomatik, die sich im Entwicklungsverlauf teilweise erheblich verändern kann, das Nebenwirkungsprofil und die Akzeptanz der Familie hinsichtlich einer medikamentösen Therapie. Indikationen Das Indikationsspektrum für Antidepressiva im Kindes- und Jugendalter, wenn auch Antidepressiva nicht in allen Fällen die Medikamente der ersten Wahl sind, umfasst zusätzlich zu den oben beschriebenen depressiven Störungsbildern und Diagnosegruppen noch 5 hyperkinetische Störungen, 5 Störung des Sozialverhaltens, 5 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns, 5 Persönlichkeitsstörungen, 5 tief greifende Entwicklungsstörungen, 5 emotionale Störungen des Kindesalters, 59 5.12 · Antidepressiva in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 5 5 5 5 5 elektiver Mutismus, Ticstörungen, Enuresis, stereotype Bewegungsstörungen, Stottern und Poltern (Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2003). Wirksamkeit der Antidepressiva bei der Depression 5 Die placebokontrollierte Wirkung von Antidepressiva im Kindes- und Jugendalter wurde vornehmlich bei depressiven Störungen untersucht und hier insbesondere TZA und SSRI. Im Vergleich zu Erwachsenen konnten bei Kindern und Jugendlichen mit depressiven Syndromen allenfalls eine marginale Überlegenheit der TZA im Vergleich zu Placebos gezeigt werden. Berücksichtigt man auch noch das ungünstige Nebenwirkungsprofil der TZA, so sollten diese nicht mehr als Mittel der ersten Wahl verordnet werden. 5 Für die SSRI konnte die Wirksamkeit, vor allem für Fluoxetin, bei dem mit Abstand die meisten Studien durchgeführt wurden, gezeigt werden. Da Fluoxetin auch ein geringeres Nebenwirkungsprofil als TZA bei Kindern und Jugendlichen mit Depressionen hat, ist dieser Wirkstoff bei der Behandlung von Depressionen vorzuziehen. Fluoxetin ist seit kurzem ab dem Alter von 8 Jahren bei mittelgradigen bis schweren Episoden einer Major Depression zulassen, wenn im Vorfeld durch 4–6 psychotherapeutische Sitzungen keine Verbesserung erzielt werden konnte. Fluoxetin sollte nur in Verbindung mit einer gleichzeitigen psychotherapeutischen Behandlung gegeben werden. 5 Für andere Antidepressiva stehen noch nicht ausreichend Studien zur Verfügung, um abschließende Empfehlungen geben zu können (Cheung et al. 2005; Geller et al. 1999; Heiser u. Remschmidt 2002). Auch liegt keine Zulassung für eine dieser Substanzen zur Behandlung depressiver Syndrome im Kindes- und Jugendalter vor. 5 Die Dosierungen und Serumkonzentrationen (Cohen et al. 1999) sowie die Wechselwirkungen und Kontraindikationen entsprechen denen im Erwachsenenalter. Ebenso sind die Nebenwirkungen ähnlich; möglicherweise kommt es durch SSRI zu einer leichten Wachstumsverzögerung (Weintrob et al. 2002). Die Routineuntersuchungen sollten mit der gleichen Frequenz wie im Erwachsenenalter erfolgen. 5 5 Generell gilt, ähnlich wie im Erwachsenenalter, dass SSRI und nun auch die SNRI und Mirtazapin die Medikamente erster Wahl sind. Aus Studien bei Erwachsenen ist bekannt, dass es innerhalb der SSRI-Gruppe keine Unterschiede hinsichtlich der Effizienz gibt. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass auch bei Kindern und Jugendlichen die Effizienz der SSRI ähnlich sein dürfte. 5 Obwohl Hyperikumextrakte bei Kindern und Jugendlichen sehr häufig verschrieben werden, wurde eine positive Wirkung erst in einer Studie gezeigt. Wirksamkeit der Antidepressiva bei anderen Indikationen 5 Fluvoxamin aus der Gruppe der SSRI ist zur Behandlung von Zwangsstörungen ab dem Alter von 8 Jahren und Clomipramin sowie Imipramin aus der Gruppe der TZA sind ab dem Alter von 5 Jahren vorwiegend zur Behandlung der funktionellen Enuresis zugelassen. SSRI und Suizidalität 5 Das Thema SSRI und Zunahme von Suizidalität ist noch nicht abschließend geklärt (7 Abschn. 5.6). Für alle Indikationen im Kindes- und Jugendalter und alle Antidepressiva lag das relative Risiko für Suizidideen und suizidale Handlungen bei 1,95, und für die SSRI und depressive Syndrome im Kindes- und Jugendalter betrug das relative Risiko 1,66. Bei beiden Gruppen war damit das Risiko signifikant erhöht. Durchschnittlich kamen bei 4% der Patienten, die mit SSRI behandelt wurden, Suizidideen und suizidale Handlungen vor, während in den Placebogruppen nur 2% der Patienten diese Symptome zeigten. Die Ergebnisse waren nur signifikant, wenn alle Studien berücksichtigt wurden. In keiner Studie kam es zu einem Suizid (Hammad et al. 2006). 5 Allerdings weist eine neue Untersuchung darauf hin, dass parallel zum Rückgang der Verschreibung von SSRI in den Jahren 2003–2005 die Suizidrate um bis zu 50% bei Kindern und Jugendlichen angestiegen ist (Gibbons et al. 2007). Cave 5 In den ersten 4 Wochen der Behandlung sollte eine engmaschige Kontrolle bei Verordnung von SSRI erfolgen. 60 Kapitel 5 · Antidepressiva 5.13 Checkliste 1 ? 2 3 1. 2. 4 5 3. 6 4. 7 5. 8 6. 9 7. 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Welche Rolle spielte die Noradrenalin-Serotoninhypothese der Depression in der Entwicklung der biologischen Psychiatrie? Was sind die Vorteile der selektiven Serotoninrückaufnahmehemmer (SSRI) gegenüber den Trizyklischen Antidepressiva (TZA) und den MAO-Hemmern? Was versteht man unter den modernen dualen Antidepressiva, welche Neurotransmittersysteme werden in erster Linie durch sie beeinflusst? Beschreiben Sie die Synapsenfunktion bei der chemischen Neurotransmission. Wie greifen Antidepressiva ein? Was versteht man unter dem Begriff der Wirklatenz bei der Behandlung mit Antidepressiva? Welche besonderen Probleme ergeben sich aus der Wirklatenz der Antidepressiva für die Behandlung von depressiven Patienten? Welche zusätzlichen Medikamente setzt man – neben dem intensiven therapeutischen Kontakt mit dem Patienten – bei der Behandlung von akuter Suizidalität ein? 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. Welche Nebenwirkungen sind unter der Behandlung mit Antidepressiva häufig und stellen deswegen besonders in der Langzeitbehandlung ein Problem dar? Für welche weiteren psychiatrischen Krankheitsbilder neben der Depression sind Antidepressiva zugelassen? Welche Symptome können beim plötzlichen Absetzen von Antidepressiva auftreten? Welche Antidepressiva sind bei geriatrischen Patienten, die auch häufig zusätzliche internistische Erkrankungen haben, zu bevorzugen? Welches moderne Antidepressivum ist bei einer Depression mit ausgeprägten Schlafstörungen das Mittel der Wahl? Wie ist der Einsatz pflanzlicher Mittel, z. B. von Johanniskrautextrakten, nach der wissenschaftlichen Studienlage derzeit zu beurteilen? Welches Antidepressivum sollte zur Behandlung depressiver Syndrome im Kindes- und Jugendalter eingesetzt werden? 6 61 6.1 · Stimmungsstabilisierer 6.1 Einteilung – 62 6.1.1 Ordnungsprinzip – 62 6.2 Wirkungsmechanismus 6.3 Allgemeine Therapieprinzipien 6.4 Indikationen 6.4.1 6.4.2 Lithium – 63 Antikonvulsiva, Antipsychotika und Antidepressiva – 65 6.5 Dosierung, Plasmakonzentration und Behandlungsdauer – 65 6.5.1 6.5.2 Lithium – 65 Antikonvulsiva und Antipsychotika – 65 6.6 Nebenwirkungen 6.7 Kontraindikationen und Intoxikationen 6.8 Wechselwirkungen 6.9 Routineuntersuchungen 6.10 Stimmungsstabilisierer im höheren Lebensalter 6.11 Präparategruppen 6.12 Stimmungsstabilisierer in der Kinder- und Jugendpsychiatrie – 68 6.13 Checkliste – 62 – 63 – 63 – 70 – 65 – 66 – 66 – 66 – 68 – 66 62 Kapitel 6 · Stimmungsstabilisierer 6.1 Einteilung laktisch bei der bipolaren Depression und auch bei Rapid Cycling, wenn depressive Phasen überwiegen. 1 Definition 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Für die Therapie der bipolaren affektiven Störung (7 Kap. 29) werden zwei Substanzklassen unterschieden: 5 Stimmungsstabilisierer und 5 adjuvante Pharmakotherapeutika. Stimmungsstabilisierer (Syn.: »mood stabilizer«) sollen die Stimmung langfristig ausgleichen und stabilisieren; sie sind für die Therapie und Prophylaxe aller Phasen der Störung gleichermaßen geeignet. Sie werden über die gesamte Dauer der bipolaren affektiven Störung verabreicht, unabhängig von der akut bestehenden Phänomenologie. Von ihnen werden die adjuvanten Pharmakotherapeutika (Antipsychotika, Antidepressiva, Benzodiazepine), die nur für spezifische Syndrome geeignet sind, unterschieden. Atypische Antipsychotika (AAP; z. B. Olanzapin oder Quetiapin) haben eine nachgewiesene antimanische, möglicherweise sogar eine antidepressive Wirksamkeit bei der bipolaren affektiven Störung. Benzodiazepine können bei der schweren Manie als adjuvante Therapie eingesetzt werden (7 Abschn. 29.2) Da in neuen Studien darüber hinaus gezeigt wurde, dass auch einige AAP eine phasenprophylaktische Wirkung haben, wird die Abgrenzung der beiden Gruppen immer unschärfer. 6.1.1 Ordnungsprinzip Derzeit sind drei Gruppen von Stimmungsstabilisierern bekannt: 5 Lithium: Die Therapie der Manie mit Lithiumsalzen wurde 1949 von Cade in Australien entdeckt. Erst ein Jahrzehnt später stellte Schou die phasenprophylaktische Wirkung fest. Lithium ist die klassische Referenzsubstanz zur Behandlung bipolar affektiver Erkrankungen. 5 Antikonvulsiva: In den letzten Jahrzehnten wurden die antileptisch wirksamen Substanzen intensiv auch auf ihre antimanische und phasenprophylaktische Wirkung hin untersucht. Valproinsäure (und Carbamazepin) sind Substanzen mit guter antimanischer Wirksamkeit und sind auch phasenprophylaktisch wirksam. Lamotrigin wirkt prophy- 5 Atypische Antipsychotika: Neben der bisher bekannten Wirkung der AAP bei der Manie hat sich gezeigt, dass die AAP Olanzapin und Quetiapin auch als Stimmungsstabilisierer wirksam sind. Die anderen AAP (7 Kap. 7) sind auf diese Indikation hin noch nicht genügend evaluiert. 6.2 Wirkungsmechanismus Lithium und Antikonvulsiva entfalten die unterschiedlichsten zentralnervösen (und peripheren) Wirkungen. Es ist unbekannt, welche der folgenden Effekte ihre Wirksamkeit bei bipolaren affektiven Störungen ausmacht. Folgende Systeme werden beeinflusst: 5 Wirkungen auf Signaltransduktionssysteme: Einer der wesentlichen Wirkmechanismen des Lithiums bei affektiven Störungen scheinen dessen Wirkungen auf Second-messenger-Systeme zu sein. 5 Wirkungen auf neuronale Ionenkanäle: Die meisten Antikonvulsiva (Valproinsäure, Carbamazepin, Lamotrigin) führen zu einer Inaktivierung spannungsabhängiger Natriumkanäle und damit zu einer Reduktion des Natriumeinstroms, sowie wahrscheinlich auch zu einer Erhöhung der Kaliumleitfähigkeit; dies hat eine Reduktion neuronaler Entladungsfrequenzen zur Folge. 5 Wirkungen auf inhibitorische und exzitatorische Transmittersysteme: Viele Antikonvulsiva (Valproinsäure, Carbamazepin, Lamotrigin, Gabapentin) und auch Lithium verstärken auf unterschiedlichste Weise die (inhibitorische) GABAerge Neurotransmission. 5 Wirkungen auf die serotonerge Neurotransmission: Lithium verstärkt die serotonerge Neurotransmission auf den verschiedensten Ebenen. Es verstärkt die Synthese durch eine Erhöhung der Tryptophanaufnahme in serotonerge Neurone, führt zu einer verstärkten Serotoninfreisetzung und vermindert dessen Katabolismus. Die Wirkungen auf die Dichte von 5-HT2A- und 5-HT2CRezeptoren sind hirnregional unterschiedlich, in den meisten Studien wird jedoch eine Abnahme der Dichte dieser Rezeptoren gezeigt. Auch Olanzapin und Quetiapin führen zu einer Abnahme von 5-HT2A-Rezeptoren. 63 6.4 · Indikationen 5 Wirkungen auf die Genexpression: Lithium ist ein potenter Induktor der fos-Expression. Außerdem beeinflusst Lithium die Expression von verschiedenen G-Proteinen und Adenylylzyklasen sowie Peptidhormonen und ihren Rezeptoren. 5 Beeinflussung zirkadianer Rhythmen: Lithium bremst zirkadiane Oszillatoren in einer Vielzahl von Spezies. Chronische Behandlung verlängert zahlreiche zirkadiane Rhythmen unter freilaufenden Bedingungen. Da bei – insbesondere bipolaren – affektiven Störungen eine Phasenverschiebung (»phase advance«) biologischer Rhythmen vermutet wird, soll Lithium seine Wirkung z. T. über diese Phasenverlängerung endogener Rhythmen entfalten. 6.3 Allgemeine Therapieprinzipien 5 Die Einordnung der Therapie mit Stimmungsstabilisierern in einen Gesamtbehandlungsplan findet sich in 7 Abschn. 29.1. Dazu gehört auch die frühzeitige Vermittlung eines Krankheitskonzeptes. 5 Jeder Behandlungsbeginn mit Stimmungsstabilisierern setzt die Abschätzung des individuellen Rückfallrisikos voraus; es ist bei bipolarem Verlauf deutlich höher als bei unipolarem Verlauf. Ein entscheidendes Kriterium ist dabei die bisherige Phasenfrequenz. 5 Der Einsatz von Stimmungsstabilisierern muss stets sehr sorgfältig abgewogen werden, da es sich oft um eine Entscheidung über eine jahrelange, oft sogar lebenslange Therapie handelt. 5 Die Compliance ist die Basis für einen Therapieerfolg. Eine mangelhafte Lithiumcompliance findet sich häufiger bei schweren Manien, bei Kombination von Lithium mit anderen Stimmungsstabilisierern und bei Lithiumnebenwirkungen. Auch wenn Rapid-Cycling-Phänomene oder Alkohol- und/oder Drogenabhängigkeit bzw. abusus auftreten, verringert sich die Compliance. Schließlich ist das Risiko für eine schlechte Compliance bei Persönlichkeitsstörungen, männlichen und allein lebenden Patienten, jüngeren Patienten und Patienten mit niedrigerer Schulbildung oder geringerem sozioökonomischem Status größer. 6.4 6 Indikationen Jeweils einige Stimmungsstabilisierer (. Tab. 6.1) werden bei folgenden Diagnosen eingesetzt: 5 Manische Episode 5 Bipolare affektive Störung mit – manischer Episode im Rahmen einer bipolaren affektiven Störung, – depressiver Episode im Rahmen einer bipolaren affektiven Störung (sog. bipolare Depression), – gemischter Episode bei bipolarer affektiver Störung, – Phasenprophylaxe bei bipolarer affektiver Störung, – Akutbehandlung und Phasenprophylaxe des Rapid Cycling, – Phasenprophylaxe bei schizoaffektiver Störung, – Phasenprophylaxe bei rezidivierender unipolarer Depression, – Augmentationstherapie bei therapieresistenter Depression. Die Vor- und Nachteile der verschiedenen Stimmungsstabilisierer bei den Indikationen wird in 7 Abschn. 29.2 zusammengefasst. Dort findet sich auch die generelle Indikationsstellung für eine Phasenprophylaxe bei einer bipolaren affektiven Störung. Die Trennung der Indikationen bez. der Zulassung zeigt . Tab. 6.1. 6.4.1 Lithium 5 Lithium ist der am besten geprüfte und seit vielen Jahrzehnten klinisch bewährte Stimmungsstabilisierer. 5 Ein voller phasenprophylaktischer Effekt ist manchmal erst nach Monaten (bis Jahren) feststellbar. 5 Die prophylaktische Wirksamkeit ist besonders gut, wenn bisher weniger als 3 Episoden der bipolaren affektiven Störung aufgetreten sind. 64 Kapitel 6 · Stimmungsstabilisierer . Tab. 6.1. Indikationen für Stimmungsstabilisierer 1 Stimmungsstabilisierer 2 Zugelassene Indikationen Weitere Indikationen Bemerkungen Akutbehandlung manischer Syndrome; Phasenprophylaxe bipolarer affektiver Störungen, rezidivierender manischer Episoden und unipolarer Depression Akuttherapie und Prophylaxe schizoaffektiver Störungen; Lithiumaugmentation bei therapieresistenter Depression (7 Kap. 15) Die klassische (euphorische) Manie spricht gut auf Lithium an Bei wenigen Vorphasen ist Lithium zur Phasenprophylaxe zu bevorzugen; weniger wirksam bei Vorliegen zahlreicher Vorphasen, bei gemischten Episoden und bei Rapid Cycling Carbamazepin Phasenprophylaxe bipolarer affektiver Störungen Alkoholentzugssyndrom Manisches Syndrom Die Phasenprophylaxe ist relativ wenig abgesichert Lamotrigin Prävention depressiver Episoden bei Patienten mit bipolaren Störungen; Hinweise zur Wirkung bei Rapid Cycling, wenn depressive Phasen überwiegen Kein Beleg für antimanische Wirkung; nicht zusammen mit Aripiprazol (Cave: Interaktionen) Valproinsäure Manisches Syndrom Phasenprophylaxe bipolarer affektiver Störungen Lithiumsalze 3 4 5 6 Antiepileptika 7 8 9 10 11 12 Bei häufigen Vorphasen ist Valproinsäure zur Phasenprophylaxe gut wirksam (und Carbamazepin vorzuziehen) Atypische Antipsychotika Manisches Syndrom (Olanzapin und Quetiapin) Phasenprophylaxe bipolarer affektiver Störungen (Olanzapina und Quetiapin) 13 14 15 a Hinweise für Wirkung bei: 5 gemischter Episode und beim Rapid Cycling (Olanzapin und Quetiapin); 5 bipolarer Depression (Olanzapin und Quetiapin) Olanzapin wirkt besser gegen die manische als gegen die depressive Phase; für Quetiapien gibt es die meisten positiven Studien bei der bipolaren Störung Wenn Olanzapin in der akuten Phase wirksam war. 16 17 18 19 20 Wichtig 5 Nach Absetzen einer Lithiumprophylaxe ist das Rückfallrisiko wahrscheinlich höher als im naturalistischen Verlauf; mit jeder Phase nimmt möglicherweise die Phasenhäufigkeit weiter zu, evtl. Einmündung in Rapid Cycling. 5 Wenn eine Lithiumprophylaxe doch abgesetzt wird, sollte dies langsam über viele Monate erfolgen. 5 Nach Absetzen von Lithium kann, wenn es bei einer erneuten Episode wieder angesetzt wird, möglicherweise seine Effektivität verlorengehen. 65 6.6 · Nebenwirkungen 6.4.2 Antikonvulsiva, Antipsychotika 6 Wichtig und Antidepressiva 5 Lithiumplasmakonzentration für antimanische Wirkung: 1,0–1,2 mmol/l 5 Lithiumplasmakonzentration für phasenprophylaktische Wirkung: 0,6–0,8 mmol/l 5 Plasmakonzentration für Lithiumaugmentation: 0,6–0,8 mmol/l Die Indikationen und die Vor- und Nachteile von Antikonvulsiva und Antipsychotika bei bipolaren affektiven Störungen ist der . Tab. 6.1 zu entnehmen. Neue Untersuchungen zeigen ihre immer größere Bedeutung im Rahmen der Phasenprophylaxe. 5 AAP beweisen sich nicht nur als adjuvante Pharmakotherapeutika, sondern immer mehr auch als Stimmungsstabilisierer. 5 Auf eine Phasenprophylaxe mit konventionellen Antipsychotika (7 Kap. 7) sollte verzichtet werden, weil dabei im Verlauf häufiger depressive Syndrome beobachtet werden. Daher sollte in der Regel AAP der Vorzug gegeben werden. 5 Wegen des hohen Risikos einer Induktion eines Rapid Cycling sollte auf die Verabreichung von TZA bei bipolaren affektiven Störungen verzichtet werden. SSRI sind zu bevorzugen. Wichtig 5 Die Lithiumserumkonzentration (Blutentnahme pünktlich 12±0,5 h nach letzter Tabletteneinnahme, vor Einnahme der Medikamente) sollte nach dem in . Tab. 6.2 dargestellten Schema kontrolliert werden. 6.5.2 Antikonvulsiva und Antipsychotika 6.5 Dosierung, Plasmakonzentration und Behandlungsdauer 5 Die Dosierung richtet sich beim Lithium, Carbamazepin und Valproinsäure nach der Plasmakonzentration; bei Lamotrigin und den AAP nach klinischen Erfahrungswerten. 5 Die Behandlungsdauer muss über Jahre geplant werden. Lithiumaugmentation7 Abschn. 15.5. 6.5.1 Lithium 5 Lithium kann bei manischen Syndromen rasch aufdosiert werden. 5 Lithium sollte bei der Prophylaxe mit der Hauptdosis abends verabreicht werden, damit nebenwirkungsträchtige Konzentrationsspitzen vom Patienten »verschlafen« werden. 5 Die tägliche Tabletteneinnahme richtet sich nach der Lithiumplasmakonzentration, die im Steady State kontrolliert werden. Steady-State-Bedingungen sind nach einer Woche erreicht. 5 Carbamazepin und mehr noch Lamotrigin müssen sehr langsam aufdosiert werden. 5 Beim Carbamazepin sind antimanische und phasenprophylaktische Plasmakonzentrationen nicht definiert; angestrebt werden sollten Plasmakonzentrationen, wie sie in der Epileptologie Anwendung finden (6–12 mg/l). 5 Valproinsäure kann bei manischen Syndromen gleich von Beginn an in der Zieldosis verabreicht werden 5 Für Lamotrigin ist keine Plasmakonzentration definiert. 5 Es werden für die AAP Dosierungen bis zur Koupierung der Manie gesucht (7 Kap. 7); bei der Phasenprophylaxe ist die niedrigste wirksame Dosis indiziert. 6.6 Nebenwirkungen 5 Zahlreiche Patienten nehmen langfristig Lithiumsalze ohne unerwünschte Wirkungen ein. Aber es muss unter der Einnahme von Lithium sorgfältig auf neurologisch/psychiatrische, renale, endokrine, gastrointestinale Nebenwirkungen und Störungen des Elektrolythaushalts geachtet werden (Benkert u. Hippius 2007), die relativ häufig zu Beginn auftreten, später aber wieder spontan verschwinden. Initiale Nebenwirkungen sollten nicht zu einem Behandlungsabbruch füh- 66 1 5 2 5 3 4 5 5 5 6 6.7 7 8 9 10 11 Kapitel 6 · Stimmungsstabilisierer ren, deshalb ist die vorherige Aufklärung des Patienten von besonderer Bedeutung. Nach plötzlichem Absetzen treten manische Syndrome wahrscheinlich häufiger auf als im naturalistischen Verlauf (Absetzmanie). Blutbildveränderungen und Hepatotoxizität sind besonderst ernste Nebenwirkungen unter Antikonvulsiva. Bei Kombination von zwei Antivonvulsiva können sich Nebenwirkungen und Wechselwirkungen verstärken. Nebenwirkungen der AAP7 Kap. 7. Kontraindikationen und Intoxikationen Die wichtigsten Kontraindikationen für Stimmungsstabilisierer sind: 5 Störungen des Elektrolythaushalts. 5 Bei Carbamazepin und Valproinsäure muss eine Knochenmarkschädigung ausgeschlossen werden, bei Lithium eine Nierenfunktionsstörung. 5 Bei den Antikonvulsiva dürfen keine Leberschäden vorhanden sein. 5 Vorsicht ist bei (allergischen) Hautveränderungen in der Anamnese anzuraten. 5 Schwangerschaft und Stillzeit 7 Kap. 35; Fahrtüchtigkeit 7 Kap. 36. 12 13 14 15 16 17 18 19 20 6.8 Wechselwirkungen 5 Unter einer Lithiumprophylaxe sind bei Gabe von zusätzlichen Medikamenten die möglichen Interaktionen zu beachten. 5 Durch eine Enzyminduktion unter Carbamazepin können die Plasmakonzentrationen dieser und anderer, gleichzeitig verabreichter Substanzen noch Wochen, nachdem sich zunächst ein Gleichgewicht eingestellt hatte, wieder abfallen. 5 Gerade bei der kombinierten Verabreichung von Antikonvulsiva sind Interaktionen zwischen den Substanzen zu beachten, die zur Dosisanpassung zwingen und deren Nichtbeachtung zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen kann. 5 Keine Kombination von Carbamazepin mit anderen potenziell knochenmarktoxischen Substanzen (Clozapin). 5 Wechselwirkungen der AAP7 Kap. 7. Routineuntersuchungen 6.9 5 Unter Lithium und Antikonvulsiva sind spezifische Routineuntersuchungen notwendig; für AAP . Tab. 6.2, 7 Abschn. 7.9. 5 Unter der Therapie mit Lithium sind zusätzlich Kontrollen der Schilddrüsen- und der Nierenfunktion einzuhalten. Wichtig 5 Da Lithium und verschiedene Antikonvulsiva als teratogen zu betrachten sind, ist gerade in dieser Substanzklasse vor Behandlungsbeginn ggf. ein Schwangerschaftstest notwendig. 5 Unter einer Therapie mit Lithium, Carbamazepin oder Valproinsäure gehört die Bestimmung von Plasmakonzentrationen zu den zwingend notwendigen Routineuntersuchungen 7 Abschn. 6.9. 6.10 Stimmungsstabilisierer im höheren Lebensalter 5 Bei älteren Patienten können niedrigere Dosen bzw. Plasmakonzentrationen notwendig sein, wenn eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber neurotoxischen Wirkungen bekannt ist. 5 Lithium muss bei Manien mit Vorsicht dosiert werden, da bei reduzierter renaler Ausscheidung aufgrund der niedrigen therapeutischen Breite schnell Intoxikationen auftreten können. Häufigere Lithiumkontrollen sind angezeigt. 5 Die Plasmakonzentration zur Lithiumaugmentation bei alten Patienten ist oft mit 0,4 mmol/l ausreichend. Mindestens 3-wöchige Durchführung einer Plasmakonzentrationsmessung zur sicheren Effizienzbeurteilung empfehlenswert. 5 Bei einer Manie im Alter sind die zugelassenen AAP aufgrund kardiovaskulärer Risiken oder anticholinerger Eigenschaften bei kognitiven Vorschädigungen nur eingeschränkt empfehlenswert (7 Kap. 7.10). Auch muss an die Induktion eines metabolischen Syndroms (7 Kap. 7.6) gerade im Alter unter einigen AAP gedacht werden. 6 67 6.9 · Routineuntersuchungen . Tab. 6.2. Empfehlungen für Routineuntersuchungen unter Stimmungsstabilisierern Vorher 1 Monate 2 3 4 5 6 Vierteljährlich ×××× ×a ×a ×a ×a ×a ×a ×××× × × × × × × Jährlich Lithium Plasmakonzentration Kreatinin × 24-h-Urinvolumen, Kreatinin-Clearance × Serumelektrolyte × × × T3, T4, TSH, ggf. TRHTest × × × EKG × × × EEG × × ×c RR, Puls × × Körpergewicht, Halsumfang × × × ×b × × × × ×d × × ×d Carbamazepin Plasmakonzentration ×× × × × × × ×d × × × × × ×d Blutbild × ×××× Kreatinin × × Serumelektrolyte × × × × × × × ×d Leberenzyme × ×××× × × × × × ×d EKG × × EEG (×) RR, Puls × × × × Blutbild × × × × Kreatinin × × Leberenzyme × × EKG (×) (×) EEG (×) × × × ×c ×d Lamotrigin × × × × × (×) ×c Valproinsäure Plasmakonzentration ×× × × × × × ×d Blutbild × × ××e ×e ×e ×e ×e ×d Kreatinin × × ××e ×e ×e ×e ×e ×d 68 Kapitel 6 · Stimmungsstabilisierer . Tab. 6.2. Fortsetzung 1 Vorher 1 2 3 4 5 6 Vierteljährlich × × ××e ×e ×e ×e ×e ×d 3 Leberenzyme, Bilirubin, Amylase, Lipase, PTT, Quick, Fibrinogen, Faktor VIII 4 EKG (×) (×) EEG (×) 2 5 6 Monate Jährlich (×) ×c × Kontrollen; (×) Untersuchung optional; a Unter bestimmten Umständen (z. B. Fieber, Durchfälle) sind häufigere Kontrollen ratsam. b Bei älteren Patienten sind häufigere Kontrollen ratsam. c Bei potenziell neurotoxischen Kombinationen, z. B. mit Antipsychotika, sind ggf. auch häufiger Kontrollen ratsam; bei langfristig stabil eingestellten Patienten sind auch deutlich längere Kontrollintervalle möglich. d Bei langfristig stabilen Patienten sind halbjährliche Kontrollen ausreichend. e Diese Kontrollen sind laut Hersteller nur erforderlich, wenn die 4-Wochen-Kontrolle pathologische Werte aufgewiesen hat. 7 8 9 10 6.11 In . Tab. 6.3 sind die wichtigsten Stimmungsstabilisierer sowie deren Dosis, Nebenwirkungen und Behandlungsweisen wiedergegeben. Eine Übersicht über die im Leitfaden genannten Wirkstoffe mit den jeweiligen Handelsnamen gibt . Tab. A1 im Anhang. 11 12 13 14 15 16 17 Präparategruppen1 Fazit Therapieempfehlung für Stimmungsstabilisierer 5 Die Stimmungsstabilisierer haben jeweils sehr spezifische Indikationen bei der bipolaren affektiven Störung. 5 Die in den . Tab. 6.1 und 6.2 erwähnten Präparate sind in der Praxis unverzichtbar, sie zeigen in der Regel allerdings deutliche Nebenwirkungen und die in . Tab. 6.2 vorgeschlagenen Routineuntersuchungen müssen zur Einhaltung einer Arzneimittelsicherheit eingehalten werden. enten profitieren von einer Monotherapie. Bei der Kombination von verschiedenen Stimmungsstabilisierern verbessert sich das therapeutische Ergebnis (Kowatch et al. 2005). Indikationen Das Indikationsspektrum für Stimmungsstabilisierer im Kindes- und Jugendalter umfasst zusätzlich zu den bipolaren Störungen noch 5 manische Episoden, 5 depressive Episoden und rezidivierende depressive Störungen, 5 Persönlichkeitsstörungen, 5 tief greifende Entwicklungsstörungen, 5 abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle, 5 Störungen des Sozialverhaltens, 5 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen, 5 schizoaffektive Störungen (Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2003). Lithium 6.12 18 Stimmungsstabilisierer in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 19 Die Stimmungsstabilisierer haben eine relativ geringe Effektstärke bei der Behandlung bipolarer Störungen im Kindes- und Jugendalter; nur etwa 40% der Pati- 20 1 Eine Übersicht über die im Leitfaden genannten Wirkstoffe mit den jeweiligen Handelsnamen gibt . Tab. A1 im Anhang. 5 Lithium ist das Medikament der ersten Wahl zur Behandlung akuter manischer Episoden und zur Phasenprophylaxe bei bipolaren affektiven Störungen im Kindes- und Jugendalter. Es ist jedoch für die Anwendung im Kindes- und Jugendalter in Deutschland nicht zugelassen, d.h. bei der Anwendung im Kindes- und Jugendalter handelt es sich um einen individuellen Heilversuch (in den USA ab 12 Jahren zugelassen). 6.12 · Stimmungsstabilisierer in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 69 6 . Tab. 6.3. Stimmungsstabilisierera (Auswahl) Präparat Dosis Wichtigste Nebenwirkungen 7 Abschn. 6.6 u. 7.6 Behandlungshinweise Entsprechend Plasmakonzentration Kognitive Störungen, Gewichtszunahme, Tremor, Durst, Übelkeit und Polyurie Regelmäßige Serumkontrollen, ab 1,5 mmol/l Gefahr der Intoxikation Carbamazemin Tegretal®; Timonil® 200–800 mg bei Rezidivprophylaxe Somnolenz, Schwindel, Ataxie, Blutbild- und Hautveränderungen Regelmäßige Serumkontrollen, Blutbildkontrolle, Cave: Interaktionen Lamotrigin elmendos® 50–200 mg Hautausschlag, Kopfschmerzen, Schwindel Cave: Interaktionen; Serumkontrollen bei starken Nebenwirkungen Valproinsäure Ergenyl chrono® Orfiril long® 500–2000 mg Sedierung, Tremor, gastrointestinale Beschwerden, Schwindel Cave: Interaktionen; Regelmäßige Serumkontrolle Olanzapin Zyprexa® 5–20 mg; Manie: Beginn mit 20 mg möglich Gewichtszunahme, Schläfrigkeit, sonst 7 Abschn. 7.6 Bisher gute Erfahrung besonders bei psychotischen Symptomen Quetiapin Seroquel® 50–750 mg; Manie: Beginn mit 100 mg Sedierung, Schwindel; sonst 7 Abschn. 7.6 Lithiumsalze Lithiumcarbonat Quilonum retard® Antiepileptika Antipsychotika a Die Indikationen sind . Tab. 6.1 zu entnehmen. 5 Tatsächlich stützen sich die Empfehlungen auf zumeist positive Ergebnisse aus offenen Studien. Aus diesen Studien wird auch gefolgert, dass Lithium gegen Suizidalität protektiv ist (LopezLarson u. Frazier 2006). Wichtig Da die therapeutische Wirksamkeit durch Lithium erst nach 1–2 Wochen zu erwarten ist, ist am Behandlungsbeginn häufig die Kombination mit Antipsychotika und/oder Benzodiazepinen notwendig. Die Lithiumdosierung bei Kindern und Jugendlichen muss teilweise höher sein als bei Erwachsenen, da aufgrund der besseren Nierenfunktion Lithium bei Kindern und Jugendlichen schneller ausgeschieden wird. Antikonvulsiva Zugelassen aus der Gruppe der Antikonvulsiva sind Valproinsäure (zugelassen ab Geburt, Vorsicht bei Kindern <3 Jahren), Carbamazepin (zugelassen ab dem 7. Lebensjahr) und Lamotrigin (zugelassen ab dem 3. Lebensjahr) zur Behandlung verschiedener Formen zerebraler Anfallsleiden im Kindes- und Jugendalter. 5 Eine Zulassung im Kindes- und Jugendalter als Stimmmungsstabilisierer bzw. Phasenprophylaktika liegt nicht vor. Dennoch werden sowohl Valproinsäure als auch Carbamazepin häufig bei bipolaren Störungen im Kindes- und Jugendalter verordnet, wenn z. B. eine Unverträglichkeit oder eine fehlende Wirksamkeit unter Lithium vorliegt oder sie werden jeweils in Kombination mit Lithium eingesetzt. Das Indikationsspektrum der Antikonvulsiva für die Behandlung von bipolaren Störungen im Kindes- und Jugendalter entspricht dem im Erwachsenenalter. Die Empfehlungen für Antikonvulsiva im Kindes- und Jugendalter stützen sich vorwiegend auf Ergebnisse des Erwach- 70 1 5 2 3 4 5 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 5 5 Kapitel 6 · Stimmungsstabilisierer senenalters. Die Studienlage ist in dieser Altersgruppe bisher nicht überzeugend. Eine Metaanalyse, in die drei doppelblind, placebokontrollierte Studien eingeflossen sind, hat die Effizienz einer Carbamazepinbehandlung bei Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen und Hyperaktivität untersucht, und kam zu dem Ergebnis, dass die Behandlung mit Carbamazepin signifikant bei den Zielsymptomen überlegen war (Lopez-Larson u. Frazier 2006). Vor Therapiebeginn mit Valproinsäure bei Kindern und Jugendlichen muss eine ausführliche körperliche Untersuchung erfolgen, denn Kinder zwischen 3 und 10 Jahren haben ein größeres Risiko eine Leberschädigung zu entwickeln. Vor Behandlungsbeginn ist ein Schwangerschaftstest durchzuführen (7 Kap. 35). Die Kontrolle der Serumkonzentrationen gehört zu den regelmäßigen Routineuntersuchungen. Benzodiazepine und Antipsychotika 5 Benzodiazepine und Antipsychotika können als adjuvante Pharmakotherapeutika zur Behandlung von Erregungszuständen und Schlafstörungen in der Akutphase einer manischen Episode eingesetzt werden und werden teilweise am Beginn der Behandlung mit Stimmungsstabilisatoren kombiniert, bis diese ihre Wirkung entfalten. Positive Wirksamkeitsnachweise wurden für das AAP Quetiapin vorgelegt. 5 Gerade die atypischen Antipsychotika werden, wie im Erwachsenenalter, auch häufig zur Phasenprophlaxe bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt, besonders wenn zusätzlich psychotische Symptome aufgetreten waren. 6.13 Checkliste ? 1. 2. 3. 4. 5. 6. Welche Rolle spielen Stimmungsstabilisierer nach den neuesten Therapiekonzepten bei der Behandlung der bipolaren affektiven Störung? Welche Präparategruppen werden als Stimmungsstabilisierer eingesetzt? Welche Pharmakotherpeutika werden adjuvant bei der bipolaren Störung eingesetzt? Welche Faktoren sind vor Beginn einer Behandlung mit Stimmungsstabilisieren zu berücksichtigen und eingehend mit dem Patienten zu erörtern? Bei welchen Indikationen werden Stimmungstabilisierer eingesetzt? Die Einstellung auf Lithium sollte anhand der klinischen Symptomatik und der Serumkonzentration erfolgen. Warum benötigen Kinder und Jugendliche teilweise höhere Lithiumkonzentrationen als Erwachsene? 71 7.1 · 7 Antipsychotika 7.1 Einteilung – 72 7.2 Wirkungsmechanismus 7.3 Allgemeine Therapieprinzipien 7.4 Indikationen 7.5 Dosierung, Plasmakonzentration und Behandlungsdauer – 74 7.6 Nebenwirkungen 7.7 Kontraindikationen und Intoxikationen 7.8 Wechselwirkungen 7.9 Routineuntersuchungen 7.10 Antipsychotika im höheren Lebensalter 7.11 Präparategruppen 7.12 Antipsychotika in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 7.13 Checkliste – 72 – 73 – 73 – 81 – 75 – 77 – 77 – 78 – 78 – 78 – 80 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 72 Kapitel 7 · Antipsychotika 7.1 Einteilung Antipsychotika sind eine chemisch heterogene Gruppe von Pharmaka mit antipsychotischem Wirksamkeitsschwerpunkt und unterschiedlichem Nebenwirkungsprofil. Der häufig synonym verwendete Begriff »Neuroleptikum« ist historisch bedingt und wird international immer mehr durch den Begriff Antipsychotikum ersetzt. Dieser weist auf die klinisch bedeutsame therapeutische Wirkung bei psychotischen Störungen, insbesondere schizophrenen Psychosen, hin. Eine Einteilung der Vielzahl entwickelter Substanzen ist in der geschichtlichen Entwicklung begründet und nach verschiedenen Gesichtspunkten möglich, z. B. der chemischen Struktur, den dosisabhängig auftretenden antipsychotischen Wirkungen (»neuroleptische Potenz«) und Nebenwirkungen, insbesondere extrapyramidalmotorischen Störungen (EPS), oder der »Atypizität«. Die chemische Struktur hat eine besondere Bedeutung für das Nebenwirkungsprofil. Definition Die wichtigste Differenzierung heute ist die Abgrenzung zwischen konventionellen Antipsychotika und atypischen Antipsychotika (AAP). Unter den konventionellen Antipsychotika werden besonders die Gruppe der trizyklischen Antipsychotika von der Gruppe der Butyrophenonen unterschieden. Unter AAP werden Antipsychotika subsumiert, die im Vergleich mit konventionellen Antipsychotika diese Charakteristika aufweisen sollen: 5 gute antipsychotische Wirksamkeit, 5 weniger extrapyramidale Symptomatik (EPS), 5 Wirksamkeit bei Negativsymptomatik, 5 Wirksamkeit bei Therapieresistenz, 5 geringe Prolaktinerhöhungen. Konventionelle Antipsychotika werden auch Antipsychotika der ersten Generation, first generation antipsychotics (FGA), AAP Antipsychotika der zweiten Generation, second generation antipsychotics (SGA) genannt. 18 19 20 Das zzt. einzige AAP, das alle Forderungen weitgehend erfüllt, ist Clozapin (7 Abschn. 7.4). Die Übergänge zwischen konventionell (»typisch«) und »atypisch« sind fließend: 5 Einige konventionelle Antipsychotika weisen ein nur geringes EPS-Risiko (7 Abschn. 7.6) auf (z. B. Pipamperon), sind aber auch in höherer Dosie- rung kaum geeignet, Positivsymptome zu behandeln. 5 Andererseits können auch unter AAP in höheren Dosen EPS auftreten; Akathisien treten unter allen AAP einschließlich Clozapin auf (7 Abschn. 7.6). 5 Ein malignes neuroleptisches Syndrom (7 Abschn. 7.6) kann unter allen Antipsychotika auftreten. 5 Langzeitbeobachtungen zum Auftreten von Spätdyskinesien (7 Abschn. 7.6) unter AAP sind noch unvollständig; vorliegende Daten unterstreichen jedoch das geringere Risiko für AAP. Die »neuroleptische Potenz« ist ein unscharfer, historisch begründeter Begriff, mit dessen Hilfe unter Berücksichtigung präklinischer und klinischer Daten (Blockade D2-artiger Dopaminrezeptoren, antipsychotische Wirksamkeit bezogen auf die verwendete Dosis) Antipsychotika auf einer Dimension mit Chlorpromazin (heute nicht mehr verwendet) als Bezugspunkt angeordnet werden. Bei den konventionellen Antipsychotika korreliert die neuroleptische Potenz mit dem Ausmaß der D2-Blockade. 5 Hochpotent: in niedriger bis mittlerer Dosierung gute antipsychotische Wirkung ohne Sedierung. 5 Mittelpotent: gute antipsychotische Wirkung mit mäßiger Sedierung. 5 Niedrigpotent: in niedriger bis mittlerer Dosierung geringe antipsychotische Wirkung bei deutlicher bis ausgeprägter Sedierung. Die Einteilung der Antipsychotika in hoch-, mittelund niedrigpotent kann auf die AAP nicht angewandt werden. Bei Anwendung hoher Dosen verwischen sich die Grenzen der Einteilung; dann zeigen hochpotente Antipsychotika zunehmend sedierende Wirkungen und bei niedrigpotenten Antipsychotika nimmt der antipsychotische Effekt zu. 7.2 Wirkungsmechanismus So wie bei den Antidepressiva der Serotoninrezeptor (und sekundär auch der Noradrenalinrezeptor) und bei den Benzodiazepinen der GABA-Rezeptor für die neurochemische Wirkung im Mittelpunkt stehen, ist es bei den Antipsychotika der Dopaminrezeptor. Es gibt verschiedene Subtypen (D1-5). Die Wirkung der Antipsychotika auf das glutaminerge System wird zunehmend untersucht. 73 7.4 · Indikationen 5 Die dopaminerge Überaktivität ist ein wichtiger pathogenetischer Mechanismus bei der Schizophrenie. Antipsychotika dämpfen die dopaminerge Überaktivität. 5 Alle Antipsychotika blockieren D2-artige Dopaminrezeptoren. »D2-artige« Rezeptoren (D2/D3/ D4) erhöhen die intrazelluläre Konzentration von cAMP; D1-artige (D1/5) erniedrigen sie. 5 Der Wirkmechanismus von Aripiprazol unterscheidet sich von dem der übrigen Antipsychotika. Er besteht in einer partiellen dopaminagonistischen Wirkung an D2-artigen Rezeptoren sowie einer partiell agonistischen Wirkung am serotonergen 5-HT1A-Rezeptor bei antagonistischer Wirkung an 5-HT2A- und 5-HT2C-Rezeptoren. 5 Einige Antipsychotika blockieren zusätzlich 5HT2(A, B, C)-, α1-, α2-, H1-Rezeptoren und muskarinische Acetylcholin (mACh)-Rezeptoren (M1– 5). 5 Einige Antipsychotika binden auch an 5-HT6(z. B. Clozapin, Olanzapin, Ziprasidon, aber auch einige konventionelle Antipsychotika) und 5HT7-Rezeptoren (z. B. Clozapin, Quetiapin, Risperidon, Ziprasidon). 5 Die Bedeutung eines zusätzlichen 5-HT2-Antagonismus ist allerdings als notwendiger Mechanismus umstritten, weil auch ein anderes AAP (Amisulprid) diese Komponente nicht besitzt. 5 Die Ursachen für das Fehlen oder ein seltenes Auftreten von EPS bei AAP (»Atypizität«) sind nicht vollständig geklärt; eine selektive Blockade von D4- und/oder 5-HT2A/C-Rezeptoren wird diskutiert. 7.3 Allgemeine Therapieprinzipien Antipsychotika werden bei allen bekannten Indikationen (7 Abschn. 7.4) im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes (7 Abschn. 30.1) verordnet. Die notwendigen Handlungsschritte vor Beginn einer Therapie mit Antipsychotika und die Suche nach der Präparatepräferenz sind in 7 Abschn. 7.4 aufgelistet. Unter konventionellen Antipsychotika kommt es bei 30% der Patienten zu keiner wesentlichen Verbesserung der Symptomatik und bei 50% der Patienten nur zu einem partiellen Ansprechen (Fleischhacker 1995). Die Wirkung gegen Negativsymptome und Kognitionsstörungen ist begrenzt (Hawkins et al. 1999). Primäre Negativsymptome (7 Abschn. 30.2.2) zeigen sich resistent gegen konventionelle Antipsychotika. Schließlich sind AAP bei affektiven Stö- 7 rungen den konventionellen Antipsychotika deutlich überlegen, die eher sogar eine depressive Symptomatik induzieren. Die Lebensqualität und das Wohlbefindens von Patienten sind heute wichtige Merkmale während einer Therapie mit Antipsychotika. Auch hier schneiden die AAP besser ab als konventionelle Antipsychotika (Lambert u. Naber 2004). Allerdings konnte bisher noch nicht gezeigt werden, dass die Bedeutung der AAP sich in einer verbesserten psychosozialen Integration niederschlägt; der Langzeiteffekt ist eher – nach der jetzigen Studienlage – enttäuschend. Oft werden Unterschiede zwischen den AAP gesehen, die aber wissenschaftlich noch nicht nachgewiesen sind. Allein Clozapin hat einen überlegenen Effekt. Wichtig AAP sind Mittel der Wahl bei Verordnung von Antipsychotika. Sie haben geringere Risiken für EPS und Spätdyskinesien. Allerdings entwickelt sich unter den meisten AAP relativ häufig ein metabolisches Syndrom (7 Abschn. 7.6). Die Langzeiteffekte können noch nicht abschließend beurteilt werden. 7.4 Indikationen Antipsychotika sind nosologieübergreifend wirksam. Die primäre Indikation der Antipsychotika erfolgt nach Zielsymptomen und -syndromen. Hauptindikationen stellen die Subtypen der Schizophrenie sowie schizotype und wahnhafte Störungen dar und zunehmend für AAP auch die bipolaren affektiven Störungen. Folgende Indikationen bestehen für Antipsychotika: 5 Gesicherte Wirksamkeit bei: – schizophrenen Störungen und schizoaffektiven Störungen (7 Kap. 30), – bipolare affektive Störungen (Akutbehandlung der Manie, Phasenprophylaxe) (7 Kap. 29), – psychotische Depression (in Kombination mit Antidepressiva) (7 Abschn. 30.2.8), – bestimmte neurologischen Erkrankungen (z. B. Tic-Störungen, L-DOPA-induzierte Psychosen) (7 Kap. 32). 74 1 2 3 4 Kapitel 7 · Antipsychotika 5 Als Begleittherapie sind Antipsychotika möglicherweise wirksam bei: – Persönlichkeitsstörungen, – Zwangsstörung, – Angststörungen, – anderen organischen Psychosen (z. B. Alkoholpsychosen), – nichtpsychotischer Depression, – Schmerzsyndromen. 6 Darüber hinaus haben Antipsychotika eine unspezifische Wirkung auf psychomotorische Erregungszustände (7 Abschn. 34.1). Eingeschränkt ist der Einsatz von Antipsychotika aufgrund von Risiken bei der Demenz (7 Kap. 31). 7 7.5 5 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Dosierung, Plasmakonzentration und Behandlungsdauer 5 Generelle Dosierungsempfehlungen sind wegen der Heterogenität der Substanzen nicht möglich. Einzelheiten . Tab. 7.1. 5 Die Messung der Plasmaspiegel zur Erhöhung der therapeutischen Effizienz ist bei den Antipsychotika, bis auf Clozapin, von untergeordneter Bedeutung. 5 Bei Ersterkrankungen soll man mit relativ niedriger Dosis beginnen, da sowohl ein besseres Ansprechen als auch eine größere Sensibilität für Nebenwirkungen zu erwarten ist. 5 Bei akuter, schwerer Symptomatik im Rahmen von Rezidiven ist sofort mit relativ hoher Dosis zu beginnen. 5 Höhere Dosen verringern aufgrund des möglichen Auftretens von Nebenwirkungen, insbesondere EPS bei konventionellen Antipsychotika, die Compliance. Deshalb sind häufig niedrigere Dosen in Kombination mit Benzodiazepinen, falls Sedierung und schnellere Desaktualisierung der psychotischen Symptomatik notwendig sind, vorzuziehen. 5 AAP sollten in der Akutphase/Positivsymptomatik in der Regel innerhalb einer Woche in den Zieldosisbereich aufdosiert werden. 5 Die Medikation, unter der Remission aufgetreten ist, sollte in der niedrigsten, noch hinreichend wirksamen Dosis beibehalten werden. Eine zu früh vorgenommene Dosisreduktion führt in der Mehrzahl der Fälle zu einem Rückfall. Allerdings ist das Konzept der minimal effektiven Dosis nicht unumstritten. 5 Behandlungsdauer: Kommt es bei schizophrenen Patienten mit schwerer Symptomatik nach 2 Wochen zu keiner Besserung, sollte die Strategie gewechselt werden; bei leichterer Symptomatik kann bis zu 6 Wochen abgewartet werden. Für die Manie gelten wesentlich kürzere Zeitintervalle. 5 Die Bestimmung der Plasmakonzentration der Antipsychotika hat keine große Bedeutung (im Gegensatz zu den Antidepressiva). Sie ist aber notwendig bei der Verordnung von Clozapin und nützlich bei starken Nebenwirkungen, um ggf. eine zu hohe Dosis zu erkennen. Wichtig 5 Die Antipsychotikatherapie bei schizophrenen Patienten ist unter Beibehaltung der Dosis für mindestens 1 Jahr nach der ersten Akutphase zu verordnen; bei anhaltenden psychosozialen Belastungen ist eher längere Behandlungsdauer (2 Jahre) auch nach Erstmanifestation zu empfehlen. 5 Nach einem ersten Rückfall sollten die Antipsychotika zunächst unter Beibehaltung der Dosis für mindestens 2–5 Jahre weiter gegeben werden, nach mehrmaligen Episoden sogar 5 Jahre. Nach stabiler Symptomremission können bei der Langzeitbehandlung eine schrittweise Dosisreduktion über längere Zeiträume und eine Einstellung auf eine niedrigere Erhaltungsdosis erwogen werden. 5 Das Antipsychotikum darf niemals abrupt abgesetzt werden, sonst erhöht sich das Rückfallrisiko. Ein sehr langsames Ausschleichen (ähnlich wie bei Lithium) ist zu empfehlen, z. B. eine Dosisreduktion von 20–25% innerhalb von 3 Monaten. 75 7.6 · Nebenwirkungen Wichtig Wichtig 5 Eine Indikation für eine Langzeitmedikation über 5 Jahre (ggf. Dauermedikation) liegt vor: – bei floriden Psychosen, die bei Absetzen der Medikation exazerbierten, – zur Rezidivprophylaxe bei häufigen Episoden, insbesondere wenn Eigenoder Fremdgefährdung im Rahmen von Exazerbationen bekannt sind, – bei Schizophrenien mit überwiegender, ausgeprägter Negativsymptomatik, – bei chronischen Schizophrenien mit Residualzuständen. Vor einem Absetzversuch bei Antipsychotika muss geklärt sein: 5 Wie wahrscheinlich ist ein Rückfall? (Erhöhte Wahrscheinlichkeit besteht bei häufigen früheren Rezidiven, niedrigem prämorbidem psychosozialem Funktionsniveau.) 5 Sind Prodromalsymptome wahrscheinlich oder beginnt eine Episode ohne Frühwarnzeichen? Wie war es bei früheren Episoden? Wird der Patient Prodromalsymptome erkennen? 5 Wie wahrscheinlich ist es, dass der Patient bei einem psychotischen Rückfall Hilfe aufsucht? 5 Wie schwierig wird es sein, eine Exazerbation zu behandeln? 5 Zur Applikationserleichterung bei Patienten, die nicht in der Lage sind, regelmäßig orale Antipsychotika einzunehmen, gibt es Depotpräparate als Langzeitmedikation mit Injektionsintervallen von 1–4 Wochen. Sie senken das Rückfallrisiko im Vergleich zur oralen Einnahme. Vorzuziehen ist beim Einsatz dann ein AAP (Risperdal Consta®; . Tab. 7.1). Weitere Vorteile sind: Gewährleistung ausreichender Dosierungen und Erleichterung der Überwachung der Compliance. Die Verordnung von Depotpräparaten hat aber auch Nachteile, besonders bei Erstmanifestation der Erkrankung: Bei der erstmaligen Gabe von Antipsychotika reagieren Patienten empfindlicher auf Nebenwirkungen; der Arzt kann nicht flexibel genug auf mögliche Nebenwirkungen und fehlende Wirkungen reagieren; ein Steady State wird langsamer erreicht; es gibt nur ein Depotpräparat aus der wichtigen Gruppe der AAP (s. oben). Wichtig Ein Wechsel von einem Antipsychotikum auf ein anderes ist zu erwägen bei: 5 unzureichender therapeutischer Wirkung bzw. Therapieresistenz, 5 störenden Nebenwirkungen oder Eintreten von (relativen) Kontraindikationen, 5 vorhandenen oder möglichen störenden Interaktionen, 5 unzureichender Compliance oder auf Wunsch des Patienten bei eingeschränkter Lebensqualität. 7 Welche Auswirkungen hätte eine Exazerbation (z. B. Suizidversuch in der Anamnese bei imperativen Stimmen)? 7.6 Nebenwirkungen Bei der Therapie mit Antipsychotika ist regelmäßig mit dem Auftreten von Nebenwirkungen zu rechnen. Die Patienten leiden längerfristig am stärksten unter Gewichtszunahme, Depressivität, kognitiven Störungen, Schlafstörungen und sexueller Dysfunktion. Bei den konventionellen Antipsychotika spielen EPS eine herausragende Rolle. Allen EPS ist gemeinsam, dass sie durch psychische Anspannung verstärkt werden und im Schlaf sistieren. Unter den meisten AAP ist das metabolische Syndrom eine wichtige Nebenwirkung. Bis zu 80% der schizophrenen Patienten unter Antipsychotika-Behandlung nehmen im Verlauf die Medikation nicht wie vorgesehen ein. Das Problem der Non-Compliance ist von größter klinischer Bedeutung und erklärt bisweilen die Diskrepanz zwischen den Ergebnissen kontrollierter Studien und klinischer Realität. AAP mit geringerem EPS-Risiko können die Lebensqualität erhöhen; die Compliance hat sich allerdings durch die Einführung der AAP nicht wesentlich gebessert. Im Rahmen der Psychoedukation muss versucht werden durch Vermittlung eines Krankheits- und Therapiekonzepts die Bedeutung der Medikation zu erklären sowie durch die Aufklärung über den Umgang mit 76 Kapitel 7 · Antipsychotika 1 Antipsychotika und deren Nebenwirkungen die Compliance zu erhöhen. 2 Unerwünschte neurologische und zentralnervöse Wirkungen 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 Besonders konventionelle Antipsychotika, aber deutlich weniger AAP, können zu EPS-Nebenwirkungen führen. Es gibt 5 mögliche Syndrome: 5 Frühdyskinesie: besonders mit hyperkinetisch, dyskinetisch oder dystonen Störungen; sie beginnen in der ersten Woche. Anticholinergika können sofort Abhilfe schaffen. 5 Parkinsonoid: besonders mit Einschränkung der Feinmotorik, Verlust der Mitbewegungen bis zur Akinese, Hypo- und Amimie, kleinschrittigem Gang und Rigor. Auftreten in der 1.–10. Woche. Anticholinergika können vorübergehend gegeben werden; die Dosis muss reduziert werden. 5 Akathisie: Sitz- und Stehunruhe; sie tritt in der 1.–7. Woche auf. Dosisreduktion ist nötig. 5 Spätdyskinesien: Nach Monaten bis Jahren auftretende hyperkinetische Dauersyndrome, intensive, abnorme, unwillkürliche, oft stereotype Bewegungen in der Zungen-, Mund- und Gesichtsmuskulatur. Kann auch durch abruptes Absetzen der Antipsychotika entstehen. Sehr schwierige Therapie. Sehr selten unter AAP. 5 Malignes neuroleptisches Syndrom: 7 Kap. 34. Cave Das maligne neuroleptische Syndrom ist mit einer Letalität von 20% verbunden; es entwickelt sich innerhalb von 1–3 Tagen. Symptome sind: 5 Rigor, 5 Quantitative Bewusstseinsstörung, 5 Fieber, Tachykardie, labiler Blutdruck, Tachypnoe, Hyperhidrose, Harninkontinenz, 5 CK-Erhöhung, Leukozytose, Transaminaseanstieg, 5 Renale Komplikationen. 18 Cave 19 20 Bei Kombination verschiedener Medikamente mit anticholinerger Komponente kann ein zentrales anticholinerges Syndrom auftreten (7 Kap. 34.5). 5 Einige konventionelle Antipsychotika werden als Ursache für eine Depression bei Patienten mit Schizophrenie diskutiert. Es ist dann auf ein AAP umzustellen. 5 Sedierung, Müdigkeit und Konzentrationsminderung treten oft nur vorübergehend und i. d. R. auch nur bei Antipsychotika mit anticholinerger oder antihistaminerger Komponente auf. 5 Bei 7% der Patienten treten unter konventionellen Antipsychotika Krampfanfälle auf. Bei zu schnellem Dosisanstieg kann es zu einem Delir (7 Kap. 34) kommen. Metabolische Nebenwirkungen 5 Gewichtszunahme, pathologische Glukosetoleranz, Diabetes mellitus und Hyperlipidämie treten besonders unter AAP auf. Die Gewichtszunahme ist sehr häufig (. Tab. 7.1). 5 Wenn folgenden Kriterien erfüllt sind, spricht man von einem metabolischen Syndrom: Abdominelle Adipositas (Bauchumfang bei Männern >102 cm, bei Frauen >88 cm), Nüchternglukose >110 mg/dl, Triglyceride >150 mg/dl, HDL-Cholesterin erniedrigt (Männer <40 mg/dl, Frauen <50 mg/dl), Hypertonie (>130/85 mmHg). Das metabolische Syndrom stellt ein hohes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen dar. 5 Die Therapie einer Gewichtszunahme ist schwierig. Diätetische Maßnahmen sind am Erfolg versprechendsten. Sie können verhaltenstherapeutisch unterstützt werden. Endokrine Begleitwirkungen und sexuelle Funktionsstörungen 5 Einige Antipsychotika erhöhen dosisabhängig den Prolaktinspiegel (PRL-Spiegel) (. Tab. 7.1). 5 Klinische Folgen hoher PRL-Spiegel können neben sexuellen Funktionsstörungen bei Frauen Amenorrhö und Galaktorrhö, bei Männern Gynäkomastie sein. 5 Es wird diskutiert, dass langzeitig erhöhte PRLSpiegel für die Entstehung oder Verstärkung von Osteoporose verantwortlich sind, möglicherweise verursacht durch einen sekundären Hypogonadismus aufgrund der PRL-Erhöhung. 5 Sexuelle Funktionsstörungen kommen unter konventionellen Antipsychotika bei 30–50% der Patienten vor; auch unter AAP treten sie auf (7 Abschn. 26.6). Der kausale Einfluss von Antipsychotika-induzierten PRL-Spiegelerhöhungen auf sexuelle Funktionen ist weiterhin unklar (Westheide et al. 2007). 77 7.8 · Wechselwirkungen 5 Sehr selten kann es, wahrscheinlich unter allen Antipsychotika, zu Priapismus kommen (immer Notfallsituation). Kardiale Nebenwirkungen 5 Das Risiko für einen plötzlichen Herztod ist unter Antipsychotikatherapie insgesamt selten, gegenüber der Normalpopulation jedoch etwa um das 2-fache erhöht. 5 Eine Vielzahl von Medikamenten, darunter auch Antipsychotika (genauso wie Antidepressiva, 7 Abschn. 5.6) können die myokardiale Erregungsrückbildung beeinträchtigen und eine Verlängerung des QT-Intervalles bewirken. Die Erhöhung der QTc-Zeit ist per se nicht als Risiko zu werten, ab QTc>500 ms steigt jedoch das Risiko für ventrikuläre Arrhythmien und plötzlichen Herztod deutlich an. Leber-Gallengangs-System und allergische Reaktionen 5 Ein vorübergehender Transaminasenanstieg in der 2.–4. Woche ist häufig, aber selten ein Absetzgrund. Die Werte sind regelmäßig zu bestimmen. 5 Generalisierte Arzneimittelexantheme und Photosensibilisierung mit erhöhtem Sonnenbrandrisiko sind weitere Risiken, die v. a. unter Phenothiazinen auftreten. Myalgien und Rhabdomyolysen Unter AAP, insbesondere Olanzapin, können Myalgien mit Erhöhungen der Kreatinphosphokinase auftreten. Sehr seltene Rhabdomyolysen (mit Myoglobinurie) sind mit dem Risiko des drohenden Nierenversagens verbunden. 7.7 Vegetative Nebenwirkungen 5 Vegetative Nebenwirkungen (über die kardialen Nebenwirkungen hinaus) kommen unter allen Antipsychotika vor. Sie treten bevorzugt zu Beginn der Therapie auf und zeigen dann i. Allg. eine Adaptation. Sie sind bedingt durch die anticholinergen Eigenschaften. Seltene aber ernste Folgen können sein: Miktionsstörungen, Harnverhalt, ausgeprägte Obstipation, sehr selten auch paralytischer Ileus. 5 Häufiger sind Hypotonie und orthostatische Dysregulation mit dem Risiko für Stürze. Kreislaufregulationsstörungen erfordern eine Dosisanpassung oder einen Präparatewechsel. Veränderungen des hämatopoetischen Systems 5 Unter Antipsychotika, besonders den trizyklischen, können Leukozytosen, Leukopenien Agranulozytose (besonders unter Clozapin) auftreten; sehr selten sind sie unter Butyrophenonen, wie Haloperidol oder Melperon. Das Medikament muss dann sofort abgesetzt werden. Es ist daran zu denken, dass strukturchemisch auch Olanzapin, Quetiapin und Zotepin trizyklische Substanzen sind. 5 Für die AAP Aripiprazol, Amisulprid, Ziprasidon und Risperidon hat sich diesbezüglich kein erhöhtes Risiko gezeigt. 7 Kontraindikationen und Intoxikationen Für die meisten Antipsychotika gibt es eine Vielzahl von Kontraindikationen. Dazu gehören u. a. Bewusstseinsstörungen, Leukopenie, Störungen der Harnentleerung, Engwinkelglaukom, Prostatahyperplasie und kardiale Vorschädigung. Toxische Verläufe sind unter Butyrophenonen und AAP (Ausnahme: Clozapin) relativ selten. Unter den trizyklischen Präparaten aus der Gruppe der konventionellen Antipsychotika können sie allerdings vorkommen. Auf die Risiken unter Antipsychotika während der Schwangerschaft und in der Stillzeit sowie beim Autofahren, wird in den7 Kap. 35 und 36 hingewiesen. 7.8 Wechselwirkungen Wechselwirkungen sind bei Antipsychotika sehr bedeutsam, weil sie bei einigen Präparaten zu erheblichen Risiken führen können. 5 Die Kombinationen von anticholinerg wirksamen Antipsychotika mit Anticholinergika oder anticholinerg wirksamen Antidepressiva können zu Erregungszuständen bis hin zum Delir führen. Bei Kombinationen von Antipsychotika mit SSRI ist das unterschiedliche Interaktionspotenzial der Substanzen zu beachten. Antipsychotika und Alkohol (besonders in größeren Mengen) sollten nicht kombiniert werden (Gefahr der wechselseitigen Wirkungsverstärkung bis hin zum Koma). 78 1 2 Kapitel 7 · Antipsychotika Rauchen induziert CYP1A2. Dadurch sind die Plasmaspiegel von Clozapin und Olanzapin um 20– 50% erniedrigt. Nach vermindertem Rauchen können die Plasmaspiegel ansteigen! Wichtig 3 Kardiovaskuläre Synkopen und/oder Atemstillstand bei gleichzeitiger Clozapin-Einnahme und Benzodiazepin-Gabe sind beschrieben (i.v.-Applikation von Benzodiazepinen unbedingt vermeiden!). Die Kombinationen mit Clozapin sind grundsätzlich risikoreich. 4 5 6 7 8 9 7.9 Routineuntersuchungen Unter allen Antipsychotika sind Routineuntersuchungen notwendig. Die vorgegebenen Termine sind hierbei sehr sorgfältig einzuhalten. Wichtig 10 11 12 13 14 15 5 Unter allen Antipsychotika muss regelmäßig das Blutbild kontrolliert werden. 5 Patienten müssen angewiesen werden, beim Auftreten von Symptomen wie Fieber, Halsschmerzen, Infektionen der Mundschleimhaut keinen Selbstbehandlungsversuch durchzuführen, sondern den Arzt aufzusuchen. 5 Unter den meisten AAP sind regelmäßig der Blutzucker, die Lipide und das Gewicht zu messen. 5 Unter allen Antipsychotika muss in größeren Abständen ein EKG abgeleitet werden. Besonders bei älteren Patienten muss geprüft werden, ob eine Hypokaliämie besteht; sie muss ggf. korrigiert werden. 7.10 Antipsychotika im höheren Lebensalter 5 Es besteht besonders in der Notfallpsychiatrie (7 Kap. 34) und bei Verhaltensauffälligkeiten im Rahmen einer Demenz (7 Kap. 31) ein deutlicher Bedarf für den Einsatz von Antipsychotika. Allerdings hat sich gerade in den letzten Jahren gezeigt, dass die Gabe von Antipsychotika bei älteren Patienten mit Demenz mit einem erhöhten Risiko für zerebrovaskuläre Ereignisse verbunden ist. 5 Bei Patienten >65 Jahre sollte besonders vorsichtig aufdosiert werden. Vegetative Nebenwirkungen sind bei älteren Patienten besonders problematisch. Hypotonie und orthostatische Dysregulation können zu lebensgefährlichen Stürzen führen. 5 Die Kombinationen von anticholinerg wirksamen Antipsychotika mit Anticholinergika oder anticholinerg wirksamen Antidepressiva können zu Erregungszuständen bis hin zum Delir führen und sollten vermieden werden. 5 Alle Routineuntersuchungen (7 Abschn. 7.9) sind im höheren Lebensalter sehr gewissenhaft durchzuführen. 7.11 Präparategruppen1 In . Tab. 7.1 werden die wichtigsten Indikationen für Antipsychotika aufgelistet. 5 Neu zugelassen ist Paliperidon (Invega®), ein aktiver Metabolit des AAP Risperidon. Paliperidon hat eine verbesserte, freisetzungsverzögernde Pharmakokinetik, sodass eine tägliche Einmaldosierung ausreicht. Außerdem sind weniger Interaktionen und Plasmaschwankungen zu erwarten. 16 17 18 19 20 Die Aufklärung hat bei der Antipsychotikatherapie einen besonderen Stellenwert. Sie wird dadurch erschwert, dass der Patient in der Akutphase nicht durch ein überforderndes Aufklärungsgespräch verunsichert werden soll; in diesen Fällen empfiehlt sich ein gestuftes Vorgehen. Die Darlegung der NutzenRisiko-Abschätzung sollte spätestens nach Einleitung der Stabilisierungsphase erfolgt sein. Auf eine mögliche eingeschränkte Fahrtüchtigkeit (7 Kap. 36) und die Gefahren durch zusätzliche Einnahme von Alkohol und sedierenden Medikamenten muss der Patient frühzeitig hingewiesen werden. Fazit Therapieempfehlung für Antipsychotika 5 AAP sollte in der Routinetherapie der Vorzug gegeben werden. 5 Konventionelle Antipsychotika sind mit stärkeren Nebenwirkungen behaftet, besonders EPS. 1 Eine Übersicht über die im Leitfaden genannten Wirkstoffe mit den jeweiligen Handelsnamen gibt . Tab. A1 im Anhang. 79 7.11 · Präparategruppen 5 Die Auswahl bezieht sich auf das Zielsyndrom und die Notwendigkeit bestimmte Nebenwirkungen zu vermeiden (z. B. bei Diabetes kein Olanzapin (Cave: metabolisches Syndrom), bei jungen Frauen kein Amisulprid (Cave: Prolaktinerhöhung), bei Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen kein Ziprasidon (Cave: QTc-Verlängerung). 5 Wahrscheinlich haben AAP ein günstigeres Wirkungsprofil bei Negativsymptomatik als konventionelle Antipsychotika. 5 Alle Antipsychotika haben ein breites Indikationsspektrum; sie wirken relativ sicher bei Schizophrenie und Manie. 7 5 Die sedierenden Antipsychotika können zusätzlich bei psychomotorischen Erregungszuständen eingesetzt werden. 5 Olanzapin ist auch zur Phasenprophylaxe bei bipolaren Störungen zugelassen. Auch Quetiapin ist bei der Indikation wirksam. 5 Haloperidol ist die klassische Referenzsubstanz, gut wirksam, aber auch nebenwirkungsreich. 5 Erhält ein Patient langfristig Antipsychotika, sollte immer überlegt werden, ob nebenwirkungsärmere Präparate indiziert sind. 5 Die Compliance ist regelmäßig zu überprüfen, nach Nebenwirkungen zu fragen und Routineuntersuchungen durchzuführen. . Tab. 7.1. Indikationen für Antipsychotika (Auswahl) Präparat Dosis Wichtigste Indikationen mit Zulassung Wichtigste Nebenwirkungen; sonst 7 Abschn. 7.6 Bemerkungen Atypische Antipsychotika Amisulprid Solian® 400–800 mg 50–300 mg bei Negativsymptomatik Schizophrenie, auch bei Negativsymptomatik Starke Prolaktinerhöhung Zugelassen als einziges AAP bei Negativsymptomatik Aripiprazol Abilify® 15–30 mg Schizophrenie Schlaflosigkeit, Angstzustände aber auch Müdigkeit, Übelkeit Keine Gewichtszunahme, Lipid- und Prolaktinerhöhung Clozapin Leponex® 100–400 mg Schizophrenie, Manie Hohes NW-Risiko, Agranulozytose, Hypersalivation Cave: Interaktionen, Sedierung Erfüllt alle Kriterien für ein AAP, gute Wirkung bei Suizidalität; nicht in der Akutphase geeignet Olanzapin Zyprexa® 5–20 mg; Manie: Beginn mit 20 mg möglich Schizophrenie, Manie, Phasenprophylaxe bei bipolaren Störungen Gewichtszunahme, Schläfrigkeit Breite Anwendungserfahrung Quetiapin Seroquel® 50–750 mg; Manie: Beginn mit 100 mg Schizophrenie, Manie Sedierung, Schwindel, Gewichtszunahme Keine Prolaktinerhöhung, neben Clozapin sehr geringes Risiko für EPS Risperidon Risperdal® akut: 2–4 mg; Geriatrie: 1 mg; Depot: alle 2 Wochen 25–50 mg Schizophrenie, Manie Sedierung, Schwindel, relativ deutliche Prolaktinerhöhung Neben Clozapin sehr geringes Risiko für EPS; auch als Depot (einziges AAP) Ziprasidon Zeldox® 120–160 mg; eher höher Schizophrenie, Manie QTc-Verlängerung Nichttrizyklisches AAP, minimale Gewichtszunahme 80 1 Kapitel 7 · Antipsychotika . Tab. 7.1. Fortsetzung Präparat Dosis 2 3 akut: 10–60 mg Erhaltungstherapie: 4–20 mg Depot: 10–60 mg i. m. 2–4 wöchentlich Schizophrenie EPS, Müdigkeit, Hypotonie Hochpotentes trizyklisches Antipsychotikum, auch als Depot Haloperidol Haldol® 5–10 mg, maximal 40 mg, auch als Depot möglich Schizophrenie, Manie, Erregungszustände EPS, Müdigkeit, Hypotonie Butyrophenon, bewährtes Antipsychotikum für die Notfallsituation. Cave: nicht i.v. Melperon Eunerpan® 50–400 mg Erregungszustände bei Psychosen, Schlafstörungen Müdigkeit, Hypotonie Butyrophenon, breites Einsatzspektrum, auch in der Geriatrie Pipamperon Dipiperon® 120–360 mg, bei Schlafstörung, 20– 80 mg zur Nacht Erregungszustände bei Psychosen, Schlafstörungen Müdigkeit, Hypotonie Butyrophenon, breites Einsatzspektrum, auch in der Geriatrie 8 9 10 NW Nebenwirkung. 11 7.12 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Bemerkungen Flupentixol Fluanxol® 5 7 Wichtigste Nebenwirkungen; sonst 7 Abschn. 7.6 Konventionelle Antipsychotika 4 6 Wichtigste Indikationen mit Zulassung Antipsychotika in der Kinderund Jugendpsychiatrie Die Behandlung mit Antipsychotika stellt in der Therapie schizophrener Psychosen und anderer Störungen einen Baustein eines multimodalen Behandlungskonzepts dar (Schulz et al. 2005). Indikationen 5 Die Hauptindikationen für Antipsychotika im Kindes- und Jugendalter sind schizophrene und andere psychotische Störungen sowie Verhaltensstörungen mit impulsiven und aggressiven Durchbrüchen. 5 Das Indikationsspektrum – wenn auch Antipsychotika nicht in allen Fällen die Medikamente der ersten Wahl sind oder die alleinige Therapieform darstellen – umfasst zusätzlich zu den im 7 Abschn. 7.4 beschriebenen Störungsbildern und Diagnosegruppen noch: – manische Episode, – Essstörungen, – nichtorganische Schlafstörungen, – Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Krankheit, – – – – – – – – – Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns, tief greifende Entwicklungsstörungen, hyperkinetische Störungen, Störungen des Sozialverhaltens, Bindungsstörungen, Ticstörungen, Enuresis, stereotype Bewegungsstörungen, Stottern und Poltern. Der Einsatz von Antipsychotika stellt in den meisten Fällen einen individuellen Heilversuch dar (Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2003). Auswahl und Wirksamkeit der Antipsychotika 5 In klinischen Studien bei Kindern und Jugendlichen mit schizophrenen Psychosen hat sich gezeigt, dass die Standardsubstanz aus der Gruppe der klassischen Antipsychotika Haloperidol gegenüber Placebo überlegen ist. Auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gilt Clozapin als Referenzsubstanz für die AAP und es konnte in kontrollierten Studien gezeigt werden, dass Clozapin gegenüber Haloperidol und Olanza- 81 7.13 · Checkliste 5 5 5 5 pin bei therapieresistenten schizophrenen Störungen überlegen ist (Kumra et al. 1996; Shaw et al. 2006). Allerdings sollte wegen des erhöhten Agranulozytoserisikos Clozapin erst nach fehlender Wirksamkeit auf zwei andere Antipsychotika eingesetzt werden (Findling et al. 2005). Von den wichtigsten AAP gibt es meistens nur eine kontrollierte Studie bei Kindern und Jugendlichen mit schizophrenen Störungen. Die Ergebnisse aus den kontrollierten und offenen Studien sind fast durchwegs positiv. Da die meisten AAP für die Therapie Kinder und Jugendlicher in Deutschland nicht zugelassen sind, entspricht jede Anwendung einem individuellen Heilversuch. Clozapin ist ab dem 16. Lebensjahr für die Behandlung von Psychosen zugelassen. Von den klassischen Antipsychotika sind zur Behandlung von Psychosen im Kindes- und Jugendalter Chlorprothixen (ab 3 Jahren, auch für Unruhe, Erregungszustände, Schlafstörungen, Entzug), Fluphenazin (ab 12 Jahren, auch für psychomotorische Erregungszustände), Haloperidol (ab 3 Jahren), Levomopromazin (keine Altersbeschränkung, auch für Erregungszustände, Schmerzen), Perazin (ab 16 Jahren, auch für Manie, Erregungszustände) und Pimozid (keine Altersbeschränkung) zugelassen. Melperon und Pipamperon sind im Kindes- und Jugendalter vorwiegend zur Behandlung von Unruhe und Erregungszuständen sowie Schlafstörungen zugelassen. Risperidon hat gute Ergebnisse bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit aggressiven und impulsiven Verhaltensauffälligkeitengezeigt, die auf eine Störung des Sozialverhaltens, eine Intelligenzminderung oder eine tief greifende Entwicklungsstörung zurückzuführen sind, und hat auch eine Zulassung für die Behandlung solcher Verhaltensauffälligkeiten. 7 Handlungsschritte unter der Therapie 5 Die Dosierungen und Serumkonzentrationen sowie die Wechselwirkungen und Kontraindikationen entsprechen, soweit bekannt, denen im Erwachsenenalter, wobei die Medikamentendosis immer entsprechend dem Alter, dem Entwicklungsstand, der Begleitmedikation und der Symptomatik individuell angepasst werden sollte (Schulz et al. 2005). 5 Die Nebenwirkungen sind ebenfalls ähnlich, möglicherweise kommt es durch einige AAP zu einer stärkeren Gewichtszunahme bei Kindern und Jugendlichen, besonders zu Beginn der Behandlung, im Vergleich zu Erwachsenen (Fleischhaker et al. 2007). 5 Die Routineuntersuchungen sollten mit der gleichen Frequenz wie im Erwachsenenalter erfolgen und ebenso die empfohlene Behandlungsdauer nach einer Remission. 7.13 Checkliste ? 1. 2. 3. 4. 5. 6. Welche Charakteristika weisen die atypischen Antipsychotika auf? Welche Indikationen für Antipsychotika kennen Sie? Welche Applikationsmöglichkeiten für Antipsychotika gibt es? Welche Nebenwirkungen treten bei konventionellen Antipsychotika häufig auf? Auf welche Nebenwirkungen ist bei atypischen Antipsychotika besonders zuachten? Welches Antipsychotikum hat sich als am wirksamsten bei der Behandlung von therapieresistenten schizophrenen Störungen im Kindes- und Jugendalter gezeigt. 8 83 8.1 · Anxiolytika 8.1 Einteilung – 84 8.2 Wirkungsmechanismus 8.2.1 8.2.2 8.2.3 Benzodiazepine – 84 Buspiron – 85 Andere Anxiolytika – 86 8.3 Allgemeine Therapieprinzipien 8.4 Indikationen 8.4.1 8.4.2 8.4.3 Benzodiazepine – 87 Buspiron – 88 Andere Anxiolytika – 88 8.5 Dosierung, Plasmakonzentration und Behandlungsdauer – 89 8.6 Nebenwirkungen 8.6.1 8.6.2 8.6.3 Abhängigkeitsrisiko unter Benzodiazepinen – 90 Absetzprobleme unter Benzodiazepinen – 90 Vorbeugung von Benzodiazepinentzugssymptomen 8.7 Kontraindikationen und Intoxikationen 8.8 Wechselwirkungen 8.9 Routinehinweise 8.10 Anxiolytika im höheren Lebensalter 8.11 Präparategruppen 8.11.1 8.11.2 Benzodiazepine – 92 Andere Anxiolytika – 93 8.12 Anxiolytika in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 8.13 Checkliste – 84 – 86 – 87 – 94 – 89 – 91 – 91 – 91 – 91 – 91 – 92 – 93 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 84 Kapitel 8 · Anxiolytika 8.1 Einteilung Anxiolytika sind angstlösende Substanzen. Die anxiolytische Komponente wird durch eine beruhigende und emotional entspannende Wirkung unterstützt. Wegen des zusätzlichen sedierenden Effekts werden die Anxiolytika auch Tranquilizer genannt. Der schlafinduzierende, muskelrelaxierende und antikonvulsive Effekt (7 Abschn. 8.4) der Benzodiazepine ist in der Psychopharmakotherapie nicht regelhaft erwünscht. Anxiolytika, wie z. B. Buspiron oder β-Rezeptorenblocker sind in üblicher Dosierung nichtsedierend. Das erste Benzodiazepin Chlordiazepoxid (Librium®) wurde 1960 eingeführt. Die schnelle Verbreitung der Benzodiazepine beruhte auf der geringen Sedierung, der guten Verträglichkeit und der großen Sicherheit gegenüber den damals bekannten Sedativa, wie Mebrobamat oder Barbituraten. Benzodiazepine sind für die Psychopharmakotherapie unverzichtbare Substanzen. Durch das bekannte Abhängigkeitsrisiko, fehlerhafte Verschreibungen (nur 20% verschreibt der Psychiater) und den nichtmedizinischen Gebrauch unterlagen sie einer weltweiten Stigmatisierung. Die Verkaufszahlen sanken rapide. In den USA ist allerdings die Verschreibung wesentlich höher als bei uns. Diese Tendenz wurde durch die Möglichkeit unterstützt, gerade bei der Indikation Angststörungen, die Benzodiazepine durch moderne Antidepressiva zu ersetzen. Eine Kritik an den Benzodiazepinen ist dann aber nicht gerechtfertigt, wenn der eigentliche Grund in einer zu häufigen, aber falschen Verordnung liegt. Definition Verschiedene Gruppen bzw. Substanzen innerhalb der Anxiolytika unterscheiden sich sowohl hinsichtlich der strukturchemischen Eigenschaften als auch des Wirkprinzips (Aufzählung nach der Bedeutung): 5 Benzodiazepine: – z. B. Alprazolam, Diazepam, Lorazepam, Oxazepam 5 Gruppe der Azapirone: – Buspiron 5 β-Rezeptorenblocker: – z. B. Propranolol 5 Antiepileptika: – Pregabalin 5 Antihistaminika: – Hydroxyzin 5 Trizyklische Substanzen: – Opipramol Auch sedierende Antidepressiva und niedrig dosierte Antipsychotika haben eine anxiolytische Wirkung. 8.2 Wirkungsmechanismus Exemplarisch wurde die Rezeptorfunktion ausführlich am Beispiel der Antidepressiva und speziell des serotonergen Rezeptors demonstriert (7 Abschn. 5.2). In diesem Kapitel wird der spezielle Wirkungsmechanismus der Benzodiazepine dargestellt. Biologisches Wirkprinzip der Benzodiazepine ist die Minderung der Aktivität des Zentralnervensystems (ZNS). Cave Anxiolytika, insbesondere die Benzodiazepine, dürfen niemals ein Ersatz für notwendige Gespräche, eine Psychotherapie oder Entspannungsverfahren sein. Sie dürfen nicht als Alibi für ein fehlendes therapeutisches Bemühen herhalten. Anxiolytika werden nicht nur isoliert bei Angststörungen verordnet, sondern finden häufig ihren Einsatz als Begleitmedikation (z. B. neben Antidepressiva oder Antipsychotika). 8.2.1 Benzodiazepine 5 Die Gammaaminobuttersäure (GABA) ist einer der wichtigsten Neurotransmitter im ZNS mit inhibitorischer Funktion. Hauptwirkort der Benzodiazepine ist der GABAA-Rezeptor. Durch Aktivierung von GABA kommt es zu einem in die Zelle gerichteten Chlorideinstrom und somit zu einer Hyperpolarisation. Das Neuron kann dann nur noch vermindert aktiviert werden. GABA ist der wichtigste, zumeist inhibitorisch wirkende Neurotransmitter im ZNS. 5 Benzodiazepine wirken über eine spezifische Benzodiazepinbindungsstelle auf die Rezeptoreigenschaften. Durch die Bindung von Benzodiazepinen erhöht sich die Affinität des Rezep- 85 8.2 · Wirkungsmechanismus 8 . Tab. 8.1. Differenzielle Wirkung der Benzodiazepine Pharmakologische Eigenschaften Indikationen Bemerkungen zu besonders effektiven Präparaten Anxiolytisch Angststörungen, akute Psychosen, speziell Katatonie und depressiver Stupor Lorazepam, Alprazolam: hochpotent, aber auch vermehrt Entzugssymptome. Lorazepam i. m. möglich; deswegen gut bei Kataonie und Stupor geeignet Sedierend Agitation bei akuten Psychosen, Manie, Prämedikation in der Anästhesie Diazepam: sehr starke Sedation Hypnotisch Schlafstörungen, Prämedikation in der Anästhesie – Antikonvulsiv Krampfzustände, Epilepsie Diazepam: deutlich antikonvulsiv Muskelrelaxierend Muskelverspannung, Spastik Diazepam: therapeutische Wirkung tors zu GABA und damit die Frequenz der Kanalöffnung. Im Gegensatz zu Barbituraten können Benzodiazepine auch in hohen Dosen nicht als direkte GABAA-Agonisten wirken, wodurch sich die hohe Anwendungs- und Intoxikationssicherheit erklärt. 5 Die GABAA-Rezeptoren sind als Pentamer verschiedener Untereinheiten und deren Varianten (hauptsächlich: α1–6; β1–3; γ1–3; δ) zusammengesetzt. Daraus ergeben sich mannigfaltige Rezeptorvariationen sowohl für GABA als auch für Benzodiazepine mit verschiedenen pharmakologischen Profilen, Häufigkeiten und topographischen Verteilungen. Während γ-Einheiten für eine Benzodiazepinwirkung notwendig sind, scheinen die α-Einheiten die Potenz der einzelnen Benzodiazepine zu bestimmen. Es gibt tierexperimentelle Hinweise, dass die anxiolytischen Effekte primär durch α2- und/oder α3- enthaltende Rezeptoren, die sedativen Eigenschaften dagegen durch α1- und die muskelrelaxierende Wirkungen durch α2- und α3-Rezeptoren vermittelt werden. Eine differenzielle Wirkung von Benzodiazepinen an GABAA-Rezeptoren wird z. T. durch eine einzelne Aminosäure bestimmt. 5 Es gibt die, aber nicht abgesicherte, Hypothese, dass der GABA-Benzodiazepinkomplex bei Angststörungen verändert und in seiner Empfindlichkeit verstellt ist. 5 Die GABAA-Rezeptoren sind jetzt auch ursächlich mit Veränderungen kognitiver Prozesse im Alter und pathologischen Zuständen, insbesondere verschiedenen Formen der Epilepsie in Verbindung gebracht worden, die oft auf eine redu- zierte GABAerge Transmission zurückzuführen sind (Lüddens u. Wiedemann 2008). 5 Da es im Gehirn spezifische BenzodiazepinRezeptoren gibt, geht man davon aus, dass es, ähnlich wie bei den Endorphinen am OpiatRezeptor, endogene Liganden gibt. 5 Die Wirkungen am Benzodiazepin-RezeptorKomplex können durch einen Benzodiazepinrezeptorantagonisten (Flumazenil) wieder aufgehoben werden. 5 Die Trennung von Anxiolytika, speziell der Benzodiazepine von den Benzodiazepinhypnotika (7 Abschn. 9.2.1) ist künstlich. Benzodiazepine beider Gruppen haben eine mehr oder weniger starke sedative Komponente. Die pharmakologischen Eigenschaften der Benzodiazepine sind in . Tab. 8.1 dargestellt. 8.2.2 Buspiron 5 Buspiron gehört zur Gruppe der Azapirone und wirkt als vollständiger Agonist an präsynaptischen 5-HT1A-Autorezeptoren und somit inhibitorisch auf Ausschüttung und Synthese von Serotonin. Postsynaptisch soll Buspiron als partieller Agonist an 5-HT1A-Rezeptoren einen direkten serotonergen Effekt besitzen. Auch dopaminerge Eigenschaften werden diskutiert. Buspiron hat keine Wirkung am GABAA-Rezeptor. Der anxiolytische Effekt ist am ehesten durch die Summe der komplexen Wirkungen zu erklären. 86 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 8 · Anxiolytika Allgemeine Therapieprinzipien 8.2.3 Andere Anxiolytika 8.3 β-Rezeptorenblocker 5 Während früher der Einsatz von Anxiolytika in der Psychopharmakotherapie einen hohen Stellenwert hatte, ist er durch die Möglichkeit Angststörungen mit den risikoärmeren modernen Antidepressiva zu behandeln, deutlich zurückgegangen. 5 Die klinisch wichtigste Gruppe unter den anxiolytisch wirkenden Substanzen sind die modernen Antidepressiva (7 Kap. 5). Für die Erhaltungs- und Langzeittherapie der Angststörungen (. Tab. 5.2) gibt es keine Alternative. 5 Für die Akuttherapie allerdings sind unter den Anxiolytika die Benzodiazepine unverzichtbar. 5 Wenn Anxiolytika längerfristig verordnet werden, sind sie in einen Gesamtbehandlungsplan einzubinden. 5 Wenn die folgenden Vorsichtsmaßnahmen berücksichtigt werden, ist die Therapie mit Benzodiazepinen für den Patienten wertvoll und sicher: 5 Die β-Rezeptorenblocker, z. B. Propranolol, Pindolol oder Atenolol, vermindern β-adrenerg vermittelte somatische Symptome der Angst (Schwitzen, Tremor, kardiovaskuläre und MagenDarm-Beschwerden). Antiepileptika 5 Pregabalin ist für die Indikation generalisierte Angststörung neu in den Handel gekommen. Es ist ein lipophiles GABA-Analog, das ursprünglich als Antikonvulsivum entwickelt wurde. Antihistaminika 5 Das Diphenylmethanderivat Hydroxyzin hat eine H1-antihistaminerge sowie eine adrenolytische und anticholinerge Wirkung. Trizyklische Substanzen 5 Trotz einer trizyklischen Struktur – mit dem Kern von Carbamazepin und der Seitenkette von trizyklischen Antipsychotika – zeigt Opipramol in therapeutischen Dosen keine Rückaufnahmehemmung für biogene Amine. Es finden sich antagonistische Effekte am 5-HT2-, H1- sowie am D2-Rezeptor. Opipramol ist ein starker Ligand an den adrenergen (α1-) und cholinergen Rezeptoren. Die sedativen Eigenschaften sind auf die antihistaminerge Wirkung zurückzuführen, die Ursache der anxiolytischen Wirkung ist unklar. Antidepressiva 5 Von den meisten Antidepressiva ist ein angstlösender Effekt bekannt. Der Wirkmechanismus ist in 7 Kap. 5 beschrieben. Es wird vermutet, dass vor allem der serotonergen Wirkung der Antidepressiva die angstlösende Komponente zugeschrieben werden kann. Antipsychotika 5 Es ist mehrfach gezeigt, dass die konventionellen Antipsychotika in niedrigen Dosen einen angstlösenden Effekt haben. Für die atypischen Antipsychotika liegen nicht genügend Studien vor. Da aber bei beiden Gruppen das Nebenwirkungsrisiko im Vergleich zu Antidepressiva zu hoch ist, sollten sie bei Angsterkrankungen nicht gegeben werden. Wichtig 5 Bei Abhängigkeitserkrankungen muss fast immer auf den Einsatz von Benzodiazepinen verzichtet werden (Ausnahme: Notfallsituation). 5 In der Notfallsituation, besonders bei akuter Suizidalität und akuten Angstzuständen, müssen auch sehr hohe Dosen appliziert werden. 5 Im Regelfall, insbesondere in der Erhaltungsund Langzeittherapie, sollte die minimal effektive Dosis verschrieben werden. 5 Wenn möglich, sollte der Patient zu einer individuellen Bedarfsmedikation angeleitet werden. 5 Absetzversuche sind nach 6 Wochen, bei langfristiger Gabe spätestens nach 6 Monaten einzuplanen; falls sie nicht gelingen, sind immer wieder neue Versuche in den Behandlungsplan einzuschieben. 5 Nur eine langsame Dosisreduktion schützt vor Entzugssymptomen. 5 Das Abhängigkeitsrisiko steigt mit zunehmender Dosis und Dauer der Einnahme. 87 8.4 · Indikationen 8.4 Indikationen 8.4.1 Benzodiazepine 5 Benzodiazepine sind hochwirksame Substanzen. Sie wirken schnell und zuverlässig, sind gut verträglich und haben eine große therapeutische Breite. Der große Vorteil der Benzodiazepine gegenüber Antidepressiva oder auch der KVT liegt darin, dass die Wirkung sehr zügig einsetzt (. Tab. 8.3). 5 Die Indikation für Benzodiazepine muss wegen des vorhandenen Abhängigkeitsrisikos aber stets mit Sorgfalt gestellt werden (. Tab. 8.2) 5 Die Indikationen für den Einsatz von Benzodiazepinen sind nosologieübergreifend und häufig symptomorientiert. In vielen Fällen erfolgt der Einsatz als Komedikation, um den Therapieeffekt 8 zu unterstützen oder die Wirklatenz einer anderen längerfristig geplanten Medikation abzukürzen (z. B. Antidepressiva bei Angsterkrankungen und Depressionen; Antipsychotika bei schizophrenen Erkrankungen). Benzodiazepine sind bei vielen psychiatrischen und internistischen Notfallsituationen indiziert (z. B. akuter Herzinfarkt). 5 Zielsymptome sind Angst, innere Unruhe, muskuläre Spannung, Hypervigilanz, Schlafstörungen, akute katatone, mutistische oder stuporöse Zustände, Akathisie und tardive Dyskinesien (. Tab. 8.1). Der therapeutische Effekt der Benzodiazepine zielt auf eine rasche Sedierung und Entspannung, ohne in niedrigen Dosierungen eine nennenswerte Schlafinduktion hervorzurufen. . Tab. 8.2. Indikationen für Benzodiazepine Indikationen Kapitelverweis Bemerkungen Depressive Störungen 7 Kap. 15 Bei Suizidalität, ggf. bei komorbiden Angststörungen; bei depressivem Stupor: Lorazepam Panikstörung 7 Kap. 16 Für schnelle Koupierung der Angst: Lorazepam, auch als Bedarfsmedikation; für Langszeittherapie nur für Alprazolam durch Studien nachgewiesen Generalisierte Angststörung 7 Kap. 17 Gute Wirkung bei akuten Angstzuständen; zu Beginn begleitend mit Antidepressiva; bei non-resonse auf Antidepressiva niedrige Dosen auch langfristig möglich (aber nach Buspiron-Versuch) Phobische Störungen 7 Kap. 18 Nur als Bedarfsmedikation Posttraumatische Belastungsstörung 7 Kap. 20 Nur Notfallsituation Akute Belastungsstörung und Anpassungsstörung 7 Kap. 21 Nur zu Beginn als Entlastung Somatoforme Störung 7 Kap. 22 Nur vorübergehend Schlafstörungen 7 Kap. 24 Möglichst bei primärer Insomnie nur Non-Benzodiazepinhypnotika verordnen Alkoholentzugssyndrom 7 Kap. 28 – Manische Episode 7 Kap. 29 Als Komedikation Schizophrenie 7 Kap. 30 Schnelle Koupierung von Angstzuständen, bei katatonem Stupor: Lorazepam; ggf. als Komedikation Neurologische Erkrankungen 7 Kap. 32 Epileptischer Anfall, möglich auch bei Epilepsie; unwillkürlichen Bewegungsstörungen Notfallspychiatrie 7 Kap. 34 Angstlösung, Sedierung 88 1 2 3 4 Kapitel 8 · Anxiolytika . Tab. 8.3. Vor- und Nachteile der Benzodiazepine bei Angsterkrankungen Vorteile Nachteile Sehr schneller Wirkungseintritt Abhängigkeit und Entzugserscheinungen Sehr gute anxiolytische Wirkung Tagesmüdigkeit bis zur Sedation Gute Handhabbarkeit Wechselwirkungen mit Alkohol Kaum Wechselwirkungen mit Medikamenten Koordinationsstörungen Geringe vegetative Nebenwirkungen Störungen des Kurzzeitgedächtnisses möglich 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 5 Auch ein dauerhafter (monotherapeutischer) Einsatz ist in einigen Fällen v. a. bei Angsterkrankungen (generalisierte Angststörung/GAD; Panikstörung) nach Ausschöpfung anderer Therapiemaßnahmen indiziert. 5 Anders als bei den Antidepressiva gibt es keine neuen Zulassungsstudien für Benzodiazepine, die sich auf die ICD-10-Klassifikation beziehen. Es handelt sich in der Regel um Altzulassungen mit unspezifischen Syndromnennungen. 5 Relativ neu ist die Indikation für Lorazepam bei Katatonie, Stupor und Mutismus (. Tab. 8.2) (Heuser u. Benkert 1986); die früher oft notwendige Elektrokrampftherapie bei diesen Syndromen kann jetzt meistens vermieden werden. Cave Keine Indikation für Benzodiazepine besteht bei zu hohen chronischen Belastungen im Alltag, im sozialen oder im familiären Bereich. Nur bei akuten Belastungen sind Benzodizepine – und dies auch nur kurzfristig – indiziert. 5 Eine Toleranzentwicklung gegenüber der anxiolytischen Wirkung ergibt sich vergleichsweise selten, d. h. eine Dosissteigerung zur Wirkungserhaltung der Anxiolyse ist in der Regel nicht notwendig. Bekannt ist hingegen eine Toleranzentwicklung gegenüber der sedierenden, muskelrelaxierenden und antikonvulsiven Wirkungskomponente. Tiermodelle bestätigen eine raschere und ausgeprägtere Toleranz gegenüber sedativen als gegenüber anxiolytischen Effekten. 5 Es besteht eine Kreuztoleranz von Benzodiazepinen zu Alkohol. Längerer Alkoholkonsum macht u. U. höhere Benzodiazepindosen notwendig. Die Vor- und Nachteile einer Benzodiazepinmedikation bei Angsterkrankung sind in . Tab. 8.3 ersichtlich. 8.4.2 Buspiron 5 Bei der generaliserten Angsterkrankung hat Buspiron eine wichtige Indikation, 7 Abschn. 17.2.3. 5 Bei suchtgefährdeten Patienten ist Buspiron eine Alternative zu Antidepressiva. 5 Auch bei Phobie ist Buspiron wirksam. 5 Insgesamt konnten Wirksamkeitsvorteile von Buspiron gegenüber Antidepressiva nicht gezeigt werden; insbesondere gibt es keine Vergleichsstudien zwischen Buspiron und SSRI bei der GAD. 8.4.3 Andere Anxiolytika β-Rezeptorenblocker 5 β-Rezeptorenblocker können beim Überwiegen somatischer Symptome bei spezifischer Phobie (7 Kap. 18) z. B. bei Redner- und Prüfungsangst oder Flugangst, als Bedarfsmedikation versucht werden. Der Wirksamkeitsnachweis ist nicht überzeugend. β-Rezeptorenblocker besitzen nur geringe sedierende Eigenschaften. Antiepileptika 5 Pregabalin ist neu für die GAD und die soziale Phobie zugelassen. Der Vorteil gegenüber Antidepressiva kann noch nicht abgeschätzt werden. Antihistaminika 5 Hydroxizin hat im Vergleich zu Benzodiazepinen eine schwächere anxiolytische Wirkung, zeigt aber kein Abhängigkeitsrisiko. Trizyklische Substanzen 5 Opipramol ist bei der GAD und bei somatoformen Störungen zugelassen. 5 Opipramol ist besonders bei abhängigkeitsgefährdeten Patienten eine Alternative zu Antidepressiva oder Buspiron. 89 8.6 · Nebenwirkungen Antidepressiva 5 Die selektiven Serotoninrückaufnahmehemmer (SSRI) und die dualen Antidepressiva sind die wichtigste Medikamentengruppe für die längerfristige Behandlung der Angststörungen (7 Abschn. 5.2). 5 Der Vorteil gegenüber Benzodiazepinen liegt im fehlenden Abhängigkeitspotenzial, der Nachteil in der längeren Wirklatenz und häufigeren Nebenwirkungen. Antipsychotika 5 Konventionelle Antipsychotika (7 Kap. 7) wurden früher häufiger in niedriger Dosierung aufgrund ihrer zusätzlich vorhandenen anxiolytischen Komponente als Anxiolytika verordnet, besonders häufig als Depotmedikation. Die hohe Nebenwirkungsrate unter Antipsychotika (7 Abschn. 7.6) sollte ein solches Vorgehen verbieten. Ausnahmen sind abhängigkeitsgefährdete Patienten mit Angststörungen und bestehende Kontraindikationen gegen Benzodiazepine. In solchen Situationen sollte aber zunächst ein Antidepressivum eingesetzt werden. Cave Hochpotente, nicht oder kaum sedierende Antipsychotika (z. B. Fluspirilen) als »Minor-Tranquilizer« sollten bei Angststörungen wegen der sehr hohen Gefahr von Nebenwirkungen nicht mehr gegeben werden. 5 Der Einsatz von atypischen Antipsychotika bei Angststörungen ist bisher nur wenig geprüft. 8.5 Dosierung, Plasmakonzentration und Behandlungsdauer 5 Benzodiazepine sollten in möglichst niedrigen, aber ausreichend wirksamen Dosen verabreicht werden (. Tab. 8.4). Bei Alprazolam beginnt man z. B. mit 1 mg. 5 Die Gesamtgabe sollte auf einen möglichst kurzen Zeitraum (4–6 Wochen) beschränkt werden. 5 Bei einer Indikation zur langfristigen Benzodiazepinverordnung sollte die Dosis so gering wie möglich gehalten werden. Ein Absetzversuch sollte nach 4–6 Monaten gestartet werden 8 (um dann die medikamentöse Therapie, z. B. mit einem SSRI, weiter zu führen). 5 Bei der Panikstörung werden höhere Dosen als bei der GAD benötigt, z. B. für Alprazolam bis zu 10 mg bei der Panikstörung, sonst 2–4 mg. 5 Bei Benzodiazepinen mit langen Halbwertszeiten (. Tab. 8.4) sind häufig einmalige Gaben pro Tag ausreichend. Bei Substanzen mit kürzeren Halbwertszeiten sind 2–4 Dosierungen pro Tag zu wählen. Wenn die sedierende Wirkung primär gewünscht wird, ist die Hauptdosierung zur Nacht zu geben. 5 Lorazepam intramuskulär wird sehr schnell absorbiert und eignet sich so besonders gut bei Ängstlicheit und Agitationen im Rahmen akuter Psychosen, der Katatonie oder dem depressiven Stupor. Auch sublingual wird Lorazepam schnell absorbiert. 8.6 Nebenwirkungen 5 Benzodiazepine haben eine relativ geringe Nebenwirkungsquote. Neben der Abhängigkeitsproblematik (7 Abschn. 8.6.1 bis 8.6.3) sind folgende unerwünschte Wirkungen zu beachten: – Tagesmüdigkeit bis hin zur Schläfrigkeit – Konzentrationsstörung – bei Langzeiteinnahme kann es zu Gleichgültigkeit und eingeschränkter Kritikfähigkeit kommen – anterograde Amnesie bei Gabe rasch anflutender Benzodiazepine 5 Eine depressiogene Wirkung von Benzodiazepinen ist nicht nachgewiesen. Prosuizidale Effekte von Benzodiazepinen wurden im Sinne einer Desinhibition diskutiert, sind aber bisher nicht bestätigt. 5 Auf spezielle Nebenwirkungen im höheren Lebensalter ist zu achten (7 Abschn. 8.10) Cave Die Fahrtüchtigkeit und Alltagssicherheit unter Benzodiazepinen ist eingeschränkt. 5 Buspiron hat sehr wenige Nebenwirkungen, insbesondere fehlen die Abhängigkeitsentwicklung und die sedative Komponente. Häufiger sind zu Beginn Schwindel und Schläfrigkeit. 90 Kapitel 8 · Anxiolytika 8.6.1 Abhängigkeitsrisiko unter 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Benzodiazepinen 5 Bei Anwendung von Benzodiazepinen kann es zu Abhängigkeitsentwicklungen kommen. Das Abhängigkeitsrisiko steigt, wenn höhere Dosen verabreicht und wenn Benzodiazepine über längere Zeiträume eingenommen werden. Diskutiert wird zudem, dass für kurz wirksame Substanzen wie Alprazolam oder Lorazepam ein erhöhtes Risiko der Abhängigkeitsentwicklung oder von Reboundphänomenen gegenüber lang wirksamen Substanzen wie Diazepam besteht. 5 Besonders hoch ist das Abhängigkeitsrisiko bei unkontrolliertem bzw. nichtmedizinischem Gebrauch (häufig im Rahmen einer bestehenden Alkoholabhängigkeit oder Polytoxikomanie). Bevorzugt werden dabei Hypnotika (7 Kap. 9) mit raschem Wirkeintritt (z. B. Flunitrazepam). 5 Nach etwa 4-monatiger Einnahme einer therapeutischen Benzodiazepindosis muss nach abruptem Absetzen mit Absetz- bzw. Entzugssymptomen (s. unten) gerechnet werden. Bei Einnahme kurz wirksamer Hypnotika können Reboundphänomene (7 Abschn. 8.6.2) auch schon nach einigen Tagen beobachtet werden. Wichtig Abhängigkeitsentwicklungen ist durch strenge Indikationsstellung, der Wahl der niedrigst notwendigen Dosis und einer Verordnung, wenn möglich nicht über 4–6 Wochen hinaus, vorzubeugen. Bei einer Verordnung über 6 Wochen hinaus sollten grundsätzlich Therapiealternativen durchdacht werden. 5 Bei der »low-dose dependence« (oder auch »therapeutic-dose dependence«), d. h. einer »Abhängigkeit« bei Langzeiteinnahme üblicher therapeutisch verordneter Dosen, sind nach Absetzen sofortige oder protrahiert auftretende Absetzeffekte (s. unten) möglich. 8.6.2 Absetzprobleme unter Benzodiazepinen 5 Nach abruptem Absetzen von Benzodiazepinen finden sich 3 Typen von Absetzsymptomen: – Reboundsymptome: Nach Absetzen von Benzodiazepinen kommt es als Effekt der GABAergen Gegenregulation häufig zu einem aku- – – ten und verstärkten Auftreten der ursprünglichen Krankheitssymptomatik (d. h. Unruhe, Angst, Schlaflosigkeit). Diese Symptomatik hält nur wenige Tage an. Rückfallsymptome: Die ursprünglichen Angstsymptome treten nach Absetzen der Benzodiazepine erneut auf. Eigentliche Entzugssymptome: Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie vor Verordnung der Medikation nicht vorhanden waren. Je nach Halbwertszeit des eingenommenen Benzodiazepinpräparates treten sie ca. 2–10 Tage nach Absetzen der Medikation auf, erreichen schnell ein Maximum und dauern gewöhnlich 5–15 Tage an. Auch Krampfanfälle sind noch nach einem Zeitraum von 2 Wochen nach Absetzen beobachtet worden. Leichte Entzugssymptome 5 5 5 5 5 5 5 5 Vermehrte Angst und innere Unruhe Schlaflosigkeit Erhöhte Irritabilität Übelkeit und Erbrechen Schwitzen Tremor Kopfschmerzen Muskelverspannungen Schwere Entzugssymptome 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 Verwirrtheitszustände Depersonalisation/Derealisation Psychoseartige Zustände, Delirien Ängstlich-depressive Syndrome Krampfanfälle Oszillopsien, Dysmorphopsien Photophobie Hyperakusis Hypersomnie Dysästhesien Kinästhetische Störungen Muskelzittern und -faszikulationen 91 8.10 · Anxiolytika im höheren Lebensalter 8.6.3 Vorbeugung von Benzodiazepinentzugssymptomen Wichtig Wichtig ist die stufenweise Dosisreduktion, kein abruptes Absetzen! Absetzen ist in der Regel über Wochen notwendig, manchmal über Monate. Die ersten 50% einer Benzodiazepindosis können relativ zügig, die nächsten 25% deutlich langsamer und die letzten 25% nur sehr langsam abgesetzt werden. Häufig empfiehlt sich auch eine Pause nach den ersten 50%. Die ersten Reduktionsschritte sollen mindestens eine Woche dauern. 8.7 Kontraindikationen und Intoxikationen 5 Der große Vorteil der Benzodiazepine liegt auch in der relativ geringen Zahl von Kontraindikationen und den fehlenden Intoxikationen bei oraler Verabreichung. 5 Hervorgehoben werden muss die Unverträglichkeit mit Alkohol, Schlafmitteln und Analgetika. 5 Die muskelrelaxierenden Wirkung der Benzodiazepine muss bei der Myasthenie und der Ataxie beachtet werden. 5 Vor Gabe von Benzodiazepinen müssen eine obstruktive Atemwegserkrankungen und ein Schlafapnoe-Syndrom ausgeschlossen werden. 5 Bei Abhängigkeitsgefährdeten soll mit Benzodiazepinen sehr vorsichtig umgegangen werden. Cave 5 Bei schneller i.v.-Verabreichung von Benzodiazepinen kann es zu vorübergehender Atemdepression, Blutdruckabfall und u. U. sogar zum Herzstillstand kommen. 5 Kontraindikationen für β-Rezeptorenblocker sind obstruktive Lungenerkrankungen, Herzinsuffizienz, AV-Überleitungsstörungen, Bradykardie, insulinpflichtiger Diabetes mellitus, Sinusknotensyndrom, Hypotonie und periphere arterielle Verschlusskrankheit. 8.8 8 Wechselwirkungen Wechselwirkungen haben bei Benzodiazepinen eine geringere klinische Bedeutung als bei den Antidepressiva oder vielen anderen Psychopharmaka. 5 Pharmakodynamisch sind bei Benzodiazepinen Wirkverstärkungen in Zusammenhang mit ebenfalls sedativ wirkenden Substanzen zu beachten, insbesondere bei Substanzen mit GABAergem Wirkmechanismus (z. B. Barbiturate oder Antikonvulsiva). 5 In pharmakokinetischer Hinsicht muss bedacht werden, dass Inhibitoren des Cytochrom-P450 (z. B. Fluoxetin, Fluvoxamin, Grapefruitsaft) die Wirkung der Benzodiazepine verstärken können. Alle wichtigen Interaktionen sind an anderer Stelle aufgelistet (Benkert u. Hippius 2007) und müssen bei Verordnung eines Antidepressivums berücksichtigt werden. 5 Buspiron, Hydroxyzin und Opipramol dürfen nicht mit einem MAO-Hemmer zusammen verordnet werden. 8.9 Routinehinweise Auf Routineuntersuchungen, wie sie z. B. bei den Antidepressiva notwendig sind, kann bei den Anxiolytika verzichtet werden. Dafür müssen die Patienten auf folgende Risiken hingewiesen werden: 5 Es besteht eine Potenzierungsgefahr bei gleichzeitiger Einnahme anderer sedierender Pharmaka und von Alkohol. 5 Es besteht ein Abhängigkeitsrisiko. 5 Beim abrupten Absetzen von Benzodiazepinen kann eine Entzugssymptomatik auftreten. 5 Eine eingeschränkte Fahrtüchtigkeit und Reaktionsfähigkeit muss beachtet werden (7 Kap. 36). 5 Über das Risiko in der Schwangerschaft und Stillzeit muss aufgeklärt werden (7 Kap. 35). 8.10 Anxiolytika im höheren Lebensalter Benzodiazepine können auch im höheren Lebensalter sicher verordnet werden. Es gibt Hinweise, dass das Abhängigkeitsrisiko eher geringer ist, sodass niedrige Benzodiazepindosen auch längerfristig dann verordnet werden können, wenn keine Alternativen vorhanden sind und die Dosis nicht gesteigert wird. 92 1 2 5 5 5 3 4 5 6 7 5 Kapitel 8 · Anxiolytika Einige Regeln sollten beachtet werden: Bei älteren Patienten sind meist niedrigere Dosen als bei jüngeren Patienten notwendig. Bei Gabe langwirksamer Benzodiazepine besteht die Gefahr der Kumulation (. Tab. 8.4, HWZ). Kumulation kann zu verstärkten Nebenwirkungen und damit zu möglichen klinischen Komplikationen führen: Hang-over-Phänomene, Verstärkung von Müdigkeit und Sedierung, Schwindel, Koordinationsstörungen, Ataxie und daraus resultierende Sturzgefahr. Dies gilt insbesondere für Patienten mit Leber- und Nierenerkrankungen. Unter höheren Benzodiazepindosen sind, besonders bei älteren Menschen, paradoxe Disinhibitionsphänomene möglich: Agitiertheit, Euphorisierung, Erregungszustände, Schlaflosigkeit und Aggressivität. 8.11 8.11.1 Benzodiazepine Benzodiazepine sind bei Angstzuständen und in der Notfallpsychiatrie schnell und sicher wirksam; sie sind in der Pharmakopsychiatrie unverzichtbar. Das Abhängigkeitsrisiko muss aber bei jeder Verordnung bedacht werden. Bei der Verordnung ist es wichtig die Halbwertszeit (HWZ) des Präparates zu kennen. Bei kurzer HWZ sind mehrmalige tägliche Dosen ggf. nötig. Die wichtigsten Benzodiazepine sind in . Tab. 8.4 aufgelistet. Fazit Therapieempfehlung für Benzodiazepine 5 Für die Notfallsituation ist Lorazepam unverzichtbar. 5 Bei Angstzuständen jeder Genese wirkt Lorazepam sicher und schnell angstlösend und sedierend. 5 Bei der GAD haben Alprazolam und Lorazepam ein akzeptables Wirkungs-Nebenwirkungs-Verhältnis. 8 9 10 1 11 12 Präparategruppen1 Eine Übersicht über die im Leitfaden genannten Wirkstoffe mit den jeweiligen Handelsnamen gibt . Tab. A1 im Anhang. . Tab. 8.4. Benzodiazepine (Auswahl) 13 Präparat Dosis Indikation mit Zulassung Wichtigste Nebenwirkungen Bemerkungen 14 Alprazolam Tafil® 2–4 mg tgl.; beginnen mit 1 mg Angstzuständea; Panikstörung 7 Abschn. 8.6 HWZ: 10–15 h 15 Clonazepam Rivotril® 2–5 mg tgl.; möglich bis 15 mg Angstzuständea; Erregungszustände 7 Abschn. 8.6 HWZ: ca.40 h; i.v. Gabe möglich 16 Diazepam Valium® 2–15 mg tgl.; möglich bis 60 mg stationär Angstzuständea; Erregungszustände1; neurologische Erkrankungen 7 Abschn. 8.6 HWZ: 20–40 h; i.v. Gabe möglich Lorazepam Tavor® 0,25–5 mg tgl.; möglich bis 10 mg Angstzuständea; stuporund mutismuslösend; Präparat für den Notfallkoffer, 7 Kap 34 7 Abschn. 8.6 HWZ: ca 14 h; auch als Tabs; i.v. Gabe möglich Oxazepam Adumbran® 10–60 mg tgl. Angstzuständea 7 Abschn. 8.6 HWZ: ca 9 h; Metabolit vieler Benzodiazepine 17 18 19 20 HWZ Halbwertszeit (aktive Metaboliten der Präparate haben eine noch längere HWZ); a Altzulassungen beziehen sich noch nicht auf die ICD-10-Klassifikation. 5 Unter den Benzodiazepinen hat nur Alprazolam eine Zulassung bei der Panikstörung. 5 Bei akuten Belastungen sollen Benzodiazepine nur kurzfristig bei Bedarf gegeben werden. 8.11.2 Andere Anxiolytika Es gibt zu den Benzodiazepinen einige Alternativen (. Tab. 8.5), die aber nicht so effektiv sind und eine deutlich längere Wirklatenz haben. Sie können nicht in der Notfallpsychiatrie eingesetzt werden. Die Nebenwirkungen sind in der Regel gering. Ihr Vorteil liegt in dem fehlenden Abhängigkeitsrisiko. 8 93 8.12 · Anxiolytika in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 8.12 Anxiolytika in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Die Anxiloytika, vor allem die Benzodiazepine, haben auch in der Akutbehandlung der Kinder- und Jugendpsychiatrie ein breites Indikationsspektrum, sind jedoch meist für diesen Altersbereich nicht zugelassen. Die Behandlungsdauer sollte nur wenige Tage bis einige Wochen dauern. Generell hat sich die Verschreibungsrate der Benzodiazepine im Kindes- und Jugendalter in den letzten 10 Jahren verdreifacht. Es gibt wie im Erwachsenalter keine neuen Zulassungsstudien für Benzodiazepine. Meistens handelt es sich um so genannte »Altzulassungen« mit zugelassen Indikationen für unspezifische Syndrome. Auswahl der Anxiolytika Fazit Therapieempfehlung für andere Anxiolytika 5 Bei abhängigkeitsgefährdeten ängstlichen Patienten kann Buspiron verordnet werden. Vorher sollte ein Versuch mit Antidepressiva stehen. 5 Bei der GAD ist Opipramol eine Alternative zu den Antidepressiva. 5 Eine neue Alternative bei der GAD ist Pregabalin. Das Präparat ist aber erst seit kurzem im Handel, so dass Empfehlungen noch nicht gegeben werden können. Das Indikationsspektrum für Benzodiazepine in der Kinder- und Jugendpsychiatrie umfasst 5 die verschiedenen Angststörungen, 5 mittelgradige und schwere depressive Syndrome mit oder ohne Suizidalität, 5 akute psychotische Störungen, 5 manische Episoden, 5 ausgeprägte Schlafstörungen, 5 Belastungsstörungen, Anpassungsstörungen, 5 schwere Erregungszustände. . Tab. 8.5. Andere Anxiolytika a Präparat Dosis Indikation mit Zulassung Wichtigste Nebenwirkungen Wirkstoffgruppe Buspiron Bespar® 10–30 mg tgl.; möglich bis 60 mg Angstzuständea Schwindel, Schläfrigkeit Azapiron Propranolol Dociton® 30–80 mg tgl. Somatische Ängste Müdigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen β-Blocker Pregabalin Lyrica® 200–450 mg tgl. GAD, neuropathische Schmerzen Benommenheit, Schläfrigkeit, Libidominderung, Gewichtszunahme Antiepileptikum Hydroxyzin Atarax® 30–75 mg tgl.; möglich bis 200 mg Angstzuständea; Schlafstörungen Müdigkeit, Schwindel; sonst wie TZA Antihistaminikum, Diphenylmethan Opipramol Insidon® 50–200 mg tgl. Somatoforme Störungen; GAD Müdigkeit, Schwindel, vegetative Symptome Trizyklisches Piperazinylderivat Altzulassungen beziehen sich noch nicht auf die ICD-10-Klassifikation; TZA trizyklische Antidepressiva. 94 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 Kapitel 8 · Anxiolytika Gerade bei ängstlich-depressiven Erkrankungen, die häufig mit Suizidalität einhergehen, ist teilweise der Einsatz von Benzodiazepinen bis zum Wirkungseintritt der Antidepressiva unverzichtbar. Zugelassen aus der Gruppe der Benzodiazepine ist z. B. Diazepam, das am häufigsten verschriebene Benzodiazepin, ab dem 6. Lebensmonat für akute und chronische Spannungs-, Erregungs- und Angstzustände. Allerdings wird in der klinischen Praxis aufgrund der deutlich kürzeren Halbwertzeit häufig Lorazepam eingesetzt, obwohl für die Anwendung im Kindesund Jugendalter keine Zulassung besteht. Buspiron hat auch in der Kinder-und Jugendpsychiatrie im Gegensatz zu den Benzodiazepinen einen differenzierten Einsatz (7 Abschn. 8.4.2): Es hat keine antikonvulsive Wirkung, eine geringeres Sedierungspotenzial und kann das Ausmaß von Panikattacken nicht mindern. Buspiron ist nicht für den Notfall geeignet, da der Wirkungseintritt langsamer ist. Als mögliche neue Indikationen werden nach Ergebnissen von offenen Studien akute und chronische Angststörungen, Zwangsstörungen, posttraumatische Belastungsstörung, Dysmorphophobie, Hyperaktivität, Aggressivität, Erregungszustände bei tief greifenden Entwicklungsstörungen und hyperkinetischen Störungen diskutiert (Bezchlibnyk-Butler u. Virani 2004; Green 2001). Eine Zulassung für Buspiron besteht für das Kindes- und Jugendalter nicht. Mehrere Studien konnten die Wirksamkeit der beiden β-Rezeptorenblocker Propanolol und Pindolol (7 Abschn. 8.2.3) bei Kindern und Jugendlichen mit Erregungszustände und aggressive Durchbrüche im Rahmen von z. B. autistischen Syndromen, hyperkinetischen Störungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und Angststörungen, die vorwiegend mit somatischen und autonomen Funktionsstörungen einhergingen, nachweisen (Bezchlibnyk-Butler u. Virani 2004; Green 2001). Dosierung der Benzodiazepine Zu beachten ist, dass Benzodiazepine bei Kindern und Jugendlichen schneller metabolisiert werden, weshalb Kinder und Jugendliche teilweise kleinere aber dafür häufigere Dosierungen benötigen. Für die empfohlenen Tagesdosen gibt es keine spezifischen Leitlinien für das Kindes- und Jugendalter, die Dosierungen entsprechen denen für das Erwachsenenalter (Bezchlibnyk-Butler u. Virani 2004; Green 2001). Antidepressiva 20 Genau wie bei Erwachsenen sind die SSRI und die dualen Antidepressiva (sowie teilweise noch die trizyklischen Antidepressiva) die wichtigsten Medika- mentengruppen für die längerfristige Behandlung von Angststörungen, da diese Substanzen im Vergleich zu den Benzodiazepinen kein Abhängigkeitspotenzial haben. Für diese Indikation im Kindes- und Jugendalter sind sie allerdings nicht zugelassen. Der Wirkungseintritt ist deutlich langsamer als bei den Benzodiazepinen und es treten stärkere Nebenwirkungen auf. Fluoxetin und Fluvoxamin zeigten gute Wirksamkeit bei Kindern und Jugendlichen mit GAD, Trennungsangst und sozialer Phobie. Sertralin war bei der GAD im Kindes- und Jugendalter Placebo überlegen. Antipsychotika Die konventionellen oder atypischen Antipsychotika gehören nicht zu den Medikamenten der ersten oder zweiten Wahl bei der Behandlung von Angststörungen. Allerdings werden in der klinischen Praxis häufig Antipsychotika zum Sedieren bei schweren Angst- und Belastungsstörungen eingesetzt. Hier kommen dann vor allem die niedrig-potenten und atypischen Antipsychotika in Betracht, wobei man Nutzen und Nebenwirkung gut abwägen muss. 8.13 Checkliste ? 1. Welche Therapieprinzipien sind bei einer Behandlung mit Benzodiazepinanxiolytika zu beachten? 2. Worin liegen die Vorteile von Benzodiazepinen? 3. Wann sind Benzodiazepine indiziert? 4. Welche Nachteile haben Benzodiazepine? 5. Wann können β-Rezeptorenblocker eingesetzt werden? 6. Welche Medikamente sind zur langfristigen Behandlung von Angststörungen indiziert? 7. Was ist bei der Behandlung älterer Menschen mit Benzodiazepinen zu beachten? 8. Worüber sind Patienten bei der Gabe von Benzodiazepinen unbedingt aufzuklären? 9. Welche Absetzsymptome treten beim akuten Absetzten von Benzodiazepinen auf? 10. Mit welcher Substanzklasse sollten schwere und chronische Angststörungen im Kindesund Jugendalter behandelt werden? 9 95 9.1 · Hypnotika 9.1 Einteilung – 96 9.2 Wirkmechanismus 9.2.1 9.2.2 9.2.3 Benzodiazepinhypnotika – 96 Non-Benzodiazepinhypnotika – 97 Andere Hypnotika und schlafinduzierende Psychopharmaka 9.3 Allgemeine Therapieprinzipien 9.4 Indikationen 9.5 Dosierung und Behandlungsdauer 9.6 Nebenwirkungen 9.6.1 9.6.2 Abhängigkeitsrisiko unter Hypnotika – 98 Andere Nebenwirkungen unter Hypnotika – 99 9.7 Kontraindikationen und Intoxikationen 9.8 Wechselwirkungen 9.9 Routinehinweise 9.10 Hypnotika im höheren Lebensalter 9.11 Präparategruppen 9.12 Hypnotika in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 9.13 Checkliste – 96 – 97 – 97 – 98 – 103 – 98 – 98 – 99 – 100 – 100 – 100 – 101 – 102 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 96 Kapitel 9 · Hypnotika 9.1 Einteilung Hypnotika (Syn.: Schlafmittel oder Antiinsomnika) sind schlaferzeugende Pharmaka. Früher waren Barbiturate die gebräuchlichsten Präparate; sie wirkten dosisabhängig sedativ, hypnotisch oder narkotisch. Moderne Präparate wie die Benzodiazepinhypnotika und die Non-Benzodiazepinhypnotika führen (bei oraler Verabreichung) auch in hoher Dosierung nicht zu einer vollständigen Narkose. Ein ideales Hypnotikum sollte keine Veränderung des physiologischen Schlafs hervorrufen, nicht zur Kumulation führen, keine Toleranz entwickeln, kein Abhängigkeitspotenzial zeigen und schließlich keine Lähmung des Atemzentrums bei Überdosierung herbeiführen. Schon 1869 wurde Chloralhydrat als erstes synthetisches Schlafmittel in Deutschland eingeführt. Es wird noch verschrieben, aber durch effektivere Präparate immer mehr verdrängt, die insbesondere eine größere therapeutische Breite besitzen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen Bromide als Hypnotika in Gebrauch, die um 1900 dann von den Barbituraten abgelöst wurden. Aber erst mit Einführung der Benzodiazepine 1957 stehen Schlafmittel zur Verfügung, die ein übersehbares Nebenwirkungsrisiko haben und bei Überdosierung nicht zu schweren Intoxikationen führen. Auf dem Wege nebenwirkungsärmere Benzodizepinhypnotika zu entwickeln, sind die Non-Benzodiazepinhypnotika als nebenwirkungsärmste Schlafmittel bisher der wichtigste Schritt. Definition Wie bei den Anxiolytika gibt es verschiedene Substanzen und Gruppen innerhalb der Hypnotika, die sich sowohl hinsichtlich der strukturchemischen Eigenschaften als auch des Wirkprinzips unterscheiden (Aufzählung nach der Bedeutung). 5 Non-Benzodiazepinhypnotika: – Zaleplon, Zolpidem, Zopiclon 5 Benzodiazepinhypnotika: – z. B. Flurazepam, Lorprazolam, Lormetazepam, Temazepam und Triazolam 5 Antihistaminika: – z. B. Diphenhydramin, Doxylamin, Promethazin 5 Chloralhydrat 5 Tryptophan, Melatonin und pflanzliche Präparate Die Non-Benzodiazepinhypnotika und die Benzodiazepinhypnotika werden wegen ihrer guten Verträglichkeit und Arzneimittelsicherheit als Schlafmittel am häufigsten verschrieben. Die Antihistaminika sind zwar rezeptfrei zu kaufen, haben aber dennoch deutliche Nebenwirkungen (7 Abschn. 9.6). Chloralhydrat ist zwar ein gut wirksames Hypnotikum, macht aber abhängig. Für die letzte Gruppe mit Tryptophan, Melatonin und den pflanzlichen Präparaten ist ein wissenschaftlicher Wirkungsnachweis bisher nicht erbracht worden. Sie sind wahrscheinlich unwirksam. Sie werden deshalb im Kapitel nicht weiter besprochen. Wichtig Sedierende Antidepressiva und Antipsychotika haben ebenfalls einen schlafanstoßenden Effekt; die Indikationen sind ausführlich in 7 Abschn. 24.1.2 dargestellt. Unter den Anxiolytika wird der sedative Effekt der Benzodiazepine (7 Kap. 8) gerne zur Schlafinduktion bei leicht höherer Dosierung genutzt; die Abhängigkeitsrisiken sind dabei, wie bei den Hypnotika zu beachten. 9.2 Wirkmechanismus 9.2.1 Benzodiazepinhypnotika 5 Eine strenge Unterteilung der Benzodiazepinderivate in Anxiolytika und Hypnotika ist nicht möglich; beide entfalten ihre Wirkung, wie die Benzodiazepine, am GABAA-Rezeptor (7 Abschn. 8.2.1). Sie zeigen ein einheitliches pharmakologisches Profil und wirken dosisabhängig anxiolytisch, sedativ-hypnotisch, muskelrelaxierend und antikonvulsiv. 5 Durch die pharmakokinetischen Unterschiede ist eine differenzierte klinische Anwendung gerechtfertigt. Für den sedativ-hypnotischen Effekt sind jedoch geringgradig höhere Dosen nötig als für die anxiolytische Wirkung. Allerdings muss bei regelmäßiger Anwendung langwirksamer Substanzen mit aktiven Metaboliten, z. B. bei Diazepam, mit Kumulations- und Hang-over-Effekten gerechnet werden, die bei einem Hypnotikum nicht toleriert werden können. Daher ist auch Diazepam (7 Kap.. 8) als Hypnotikum nur bei gelegentlicher Einnahme geeignet. Auch soll daran gedacht werden, dass nicht selten schon durch die anxiolytische Komponente der Benzo- 97 9.3 · Allgemeine Therapieprinzipien diazepine eine schlaffördernde Wirkung erreicht wird. 5 Benzodiazepine verändern dosisabhängig die Schlaf-EEG-Parameter. Die Einschlafzeit wird verkürzt, die Häufigkeit und Dauer nächtlicher Wachphasen nehmen ab und die Gesamtschlafzeit ist verlängert. Benzodiazepine führen zu einer leichten Reduktion des REM-Schlafs (REMSchlaf 7 Abschn. 24.1) und nach Absetzen zu REM-Reboundphänomenen. Schließlich ist das Non-REM-Stadium 2 verlängert, während die Tiefschlafphasen (Stadien 3 und 4) verkürzt sind. 9 Chloralhydrat 5 Chloralhydrat ist ein Aldehydderivat und wirkt am GABAA-Rezeptorkomplex, möglicherweise auch am NMDA-Rezeptor. Bis zu 1000 mg werden die Schlafphasen kaum verändert, erst bei höherer Dosierung kommt es zur deutlichen Beeinflussung des Schlafmusters. Antidepressiva und Antipsychotika 5 Die schlafinduzierenden Komponenten besonders der trizyclischen Substanzen mit ihren antihistaminischen und 5-HT2-antagonistischen Wirkungen werden genutzt. 9.2.2 Non-Benzodiazepinhypnotika 9.3 5 Die drei im Handel befindlichen Non-Benzodiazepinhynotika Zaleplon (Pyrazolopyrimidin), Zolpidem (Imidazopyridin) und Zopiclon (Zyklopyrrolon) wirken aktiv am Benzodiazepinrezeptor, sind chemisch aber keine Benzodiazepine. Hang-over-Effekte und Reboundphänomene treten seltener auf. Toleranz- und Abhängigkeitsentwicklungen wurden sehr selten in Einzelfällen beobachtet; die Gefahr ist jedoch grundsätzlich gegeben. Tierexperimentelle Daten weisen auf eine fehlende Sensitivitätsänderung am GABAARezeptor selbst nach längerer hoch dosierter Gabe hin. Möglicherweise besteht hierin eine Erklärung für die bisher beobachteten differenten Effekte gegenüber den Benzodiazepinhypnotika. 5 Im Schlaf-EEG ist die Einschlaflatenz verkürzt und die Gesamtschlafzeit verlängert. Der REMSchlaf wird nur unwesentlich beeinflusst. Es wird sowohl ein vermehrter als auch ein verminderter Tiefschlaf im EEG gesehen. Zaleplon verändert das Schlaf-EEG am geringsten. 9.2.3 Andere Hypnotika und schlafinduzierende Psychopharmaka Antihistaminika 5 Antihistaminika haben einen zentral dämpfenden Effekt, der bei der Anwendung als Hypnotikum genutzt wird. Diphenhydramin z. B. hat auch einen starken anticholinergen Anteil, der eine Vielzahl von Nebenwirkungen hervorrufen kann. REM- und Tiefschlaf wird im EEG verändert. Die Wirkung ist nicht konstant hypnotisch. Allgemeine Therapieprinzipien 5 Hypnotika sind, trotz eines vermehrten gezielten Einsatzes von Antidepressiva bei Schlafstörungen im Rahmen von Depressionen und Angsterkrankungen, in der Allgemeinmedizin und psychiatrischen Pharmakotherapie unverzichtbar. 5 Hypnotika sollen prinzipiell erst nach Ausschöpfen anderer Therapiemöglichkeiten gegeben werden. Die Grunderkrankungen sollen zunächst behandelt werden. 5 Da alle Hypnotika Nebenwirkungen (7 Abschn. 9.6) haben, muss ihr Stellenwert in einem Gesamtbehandlungsplan sehr sorgfältig eingestuft werden. Dies gilt besonders für eine Langzeittherapie. 5 Andererseits sollten Schlafmittel in der Notfallmedizin bei akuten Psychosen oder anderen schweren psychischen Erkrankungen und bei suizidalen Patienten vorübergehend auch in höheren Dosen zügig eingesetzt werden. 5 Die ausführlichen Therapieprinzipien bei einem Einsatz von Hypnotika finden sich in 7 Kap. 24. Wichtig Benzodiazepinhypnotika und besonders die NonBenzodiazepinhypnotika sind gut verträgliche und nichttoxische Schlafmittel. Sie besitzen kein Suizidpotenzial. 98 Kapitel 9 · Hypnotika Wichtig 1 Sind im Rahmen einer psychiatrischen Therapie sedierende Antidepressiva oder Antipsychotika indiziert, sollte bei Schlafstörungen zunächst dieser Effekt genutzt werden (7 Abschn. 24.2.1). Erst nach Ausreizung dieser Strategie können auch Hypnotika gegeben werden. In der Regel kann aber die gezielte Gabe am späten Abend den Schlaf positiv beeinflussen. 2 3 4 9.5 5 Dosierungen . Tab. 9.2 bis 9.4. Wichtig 5 Schlafmittel sollten möglichst nicht für längere Zeiträume, d. h. für nicht mehr als 4 Wochen, verordnet werden. 5 Bei intermittierenden Schlafstörungen ist die Einnahme von Hypnotika in 4–6 Nächten/ Monat vertretbar. 5 Es sollte mit einer niedrigen Dosis begonnen werden (Ausnahme: Notfallsituation). 5 Die Therapie soll langsam beendet werden. 5 Diese Richtlinien gelten unabhängig von der Wahl des Hypnotikums. 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 9.4 Indikationen 5 Die Schlafstörung (7 Kap. 24) ist die einzige Indikation für Hypnotika. Sie besteht aus einem Symptomkomplex aus Einschlafverzögerung, Durchschlafstörungen, Früherwachen mit verminderter Erholsamkeit sowie Störungen der Lebensqualität und Leistungsfähigkeit am Tag. 5 Wenn keine Antidepressiva oder Antipsychotika als Alternative zu den Hypnotika indiziert sind, sollten in der Praxis zunächst – Non-Benzodiazepinhypnotika und, an zweiter Stelle, – Benzodiazepinhypnotika verordnet werden. 5 Chloralhydrat und Antihistaminika haben eine Indikation nach den Non-Benzodiazepinhypnotika und Benzodiazepinhypnotika. Chlomethiazol (7 Kap. 11) darf nur in Ausnahmen in der Klinik geben werden. 5 Bei Abhängigkeitserkrankungen sollte auf den Einsatz von Hypnotika verzichtet werden (Ausnahme: Notfallsituation). Alternativen sind schlafinduzierende Antidepressiva und Antipsychotika (7 Abschn. 24.1.2). Dosierung und Behandlungsdauer 9.6 Nebenwirkungen 9.6.1 Abhängigkeitsrisiko unter Hypnotika 5 Die Kriterien für das Abhängigkeitsrisiko, Absetzsrisiko und der Vorbeugung von Entzugssymptomen bei den Hypnotika sind mit denen der Benzodiazepinanxiolytika (7 Abschn. 8.6.1– 8.6.3) identisch. 5 Auch unter Benzodiazepinhypnotika kann man, wie bei den Benzodiazepinanxiolytika von einer »low-dose dependence« (oder auch »therapeuticdose-dependence«), d. h. einer Abhängigkeit bei Langzeiteinnahme üblicher, therapeutisch verordneter Dosen, sprechen. Sie kann, vor allem im höheren Alter, wenn die Dosis nicht gesteigert wird, toleriert werden. 5 Beim Absetzen von Hypnotika muss mit protrahiert zunehmenden Entzugserscheinungen über Wochen gerechnet werden. 5 Bei Benzodiazepinen mit längerer HWZ (. Tab. 9.3, Flurazepam) ist die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Reboundsymptomen (7 Abschn. 8.6.2) bei Langzeitmedikation und Absetzen der Medikation gering, dagegen bei Präparaten mit kurzer oder mittellanger HWZ (. Tab. 9.3, z. B. Temazepam) höher. 99 9.7 · Kontraindikationen und Intoxikationen Cave 5 Alle sicher wirksamen Hypnotika besitzen ein Abhängigkeits- und Toleranzrisiko. Bei Non-Benzodiazepinhypnotika ist es am geringsten. 5 Das Abhängigkeitsrisiko steigt mit zunehmender Dosis und Dauer der Einnahme. 5 Nur eine langsame Dosisreduktion schützt, wenn die Hypnotika längerfristig eingenommen wurden, vor Entzugssymptomen. 9 5 Seltener sind paradoxe Reaktionen mit gesteigerter Aktivität, Reizbarkeit und Wutreaktionen. Diese Nebenwirkungen sind bei älteren Patienten häufiger zu beobachten. 5 Eine depressiogene Wirkung von Benzodiazepinen ist nicht nachgewiesen worden. Cave Nach mehrmonatigem Gebrauch können auch Ataxie, Dysarthrie und allgemeine muskuläre Schwäche auftreten; bei chronischem Gebrauch auch ausgeprägte Antriebsstörungen, Initiativund Interesseverlust und mangelnde emotionale Spontaneität. 5 Antihistaminika zeigen keine Abhängigkeit im engeren Sinne, haben aber auch keine verlässliche schlafinduzierende Wirkung. Non-Benzodiazepinhypnotika 9.6.2 Andere Nebenwirkungen unter Hypnotika Benzodiazepinhypnotika 5 Bei Verordnung von Benzodiazepinhypnotika mit langen und mittellangen Halbwertszeiten (z. B. Flurazepam) und mit aktiven Metaboliten kann es am Tag nach der abendlichen Einnahme zu Hang-over-Effekten mit unerwünschter Tagessedierung, Müdigkeit, Konzentrationsschwäche und Einschränkungen der kognitiven Leistungsfähigkeit und Aufmerksamkeit kommen. Die Verkehrstauglichkeit kann auf Grund herabgesetzter Reaktionsfähigkeit vermindert sein. Die gleichen Effekte können bei Präparaten mit kurzer Halbwertszeit auftreten, wenn sie in hohen Dosen eingenommen werden. 5 Tagessmüdigkeit tritt in der Regel bei Präparaten mit kurzer bis mittellanger HWZ nicht auf, wenn sie niedrig dosiert werden. Die häufigsten Nebenwirkungen von Zaleplon, Zolpidem und Zopiclon sind Müdigkeit und Dösigkeit. Sonst können alle den Benzodiazepinen eigenen Nebenwirkungen – aber seltener und weniger stark ausgeprägt – auftreten. . Tab. 9.1 gibt eine Übersicht über die wichtigsten Vor- und Nachteile der Non-Benzodiazepinhypnotika und Benzodiazepinhypnotika. Antihistaminika und Chloralhydrat Antihistaminika haben neben der dämpfenden Wirkung typische anticholinerge Nebenwirkungen, die gerade bei älteren Patienten erhebliche Folgen haben können (z. B. Delir). Sie sind toxisch, zeigen Wirkungsverlust, aber keine Abhängigkeit im engeren Sinne. Chloralhydrat ist ein Aldehyd; es darf bei körperlichen Grundkrankheiten nicht gegeben werden. Es führt zu Übelkeit und Verwirrtheitszuständen; es besitzt in Einzelfällen ein Abhängigkeitspotenzial. Die therapeutische Breite ist gering, deshalb darf es bei Suizidalität nicht gegeben werden. Cave Besonders bei älteren Menschen und bei Patienten mit Leber- und Nierenschäden kann es unter Benzodiazepinhypnotika mit langen und mittellangen Halbwertszeiten relativ häufig zu Kumulationsphänomenen und dadurch bedingt zu vermehrten Nebenwirkungen mit Muskelrelaxation und ataktischen Störungen kommen. Die Folge kann eine erhöhte Unfallgefahr mit Frakturen sein. Deshalb muss gerade bei dieser Patientengruppe die niedrigst mögliche Dosis verschrieben werden. 9.7 Kontraindikationen und Intoxikationen 5 Die Kontraindikationen der Benzodiazepinhypnotika sind, wie die der Benzodiazepine (7 Abschn. 8.7) gering. Auch sind keine Intoxikationen zu erwarten. 5 Die Unverträglichkeit mit Alkohol, Schlafmitteln und Analgetika muss beachtet werden. 5 Myasthenie, Ataxie, obstruktive Atemwegserkrankungen und Schlafapnoe-Syndrom sind Ausschlusskrankheiten. 100 Kapitel 9 · Hypnotika . Tab. 9.1. Vor- und Nachteile der Non-Benzodiazepinhypnotika und Benzodiazepinhypnotika 1 Vorteile Nachteile 2 Große therapeutische Breite (als Suizidmittel untauglich) Abhängigkeitsrisikoa 3 Geringe Toleranzentwicklung Entzugsrisikoa Wenig Wechselwirkungen Rebound-Insomniea,b Relativ geringer Wirkungsverlust 5 Tagesmüdigkeita (nur bei Benzodiazepinhypnotika mit langer HWZ) 5 Beeinflussung der Schlafarchitektura 5 Muskelhypotonie und Ataxie, die bei älteren Menschen zu Stürzen führen können 5 Hang-over-Effekte bei Benzodiazepinhypnotika mit langer HWZ 4 5 6 a Bei Non-Benzodiazepinhypnotika gering. b Vermehrte Schlaflosigkeit oder Albträume nach plötzlichem Absetzen einer länger dauernden Therapie. 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 5 Abhängigkeitsgefährdete sollen Benzodiazepinhypnotika und Non-Benzodiazepine nur in Notfallsituationen erhalten. 5 Für Chloralhydrat gelten ähnliche Bedingungen. Das Hypnotikum hat bei vielen körperlichen Krankheiten hohe Risiken. 5 Der antihistaminerge und anticholinerge Anteil an den Antihistaminika schließt die Verordnung besonders bei älteren Patienten aus (Delirgefahr). 9.8 Wechselwirkungen 5 Wechselwirkungen für Benzodiazepinhypnotika 7 Abschn. 8.8. 5 Die Wechselwirkungen für Chloralhydrat und Antihistaminika sind zahlreich. 9.9 Routinehinweise 5 Routineuntersuchungen sind nicht angezeigt. 5 Die Patienten sollen auf folgende Risiken hingewiesen werden: – Es besteht eine Potenzierungsgefahr bei gleichzeitiger Einnahme anderer sedierender Pharmaka und von Alkohol. – Es besteht ein Abhängigkeitsrisiko. – Beim abrupten Absetzen von Hypnotika kann eine Entzugssymptomatik auftreten. – Eine eingeschränkte Fahrtüchtigkeit und Reaktionsfähigkeit und Tagesmüdigkeit muss bei einigen Präparaten beachtet werden. – Risiken in der Schwangerschaft und Stillzeit 7 Kap. 35. 9.10 Hypnotika im höheren Lebensalter 5 Mit zunehmendem Alter nimmt die Schlafdauer und -tiefe ab, und es kommt zu längeren Aufwachphasen. Deshalb ergibt sich eine verstärkte Indikation für Hypnotika im höheren Lebensalter. 5 Die Verschiebungen der zirkadianen Rhythmik führen im Alter zu einer Müdigkeit am frühen Abend mit entsprechend früherem Einschlafen und einem frühmorgendlichem Erwachen. 5 Grundsätzlich sind bei den Benzodiazepinhypnotika und Non-Benzodiazepinen die gleichen Vorsichtsmaßnahmen und Einschränkungen wie bei den Benzodiazepinanxiolytika gültig (7 Abschn. 8.10). 5 Im Alter sollten geringere Dosen gegeben werden, da durch Akkumulationen eine unerwünschte Tagessedierung mit weiterer Verschlechterung des Schlafprofils eintreten kann. 5 Auf die besonderen Risiken im Alter wird schon oben unter 7 Abschn. 9.6.2 hingewiesen. 5 Im Alter kann eine Dauermedikation trotz grundsätzlichem Abhängigkeitsrisko gerechtfertigt sein. 5 Vor allem bei dementen und verwirrten Patienten sowie Patienten mit organischen Grunderkrankungen ist an die Möglichkeit paradoxer Erregungszustände mit Agitiertheit, Schlaflosigkeit und Aggressivität zu denken. 101 9.11 · Präparategruppen 9.11 Präparategruppen1 Für die Behandlung von Schlafstörungen stehen NonBenzodiazepinhypnotika und Benzodiazepinhypnotika an erster Stelle. Dosis und Halbwertszeit (HWZ) (. Tab. 9.2 und 9.3) bestimmen den Grad der Nebenwirkungen. Benzodiazepinhypnotika mit relativ kurzer HWZ von 6– 12 h mit fehlenden oder pharmakologisch nicht relevanten Metaboliten garantieren eine hinreichend lange hypnotische Wirkung (z. B. Loprazolam, Temazepam . Tab. 9.2). Sie kumulieren auch bei wiederholter Anwendung nicht wesentlich (7 Abschn. 9.6.1)). 1 Eine Übersicht über die im Leitfaden genannten Wirkstoffe mit den jeweiligen Handelsnamen gibt . Tab. A1 im Anhang. 9 Eine Übersicht über Dosis, Nebenwirkungen und Halbwertszeiten von Antihistaminika und Chloralhydrat gibt . Tab. 9.4. Fazit Therapieempfehlung für Hypnotika 5 Für die Kurzzeitanwendung (3–7 Tage), besonders bei Einschlafstörungen, eignen sich Non-Benzodiazepinhypnotika, z. B. Zolpidem, als Mittel der Wahl. 5 Bei zu frühem Erwachen unter Non-Benzodiazepinhypnotika sollte ein länger wirksames Benzodiazepinhypnotikum, z. B Temazepam, gewählt werden. 5 Langwirksame Benzodiazepinhypnotika, z. B. Flurazepam, können kumulieren und sollten vermieden werden. 5 Bei bestehender Abhängigkeit kann als erste Wahl ein Antidepressivum (z. B. Mirtazapin, ab 7,5 mg oder . Tab. 9.2. Non-Benzodiazepinhypnotika (Auswahl) Präparat Dosis Wichtigste Nebenwirkungen Bemerkungen Zaleplon Sonata® 5–10 mg abends; bis 20 mg möglich 7 Abschn. 9.6 HWZ: 1 h Zolpidem Stilnox® 10–20 mg abends; meistens reichen 10 mg; beim Aufwachen in der Nacht nur 10 mg 7 Abschn. 9.6 HWZ: 1–3,5 h Zopiclon Ximovan® 7,5–15 mg abends; bei Leberschäden und älteren Patienten nur 3,75 mg 7 Abschn. 9.6 HWZ: 5 h HWZ Halbwertszeit. . Tab. 9.3. Benzodiazepinhypnotika (Auswahl) Präparat Dosis Wichtigste Nebenwirkungen Bemerkungen Flurazepam Dalmadorm® 15–30 mg abends 7 Abschn. 9.6; hohes Risiko für Kumulation HWZ: 1–3 ha; Metabolite bis 96 h Lorprazolam Sonin® 1–2 mg abends; mit 0,5 mg beginnen 7 Abschn. 9.6 HWZ: 6–8 ha Lormetazepam Noctamid®; Ergocalm Tabs® 0,5–1 mg abends 7 Abschn. 9.6 HWZ: 8–15 hb, auch als Tabs Temazepam Remestan® 10–40 mg abends 7 Abschn. 9.6 HWZ: 5–14 hb Triazolam Halcion® 0,125–0,25 mg abends 7 Abschn. 9.6; höhere Nebenwirkungsrate, Reboundphänomene und anterograde Amnesie HWZ: 5–4 hb, nicht als Durchschlafmittel geeignet HWZ Halbwertszeit; a mit aktiven Metaboliten; b mit kaum relevanten Metaboliten. 102 Kapitel 9 · Hypnotika . Tab. 9.4. Antihistaminika (Auswahl) und Chloralhydrat 1 2 3 Präparat Dosis Wichtigste Nebenwirkungen Bemerkungen Diphenhydramin Dolestan® 50–100 mg abends; beginnen mit 50 mg 7 Abschn. 9.6, anticholinerge Komponenten, gastrointestinale Beschwerden Geringer wirksam als Benzodiazepinhypnotika Chloralhydrat Chloraldurat 500® 250–1000 mg abends; maximal 2 g tgl. 7 Abschn. 9.6, Übelkeit, Verwirrtheitszustände Erhebliche Wechselwirkungen 4 5 6 5 7 8 5 9 10 5 11 12 13 14 15 5 16 5 17 18 19 20 5 Trimipramin, 25–50 mg) und erst als zweite Wahl ein sedierendes Antipsychotikum (z. B. Melperon, 20–100 mg) gewählt werden. Bei Schlafstörungen mit Suizidalität oder im Rahmen von akuten Psychosen oder anderen schweren psychischen Erkrankungen sind Hypnotika vorübergehend auch in höheren Dosen indiziert. Bei Schlafstörungen im Rahmen einer psychiatrischen Erkrankung, bei der Antidepressiva oder Antipsychotika indiziert sind, sollten diese immer vor Schlafmitteln versucht werden. Zumeist lösen auch die Antidepressiva oder Antipsychotika, wenn sie gezielt abends eingesetzt werden, die Schlafprobleme. Bei lang andauernden schweren Schlafstörungen, ggf. auch bei alkoholkranken Patienten, die langjährig schlafmittelabhängig sind, ist – der Taperprozess mit dem primären Hypnotikum äußerst langsam durchzuführen (s. auch Benzodiazepinanxiolytika 7 Kap. 8), – begleitend ein Antidepressivum oder Antipsychotikum einzusetzen, – in einem Schlaflabor die Diagnose zu überprüfen, – eine psychologische Therapie dringend indiziert und der Patient einem Programm zum Erlernen von Verhaltensregeln (7 Kap. 24) zuzuführen. Unter einer Therapie mit Hypnotika muss ein sorgfältiges Monitoring von Hang-over-Effekten, Reboundsymptomen, Toleranzentwicklungen und einer möglichen Abhängigkeit erfolgen. Hypnotika müssen, wenn sie nicht nur kurzzeitig angewandt wurden, sehr langsam abgesetzt werden. Es gibt eine Reihe von anderen Hypnotika, die aber wie Chloralhydrat ein deutliches Abhängigkeitsrisiko besitzen, oder wie Diphenhydramin bei schwächerer Wirkung als bei Non-Benzodiazepinhypnotika mehr Nebenwirkungen haben. Für Tryptophan und Baldrianpräparate besteht großer Zweifel an einer Wirksamkeit. Für Melatonin ist in einer großen Zahl von Studien jetzt die Unwirksamkeit gezeigt. Diese Substanzen können nicht empfohlen werden. 9.12 Hypnotika in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Die Gabe von Hypnotika sollte genauso wie bei Erwachsenen erst nach Ausschöpfen anderer Therapiemöglichkeiten erfolgen bzw. die Indikationen sollten sehr eng gefasst werden. 25% der Kinder bis zum 18. Lebensmonat haben schon einmal Hypnotika, allerdings vorwiegend für pädiatrische Indikationen, erhalten. Auswahl des Hypnotikums Die oben erwähnten Non-Benzodiazepinhypnotika und Benzodiazepinhypnotika (. Tab. 9.2 und 9.3) sind in Deutschland für Kinder- und Jugendliche nicht zugelassen, außer zur Prämedikation vor chirurgischen Eingriffen und bei zerebralen Anfallsleiden. Eine Ausnahme stellt Temazepam dar, welches ab dem 14. Lebensjahr zur Behandlung von Ein- und Durchschlafstörungen zugelassen ist. Das Antihistaminikum Diphenhydramin ist, je nach Dosierung, ab dem 12. bzw. 14. Lebensjahr und Chloralhydrat ab dem 6. Lebensjahr zugelassen. Mit Flurazepam konnte über 14 Tage bei 40 Kindern und Jugendlichen bei mit Schlaf assoziierten Erkrankungen wie Schlafwandeln, Sprechen im Schlaf, Zähneknirschen und exzessiven Bewegungen während des Schlafs eine signifikante Verbesserung erzielt werden. 9.13 · Checkliste Wichtig 5 Auch bei Kindern und Jugendlichen sind im Rahmen einer psychiatrischen Therapie primär sedierende Antidepressiva oder Antipsychotika indiziert. Erst nach Ausreizung dieser Effekte können auch Hypnotika gegeben werden. 5 Andererseits sind Schlafmittel bei akuten Psychosen oder anderen schweren psychischen Erkrankungen und bei suizidalen Patienten vorübergehend indiziert. 5 Vor allem für die Benzodiazepinhypnotika gilt, dass sie aufgrund eines hohen Abhängigkeitspotenzials nicht über einen längeren Zeitraum gegeben werden sollten. 9.13 Checkliste ? 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Welche Gruppen von Hypnotika kennen Sie? Welche Vorteile haben die modernen Hypnotika gegenüber den früher häufig verwendeten Barbituraten? Worüber sind Patienten bei der Vorordnung von Hypnotika aufzuklären? Welche Risiken haben Benzodiazepinhypnotika? Welche medikamentösen Alternativen zu Hypnotika bestehen, wenn Schlafstörungen im Rahmen einer Depression auftreten? In welcher Dosierung sollten Hypnotika verabreicht werden und für welche Dauer? Was ist beim Absetzen von Hypnotika zu beachten? Welche besonderen Risiken bestehen bei der Gabe von Hypnotika bei älteren Menschen? 103 9 105 10.1 · Antidementiva 10.1 Einteilung – 106 10.2 Wirkmechanismus 10.3 Allgemeine Therapieprinzipien 10.4 Indikationen 10.5 Dosierung und Behandlungsdauer 10.6 Präparategruppen 10.7 Checkliste – 106 – 106 – 107 – 108 – 108 – 107 10 106 Kapitel 10 · Antidementiva 10.1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Einteilung Antidementiva sind zentral wirkende Substanzen, die die Hirnleistung, insbesondere Gedächtnis, Konzentrations- und Auffassungsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Urteilsvermögen und Orientierung verbessern und die Beeinträchtigung sozialer Alltagsaktivitäten mildern können. Bei der Beurteilung der Wirksamkeit von Antidementiva ist zu berücksichtigen, dass neben einer Besserung der Symptomatik auch eine Verlangsamung der Symptomprogression wichtig ist. Für den Wirksamkeitsnachweis sollte eine signifikante Besserung der Symptomatik auf der kognitiven Ebene, der funktionalen Ebene (Aktivitäten des täglichen Lebens) und der globalen Ebene (klinischer Gesamteindruck) gefordert werden. Beurteilt werden ferner demenzassoziierte Verhaltensstörungen, die Belastung pflegender Angehöriger sowie pharmakoökonomische Aspekte. Es werden hier nur die Substanzen ausführlich besprochen, für die eine Wirksamkeit entsprechend den oben genannten Kriterien sicher nachgewiesen worden ist, nämlich Definition 5 Acetylcholinesterasehemmer (Syn.: AChE-Inhibitoren, AChE-I) Donepezil, Galantamin, Rivastigmin und der 5 NMDA- (Glutamat-)Antagonist Memantin. Substanzen, die zwar früher zugelassen worden sind, aber nur einen, wenn überhaupt, sehr geringen Effekt haben wie z. B. Co-dergocrin, Pyritinol, Piracetam, Ginkgo biloba, Nicergolin, sollten nicht mehr verordnet werden. 10.2 Wirkmechanismus Acetylcholinesterasehemmer Man geht davon aus, dass bei der Demenz bei der Alzheimer-Krankheit (Syn.: Alzheimer-Demenz/AD) ein Acetylcholin-(ACh-)Mangel, allerdings sekundär, vorliegt, der durch AChE-I kompensiert werden kann. Der Untergang cholinerger Neurone ist einer der konsistentesten neurobiologischen Befunde bei der AD. Durch die Verlangsamung des Abbaus von ACh durch AChE-I wird die cholinerge Neurotransmission gefördert und cholinerg vermittelte kognitive Defizite werden günstig beeinflusst. Aufgrund dieser cholinergen Hypothese der AD wurden viele AChE-I als Antidementiva für den klinischen Einsatz entwickelt. Sie blockieren den AChAbbau im synaptischen Spalt und führen damit zu einer längeren Aktivität des Neurotransmitters. Da bisher eine kausale Therapie der AD fehlt muss dieser Wirkansatz zunächst positiv bewertet werden. Die drei AChE-I unterscheiden sich geringfügig in ihrem Wirkansatz. NMDA-Antagonist Es wird angenommen, dass eine Fehlfunktion der glutamatergen Neurotransmission sowohl zur Symptomatik als auch zum Fortschreiten demenzieller Erkrankungen beiträgt. In mehreren präklinischen Modellen konnte durch Blockade von NMDA-Rezeptoren ein neuroprotektiver Effekt gezeigt werden. Eine pathologische Stimulation glutamaterger Rezeptoren resultiert in einer übermäßigen Depolarisation, Kalziuminflux in Neurone und Zelluntergang (sog. exzitotoxische Glutamathypothese). Über einen selektiven Antagonismus am NMDA-Rezeptor soll durch Memantin, einem NMDA(Glutamat)-Antagonisen, einer glutamatgetriggerten Kalziumüberladung von Neuronen bei pathologisch erhöhten Glutamatkonzentrationen entgegengewirkt werden. 10.3 Allgemeine Therapieprinzipien 5 Mehrere Behandlungsprinzipien müssen in einen Gesamtbehandlungsplan integriert werden: Pharmakotherapie, nichtmedikamentöse sowie pflegerische Maßnahmen (7 Abschn. 31.3). Wichtig ist die Behandlung auch von chronischen und interkurrenten Begleiterkrankungen, die den Verlauf entscheidend mit beeinflussen können. 5 Als Ziele der antidementiven Behandlung werden eine Verbesserung der Symptomatik (Effekt bei den aktuell verfügbaren Antidementiva jedoch oftmals gering) sowie eine Verlangsamung der Symptomprogression angestrebt. Aufgrund des Fortschreitens der Grunderkrankung kommt es bei den degenerativen Demenzen zu einer langsamen Symptomprogression im Verlauf; die Verzögerung einer Verschlechterung ist ein wesentliches Therapieziel. Bei der vaskulären Demenz (VD) kann der Verlauf variabler sein (7 Kap. 31). 5 Eine klinische Verlaufskontrolle sollte regelmäßig in halbjährlichen Abständen mittels Fragebögen (z. B. ADAS-cog-Skala, kognitive Sub- 107 10.5 · Dosierung und Behandlungsdauer skala der Alzheimer’s Disease Assessment-Skala oder CERAD-Batterie, Consortium to Establish a Registry for Alzheimer’s Disease) erfolgen. In die Beurteilung des Therapieverlaufs sollten die Entwicklung von kognitiven Defiziten, Beeinträchtigungen in Aktivitäten des täglichen Lebens, der klinische Gesamteindruck, die Einschätzung des Patienten selbst (subjektiv erlebte Verbesserungen), die Einschätzung von Angehörigen bzw. Pflegenden, die individuelle Verträglichkeit sowie möglicherweise hinzugekommene Begleiterkrankungen oder Kontraindikationen für eine Fortführung der Behandlung eingehen. 5 Therapiepausen sollten vermieden werden. 10.4 Indikationen Es ist das Ziel bei der Gabe eines Antidementivums, dass die Patienten aufmerksamer werden, mehr Anteil an ihrer Umgebung haben, sich intensiver an Gesprächen beteiligen und auch Tätigkeiten wieder aufnehmen. Solche Erfolge sind nur bei einem Teil der Patienten festzustellen. Mindestens sollte aber eine geringfügige Steigerung der Leistung und des Wohlbefindens über einige Monate festzustellen sein. 5 Zugelassen sind die Antidementiva nur bei der AD, . Tab. 10.1; eine Wirksamkeit wurde aber auch bei der VD und der gemischten Demenz gezeigt. 5 Eine Wirksamkeit besteht für alle Antidementiva auch bei den demenzassoziierten Verhaltensstörungen (7 Abschn. 31.2). 5 Alle AChE-Inhibitoren weisen eine ähnliche Effizienz auf (Behl 2008). Der Vorteil von Memantin gegenüber den AChE-I besteht in dem geringen Nebenwirkungsrisiko, nicht aber in einer besseren Wirksamkeit. 5 Obgleich eine Vielzahl von klinischen Studiendaten zum Einsatz von AChE-I verfügbar ist, fehlt bis heute immer noch eine Langzeitstudie, welche die Effekte dieser Antidementiva auf das Fortschreiten der Erkrankung sowie möglicherweise einen lebensverlängernden Effekt sicher nachweisen könnte. 5 Auch wenn die Wirksamkeit gegenüber Placebo nur gering ist, wird immer wieder darauf hingewiesen, dass andere Therapiemöglichkeiten gänzlich fehlen (Hansen et al. 2007). 5 Die Kombinationsbehandlungen von Memantin und Donepezil ergaben bei mittelschwerer bis schwerer AD in einer kontrollierten Studie einen zusätzlichen Effekt. 10 5 Der Einsatz von AChE-I wird aber auch kritisch gesehen. Die Kosten-Nutzen-Bewertungen sind uneinheitlich. In einer placebokontrollierten Studie wurde festgestellt, dass der AChE-I Donepezil zwar signifikante Besserungen der kognitiven und alltagspraktischen Fertigkeiten im Vergleich zu Placebo erbrachte, jedoch nicht den Zeitpunkt der Einweisung in ein Pflegeheim oder das Fortschreiten der krankheitsbedingten Behinderung beeinflusste; auch die Lebenszeit wurde nicht verlängert. Die Autoren warfen daher die Frage der Kosten-Nutzen Bewertung der AChE-I auf. Allerdings schränken methodische Schwächen die Aussagekraft dieser Studie ein. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft hat aber ihre eindeutigen Empfehlungen zum Einsatz von AChE-I und Memantin wiederholt. 10.5 Dosierung und Behandlungsdauer Dosierung . Tab. 10.1. 5 Wissenschaftlich fundierte, gesicherte Aussagen zur Behandlungsdauer mit Antidementiva liegen derzeit nicht vor. 5 Empfohlen wird anhand der Studienlage bei der Einstellung auf ein Antidementivum ein Behandlungsversuch von mindestens 12 bis maximal 24 Wochen, sofern nicht Nebenwirkungen die Beendigung der Behandlung erfordern. Danach wird eine erste klinische Verlaufskontrolle im Sinne einer Therapiekontrolle empfohlen. Ergibt sich auf den verschiedenen Beurteilungsebenen (s. oben, Verlaufskontrollen) keine erkennbare Wirkung und/oder eine im Vergleich zum Zeitpunkt vor Beginn der Behandlung unverändert schnelle Symptomprogression, sollte ein Präparatewechsel erwogen werden. 5 Bei sprunghafter Verschlechterung im Verlauf der Behandlung sollte nach Ausschluss verursachender interkurrenter Erkrankungen und Überprüfung der Diagnose ein Präparatewechsel erwogen werden. 5 Solange ein Nutzen beobachtet wird, keine Unverträglichkeiten auftreten und sich keine Kontraindikationen für eine Behandlung ergeben, sollte eine antidementive Therapie langfristig fortgeführt werden. 108 Kapitel 10 · Antidementiva 10.6 1 2 3 4 5 Präparategruppen1 . Tabelle 10.1 gibt eine Übersicht über die AChE-I und NMDA-Antagonist sowie deren Dosierung und wichtigste Nebenwirkungen. 1 Eine Übersicht über die im Leitfaden genannten Wirkstoffe mit den jeweiligen Handelsnamen gibt . Tab. A1 im Anhang. . Tab. 10.1. Acetylcholinesterasehemmer und NMDA-Antagonist (Memantin) Präparat 6 Dosis Indikationen Wichtigste Nebenwirkungen ADz Donepezil Aricept® 5 mg tgl. zu Beginn, bis 10 mg nach einem Monat Leichte bis mittelschwere Galantamin Reminyl® 8 mg tgl. zu Beginn, später bis 24 mg (Wie oben) (Wie oben) Rivastigmin Exelon® 3 mg tgl. zu Beginn, später bis 12 mg (Wie oben) Demenz bei Parkinson (Wie oben) Memantin Axura®, Ebixa® 5 mg tgl. zu Beginn, bis 20 mg nach einem Monat Mittelschwere bis schwere AD, auch als »Add-on«-Therapie empfohlen Insgesamt gering, möglich sind: Kopfschmerzen Schläfrigkeit Schwindel Obstipation 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Übelkeit, Diarrhö Appetitlosigkeit Schlaflosigkeit Appetitlosigkeit Müdigkeit Muskelkrämpfe Cave: Herzrhythmusstörungen, Asthma bronchiale HWZ Halbwertzeit; z zugelassen. Fazit Therapieempfehlung für Antidementiva 5 Nur für AChE-I und Memantin ist ein gesicherter Wirksamkeitsnachweis gegeben. Andere Antidementiva oder sog. Nootropika sollten nicht mehr verordnet werden. 5 Die Antidementiva haben auch einen Effekt auf die demenzassoziierten Verhaltensstörungen (7 Abschn. 31.2). 5 Der Effekt der Antidementiva ist insgesamt bescheiden und wahrscheinlich nur für die Dauer von bis zu einem Jahr. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis wird kontrovers diskutiert. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass es keine therapeutischen Alternativen gibt. 5 Memantin hat gegenüber den AChE-I den Vorteil der deutlich geringeren Nebenwirkungen. 10.7 Checkliste ? 1. Welche Effekte können von den derzeitigen Antidementiva erwartet werden? 109 11.1 · 11 Medikamente zur Behandlung von Abhängigkeit und Entzug 11.1 Einteilung – 110 11.2 Präparategruppen – 110 11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.2.4 Pharmakotherapie von Abhängigkeitserkrankungen – 110 Gesamtbehandlungsplan bei Abhängigkeitserkrankungen – 110 Medikamente zur Behandlung von Alkoholkrankheiten – 110 Medikamente zur Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit – 111 11.2.5 Medikamente zur Behandlung von Benzodiazepinabhängigkeit – 112 11.2.6 Medikamente zur Behandlung von Opiatabhängigkeit – 112 11.2.7 Medikamente zur Behandlung von Kokain- und Amphetamin-Abhängigkeit – 113 11.2.8 Medikamente zur Behandlung von Ecstasy- und Eve-Abhängigkeit – 113 11.2.9 Medikamente zur Behandlung von Abhängigkeiten von Psychotomimetika (LSD, Meskalin, Psilocybin) – 113 11.2.10 Medikamente zur Behandlung von Cannabisabhängigkeit – 113 11.2.11 Medikamente zur Behandlung von Nikotinabhängigkeit – 114 11.3 Medikamente zur Behandlung von Abhängigkeit und Entzug in der Kinder- und Jugendpsychiatrie – 114 11.4 Checkliste – 115 110 Kapitel 11 · Medikamente zur Behandlung von Abhängigkeit und Entzug 11.1 1 2 3 Einteilung Die wichtigen Medikamente dieses Kapitels sind erst in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelt worden. Da es sich um sehr verschiedene Präparategruppen und Indikationen handelt, werden die Eigenschaften unter dem jeweiligen Präparat (anders als in den meisten anderen Kapiteln) zusammengefasst. 4 5 6 7 8 9 10 11 11.2 Präparategruppen1 11.2.1 Pharmakotherapie von Abhängigkeitserkrankungen Die . Tab. 11.1 gibt eine Übersicht über die vielfältigen medikamentösen Möglichkeiten bei Abhängigkeitserkrankungen. Da viele Strategien nicht zugelassen sind, aber dennoch in der Allgemeinarztpraxis und der Klinik angewandt werden, sind die zugelassenen Präparate gesondert ausgezeichnet. Die Reihenfolge der Auflistung entspricht der Wichtigkeit des Suchtmittels bzw. des Medikaments in der Praxis. Spezielle Hinweise auf Dosierungen und Nebenwirkungen finden sich dann ggf. in den anschließenden Kapiteln. Gesamtbehandlungsplan bei Abhängigkeitserkrankungen 12 11.2.2 13 Bei allen Abhängigkeitserkrankungen hängt der therapeutische Erfolg von der Motivation des Patienten und der Integration der psychotherapeutischen und psychosozialen Möglichkeiten zusammen mit der Pharmakotherapie in einem Gesamtbehandlungsplan ab. Um Rückfälle zu vermeiden, müssen immer neurobiologische und psychosoziale Faktoren gemeinsam berücksichtigt werden. Mit dem Patienten müssen konkret formulierte Behandlungsziele erarbeitet werden. Die speziellen Maßnahmen werden in den entsprechenden Abschnitten besprochen. 14 15 16 17 18 19 11.2.3 Medikamente zur Behandlung von Alkoholkrankheiten Clomethiazol 5 Clomethiazol ist das Mittel der ersten Wahl für eine stationäre Entgiftungsbehandlung, sowohl bei Alkoholentzugssyndrom als auch bei voll ausgeprägtem Delirium tremens. 5 Clomethiazol kann bei Delirium tremens ggf. in Kombination mit einem Antipsychotikum (s. unten) gegeben werden 5 Clomethiazol vermindert sicher verschiedene Entzugssymptome wie Pulsanstieg, Blutdruckspitzen, Ängstlichkeit, psychomotorische Unruhe und besitzt eine delirverhütende und krampfanfallshemmende Wirkung. 5 Aufgrund seiner kurzen Halbwertzeit ist es gut steuerbar und kann sowohl fest dosiert als auch symptomorientiert verabreicht werden. 5 Clomethiazol ist nicht für eine ambulante Anwendung geeignet. 5 Dosis: initial 2–4, maximal 24 Kapseln täglich; Clomethiazol wird über 3–9 Tage abgesetzt. 5 Clomethiazol ist ein nebenwirkungsstarkes Medikament. Cave Clomethiazol soll maximal 14 Tage und nicht ambulant verordnet werden. Bereits nach relativ kurzfristiger Verordnung kann es zu einer Abhängigkeitsentwicklung kommen. Es ist bei der Akuttherapie schnell ein Absinken in Bewusstlosigkeit, Atemdepression und hypotone Blutdruckreaktionen möglich. Benzodiazepine 5 Benzodiazepine (7 Abschn. 8.2.1) sind eine gleichwertige Alternative zu Clomethiazol. Zum Einsatz kommen in erster Linie Benzodiazepine mit einer langen Halbwertszeit wie z. B. Diazepam. Sie sind aber in Deutschland nicht in dieser Indikation zugelassen; in den USA sind sie Mittel der ersten Wahl. 5 Dosis: nach Entzugsschwere; orientierend: Diazepam 40–80 mg in den ersten 24 h; über 3–5 Tage absetzen. Andere Medikamente 20 1 Eine Übersicht über die im Leitfaden genannten Wirkstoffe mit den jeweiligen Handelsnamen gibt . Tab. A1 im Anhang. 5 Antipsychotika, besonders Haloperidol (5–10 mg), sind nur als Zusatzmedikation bei einem Deliri- 11 111 11.2 · Präparategruppen . Tab. 11.1. Übersicht über die Pharmakotherapie von Abhängigkeitserkrankungen z Suchtmittel Medikation bei Entgiftung Medikation bei Entwöhnung Medikation bei Intoxikation bzw. Antidot Alkohol Clomethiazolz (Distraneurin®), Benzodiazepine, Carbamazepin Acamprosatz (Campral®), Naltrexon , ggf. Disulfiramz Antipsychotika (z. B. Haloperidol), nur bei selbstoder fremdgefährdender Agitation Benzodiazepine Benzodiazepinreduktion (7 Abschn. 8.6.2. u. 8.6.8) (stufenweise Reduktion) – Flumazenil (Antidot) Opiate (z. B.Codein, Heroin, Methadon) Buprenorphin, Methadon, Levomethadon, Clonidin + symptomatische Therapie Naltrexonz (Nemexin®), alternativ: Substitution mit Methadonz (Methaddict®), Levomethadonz (L-Polamidon®), Buprenorphinz (Subutex®) Naloxon (Antidot) (7 Abschn. 14.6.1) Kokain, Amphetamine, synthetische Drogen (Ecstacy) Bupropion, Desipramin, Imipramin, ggf. Benzodiazepine Buproprion, Desipramin, Imipramin Benzodiazepine, Antipsychotika Psychomimetika (LSD, Meskalin, Psilocybin) – – Benzodiazepine, Haloperidol Cannabis – – Benzodiazepine, Antipsychotika Nikotin Nikotinpflasterz, Nikotinkaugummiz, Nikotinsublingualtablettez Nikotinpflasterz, Nikotinkaugummiz, Nikotinsublingualtablettez, Bupropionz (Zyban®), Variniclin (Champix®)z – zugelassen. um tremens indiziert. Allein sind sie nicht ausreichend wirksam. Sie werden auch bei der Alkokoholhalluzinose (7 Abschn. 28.1.1) eingesetzt. 5 Die Antiepileptika Carbamazepin und Valproinsäure haben neben ihrem stimmungsstabilisierendem Effekt (7 Kap. 6) auch eine Wirkung auf Alkoholentzugsymptome; sie sind aber z. Z. nur zur Anfallsprophylaxe im Alkoholentzug sinnvoll einsetzbar. 5 Das Antidepressivum Doxepin (7 Kap. 5) wird häufig noch zur Behandlung leichter Entzugssyndrome gegeben; die Datenlage ist unklar, es handelt sich um eine Therapie zweiter Wahl. 11.2.4 Medikamente zur Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit Neben psychosozialen und psychotherapeutischen Interventionen stellt die Langzeitverordnung von Medikamenten eine wichtige Strategie bei Alkoholkrankheiten dar. Das Verlangen nach Alkohol soll durch sie vermindert werden; sie werden auch als Anticraving-Substanzen (Craving 7 Abschn. 28.1.1) bezeichnet. 5 Acamprosat als NMDA-Rezeptormodulator (glutaminerg) ist einer Placebobehandlung überlegen und für die Rezidivprophylaxe der Alkoholabhängigkeit zugelassen. Die Verträglichkeit ist gut. 5 Naltrexon ist als μ-Opiatrezeptor-Antagonist in den USA zur Rückfallprophylaxe zugelassen, in Europa noch nicht. Naltrexon wird in mehreren Metaanalysen positiv bewertet. Naltrexon führt 112 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 Kapitel 11 · Medikamente zur Behandlung von Abhängigkeit und Entzug darüber hinaus bei schwerer erkrankten, nicht eindeutig abstinenzmotivierten Patienten zur Trinkmengenreduktion, zu einem Rückgang der Anzahl der Trinktage sowie zu einem Rückgang der Anzahl der schweren Trinktage (>5 alkoholische Getränke/Tag). Naltrexon wird gut vertragen. 5 Disulfiram war früher das einzige Präparat, das zur Rückfallprophylaxe zur Verfügung stand (Aversionstherapie). Heute kann es in speziellen Indikationen in der Rückfallprophylaxe hilfreich sein; wegen der potenziell lebensbedrohlichen Komplikationen bei Trinkzwischenfällen stellt es jedoch keine Standardtherapie dar. 5 Immer wieder wurde geprüft, ob Antidepressiva, auch SSRI, einen rückfallprophylaktischen Effekt haben. Bisher sind die Studien negativ verlaufen. Fazit Therapieempfehlung zur Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit 5 Die Anticraving-Substanzen Acamprosat und Naltrexon besitzen eine abstinenzerhaltende Wirkung. Die Wirkung der Kombination ist möglicherweise additiv. Sie sollten nur in Verbindung mit psychosozialen Maßnahmen verordnet werden. 5 Acamprosat oder auch Naltrexon sollten für mindestens 12 Monate nach Abschluss einer Alkoholentgiftungsbehandlung eingenommen werden. 5 Trotz der nachgewiesenen Wirksamkeit werden Acamprosat und Naltrexon sowohl von Hausärzten als auch von Fachkliniken zur Behandlung alkoholabhängiger Patienten häufig nicht weiter verordnet. Die Gründe hierfür sind vielschichtig, die Weiterbehandler (Hausarzt/Facharzt/Fachklinik) sollten deshalb aktiv in die Therapieplanung mit einbezogen werden, um einen Therapieabbruch zu vermeiden. 5 Erst nach Acamprosat und Naltrexon sollten weitere pharmakotherapeutische Versuche unternommen werden. 17 18 19 20 11.2.5 Medikamente zur Behandlung von Benzodiazepinabhängigkeit Die therapeutischen Notwendigkeiten bei Benzodiazepinabhängigkeit stehen in 7 Abschn. 8.6.1 bis 8.6.3 und 7 Abschn. 28.1.2. 5 Intensivmedizinisch kann bei Benzodiazepinintoxikation in besonderen Fällen das Antidot Flumazenil gegeben werden. 11.2.6 Medikamente zur Behandlung von Opiatabhängigkeit Die Therapie der Opiatabhängigkeit gehört nicht zur Routinetherapie des Psychiaters und ist speziell geschulten Ärzten/Einrichtungen vorbehalten. Die wichtigen Präparate bei der Entwöhnungstherapie werden kurz beschrieben (Antidot Naloxon 7 Abschn. 28.1.3). Buprenorphin 5 Buprenorphin ist als Substitutionsmittel bei Opiatabhängigkeit zugelassen (. Tab. 11.1, 7 Abschn. 28.1.3). 5 Es hat als kombinierter Opiatrezeptoragonist/antagonist (partieller μ-Opiatrezeptoragonist mit langsamer Rezeptorkinetik sowie κ-Opiatrezeptorantagonist) ein besonderes Wirkprofil unter den klinisch einsetzbaren Opioiden. 5 Der Vorteil der Substanz besteht in der relativ breiten Sicherheitsspanne im Vergleich zu reinen μ-Opiatrezeptoragonisten. 5 Eine Umstellung von Patienten, die bereits auf Methadon/Levomethadon stabil eingestellt sind, ist möglich. 5 Dosis: 6–20 mg täglich. 5 Buprenorphin eignet sich aufgrund der langen Halbwertszeit für die Gabe einer entsprechend höheren Einmaldosis alle 2–3 Tage (»Alternateday«-Verordnung). Buprenorphin eignet sich ebenfalls für eine »Take-home«-Vergabe. Allerdings ist hier zu bedenken, dass Buprenorphin nach Auflösung der Substanz zur i.v.-Gabe missbraucht werden kann. 5 Buprenorphin ist eine sinnvolle Alternative zur Substitution mit Methadon/Levomethadon mit breiterem Sicherheitsspektrum und guter Akzeptanz durch die Patienten; Überbrückung von Feiertagen und Wochenenden ohne tägliche Kontakte möglich. Methadon/Levomethadon 5 Methadon und Levomethadon sind als Substitutionsmittel bei Opiatabhängigkeit zugelassen (. Tab. 11.1, 7 Abschn. 28.1.3). 5 Methadon ist ein μ-Opioidrezeptoragonist und das Razemat aus linksdrehendem Levomethadon und rechtsdrehendem D-Methadon. Methadon 113 11.2 · Präparategruppen war früher das einzige Substitutionsmittel. Die Dosis liegt bei 60–80 mg täglich. 5 Levomethadon besitzt die doppelte effektive und analgetische Potenz wie das Razemat Methadon. 5 Bei Dosierungsangaben ist stets darauf zu achten, ob diese sich auf Methadon oder Levomethadon beziehen! 5 Die Therapie mit Methadon/L-Methadon ist hochkomplex und mit hohen Risiken verbunden. Naltrexon 5 Naltrexon ist ein μ-Opioidrezeptorantagonist und zur Entwöhnungsbehandlung bei Opiatabhängigkeit (nach erfolgter Entgiftung) zugelassen. 5 Es besitzt kein eigenes Abhängigkeitspotenzial. 5 In der Regel handelt es sich um eine sehr gut verträgliche Substanz. Die Gabe von Naltrexon kann jedoch bei aktiv konsumierenden opiatabhängigen Patienten Entzugssymptome auslösen. Vor Behandlungsbeginn sollte deshalb ein Intervall von 7–10 Tagen ohne Opiateinnahme gesichert sein. 5 Dosis: 50 mg täglich. 5 Die Therapie mit Naltrexon ist eine sinnvolle medikamentöse Unterstützung bei der Entwöhnungsbehandlung von Opiatabhängigen nach erfolgter Opiatentgiftung bei hoch motivierten Patienten mit guter Compliance und ausreichender sozialer Integration. Clonidin 5 Clonidin ist ein zentraler α2-Agonist. Er führt zu einer Aktivitätshemmung noradrenerger Neurone im Locus coeruleus (wichtigstes noradrenerges Kerngebiet im ZNS mit hoher Opiatrezeptordichte). Clonidin hemmt Symptome der zentralen noradrenergen Hyperaktivität wie Tachykardie, Hypertonie, Rhinorrhö, Niesen, Pupillenerweiterung, Piloerektion und innere Unruhe. Verschiedene andere Kernsymptome des Opiatentzugs, wie ausgeprägtes Opiatverlangen, dysphorische Stimmung, Schlafstörungen, abdominelle und muskuläre Schmerzen werden nicht gebessert. 5 Clonidin kann als Entgiftungsmittel beim Opiatentzugssyndrom eingesetzt werden. Damit besteht die Möglichkeit zum Einsatz bei einem vorgesehenen nichtopiat-/opioidgestützten Opiat-/Opioidentzugs. Wegen sehr häufiger Therapieabbrüche ist aber eine opiatgestütze Therapie vorzuziehen. 11.2.7 11 Medikamente zur Behandlung von Kokain- und AmphetaminAbhängigkeit Die Entzugssyndrome sind in 7 Abschn. 28.1.4 beschrieben. Eine spezifische Medikation mit klinischem Nachweis steht nicht zur Verfügung. 5 Es gibt Studien bei kokainabhängigen Patienten mit positiven Effekten von Bupropion, Desipramin, Disulfiram, Modafinil, Tiagabin und Topiramat. 5 Bei Angst- und Erregungszuständen im Rahmen eines Kokainentzugs können Benzodiazepine eingesetzt werden. 5 Bei amphetaminabhängigen Patienten wird vom Einsatz von SSRI aufgrund negativer Studienergebnisse abgeraten. 11.2.8 Medikamente zur Behandlung von Ecstasy- und Eve-Abhängigkeit Zur Wirkung 7 Abschn. 28.1.5. Eine spezifische Medikation ist nicht bekannt. 5 Bei akut auftretenden Angst- und Erregungszuständen sind Benzodiazepine indiziert. 5 SSRI können protrahierte psychotrope Effekte, z. B. Angststörungen und depressive Syndrome, bei abstinenten Patienten mildern. Es besteht die Gefahr eines Serotoninsyndroms bei gleichzeitigem Gebrauch beider Substanzen. 11.2.9 Medikamente zur Behandlung von Abhängigkeiten von Psychotomimetika (LSD, Meskalin, Psilocybin) Bei diesen Substanzen sind Horrortrips und Flashback-Psychosen Behandlungsindikationen. Es gibt keine spezifische Pharmakotherapie der Abhängigkeit. Zur unspezifischen Therapie 7 Abschn. 28.1.6. 5 Konventionelle Antipsychotika verschlechtern den Zustand, atypische Antipsychotika sind nicht untersucht. 11.2.10 Medikamente zur Behandlung von Cannabisabhängigkeit Es gibt noch keine spezifische Therapie zur Problematik der Cannabisabhängigkeit. Hinweise zur mög- 114 Kapitel 11 · Medikamente zur Behandlung von Abhängigkeit und Entzug 1 lichen Verordnung des Cannabinoid-1-Rezeptorantagonisten Rimonabant finden sich in 7 Abschn. 28.1.7. 2 11.2.11 Medikamente zur Behandlung Andere Medikamente Eine mögliche zukünftige Option ist der Cannabinoid-1-Rezeptorantagonist Rimonabant (Acomplia®) (7 Abschn. 13.3). von Nikotinabhängigkeit 3 11.3 4 Bei der psychischen und physischen Nikotinabhängigkeit (mit Toleranzentwicklung) stehen die Behandlung des Entzugssyndroms und die Nikotinentwöhnung im Vordergrund (7 Abschn. 28.1.8). 5 Nikotinersatzstoffe 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Medikamente zur Behandlung von Abhängigkeit und Entzug in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 5 Nikotinersatzstoffe (Nikotinpflaster, Nikotinkaugummi, Nikotinnasenspray) sind beim Entzugssyndrom wirksam. 5 Nikotinersatzstoffe zeigen neben verhaltenstherapeutischen Maßnahmen (als Selbsthilfeintervention in Einzel- oder Gruppentherapie) auch bei der Raucherentwöhnung eine gute Wirksamkeit. Gerade bei Abhängigkeitserkrankungen im Kindes- und Jugendalter hängt der therapeutische Erfolg besonders von der Motivation des Patienten und den psychosozialen Belastungsfaktoren ab. Im Kindesund Jugendalter beginnen viele Suchterkrankungen und die Prognose, ob eine Entgiftung und Entwöhnung erfolgreich ist, hängt häufig von den ersten Erfahrungen mit einer Therapie ab. Bupropion Prävention 5 Bupropion ist zur Raucherentwöhnung nikotinabhängiger Patienten in Verbindung mit unterstützenden motivierenden Maßnahmen zugelassen. 5 Es ist ein kombinierter Noradrenalin- und Dopaminrückaufnahmehemmer. Bupropion ist auch als Antidepressivum zugelassen. 5 Die Behandlung sollte noch während des aktiven Rauchens begonnen werden. Ab der zweiten Behandlungswoche sollte das Rauchen beendet werden. 5 Empfohlene Behandlungsdauer: 7–9 Wochen. 5 Die Kombinationsbehandlung von Nikotinpflastern und Bupropion wies einen additiven Effekt auf. Vorwiegend wird bei Kindern und Jugendlichen versucht aufklärende und präventive Maßnahmen einzusetzen. Randomisierte und kontrollierte Studien wurden vorwiegend zur Prävention von Nikotin-, Alkohol- und Cannabiskonsum durchgeführt und konnten positive Effekte nachweisen. Dabei waren vor allem soziale Kompetenztrainings und schulbasierte Programme wirksam (Gilvarry 2000; Thomas u. Perera 2006). Variniclin 5 Kürzlich ist der partielle Agonist am nikotinergen Acetylcholinrezeptor Variniclin (Champix®) zugelassen. Durch die Verdrängung des Nikotins am Rezeptor wird die euphorisierende Tabakwirkung aufgehoben und gleichzeitig das Nikotinentzugssyndrom gelindert. 5 Variniclin ist hochwirksam. Der abstinenzerhaltende Effekt scheint dem Bupropion überlegen zu sein. Variniclin sollte aber bei affektiven Erkrankungen nur mit großer Vorsicht verordnet werden (7 Abschn. 5.11.5). Therapie Therapeutisch konnte nachgewiesen werden, dass es durch KVT-Gruppenprogramme, Selbsthilfegruppen und Familientherapien zu einer Reduktion des Substanzkonsums bei Jugendlichen kam (Gilvarry 2000). Bei Intoxikationen und bei starken Entzugssymptomen sind medikamentöse Therapien notwendig. Die meisten Jugendlichen mit einer Abhängigkeitserkrankung zeigen kaum Entzugssymptome (Gilvarry 2000). Die Wirksamkeit einer Methadontherapie bei opiatabhängigen Kindern und Jugendlichen ist noch nicht endgültig geklärt (Gilvarry 2000). Komorbiditäten Komorbiditäten wie Ängste und Depressionen sollten mit SSRI und drogeninduzierte Psychosen mit Antipsychotika behandelt werden (Fleischhaker et al. 2002). 11.4 · Checkliste Lithium hat eine gute Wirksamkeit bei Kindern und Jugendlichen mit bipolaren Störungen mit Substanzabusus gezeigt (Gilvarry 2000). Auf das Thema »ADHS und Sucht« wird in 7 Kap. 28 eingegangen. Kinder mit einer ADHS, die nicht mit Psychostimulanzien behandelt werden, haben ein größeres Risiko eine Suchterkrankung zu entwickeln, als Kinder mit ADHS ohne Psychostimulanzientherapie (Selbstmedikation). Allerdings stellt ein großes Problem der Schwarzmarkt für Psychostimulanzien (z. B. auf dem Schulhof) dar, wenn Jugendliche mit einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens ihre Medikation mit in die Schule nehmen, weil sie mittags eine zweite Dosis benötigen. Durch tägliche Einmalgabe einer Retardmedikation lässt sich das Problem verbessern (Greenhill 2006). 11.4 Checkliste ? 1. 2. 3. 4. Was ist das Mittel der ersten Wahl zur Alkoholentgiftung? Welche Medikamente haben sich bei der Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit bewährt? Welche Vorteile bietet Buprenorphin bei der Substitutionsbehandlung der Opiatabhängigkeit? Durch welche medikamentöse Darreichungsform lässt sich der Schwarzmarkt für Psychostimulanzien vermindern? 115 11 117 12.1 · 12 Medikamente zur Behandlung von sexuellen Störungen 12.1 Einteilung – 118 12.2 Wirkungsmechanismus 12.2.1 12.2.2 PDE-5-Hemmer – 118 Sexualhormone – 119 12.3 Allgemeine Therapieprinzipien 12.4 Indikationen 12.4.1 12.4.2 12.4.3 12.4.4 12.4.5 Erektionsstörungen – 120 Vermindertes sexuelles Verlangen – 120 Störungen der sexuellen Erregung bei der Frau – 120 Ejaculatio praecox und Orgasmusstörungen – 120 Gesteigertes sexuelles Verlangen und Paraphilie – 120 12.5 Präparategruppen 12.5.1 PDE-5-Hemmer – 121 12.6 Medikamente zur Behandlung von sexuellen Störungen im Kindes- und Jugendalter – 122 12.7 Checkliste – 118 – 119 – 120 – 122 – 121 118 Kapitel 12 · Medikamente zur Behandlung von sexuellen Störungen 12.1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Einteilung Sexuelle Störungen konnten bis zur Einführung des ersten Phosphodiesterase-Typ-5-Hemmers (PDE-5Hemmer) Sildenafil nur sehr bedingt und ohne Wirksamkeitsnachweis behandelt werden. Möglich war die hormonelle Substitution bei Hormondefizit und die Hemmung der sexuellen Aktivität durch Cyproteronactetat (7 Abschn. 12.2.2 und 7 Abschn. 26.1 bis 26.3 und 26.5). Definition Zur Zeit verfügbare wichtige Präparate zur Behandlung sexueller Störungen: 5 Phosphodiesterase-Typ-5-Hemmer: Sildenafil, Tadalafil und Vardenafil 5 α2-Antagonist als Mittel gegen erektile Dysfunktion: Yohimbin In den letzten Jahrzehnten gab es viele Ansätze über Veränderungen des Stoffwechsels der zentralen Neurotransmitter Dopamin und Serotonin das sexuelle Verhalten auch beim Menschen therapeutisch zu beeinflussen. Die Erfolge waren, von den Anfängen mit L-DOPA (Benkert et al. 1972) bis zu der vorübergehenden Markteinführung des Dopaminagonisten Apomorphin nur marginär. Vorübergehende Alternativen (lokale Applikation von Prostaglandinen, Schwellkörper-Autoinjektionstherapie und mechanische Hilfen (wie z. B. Vakuumpumpen und Penisprothesen) haben jetzt an Bedeutung verloren und sind nur bei Kontraindikationen oder Nichtansprechen auf PDE-5-Hemmer indiziert. Als weiteres Präparat ist Yohimbin, ein zentral und peripher wirkender α2-Antagonist zu nennen. Yohimbin ist zwar gegen erektile Dysfunktion zugelassen, hat aber begrenzte Wirksamkeit und ein hohes Nebenwirkungsrisiko. Nach Vorschlag der WHO können drei Therapiestufen unterschieden werden: 5 primär: Sexualtherapie und orale Pharmakotherapie, 5 sekundär: lokale Pharmakotherapie und Vakuumsysteme, 5 tertiär: Schwellkörperimplantate. Erst die Entdeckung der Wirkung der PDE-5-Hemmer bei Erektionsstörungen führte zu einem Durchbruch in der Therapie sexueller Störungen. Trotz der signifikanten medikamentösen Therapieerfolge ist eine Psychotherapie, wenn möglich immer unter Einbeziehen der Partner, Voraussetzung für eine adäquate und längerfristig erfolgreiche Behandlung (7 Abschn. 26.7). Es ist bisher allerdings nicht gelungen medikamentöse Ansätze bei den anderen sexuellen Störungen, besonders bei der Frau, zu finden. 12.2 Wirkungsmechanismus Beschrieben wird der Wirkungsmechanismus der für die Therapie relevanten Gruppen, den PDE-5-Hemmern und den Sexualhormonen. Weitere Ausführungen hierzu und zu den anderen bei Sexualstörungen möglicherweise wirksamen Medikamenten finden sich bei Müller et al. (2008). 12.2.1 PDE-5-Hemmer 5 Orale PDE-5-Hemmer führen zu einer vermehrte Relaxation der glatten Muskulatur und damit einer Erektionsverbesserung. Die PDE-5-Hemmer verhindern einen Abbau der interazellulären Transmitter cAMP und cGMP. Diese akkumulieren und führen zur verbesserten Relaxation. 5 Die einzelnen Schritte in der Kaskade der PDE-5Hemmern zur Regulation der Erektion sind: > Sexuelle Stimulation o penile NO-Ausschüttung durch Endothel- und nonadrenerge-noncholinerge Nervenzellen o Aktivierung der Guanylzyklase o cGMP-vermittelte Verminderung des Ca-Einstroms in die glatte Muskulatur des Corpus cavernosum o Relaxation der glatten Muskulatur o Bluteinstrom in Cavernosum-sinusoide o Erektion. 5 Die endotheliale NO-Synthase synthetisiert aus der Aminosäure L-Arginin unter Beteiligung von Tetrahydrobiopterin, Kalzium und Calmodulin NO. 5 NO wirkt vor allem als Transmitter bei der zellulären Kommunikation im mikrovaskulären Gefäßsystem, führt zu einer Relaxation der glatten Muskelzellen, hemmt deren Wachstum und blockiert die Plättchen- und Leukozytenaggregation. Androgene und Östrogene modulieren den Prozess. 119 12.3 · Allgemeine Therapieprinzipien 12.2.2 Sexualhormone Androgene 5 Wichtige Androgene sind das Dihydrotestosteron mit der stärksten androgenen Wirkung, Testosteron und Dehydroepiandrosteron (DHEA). Funktionen sind, neben metabolischen Effekten, die Ausbildung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale, die Spermiogenese und die Steigerung der sexuellen Appetenz (beim Mann und der Frau). 5 Testesteron hat zwischen dem 20. und 60. Lebensjahr beim Mann einen relativ konstanten Spiegel. Nach dem 60. Lebensjahr wird häufig ein deutlicheres Absinken festgestellt und ist wahrscheinlich eine wichtige Ursache für die häufigen sexuellen Störungen beim Mann im höheren Lebensalter. 5 Die Unterschreitung eines kritischen Androgenschwellenwertes (Hypogonadismus) geht besonders mit Libidostörungen einher. Auch Reizbarkeit und Depression können hinzutreten (Meston u. Frohlich 2000), sodass gerne von einem »Klimakterium virile« gesprochen wird. 5 Bei Frauen wird für die nachlassende Libido und andere Sexualstörungen, neben verminderten Östrogenen, auch der abfallende Androgenspiegel verantwortlich gemacht. Östrogene und Gestagene 5 Bei einem Östrogenmangel kommt es, über die vaskulären und metabolischen Effekte hinaus, zu einer verminderten Lubrikation. Weiterhin können Depressionen, besonders auch mit Schlafstörungen, verminderter sexueller Aktivität und kognitiven Einbußen die Folge sein. 5 Obwohl ein direkter Zusammenhang zwischen diesen klimakterischen Beschwerden mit der Östrogenkonzentration nicht gefunden wurde, bessert eine Hormonsubtitution die Beschwerden, auch die sexuelle Dysfunktion, oft deutlich (Bachmann u. Leiblum 2004). Die lokale Applikationen von Östrogenen fördert die Lubrikation. Bei einem oft auch bei der Frau vorliegendem Androgendefizit wird die Kombination von Östrogenen und Androgenen empfohlen. Allerdings wird die Wirkung in einer neuen Studie auch in Frage gestellt (7 Abschn. 15.6). 5 Gestagene (Progesteron) werden zur Therapie der sexuellen Dysfunktion der Frau nicht eingesetzt. 12 Antiadrogene 5 Das Antiadrogen Cyproteronacetat führt zu einem Abfall von Testosteron (und Östrogen) mit einer Libido- und Erektionsminderung und Hemmung der Spermatogenese, die zur Sterilität führt. Sie ist innerhalb von 3–6 Monaten reversibel. 12.3 Allgemeine Therapieprinzipien 5 Die Behandlung sexueller Funktionsstörungen besteht, indikationsabhängig mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, zumeist aus einer Kombination aus Psychotherapie (in der Regel Verhaltenstherapie oder Paartherapie im Rahmen einer Sexualtherapie) und medikamentösen Maßnahmen im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans. 5 Dies gilt immer für den Einsatz der PDE-5-Hemmern bei Erektionsstörungen mit vorwiegend psychischen Ursachen. Bei sicher organischen Ursachen, besonders auch im Alter, ist eine alleinige Pharmakotherapie mit begleitender Psychoedukation zu akzeptieren. 5 Es werden hier die pharmakotherapeutischen Ansätze beschrieben. Wird eine hormonelle Therapie erwogen, ist immer der Urologe bzw. Gynäkologe und ggf. der Endokrinologe einzubeziehen. Cave 5 Die Indikation zur Hormonsubstitution ist durch die kürzlich bekannt gewordenen Risiken für Mammakarzinom, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfall stark eingeengt. 5 Nur bei starken klimakterischen Beschwerden wird vorübergehend die niedrigst mögliche Hormonsubstitution empfohlen. 5 Sehr individuell sind die Risiken eines Östrogenmangels besonders mit Osteoporose und psychischen Beschwerden und sexuellen Dysfunktionen gegen den Nutzen abzuwägen. 120 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 Kapitel 12 · Medikamente zur Behandlung von sexuellen Störungen 12.4 Indikationen 12.4.1 Erektionsstörungen 5 Bei erektiler Dysfunktion sind PDE-5-Hemmer Mittel der Wahl. Sie werden von der überwiegenden Mehrheit der Patienten bevorzugt. 5 Es stehen drei PDE-5-Hemmer zur Verfügung: Sildenafil, Tadalafil und Vardenafil (7 Abschn. 12.5). 5 Vergleichsstudien zwischen den Präparaten zeigten keine entscheidenden Unterschiede in Wirksamkeit und Nebenwirkung. 5 Die Bevorzugung einer Substanz hängt vom individuellen Einsatzwunsch (Wirkdauer) ab, es zeichnet sich aber ein Trend zu Präparaten mit längerer Wirkdauer ab (7 Abschn. 12.5). 5 Langzeituntersuchungen (1–2 Jahre) zeigten keinen Wirkungsverlust. 5 Testosteronsubstitution ist nur bei nachgewiesenem Hypogonadismus empfehlenswert. 5 Im Rahmen von Anti-Aging-Programmen wird häufig bei älteren Männern die Einnahme von DHEA (7 Abschn. 12.2.2) und niedrigen Dosen Testosteron empfohlen. Über das Nebenwirkungsrisiko hinaus zeigten kontrollierte Studien gegen Placebo keine überzeugenden Wirkungen, auch nicht auf die Lebensqualität insgesamt. Cave Bei Männern muss bei einer Testosteron und DHEA-Therapie immer das Risiko eines androgenabhängigen Zellwachstums, z. B. bei nicht erkanntem Prostatakarzinom, beachtet werden. 14 Vermindertes sexuelles Verlangen 12.4.2 16 5 In 7 Abschn. 26.2 wird die risikoreiche Hormonersatztherapie diskutiert. Selbst die positive Wirkung von Testosteron ist nicht abgesichert (7 Abschn. 15.6). 18 19 20 Cave Auf das erhöhte Risiko für kardiovaskuläre Komplikationen und Mammakarzinom und ein erhöhtes Schlaganfallrisiko in der Menopause bei Einnahme von niedrig dosierten Östrogenen, besonders in Kombination mit Progesteron, muss deutlich hingewiesen werden. Störungen der sexuellen Erregung bei der Frau 5 Eine Therapie ist nicht etabliert (7 Abschn. 26.3). 5 Es gibt einige Studien zum Einsatz von Sildenafil bei sexuellen Dysfunktionen von Frauen, insbesondere mit Erregungsstörung. Die Ergebnisse sind nicht einheitlich. 12.4.4 Ejaculatio praecox und Orgasmusstörungen 5 Serotoninrückaufnahmehemmer (SSRI) können zu einer Ejakulationsverzögerung führen. Diese Nebenwirkung kann bei Ejaculatio praecox genutzt werden. 5 Die Ansprechraten liegen für SSRI zwischen 50 und 85%. Typische Nebenwirkungen (7 Abschn. 5.6) treten bei 35% der Patienten auf. 5 Andere sexuelle Funktionsstörungen wie Anorgasmie, Libidostörungen oder Erektionsstörungen können neu hinzutreten. 5 Die SSRI Sertralin (50–100 mg) und Fluoxetin (20–40 mg) sind in Studien gut geprüft. Eine Zulassung besteht nicht. 5 Zu Beginn der Behandlung sollte eine tägliche Einnahme erfolgen, später kann eine »Ondemand«-Verabreichung folgen (Einnahme 2–6 h vor dem gewünschtem Sexualverkehr). 5 Nach Absetzen der Therapie kam es in den meisten Fällen wieder zur Ejaculatio praecox wie vor Behandlung. 12.4.5 15 17 12.4.3 Gesteigertes sexuelles Verlangen und Paraphilie 5 Das Antiandrogen Cyproteronacetat (Androcur®) ist zur Behandlung schwerer Hypersexualität und sexueller Deviationen bei Männern (auch im Rahmen demenzieller Erkrankungen) geeignet und zugelassen. Die Verordnung erfolgt durch den Endokrinolgen. 5 Häufigste Nebenwirkungen sind Gewichtszunahme und Antriebsstörungen, manchmal auch Depressionen. 5 Symptomatische Besserungen werden nur bei 35–95% der Patienten erreicht. 5 Absetzen einer wirksamen Therapie ist mit einem hohen Rückfallrisiko verbunden. 5 SSRI können, analog zur Wirkung bei den verwandten obsessiven Erkrankungen, in höheren 121 12.5 · Präparategruppen Dosierungen sowohl eine Verminderung des sexuellen Verlangens bewirken als auch deviante sexuelle Phantasien und Praktiken bessern. 5 Antipsychotika (7 Kap. 7) können bei Hypersexualität im Rahmen von demenziellen Störungen mit Aggressivität versucht werden. Die Effekte sind nicht sicher. 5 Als Therapiealternative für Paraphilien und sexuell abweichendes Verhalten (Sadismus, Pädophilie, Exhibitionismus und Voyeurismus) werden jetzt LHRH-Antagonisten, insbesondere Leuprorelinacetat, weiter untersucht und sind vielversprechend. Auch mit dem Gestagen Medroxyprogesteron werden gute therapeutische Erfolge berichtet. 12.5 Präparategruppen1 5 Unter den Medikamenten zur Behandlung sexueller Störungen haben die PDE-5-Hemmer zur Behandlung von Erektionsstörungen eine dominierende Stellung. Sie sind wirksam, nebenwirkungsarm und zugelassen. 5 Auch Cyproteronacetat zur Behandlung der Hypersexualität ist zugelassen, sollte aber nur vom Endokrinolgen verschrieben werden. 12.5.1 12 PDE-5-Hemmer Es gibt drei PDE-5-Hemmer. Sildenafil war der erste zugelassene PDE-5-Inhibitor zur Behandlung der erektilen Dysfunktion. 5 Vor einer medikamentösen Behandlung muss eine Diagnosestellung und Ursachenklärung erfolgen und der kardiovaskuläre Status muss bekannt sein. 5 Häufigste Nebenwirkungen sind: Kopfschmerzen, Flush, Schwindel und Sehstörungen (erhöhte Lichtempfindlichkeit, unscharfes Sehen. 5 Patienten, denen von sexueller Aktivität abzuraten ist, v. a. mit schweren Herz-Kreislauf-Erkrankungen (z. B. instabile Angina pectoris, schwere Herzinsuffizienz) sollten keine PDE-5-Hemmern einnehmen. Auch Patienten mit Hypotonie und kürzlich erlittenem Schlaganfall oder Herzinfarkt (<3–6 Monate) sollten vor PDE-5-Hemmern gewarnt werden. Auch schwere Leberstörungen sind ein Ausschluss. 5 Wechselwirkungen sind bei allen PDE-5-Hemmern zu beachten. Besonders ist die Addition des blutdrucksenkenden Effekts von Antihypertensiva oder anderen Substanzen mit blutdrucksenkenden Eigenschaften möglich. Bei Behandlung mit α-Rezeptorenblockern besteht erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Nebenwirkungen. Cave 1 Eine Übersicht über die im Leitfaden genannten Wirkstoffe mit den jeweiligen Handelsnamen gibt . Tab. A1 im Anhang. Die Kombination mit Nitraten oder anderen NODonatoren ist eine Kontraindikation. . Tab. 12.1. PDE-5-Hemmer Präparat Dosis Wirkungsdauer Einnahmezeitpunkt Bemerkungen Sildenafil Viagra® 25–100 mg 4–5 h ca.1 h vor sexueller Aktivität Breite Datenbasis vorhanden Tadalafil Cialis® 10–20 mg 24–36 h; längste HWZ ca. 30 min bis 12 h vor sexueller Aktivität Keine Anpassung der Dosis im höheren Alter oder bei Diabetes nötig Vardenafil Levitra® 5–20 mg 4–5 h ca. 25 min bis 1 h vor sexueller Aktivität Erreicht am schnellsten den gewünschten Plasmaspiegel HWZ Halbwertszeit. 122 Kapitel 12 · Medikamente zur Behandlung von sexuellen Störungen 12.7 1 2 3 4 5 6 Therapieempfehlung für Medikamente zur Behandlung von sexuellen Störungen 5 Bei Erektionsstörungen sind PDE-5-Hemmer die Mittel der Wahl. Sie sind wirksam und risikoarm. Die Anwendungsbeschränkungen sind aber dringend zu beachten. 5 Bei Ejaculation praecox können SSRI versucht werden. 5 Die hormonelle Therapie bei Libidominderung ist in ihrer Wirkung nicht gesichert und risikoreich. 5 Bei gesteigertem sexuellen Verlangen und Paraphilie ist ein Versuch mit Cyproteronacetat durch den Endokrinolgen angezeigt. 7 12.6 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Checkliste Fazit Medikamente zur Behandlung von sexuellen Störungen im Kindes- und Jugendalter Von den beschriebenen Substanzen und erwähnten Indikationen kommen für die Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. forensische Jugendpsychiatrie nur die Antiandrogene zur Behandlung von adoleszenten Sexualstraftätern oder Straftätern mit extrem hohem Aggressionspotenzial in Betracht. Der Testosteronspiegel korreliert bei Kindern und Jugendlichen positiv mit dem Aggressionspotenzial (Scerbo u. Kolko 1994). Bei leichteren Störungen können Straftäter mit Antidepressiva oder Antipsychotika behandelt werden, bei massiven Gewaltverbrechen können dann die Antiandrogene wie Cyproteronacetat in Erwägung gezogen werden (Geradin u. Thibaut 2004). ? 1. 2. 3. Welche Medikamentengruppe ist das Mittel der Wahl bei der Pharmakotherapie der erektilen Dysfunktion? Welche sexuellen Störungen sind unter SSRI häufig? Welche Möglichkeiten der pharmakologischen Behandlung von sexuell deviantem Verhalten kennen Sie? 123 13.1 · 13 Antiadiposita 13.1 Einteilung – 124 13.2 Präparategruppen 13.3 Antiadiposita in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 13.4 Checkliste – 125 – 124 – 124 124 Kapitel 13 · Antiadiposita 13.1 1 2 3 Durch die Behandlungsmöglichkeit der Adipositas mit Medikamenten erweitert sich auch das Therapiespektrum der Psychopharmakotherapie. Psychologen und Psychotherapeuten werden im Rahmen der Behandlung einer Adipositas immer häufiger auch mit der Gruppe der Antiadiposita konfrontiert. 4 Definition Antiadiposita beschreibt eine Gruppe von Medikamenten, die bei Adipositas regulierend eingreifen sollen. 5 Lipasehemmer: Orlistat 5 Serotonin-Noradrenalinrückaufnahmehemmer: Sibutramin 5 Cannabinoid-1-Rezeptorantagonist: Rimonabant 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Einteilung Die Therapieprinzipien der Behandlung der Adipositas finden sich im Kapitel der Essstörungen (7 Kap. 23). Dort wird auch auf die Problematik der Gewichtszunahme unter Antipsychotika und – seltener – unter Antidepressiva hingewiesen. Medikamentöse Therapien waren lange Zeit in der Indikation Adipositas nicht zugelassen und z. T. auch sehr risikoreich. Eingenommen wurden als »Schlankheitspillen« vor allem Psychostimulanzien, Laxanzien, Diuretika, L-Thyroxin oder Nikotin. Andere zentral wirksame Präparate wie Fenfluramin und Dexfenfluramin hatten den Nachteil starker Nebenwirkungen; diese beiden Präparate sind aus dem Handel genommen. 13.2 Präparategruppen1 Über einige Jahre sind die Antiadiposita Orlistat und Sibutramin im Handel. Über das kürzlich zugelassene Rimonabant müssen zunächst noch weitere Erfahrungen gesammelt werden. 5 Orlistat ist ein Lipasehemmer, der nur im Darm wirksam ist. 30% des aufgenommenen Fetts werden unverdaut wieder ausgeschieden. Die Wirkung auf die Fettverdauung beginnt nach ca. 1 Eine Übersicht über die im Leitfaden genannten Wirkstoffe mit den jeweiligen Handelsnamen gibt . Tab. A1 im Anhang. 2 Tagen, erreicht nach 4 Tagen ein Maximum und klingt 2–3 Tage nach Absetzen wieder ab. 5 Sibutramin ist ein dem Antidepressivum Venlafaxin ähnlicher, zentral wirkender kombinierter Serotonin-Noradrenalinrückaufnahmehemmer; er wirkt aber nicht antidepressiv. Sibutramin wirkt wahrscheinlich über eine Appetitreduktion und Zunahme der Thermogenese. 5 Rimonabant ist ein Cannabinoid-1-Rezeptorantagonist. Die zentrale Gewichtszügelung scheint aber nur dann wirksam zu sein, wenn die Betroffenen auch konsequent ihren Lebensstil ändern. Rimonabant ist zwar bei pathologischem Übergewicht und gleichzeitigem Vorliegen weiterer metabolischer Risikofaktoren zugelassen, kann aber zzt. keinesfalls bei gleichzeitig bestehenden psychischen Störungen empfohlen werden. . Tabelle 13.1 gibt einen Überblick über die wichtigsten Antiadiposita sowie deren Dosis und Nebenwirkungen. Fazit Therapieempfehlung für Antiadiposita 5 Eine medikamentöse Therapie sollte immer von verhaltenstherapeutischen (mit Selbsthilfemanualen) und diätetischen Maßnahmen begleitet werden. 5 Eine Empfehlung für eines der 3 Antiadiposita ist auf Grund der relativ kurzen klinischen Erfahrung noch nicht möglich; alle haben deutliche Nebenwirkungen. 13.3 Antiadiposita in der Kinderund Jugendpsychiatrie Bei Adipositas sollten sich die therapeutischen Maßnahmen im Kindes- und Jugendalter auf die Aufklärung, Prävention und verhaltenstherapeutischen Maßnahmen beschränken. Eine medikamentöse Therapie außerhalb klinischer Studien ist momentan aus fachärztlicher Sicht nicht zu empfehlen und nur bei extremer Adipositas indiziert. Orlistat und Sibutramin sind zur Behandlung der Adipositas auch im Jugendalter (ab 12 Jahren) zugelassen. 125 13.4 · Checkliste 13 . Tab. 13.1. Antiadiposita Präparat Dosis Indikation mit Zulassung Wichtigste Nebenwirkungen Bemerkungen Orlistat Xenical® 3-mal 120 mg tgl. Adipositas Inkontinenzsymptome mit Diarrhö, Völlegefühl Hypokalorische Diät; Vorteil: lokale Wirkung Rimonabant Acomplia® 20 mg tgl. Adipositas mit vorliegenden metabolischen Risikofaktoren Übelkeit, Schwindel, Depression, Angst zusätzlich zu Diät und Bewegung; Cave: psychische Störungen Sibutramin Reductil® 10 mg tgl. Adipositas Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit Cave: Hypertonie; Wechselwirkungen beachten (z. B. SSRI) 13.4 Checkliste ? 1. Welche Wirkprinzipien der medikamentösen Therapie der Adipositas kennen Sie? 127 14.1 · 14 Medikamente zur Behandlung von ADHS, Hypersomnien und Bewegungsstörungen 14.1 Einteilung – 128 14.2 Präparategruppen 14.3 Medikamente zur Behandlung von ADHS, Hypersomnien und Bewegungsstörungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie – 130 14.3.1 14.3.2 14.3.3 ADHS in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hypersomnien – 132 Bewegungsstörungen – 132 14.4 Checkliste – 132 – 128 – 130 128 Kapitel 14 · Medikamente zur Behandlung von ADHS, Hypersomnien und Bewegungsstörungen 14.1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Einteilung Die Präparate dieses Kapitels werden durch Psychostimulanzien dominiert. Sie können z. T. zur Abhängigkeit führen und unterliegen deshalb dem Betäubungsmittel- (BtM-)Gesetz (Methylphenidat, Modafinil). Unter sorgfältiger ärztlicher Kontrolle sind es aber wertvolle und sichere Arzneimittel bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitässtörungen (ADHS) bzw. hyperkinetischen Störungen (HKS) und Hypersomnien. Grundsätzlich kann auch die Behandlung mit anderen Psychostimulanzien wie d-Amphetamin, dlAmphetamin und Pemolin erwogen werden; sie sind aber nur zweite Wahl (7 Abschn. 14.3.1). Das neuentwickelte Atomexetin muss sich in der Praxis bei ADHS, ebenso wie das Natriumoxybat bei Narkolepsie noch bewähren. In der Gruppen der Medikamente zur Behandlung von Bewegungsstörungen gibt es in den letzten Jahren mehrere Neuentwicklungen (7 Abschn. 14.2), die auf dem Prinzip der dopaminagonistischen Wirkung beruhen. 14.2 Präparategruppen1 Atomoxetin 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Der neue selektive Noradrenalinrückaufnahmehemmer Atomoxetin ist in den USA gut untersucht und reduziert bei ADHS Impulsivität, Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörung, ist aber bei Erwachsenen nicht zugelassen. Atomoxetin ist eine alternative Therapieoption zu den Psychostimulanzien in der Behandlung der ADHS. Studienergebnisse und bisherige klinische Erfahrungen lassen eine vorläufig positive Bewertung zu, Langzeitbeobachtungen müssen abgewartet werden. Ein Abhängigkeitspotenzial besteht nicht. Methylphenidat Methylphenidat wird vor allem bei ADHS und als Mittel der zweiten Wahl auch bei Hypersomnien eingesetzt. Methylphenidat muss allerdings bei Erwachsenen »off-label« (d. h. mit einem zulassungsüberschreitenden Einsatz), verordnet werden. Die Problematik des möglichen Abhängigkeitsrisikos wird in 7 Abschn. 27.2.1 besprochen. Dort wird auch die klinische Wirkung beschrieben. Die verpflichtende Auf- 1 Eine Übersicht über die im Leitfaden genannten Wirkstoffe mit den jeweiligen Handelsnamen gibt . Tab. A1 im Anhang. bewahrung der BtM-Rezepte für den einzelnen Patienten bietet eine gute Kontrollmöglichkeit des Einnahmeverhaltens. Die Substanz blockiert den Dopamintransporter, wodurch es zur Rückaufnahmehemmung von Dopamin aus dem synaptischem Spalt kommt (langsamere Kinetik als das ähnlich wirkende Kokain). Ebenso erfolgt eine Hemmung der noradrenergen Wiederaufnahme. Das Präparat muss oft langfristig verordnet werden; die BtM-Pflicht erschwert diesen Vorgang. Nur im Hochdosisbereich ist nach 6–9 Monaten eine Wirkungsabschwächung beschrieben. Seit einiger Zeit stehen Retardpräparate von Methylphenidat (. Tab. 14.1) zur Verfügung. Diese ermöglichen eine vereinfachte Verabreichung. Es liegen jetzt auch erste positive gegen placebokontrollierte Daten über 24 Wochen mit Methylphenidat (10–30 mg/Tag) vor. Wichtig 5 Die Verordnung von Methylphenidat ist BtM-pflichtig. Methylphenidat besitzt als dopaminerg wirkendes Psychostimulans grundsätzlich ein Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial. 5 Die Zulassung bei Erwachsenen bei ADHS wird noch geprüft. Modafinil Modafinil wird als Psychoanaleptikum bezeichnet und hat ebenfalls einen psychostimulierenden Effekt. Es ist bei der Narkolepsie und beim Schlafapnoesyndrom indiziert. Es gibt Hinweise, dass es auch bei ADHS wirksam ist. Das Ausmaß des Abhängigkeitsrisikos von Modafinil ist noch nicht endgültig geklärt, es ist aber deutlich geringer als von Methylphenidat. Die Förderung der Wachheit durch Modafinil scheint über das noradrenerge Transmittersystem zu laufen. Daneben wird auch das serotonerge Transmittersystem beeinflusst. Die Responderrate für die Tagesmüdigkeit liegt bei etwa 70%, eine positive Wirkung auf kataplektische Anfälle konnte allerdings nur bei etwa 5% der Patienten festgestellt werden. Die Therapie bei Narkolepsie ist langjährig. 129 14.2 · Präparategruppen 14 . Tab. 14.1. Medikamente zur Behandlung von ADHS und Hypersomnien Präparat Dosis Indikation mit Zulassung Wichtigste Nebenwirkungen Bemerkungen Atomoxetin Strattera® Initial: 40 mg tgl.; maximal 100 mg tgl. ADHS, aber nicht bei Erwachsenen zugelassen Appetitminderung, Schlafstörungen Kein Abhängigkeitspotenzial Methylphenidat Equasym® Medikinet® Ritalin® Initial: 5–10 mg tgl.; maximal 60 mg; Bei Narkolepsie: 20– 30 mg tgl. ADHS, aber nicht bei Erwachsenen zugelassen; bei Narkolepsie nur Ritalin® zugelassen Schlafstörungen, Appetitminderung, Tachykardie, Blutdruckerhöhung Cave: Missbrauchs- und Abhängigkeitsrisiko HWZ 2 h; Razemat; BtM-pflichtig Methylphenidat Concerta® Medikinet retard® Zunächst Dosis mit unretardiertem Präparat herausfinden ADHS, aber nicht bei Erwachsenen zugelassen Wie oben Retardpräparat; Wirkdauer 12 h; BtM-pflichtig Modafinil Vigil® 200–400 mg tgl. Narkolepsie; Schlafapnoesyndrom Kopfschmerzen; Nervosität, Schlaflosigkeit, Angst BtM-pflichtig; Cave: nicht bei Bluthochdruck und Abhängigkeitsentwicklungen Natriumoxybat Xyrem® 4,5–9 g tgl. Kataplexie bei Narkolepsie Schwindel, Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit Regulierter Einnahmemodus HWZ Halbwertzeit; BtM Betäubungsmittel. Wichtig Modafinil untersteht der BtM-Pflicht. Es gibt erste Berichte über missbräuchlichen Einsatz als Partydroge. Eine Einstellung auf Modafinil sollte nur in spezialisierten Facheinrichtungen erfolgen. Natriumoxybat Natriumoxybat zeigt eine antikataleptische Wirkung bei Narkolepsie. Das Natriumsalz der Gammahydroxybuttersäure wirkt in pharmakologischer Dosis als GABAB-Rezeptoragonist, hat aber auch dopaminerge, opioide und serotonerge Effekte. Der genaue Wirkmechanismus bei Kataplexie ist unbekannt. Es wird angenommen, dass Natriumoxybat durch die Förderung des langsamen (δ-)WellenSchlafes wirkt und den nächtlichen Schlaf festigt. Die Behandlung muss unter Anleitung eines Arztes, der Erfahrungen in der Behandlung von Schlafstörungen hat, durchgeführt werden. Es wurde über Fälle von Abhängigkeit nach illegaler Anwendung von häufig wiederholten Gaben von Natriumoxybat berichtet, die weit über dem therapeutischen Dosisbereich lagen. Das Auftreten einer Abhängigkeit in therapeutischen Dosen kann zzt. noch nicht ausgeschlossen werden. In seltenen Fällen wurden Entzugssymptome gesehen. Antidepressiva Antidepressiva mit einer vorwiegend noradrenergen Rückaufnahmehemmung wie Nortriptylin, Desipramin und Reboxetin sowie Venlafaxin mit dem kombiniert serotonerg/noradrenergen Wirkmechanismus stellen eine gute Alternative zu den Psychostimulanzien in der Behandlung der ADHS des Erwachsenen dar. Auch für MAO-Hemmer (7 Kap. 5)Tranylcypromin und Selegilin liegen positive Erfahrungen vor. Die Dosierungen liegen in Bereichen der antidepressiven Behandlung; es sollte in jedem Falle zunächst mit einer niedrig bis mittleren Dosierung begonnen werden, um die Ansprechrate zu überprüfen. Antidepressiva sind besonders bei komorbider Suchterkrankung indiziert. Die Kontrollbedingungen im therapeutischen Setting müssen dann sehr engmaschig sein (regelmäßiges Drogenscreening). 130 Kapitel 14 · Medikamente zur Behandlung von ADHS, Hypersomnien und Bewegungsstörungen Dopaminagonisten 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Dopaminagonisten sind eine neu entwickelte Substanzklasse für die Behandlung von »Restless-legs«Syndrom (RLS) und »periodic limb movements in sleep« (PLMS) (7 Kap. 32). Sie werden primär vom Neurologen verordnet. Es sind bei RLS L-DOPA/aromatische Aminosäuredecarboxylase (AADC)-Inhibitorpräparate (Restex®). Vorteile von L-DOPA sind der schnelle Wirkungseintritt (innerhalb einer Stunde nach der Ersteinnahme) und die gute Steuerbarkeit. Weiterhin gibt es dopaminagonistisch wirkende Ergot-Derivate (z. B. Bromocriptin, Cabergolin, Lisurid, Pergolid) und neue Nicht-Ergot-Derivaten (Ropinirol, Pramipexol). Die therapeutischen Dosen sind deutlich niedriger als bei der Parkinson-Therapie. . Tabelle 14.1 gibt eine Übersicht über die Präparate zur Behandlung von ADHS und Hypersomnien. 14.3 Medikamente zur Behandlung von ADHS, Hypersomnien und Bewegungsstörungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 14.3.1 ADHS in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Multimodale Therapie In der Regel ist eine multimodale Therapie notwendig. Die wesentlichen Komponenten der multimodalen Behandlung sind psychoedukative, psychosoziale, psychotherapeutische und medikamentöse Interventionen. Die häufig vorkommenden komorbiden Störungen bedürfen zu meist ebenfalls einer therapeutischen Intervention. Die psychotherapeutischen Ansätze basieren auf verhaltenstherapeutischen Prinzipien. Fazit Medikamentöse Therapie Therapieempfehlung für Medikamente zur Behandlung von ADHS, Hypersomnien und Bewegungsstörungen 5 Methylphenidat ist ein wirksames Medikament bei ADHS, auch bei Erwachsenen. Es muss »off-label« verordnet werden und ist BtM-pflichtig. Es besteht ein Abhängigkeitsrisiko. 5 Modafinil ist bei Narkolepsie und beim Schlafapnoesyndrom indiziert. Es hat einen psychoanaleptischen Effekt. Das Abhängigkeitsrisiko ist noch nicht endgültig geklärt. Es besteht BtM-Pflicht und hat ein hohes Nebenwirkungspotenzial. 5 Atomoxetin muss sich als neue Therapieoption bei ADHS noch bewähren. 5 Natriumoxybat kann jetzt bei Narkolepsie wirksam eingesetzt werden. Es besteht ein strikt regulierter Einnahmemodus. 5 »Restless-legs«-Syndrom und »periodic limb movements in sleep« können jetzt mit mehreren dopaminagonistischen Alternativen behandelt werden. In der medikamentösen Behandlung sind Psychostimulanzien (Methylphenidat, Amphetaminsaft) auf Grund ihrer erwiesenen Wirksamkeit Medikamente der ersten Wahl. Als Medikament der zweiten Wahl wird Atomoxetin momentan angesehen, bei zusätzlichen begleitenden emotionalen Auffälligkeiten gehört es auch zur ersten Wahl. TZA, Clonidin, Modafinil und Antipsychotika sind Medikamente der dritten Wahl und sollten nur angewendet werden, wenn die Medikamente der ersten und zweiten Wahl nicht wirksam sind oder starke Nebenwirkungen verursachen. Methylphenidat und andere Psychostimulanzien Die Indikation zur Therapie mit Psychostimulanzien ist gegeben, wenn die Symptomatik ausgeprägt ist und psychoedukative, psychosoziale und psychotherapeutische Hilfen nicht umsetzbar oder nicht hilfreich waren. Die Psychostimulanzien sind für das Kindes- und Jugendalter zur Behandlung der ADHS zugelassen. Die Behandlung sollte in der Regel mit einem schnell freisetzenden Stimulans beginnen. Beim Methylphenidat ist der Wirkungseintritt nach etwa 30 min für die Dauer von etwa 4 h zu erwarten (Dosis: . Tab. 14.1). Die Indikation für Retardpräparate ist gegeben, wenn eine verlässliche Mehrfachgabe dieser Präparate nicht möglich ist und ein stabiler Tageseffekt auf andere Weise nicht erreicht werden kann. Im Rahmen der längerfristigen Behandlung empfiehlt es sich, durch Auslassversuche die Wirksam- 131 14.3 · Medikamente zur Behandlung … keit zu überprüfen. Persistiert die ADHS in klinisch bedeutsamem Schweregrad, so ist eine kontinuierliche Medikation auch in das Erwachsenenalter hinein indiziert. Erwachsene benötigen im Vergleich zu Kindern in der Regel eine auf das Körpergewicht bezogene geringere Dosis der Psychostimulanzien. Zahlreiche Studien belegen die signifikante Wirkung von Psychostimulanzien in der Therapie der Kernsymptome der ADHS. Die weitaus meisten Studien liegen für Methylphenidat vor. Hat sich Methylphenidat als nicht wirksam erwiesen hat, empfiehlt es sich auf Amphetaminpräparate umzusteigen. Es wird derzeit empfohlen, dass Amphetaminpräparate bei Patienten mit strukturellen Herzerkrankungen nicht verordnet werden sollen. Pemolin ist ein Psychostimulans vom Nicht-Amphetamin-Typ. Pemolin ist potenziell leberschädigend und darf daher nur unter engmaschiger Kontrolle der Leberfunktionsparameter durch Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie erstverordnet werden, wenn die Behandlung mit Methylphenidat und Amphetamin erfolglos war. In der Praxis wird dieses Medikament kaum verordnet. Die sorgfältige und regelgerechte Medikation von Methylphenidat und Amphetaminen hat bei Personen mit ADHS in der Regel selten schädliche unerwünschte Wirkungen. Sie sind dosisabhängig, in der Regel vermeidbar und treten meistens nur zu Beginn der Therapie auf. Die Entwicklung eines Missbrauchs oder einer Abhängigkeit von Psychostimulanzien ist bei sachgemäßer und störungsspezifischer Einnahme nicht zu erwarten. Eine Dosissteigerung ist auch bei Dauermedikation meist nicht notwendig. Katamnestische Befunde sprechen dafür, dass Kinder und Jugendliche mit ADHS, die mit Psychostimulanzien behandelt wurden, seltener und später Tabak, Alkohol und illegale Drogen konsumieren (Remschmidt u. Heiser 2004; Stellungnahme der Bundesärztekammer 2007). Atomoxetin Atomoxetin ist zur Behandlung von ADHS im Kindes- und Jugendalter zugelassen. Darüber hinaus ist Atomoxetin für die Weiterbehandlung ins Erwachsenenalter zugelassen. Atomoxetin ist nach Methylphenidat und Amphetamin die am besten untersuchte Substanz mit guter Evidenzlage. In doppelblinden Studien konnte eine signifikante Reduzierung sowohl der Kernsymptome der ADHS als auch eine Verbesserung depressiver Symptome und der psychosozialen Lebensqualität nachgewiesen werden. Atomoxetin kann eine assoziierte Ticstörung lindern. 14 Antidepressiva Trizyklische Antidepressiva haben sich in der Behandlung der ADHS als wirksam erwiesen. Doppelblindstudien zeigten gegenüber Placebo positive Effekte für Imipramin und Desipramin. Desipramin kann bei ADHS auch komorbide Tics mindern. Clonidin Clonidin kann zum Einsatz kommen, wenn sich Psychostimulanzien und TZA als unwirksam erwiesen haben oder kontraindiziert sind. Modafinil In mehreren offenen und placebokontrollierten Studien konnte die Wirksamkeit von Modafinil bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS nachgewiesen werden. ADHS und Komorbiditäten Bei Kindern mit ADHS und Störung des Sozialverhaltens ist eine Therapie mit Psychostimulanzien positiv wirksam. Bei ausgeprägter komorbider Störung des Sozialverhaltens mit Impulskontrollstörung kommt eine Therapie mit dem AAP Risperidon oder ggf. die Kombination von Psychostimulanz und AAP in Betracht. Tics treten bis zu 30% assoziiert mit ADHS auf. Unter der Medikation von Methylphenidat kann es in Einzelfällen zur Verstärkung einer bestehenden TicSymptomatik oder zum Neuauftreten kommen. Dann kommt eine Therapie mit Atomoxetin in Betracht. Ist aufgrund des Schweregrades der ADHS eine Therapie mit Psychostimulanzienmedikation unverzichtbar, so ist es möglich, die Tics medikamentös mit Antipsychotika zu behandeln (z. B. mit Risperidon). Methylphenidat wirkt auch signifikant auf die Kardinalsymptome der ADHS bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung. Bei Kindern mit schwergradiger geistiger Behinderung ist hingegen häufiger eine entweder paradoxe Wirkung zu beobachten oder die Medikation zeigt keinen Effekt. Nichtmedikamentöse Behandlungsansätze Unter den nichtmedikamentösen Behandlungsansätzen hat in den letzten Jahren das Neurofeedback besondere Beachtung gefunden. Studien konnten zeigen, dass das Neurofeedback zu einer signifikanten Reduktion von Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität führt (Stellungnahme der Bundesärztekammer 2007). 132 14.3.2 1 2 3 Kapitel 14 · Medikamente zur Behandlung von ADHS, Hypersomnien und Bewegungsstörungen Hypersomnien Die Therapie der primären Hypersomnien im Kindes- und Jugendalter sollten zunächst physikalische und verhaltenstherapeutische Maßnahmen beinhalten und nur in Ausnahmefällen sollten Psychostimulanzien verordnet werden. 14.4 ? 1. 2. 4 14.3.3 5 Das RLS und die PLMS können »off-label« mit Clonidin, Clonazepam, Gabapentin und Dopaminrezeptoragonisten behandelt werden (Moore et al. 2006). Bewegungsstörungen 3. 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Checkliste Welche Alternativen sind Ihnen zu Methylphenidat bei der Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter bekannt? Welche Alternativen sind Ihnen zu Methylphenidat bei der Behandlung der ADHS im Kindes- und Jugendalter bekannt? Welche Medikation ist bei der Behandlung der Narkolepsie zugelassen? 133 15.1 · 15 III Krankheitsbilder 15 Depressive Störungen – 135 16 Panikstörung 17 Generalisierte Angststörung 18 Phobische Störungen – 167 19 Zwangsstörung 20 Posttraumatische Belastungsstörung 21 Akute Belastungsstörung und Anpassungsstörung 22 Somatoforme Störungen – 185 23 Essstörungen 24 Schlafstörungen 25 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen 26 Sexuelle Funktionsstörungen 27 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen – 221 28 Abhängigkeitsstörungen 29 Bipolare affektive Störungen – 235 30 Schizophrenie 31 Demenz 32 Bewegungsstörungen in der Psychiatrie 33 Spezielle Störungen im Kindes- und Jugendalter – 155 – 161 – 171 – 177 – 181 – 193 – 199 – 207 – 215 – 225 – 243 – 255 – 261 – 265 135 15.1 · 15 Depressive Störungen 15.1 Gesamtbehandlungsplan 15.2 Antidepressiva und Psychotherapie – 137 15.3 Akuttherapie mit Antidepressiva – 140 15.4 Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe mit Antidepressiva – 141 15.5 Ungenügende Response, Therapieresistenz und chronische Depression – 143 15.6 Andere Medikamente und Verfahren zur Depressionsbehandlung – 146 15.7 Spezielle pharmakotherapeutische Empfehlungen 15.7.1 15.7.2 15.7.3 15.7.4 15.7.7 15.7.8 Depressive Episode und rezidivierende depressive Störung Dysthymie und Double Depression – 149 Minor Depression und unterschwellige Depression – 149 Rezidivierende kurze depressive Episoden (»recurrent brief depression« nach DSM-IV) – 149 Atypische Depression – 149 Saisonal abhängige affektive Störung (SAD, Winterdepression) – 149 Suizidalität – 150 Depression bei körperlichen Erkrankungen – 150 15.8 Depression und Stress – 151 15.9 Behandlung depressiver Störungen im Kindes- und Jugendalter – 151 15.10 Checkliste 15.7.5 15.7.6 – 153 – 136 – 147 – 148 136 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 15 · Depressive Störungen Die Vielfalt von Symptommustern, die bei depressiven Störungen auftreten können, führte zu Unterteilungen, die jeweils deskriptiv bestimmte Aspekte des depressiven Syndroms hervorheben, z. B. den Längsschnitt (unipolar–bipolar, Dysthymie, »recurrent brief depression«, Rapid Cycling), die aktuelle klinische Symptomatik (gehemmt, ängstlich–agitiert, atypisch, melancholischer Subtyp), den Schweregrad (leichte, mittelschwere, schwere depressive Episode, mit oder ohne psychotische Merkmale, Major Depression, Minor Depression) oder das Auftreten im Rahmen anderer Störungen (bei Schizophrenien, Alkoholabhängigkeit, Demenz). Die wichtigsten Symptome der depressiven Episode werden in 7 Abschn. 15.7.1 beschrieben. Es werden zunächst die allgemeinen Richtlinien der Pharmakotherapie der Depression dargestellt. Im Anschluss werden in 7 Abschn. 15.7 spezielle pharmakotherapeutische Empfehlungen für die einzelnen Untergruppen der depressiven Störung beschrieben. Die Depressionen bei körperlichen Erkrankungen nehmen einen immer breiteren Raum ein. Unter 7 Abschn. 15.8 werden auch die Zusammenhänge zwischen Stress und Depression, die in der biologischen Psychiatrie sehr wichtig geworden sind, besprochen, obwohl eine akzeptierte Pharmakotherapie für Dauerstress zur Prävention der Depression noch nicht existiert. Die Pharmakotherapie der akuten Suizidalität wird im Rahmen der Notfalltherapie (7 Kap. 34) besprochen. Der Komplex Nebenwirkungen von Antidepressiva und Suizidalität steht in 7 Kap. 5; unter 7 Abschn. 15.7.7 finden sich Hinweise zur Suizidprophylaxe. zu sein (7 Abschn. 4.1). Während sich die bisherigen Untersuchungen zu Kandidatengenen aber primär auf die Aminhypothesen der Depression bezogen, werden die neuen Untersuchungen am gesamten Genom hypothesenfrei vorgenommen (Barden et al. 2006). Die hirnmorphologischen Veränderungen sind bei der Depression nicht so evident wie bei der Schizophrenie (7 Kap. 30). Sie finden sich diskret im präfrontalen Kortex, im limbischen System und im Hippocampus. Diese Störungen werden mit den Affekt- und Antriebsstörungen depressiver Patienten in Zusammenhang gebracht. Schließlich finden sich bei einer überwiegenden Anzahl Depressiver eine Hyperaktivität des Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Systems (HPAAchse) (Holsboer 2000). Eine glucokortikoidbedingte Volumenreduktion des Hippocampus ist aber nicht bewiesen (Müller et al. 2001). Über die Dysregulation der HPA-Achse hinaus gibt es Hypothesen zu einer gesteigerten zentralen Thyreotropin-Releasing-Hormon (TRH)-Sekretion und auch einer Störung des somatotropen Systems. Mögliche Hypothesen zu neurochemischen Veränderungen werden, soweit sie auch die Psychopharmakotherapie betreffen, im 7 Abschn. 5.2 (Wirkungsmechanismus der Antidepressiva) besprochen. Die neurobiologische Forschung bei depressiven Störungen hat aber trotz dieser vielen Ansätze noch nicht dazu geführt, dass kausal relevante Systeme identifiziert werden konnten (Holsboer 2008). So gibt es auch bis heute keinen »biologischen Marker« der zur Spezifizierung der Diagnose der Depression einen Beitrag liefern könnte. Neurobiologie der Depression. Eindeutig weisen die Zwillings- und Adoptionsstudien auf eine genetische Komponente der affektiven Erkrankung hin, besonders das unterschiedliche Erkrankungsrisiko bei Erstgradangehörigen von unipolar und bipolar Erkrankten im Vergleich zu Kontrollkollektiven aus der Bevölkerung (2,5- zu 7-fach). Auch fallen die Konkordanzraten bei monozygoten Zwillingspaaren mit etwa 50% zu 80% (unipolar versus bipolar) unterschiedlich aus. Gerade der letzte Befund gibt Anlass zu der Hypothese, dass über die genetischen Ursachen hinaus auch Umweltfaktoren für die Genese der Depression eine entscheidende Rolle spielen. In der letzten Zeit konnten Kandidatenregionen auf verschiedenen Chromosomen (4, 12, 18, 21, 22, X), besonders allerdings bei der bipolaren affektiven Störung, identifiziert werden. Interessant scheinen bei diesen Untersuchungen die positiven Befunde am Serotonintransportergen 15.1 Gesamtbehandlungsplan Für viele Patienten ist der notwendige Einsatz einer Pharmakotherapie zur Behandlung einer depressiven Störung nicht von vorneherein verständlich. Die Pharmakotherapie ist immer noch mit vielen Vorurteilen behaftet. Die Vermittlung eines Krankheitsmodells durch den Arzt oder Psychologen, das für den Patienten verständlich und akzeptabel ist und das den Einsatz einer medikamentösen Behandlung psychischer Beschwerden erklärt, ist unerlässlich. Dies gilt besonders dann, wenn eine langfristige Behandlung mit Antidepressiva notwendig wird, um die Compliance zu erhöhen und Rückfälle zu vermeiden (7 Abschn. 15.4). Es bietet sich an, das prägnante Krankheitsmodell einer »Stoffwechselstörung« zu vermitteln. Biochemische Veränderungen sind mit dem Auftreten von 137 15.2 · Antidepressiva und Psychotherapie depressiven oder manischen Symptomen verbunden und machen den Einsatz von Medikamenten zur symptomatischen, aber effektiven Therapie notwendig. Bei diesem Modell kann auf die Analogie zur Behandlung eines Diabetes mellitus oder einer essenziellen arteriellen Hypertonie verwiesen werden, wo ebenfalls eine symptomatische, aber effektive medikamentöse Therapie eingesetzt wird, deren Akzeptanz bei den Patienten in der Regel gut ist. Ein solches Krankheitsmodell behindert auch den psychotherapeutischen Zugang zu einem Patienten nicht, wenn man mit ihm die verschiedenen Aspekte seines Störungsbildes bespricht. Während durch die medikamentöse Therapie der biologische Aspekt der Störung symptomatisch, aber effektiv behandelt wird, kann etwa eine kognitive Verhaltenstherapie den Patienten zunehmend in die Lage versetzen auf der Ebene seiner Gedanken und des Verhaltens möglichst großen therapeutischen Nutzen aus der erzielten klinischen Besserung zu ziehen und so den Behandlungserfolg aktiv zu verstärken. Es ist wichtig, psychoedukative Elemente in die professionelle Therapie der Depression gerade dann zu integrieren, wenn eine längerfristige Therapie erfolgen muss. Dabei sollen Patient und Angehörige mit dem typischen Verlauf der Erkrankung und den möglichen Behandlungsstrategien in einer Erhaltungs- und Langzeittherapie vertraut sein. Therapiealternativen können in Familiengesprächen diskutiert werden. Die notwendige Medikation mit ihren möglichen Nebenwirkungen und Risiken bei Kombination mit anderen Medikamenten muss dem Patienten bekannt sein. Die individuellen Frühsymptome einer neuen depressiven Episode werden besprochen. Patient und Angehörige müssen den Weg kennen, wie der Therapeut über die ersten Warnsymptome informiert werden kann. Es gibt Hinweise, dass auch ein Problemlösetraining, das durch Nichtspezialisten durchgeführt werden kann, bei depressiven Patienten wirksam ist (Mynors-Wallis et al. 2000). Es ist bei leichten Erkrankungen eine Alternative, wenn psychotherapeutische Verfahren nicht zur Verfügung stehen. Verschiedene Übersichten bestätigen, dass kognitiv-verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Bibliotherapien (selbständige Bearbeitung eines Arbeitsbuches zur Überwindung der Depression) verglichen mit Wartebedingungen klinisch und statistisch bedeutende Effekte erzielen (McKendree-Smith et al. 2003). Auch ein über 10 Wochen gehendes spezifisches Gruppenprogramm bei unterschwelligen bis leichten Depressionen war einer lediglich unterstützenden Maßnahme hochsignifikant überlegen (Hautzinger 2001). 15.2 15 Antidepressiva und Psychotherapie1 Besonderes Augenmerk wurde in den letzten Jahren auf den Wirksamkeitsvergleich von Antidepressiva und Psychotherapieverfahren gelegt. In der Akut- und Erhaltungstherapie können angewandt werden: die medikamentöse Therapie, die Psychotherapie als Einzel-, Gruppen- oder Paartherapie und eine Kombination beider. Betont werden in diesen Empfehlungen die Therapien, die die höchsten Evidenzgrade beim Wirksamkeitsnachweis erlangt haben oder das günstigste Nutzen-Risiko-Verhältnis besitzen. Zur Anwendung spezifischer Psychotherapien und deren Evidenzstufen s. »Leitlinien: Psychotherapie Affektiver Störungen« (de Jong-Meyer et al. 2007). Unter den spezifischen psychotherapeutischen Verfahren sind die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) und die Interpersonelle Psychotherapie (IPT) auf ihre Wirksamkeit als Monotherapien oder in Kombination mit Psychopharmaka bei Depressionen am besten untersucht. Der Therapiefokus der IPT liegt auf der Bewältigung psychosozialer Stressoren; in der Praxis ist allerdings die Verfügbarkeit gering. Einzelne Wirksamkeitsnachweise liegen für die psychodynamische Kurzzeittherapie und die Gesprächstherapie vor; sie haben aber für die mögliche Therapie der Depression auch in Kombination mit Antidepressiva keine Bedeutung erlangt. Es liegen inzwischen weit über 90 kontrollierte Therapiestudien dazu vor (de Jong-Meyer et al. 2007). KVT bzw. IPT erreicht nicht nur bessere Ergebnisse in der Akutbehandlung im Vergleich zu Warte-, Placebo- oder unterstützenden bzw. Clinical-ManagementBedingungen, sondern sie führt auch oft zu vergleichbaren Effekten wie eine psychopharmakologische Behandlung. Allerdings kommen die Ergebnisse nicht immer zu demselben Schluss. Grundlegende Studien In einer großen Studie zur Akutbehandlung der Depression erhielten Patienten IPT, KVT, Imipramin oder Placebo (»clinical management«) (Elkin et al. 1989). Nach 16 Wochen zeigte sich eine signifikante Überlegenheit der Imipramingruppe gegenüber der 1 Wegen des großen Forschungsumfangs zur Kombinationstherapie bei den depressiven Störungen, wird dieses Kapitel, in Abweichung von der Gliederung der Kapitel 16-33, an den Anfang gestellt und ausführlich besprochen. 138 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 15 · Depressive Störungen alleinigen Psychotherapiebehandlung bei Patienten mit einer schweren Depression. Im Gegensatz dazu konnte in einer Vergleichsstudie (Hollon et al. 1992), in welcher depressive Patienten mit Imipramin, KVT oder einer Kombinationstherapie behandelt wurden, kein signifikanter Unterschied in der Wirksamkeit von Imipramin oder KVT gezeigt werden. Auch zeigte sich keine signifikante Überlegenheit der Kombinationstherapie (Hautzinger u. de Jong-Meyer 1996). DeRubeis wertete in einer Metaanalyse aus dem Jahre 1999 (DeRubeis et al. 1999) 4 vergleichbare kontrollierte Studien aus, u. a. die Elkin- und die HollonStudie. Hierbei kam er zu dem Ergebnis, dass auch bei schweren depressiven Episoden keine signifikante Überlegenheit der Pharmakotherapie gegenüber der Psychotherapie festzustellen sei. In einer Metaanalyse von 6 kontrollierten Studien (Casacalenda et al. 2002) zeigte sich bei leicht bis mittelschwer depressiven Patienten kein signifikanter Wirksamkeitsunterschied zwischen Psychotherapie (IPT oder KVT) und Antidepressiva. Eine Kombinationsbehandlung aus antidepressiver Medikation und IPT oder KVT allerdings zeigte sich in einer Megaanalyse von 6 Vergleichsstudien einer alleinigen Psychotherapie bei schweren Depressionen überlegen (Thase et al. 1997). Studien zu Antidepressiva und Psychotherapie in der Akuttherapie Die Studien erlauben zusammenfassend den Eindruck, dass in der Akuttherapie eine Kombination aus KVT und Antidepressiva einen synergistischen Behandlungseffekt haben (Kocsis et al. 2003), dies umso mehr, desto schwerer die Depression ist. Bei schweren Depressionen finden sich klare additive Effekte der Kombination vs. Psychotherapie alleine und Medikation alleine (Thase et al. 1997). Nach einer neuen Studie bei 200 schwer depressiven Patienten mit KVT über 16 Wochen ist KVT allerdings nur dann so erfolgreich wie ein Antidepressivum, wenn der Psychotherapeut exzellent ausgebildet ist (DeRubeis et al. 2005). Studien zu Antidepressiva und Psychotherapie in der »second-step-therapy« Es wurde in der STAR-D-Studie (Thase et al. 2007) gezeigt, dass bei mittelschwerer Depression, bei der der SSRI Citalopram allein nicht wirksam war, die Augmentation bzw. Kombination (sonstige Strategien 7 Kap. 15.4) in einem zweiten Therapieschritt mit dem Antidepressivum Bupropion oder dem Anxiolytikum Buspiron 3 Wochen früher wirksam war als die Kom- bination mit KVT. Vermehrte Nebenwirkungen wurden unter der Medikation im Vergleich zur KVT nicht gesehen. Bei einfachem Wechsel (also nicht unter Augmentation) von dem zuerst gegeben Antidepressivum Citalopram auf Bupropion, Sertralin, Venlafaxin oder KVT konnte kein Unterschied im Wirkungseintritt gesehen werden. Die Studie zeigt, dass bei mittelschwerer Depression, bei der im ersten Therapieschritt Citalopram nicht wirksam war, im zweiten Schritt sowohl andere Antidepressiva als auch KVT wirksam sind. Zeitlich vorteilhaft gegenüber KVT sind dann allerdings in dieser Studie Bupropion und Buspiron in der Augmentation. Studien zu Antidepressiva und Psychotherapie in der Erhaltungstherapie und Rückfallprophylaxe Neben der Akuttherapie haben sich psychotherapeutische Verfahren auch im Rahmen der Erhaltungstherapie und der Rückfallprophylaxe als wirksam erwiesen. Die Wirksamkeit scheint allerdings von der Rezidivneigung der Patienten beeinflusst zu werden. In der großen Studie der Arbeitsgruppe aus Pittsburgh waren die Erfolge in der Rezidivprophylaxe von Patienten mit hoher Rezidivneigung unter Imipraminbehandlung signifikant besser als unter allen Therapieformen ohne den Einsatz des Antidepressivums (Kupfer et al. 1992). In einer kürzlich veröffentlichten Studie der gleichen Arbeitsgruppe (Frank et al. 2007) wurde bei leichter bis mittelschwerer Depression unter einer IPT-Erhaltungstherapie einmal pro Monat ein guter prophylaktischer Effekt gesehen (Beobachtung über 1–2 Jahre). In dieser Studie konnte aber auch gezeigt werden, dass bei den Patienten, bei denen zunächst eine Pharmakotherapie mit einem Antidepressivum zur Remission notwendig war, eine spätere IPT-Monotherapie für die Rezidivprophylaxe unzureichend war. Nach den Katamneseergebnissen mehrerer großer kontrollierter Studien liegt ein wesentlicher Vorteil der Psychotherapie in ihrer längerfristigen Effektivität. Bei psychotherapeutischen Verfahren gibt es Hinweise, dass eine erfolgreiche Therapie auch nach ihrer Beendigung einen rezidivprophylaktischen Effekt haben kann (Klein et al. 2004; Vos et al. 2004). Die Akutbehandlung mit KVT bzw. IPT (allein oder in Kombination mit Medikamenten) senkt die Rückfallraten im Nachbehandlungsintervall deutlicher als medikamentöse Akutbehandlung allein (26% vs. 64% im 1-Jahres-Follow-up) (DeRubeis u. Crits-Christoph 1998). Es wurde kürzlich gezeigt, dass es bei Beendigung der KVT bei 30,8% der Patienten zu einem Rückfall 139 15.2 · Antidepressiva und Psychotherapie kommt, dagegen bei Absetzen des Antidepressivums bei 76,2% (Hollon et al. 2005). In einer kontrollierten Studie bei älteren Patienten mit rezidivierender depressiver Störung zeigte sich eine signifikant geringere Rückfallrate innerhalb von 3 Jahren unter IPT sowie ein synergistischer Effekt zur antidepressiven Medikation mit Nortriptylin (90%ige Rückfallrate bei Placebo, bei IPT und Placebo 64%, bei Nortriptylin 43%, bei Nortriptylin und IPT 20%) (Reynolds et al. 1999). Wichtig KVT und IPT sind sinnvolle Therapieansätze zur Prävention weiterer depressiver Episoden auch bei Patienten mit einem erhöhten Rückfallrisiko. Der medikamentöse Behandlungserfolg ist in der Rezidivprophylaxe in der Regel nur so lange gegeben, wie die Pharmakotherapie fortgeführt wird. Die Antidepressiva sollten allerdings auch weiter verordnet werden, wenn sie anfänglich zu einer Remission geführt haben. Die psychotherapeutischen Verfahren haben wahrscheinlich auch nach ihrer Beendigung einen rezidivprophylaktischen Effekt. 15 renden depressiven Symptomen trotz antidepressiver Behandlung, konnte für die Kombinationsbehandlung aus KVT und Antidepressiva im Vergleich zu einer Antidepressiva- Monotherapie gezeigt werden. (47% vs. 29%) (Paykel et al. 1999). In einer neuen Langzeitstudie von der gleichen Autorengruppe, aber über 6 Jahre, allerdings zeigt sich ein Vorteil für die KVT nur in den ersten 3 Jahren. Über diesen Zeitraum hinaus verschwindet der Vorteil für KVT im Vergleich zum »klinischen Management«, um Rückfälle zu verhindern (Paykel et al. 2005). Diese Ergebnisse stehen im Gegensatz zu der Arbeit von Fava et al. 2004 bei einem ähnlichen Therapieziel. Der Unterschied liegt darin, dass Fava et al. die Antidepressiva nach Remission abgesetzt hatten, während bei Paykel et al. diese weitergegeben werden konnten (es waren 60%). Auch war der Anteil von chronisch Depressiven bei Fava et al. geringer. Beide Studien zeigten die Bedeutung von KVT in den ersten Jahren. Über den Vorteil einer fortgesetzten Therapie mit Antidepressiva und/oder einer Auffrischungstherapie (»booster session«) und/oder eines »klinischen Management« ist bei dieser Patientengruppe nach diesen beiden Studien noch nicht entschieden. Wichtig Studien zu Antidepressiva und Psychotherapie der chronischen Depression (Therapieresistenz) Die Studien erreichen bisher insgesamt kein hohes Evidenzniveau. Die wichtigste Studie mit 681 Patienten verglich über 12 Wochen psychologische Therapien mit Antidepressiva (SSRI). Angewandt wurde das »Cognitive Behavioral Analysis System for Psychotherapy« (CBASP). In dem Verfahren werden behaviorale, kognitive und interpersonelle Strategien integriert. Die Remissionsraten lagen für CBASP bei 33%, für SSRI bei 29%, dagegen bei Kombination der beiden Therapien bei 48%. Der additive Effekt der Kombinationstherapie ist signifikant (Keller et al. 2000). In den Studien war ein Vorteil für CBASP besonders für Angstsymptomatik, sexuelle Dysfunktion und Verbesserung des sozialen Funktionsniveaus zu erkennen. Patientinnen mit Kindheitstraumata (körperlicher oder sexueller Missbrauch, früher Elternverlust, familiäre und soziale Vernachlässigung) profitierten besonders von der Psychotherapie. In dieser Gruppe schnitt Pharmakotherapie schlechter, die Kombinationstherapie aber etwas besser als CBASP alleine ab (Nemeroff et al. 2003). Einen langfristigen Benefit und eine signifikant geringere Rückfallrate bei Patienten mit persistie- Es spricht nach der jetzigen Studienlage bei chronischer Depression aber alles für eine Fortsetzung der Therapie mit Antidepressiva und nach einer ersten KVT für eine »booster session« nach 2–3 Jahren. Studien zu Antidepressiva und Psychotherapie der Depression im höheren Lebensalter Es besteht ein Mangel an kontrollierten psychotherapeutischen Studien im höheren Lebensalter. Die KVT wurde am häufigsten untersucht; sie zeigt sich kurz (4 Monate) und längerfristig (1 Jahr) Kontrollgruppen überlegen (Hautzinger u. Welz 2004). Auch die Reminiszenztherapie (d. h. Lebensrückblicktherapie, diese beinhaltet Bearbeitung aller Lebensabschnitte mitsamt ihren Höhen und Tiefen) scheint wirksam zu sein (de Jong-Meyer et al. 2007; Bohlmeijer et al. 2003). In einer neuesten Studie bei Patienten über 70 Jahre allerdings war über einen Zeitraum von 2 Jahren Paroxetin (plus »clinical management«) der IPT (plus Placebo) und Placebo (plus IPT) signifikant überlegen (Reynolds et al. 2006). 140 Kapitel 15 · Depressive Störungen 15.3 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Fazit Antidepressiva und Psychotherapie im Vergleich – Bewertung 5 Bei der Akuttherapie der leichten Depression ist zunächst KVT allein (z. B. Kurztherapie bis zu 8 Sitzungen über 12 Wochen) oder IPT indiziert. Voraussetzung ist die Verfügbarkeit einer spezifischen Psychotherapie; wenn sie nicht gegeben ist oder wenn ein Erfolg durch Psychotherapie nicht gesehen wird, sollten SSRI verordnet werden. 5 Handelt es sich aber um die Akuttherapie einer leichten Depression mit einer mindestens mittelschweren Depression in der Vorgeschichte, sollte gleich eine Kombination aus SSRI und KVT (z. B. bis zu 20 Sitzungen über 9 Monate) erwogen werden. 5 Bei der Akuttherapie der schweren Depression sollte man gleich mit einem SSRI oder mit einem dualen Antidepressivum beginnen. Eine zusätzliche Psychotherapie ist nach einer Studie nur dann sinnvoll, wenn der Psychotherapeut exzellent ausgebildet ist. 5 Bei der chronischen Depression, unzureichendem Therapieerfolg bzw. Therapieresistenz ist die Kombinationstherapie anzustreben. Der nachhaltige zusätzliche Wert der KVT im Vergleich zu Antidepressiva allein in der Langzeittherapie bis zu 3 Jahren ist evident. Auch eine große Studie weist bei der chronischen Depression auf eine notwendige Kombination von Antidepressiva und Psychotherapie hin. 5 Auch bei der rezidivierenden Depression mit einem Rückfall unter Antidepressiva ist die zusätzliche KVT indiziert. 5 Bei der Rezidivprophylaxe sollte KVT oder IPT möglichst in Kombination mit einem Antidepressivum (ggf. auch Lithium) eingesetzt werden. Die Rückfallrate wird gesenkt. Wenn eine Remission unter einem Antidepressivum (mit oder ohne gleichzeitige IPT) erreicht wurde, ist zur Fortführung der Therapie auch weiterhin das Antidepressivum (neben der IPT) nötig; eine alleinige IPT reicht nicht aus. 5 Bei chronischen Depressionen ist zu erwägen, 2–3 Jahre nach erstmaliger KVT eine »booster session« anzusetzen. 5 Psychotherapeutische Verfahren können bei Depressionen im höheren Lebensalter eine sinnvolle Ergänzung zur Therapie mit Antidepressiva sein. Akuttherapie mit Antidepressiva 5 Eine zuverlässige Vorhersage eines individuellen Therapieerfolgs bei einem bestimmten Antidepressivum ist auch heute noch nicht möglich. 5 In der Regel beobachtet man unter einer Behandlung mit einem Antidepressivum eine allmähliche Besserung im Zeitverlauf. Voraussetzung ist eine kontinuierliche antidepressive Pharmakotherapie in einer ausreichend hohen Dosierung. 5 Bei der Mehrzahl der Behandlungen ist damit zu rechnen, dass sich ein ausreichender Therapieerfolg (mindestens 50%-Abnahme der depressiven Symptomatik) erst im Verlauf der ersten 4 Wochen, manchmal auch erst nach 6– 8 Wochen ausbildet. In diesem Zeitraum treten häufig zunächst Nebenwirkungen, danach erst vom Patienten wahrgenommene antidepressive Effekte auf. 5 Der Patient sollte über diesen charakteristischen Verlauf informiert werden, um den Therapieerfolg nicht durch vorzeitige Beendigung der Medikation zu gefährden und die Compliance zu sichern. 5 Es ist darauf zu achten, dass auch die leichte depressive Episode erfolgreich behandelt wird, denn das Risiko, an einer schweren Depression zu erkranken, ist für Patienten mit leichten Depressionen fünfmal höher als bei Gesunden. Ziel der Akuttherapie ist die Remission (7 Abschn. 15.5). Wirkungseintritt 5 Gut verträgliche Substanzen, die rasch aufdosiert werden können, führen in den ersten zwei Wochen zu einem schnelleren Wirkungseintritt. Für Venlafaxin und Mirtazapin wurde ein solcher Effekt in kontrollierten Studien beschrieben (Szegedi et al. 2003; Katz et al. 2004). Nach 4 Wochen gibt es aber keine Unterschiede mehr zwischen diesen beiden und anderen Antidepressiva. 5 Bei älteren Patienten kann der Wirkungseintritt länger dauern. 5 Je nach dem pharmakologischen Wirkprofil des Antidepressivums können einzelne Symptomkomplexe des depressiven Syndroms unterschiedlich schnell auf die Therapie ansprechen. Unter Mirtazapin besserten sich Schlafstörungen, Agitation und somatische Beschwerden im Behandlungsverlauf schneller als unter SSRI. 141 15.4 · Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe mit Antidepressiva 15 Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe mit Antidepressiva Wichtig 15.4 5 Studien zeigen, dass der individuelle Besserungsverlauf in den ersten beiden Behandlungswochen für die klinische Praxis von großer, bislang nicht genutzter Bedeutung ist und den späteren Behandlungserfolg zu prädizieren erlaubt. 5 Eine klinische Besserung von mindestens 20% der gesamten depressiven Symptomatik innerhalb der ersten 2 Behandlungswochen stellt einen hochsensitiven Prädiktor eines späteren Therapieerfolgs dar. 5 Dies bedeutet in der Praxis, dass die Therapiestrategie bereits nach 2 Wochen überprüft werden sollte. Wenn innerhalb dieser Zeit keine Abnahme eines »Depression-Summenscores« von mindestens 20% beobachtet wird, sollte eine neue Behandlungsstrategie erwogen werden (7 Abschn. 15.5). 5 Allerdings ist eine frühe Response von 20% keine Garantie für eine langanhaltende Besserung bei jedem depressiven Patienten. Patienten mit einer depressiven Episode entwickeln in mehr als 50% der Fälle im Verlauf weitere Episoden, bei 10–20% kommt es zu einen Diagnosenwechsel hin zur bipolaren Störung (unipolarer Verlauf, . Abb. 15.1; zu bipolaren Verläufen 7 Kap. 29). Bei mindestens jedem 5. Patienten klingt die depressive Symptomatik nicht vollständig ab, es persistieren subsyndromale Bilder, die den Patienten wesentlich beeinträchtigen. Etwa 15% der Patienten mit einer affektiven Störung suizidieren sich im Krankheitsverlauf und bei 50% kommt es im Laufe der Erkrankung zu einem Suizidversuch. Im Verlauf der – auch gut eingestellten – depressiven Erkrankung kann es immer wieder zu kurzen, milden depressiven Einbrüchen (»blips«) kommen. Sie bedürfen keiner medikamentösen Strategieänderung. Der Patient sollte darüber informiert sein. Definition Zur Therapieplanung unipolarer Verläufe werden unterschieden: 5 Akuttherapie 5 Erhaltungstherapie 5 Rezidivprophylaxe Akuttherapie Ziel: Remission Erhaltungstherapie Ziel: Erhaltung der Remission 6-12 Monate (sonst höheres Rückfallrisiko) Rezidivprophylaxe Ziel: Verhinderung neuer Episoden 1 Jahr u. länger (sonst höheres Rezidivrisiko) Euthymie Rückfall Rezidiv Zeit Beginn der Behandlung . Abb. 15.1. Verlaufsschema bei unipolarer Depression mit Risiken des Rückfalls oder Rezidivs. 142 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Kapitel 15 · Depressive Störungen Wichtig Indikation für eine Rezidivprophylaxe Ziel einer antidepressiven Therapie ist das Erreichen einer Vollremission. Depressive Residualsymptome sind ein hohes Risiko für einen Rückfall. Deswegen sind Erhaltungstherapie und die Rezidivprophylaxe bei einem phasenhaften Verlauf in der Regel indiziert. Auch bei einer ersten depressiven Episode sollte eine Erhaltungstherapie über mindestens 6 Monate erfolgen. Erhaltungstherapie 5 Nach der Akuttherapie beginnt die Erhaltungstherapie. In dieser Phase, für die eine Länge von 6 Monaten und bis zu einem Jahr diskutiert wird, soll einem Rückfall vorgebeugt werden. Restsymptome sollten nicht mehr vorhanden sein (es ist davon auszugehen, dass typische unbehandelte depressive Episoden 6 Monate lang andauern). 5 Es ist wichtig, dass die Dosierung, die in der Akuttherapie zum Erfolg geführt hat, auch beibehalten wird. 5 Der Behandlungserfolg sollte in mindestens 2monatigen Konsultationen kontrolliert werden. Wichtig 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 5 Eine mindestens 6-monatige Erhaltungstherapie kann beendet werden, wenn keine weitere Episode anamnestisch bekannt ist oder eine leichte Episode mehr als 5 Jahre zurückliegt. 5 Eine Erhaltungstherapie darf nicht beendet werden, wenn die Akuttherapie nicht zur vollständigen Remission geführt hat. Rezidivprophylaxe Die Rezidivprophylaxe der unipolaren Depression setzt nach erfolgreicher Akut- und Erhaltungstherapie ein. Sie dauert mindestens 3 Jahre, oft auch lebenslang. 5 Die Weiterführung einer Pharmakotherapie mit Antidepressiva sollte immer die Grundlage der Rezidivprophylaxe sein. Die Indikation für eine Rezidivprophylaxe ist gegeben, wenn 5 eine dritte Episode aufgetreten ist; 5 zwei Episoden in 5 Jahren aufgetreten sind; 5 über eine weitere schwere Episode innerhalb der letzten 3 Jahre berichtet wird; 5 eine weitere Episode und eine positive Familienanamnese einer bipolaren Störung oder einer rezidivierenden Depression bestehen. Die Indikation wird weiter erhärtet, wenn 5 zusätzlich die Störung vor dem 30. Lebensjahr begann; 5 gleichzeitig eine »Doppeldepression« (7 Abschn. 15.7.2) oder eine Angststörung vorhanden ist; 5 noch Restsymptome während der Erhaltungstherapie verblieben sind. 5 Für den Erfolg sind eine gute Psychoedukation und Compliance entscheidend. Der Hintergrund einer langfristigen medikamentösen Behandlung nach Abklingen der subjektiven Beschwerden muss dem Patienten sorgfältig erläutert werden, um die Compliance zu sichern. Dem Patienten muss spätestens jetzt ein tragfähiges Krankheitsmodell vermittelt werden, das ihm eine Erklärung für die Notwendigkeit langfristiger Medikamenteneinnahme bei bereits überwundenen psychischen Beschwerden gibt (7 Abschn. 15.1). 5 Die rezidivprophylaktische Wirkung der Antidepressiva wurde durch einige prospektive Langzeitstudien belegt. Die bekannteste randomisierte Studie (Kupfer et al. 1992) zeigte einen klaren Vorteil für Imipramin im Vergleich zu IPT bei der rezidivierenden Depression. In einer neuen methodisch gut durchdachten Studie mit 299 Patienten mit mindestens 3 depressiven Episoden in den vergangenen 4 Jahren lag die Zahl der Rückfälle unter dem SSRI Sertralin (50 und 100 mg) signifikant mit 16% unter Placebo mit 33% (Lepine et al. 2004). In einer ähnlichen Studie mit 139 rezidivierenden unipolaren depressiven Patienten hatten 27% unter dem SSRI Escitalopram und 65% unter Placebo einen Rückfall. Auch unter einer Mirtazapin- bzw. VenlafaxinLangzeittherapie kam es zu selteneren Rückfällen in anderen Studien. 15.5 · Ungenügende Response, Therapieresistenz und chronische Depression 5 Lithium (7 Kap. 6) ist bei unipolarem Verlauf den Antidepressiva ebenbürtig, besonders gibt es gute Hinweise, dass das Suizidrisiko unter Lithium sinkt. Aus Gründen der Verträglichkeit und Praktikabilität wird Lithium aber im Routinefall seltener als Antidepressiva bei dieser Indikation angewandt. Der Lithiumspiegel sollte zwischen 0,6 und 0,8 mmol/l liegen. 5 Da bei einer langfristigen Behandlung das Nebenwirkungsprofil für die Compliance eine große Rolle spielt, sind die Vorteile der neueren Antidepressiva gegenüber den trizyklischen Antidepressiva (TZA) in dieser Indikation besonders zu nutzen. Die Rezidivprophylaxe sollte in einem 2- bis 3-monatigen Abstand kontrolliert werden. Cave 5 Es gibt immer wieder diskutiert, ob Antidepressiva im Rahmen einer Langzeittherapie Manien induzieren können. Für TZA ist dies gesichert; deshalb sollen sie in der Rezidivprophylaxe nicht gegeben werden. 5 Für die SSRI sieht man das Risiko, Manien bei der unipolaren Depression zu induzieren, zzt. als geringer an (7 Kap. 6 für die bipolare Depression). Psychotherapie zur Rezidivprophylaxe (7 Abschn. 15.2) KVT (zum Teil auch IPT) zeigten sich in der Rückfallprophylaxe in mehreren Studien der medikamentösen Therapie insgesamt entweder überlegen oder gleichwertig, auch additive Effekte sind beschrieben (de Jong-Meyer 2007). Rezidivprophylaxe mit neuem Rezidiv 5 Wenn es im Rahmen der Rezidivprophylaxe mit einem Antidepressivum zu einem Rezidiv kommt, ist abzuwägen, ob eine Lithiumprophylaxe zusätzlich eingeleitet werden soll. Bei wiederholtem Rezidiv und bei Versagen einer Prophylaxe mit einem Antidepressivum in Kombination mit Lithium kann auch Lithium zusätzlich mit Carbamazepin kombiniert werden. 5 Der depressive Patient sollte die für ihn typischen Symptommuster genau kennen, damit schnell eine neue Strategie bei einem Rezidiv entwickelt werden kann. Der Patient sollte aber auch darüber informiert sein, dass leichte depressive Symp- 143 15 tome im Verlauf einer unipolaren Erkrankung häufig sind und durch psychotherapeutische Intervention in der Regel schnell abgefangen werden können 15.5 Ungenügende Response, Therapieresistenz und chronische Depression Über 30% der depressiven Patienten profitieren klinisch nicht in ausreichendem Maße von einem ersten Therapieversuch von 8 Wochen mit einem Antidepressivum; d. h. es ist nicht zu der gewünschten Remission gekommen. Auch nach einem zweiten Versuch tritt bei einem Teil dieser Nonresponder keine Remission ein. Schließlich verbleibt auch nach mehreren Therapieversuchen eine Restgruppe chronisch Depressiver von ca. 15%. Definition Remission. Das eigentliche Ziel einer antidepressiven Therapie ist das Erreichen der Symptomfreiheit (Schweregradskala, z. B. Hamilton-Skala ≤7) sowie der Wiederherstellung des psychosozialen Funktionsniveaus. Response. In klinischen Studien wird eine Response als eine mindestens 50%-Reduktion der depressiven Symptomatik, gemessen anhand einer Schweregradskala, definiert. Partielle Response und Non-Response. Von einer partiellen Response spricht man, wenn die erreichte Besserung nach etwa 4- bis 6-wöchigen Behandlung zwischen 25 und 50% beträgt. Non-Response liegt also vor, wenn in diesem Zeitraum weniger als 25% Besserung eintreten (. Abb. 15.2). Therapieresistenz. Für eine Therapieresistenz gibt es bislang keine einheitliche Definition. Als Minimalkonsens sollte von Therapieresistenz dann gesprochen werden, wenn zwei verschiedene Antidepressiva mit unterschiedlichen Wirkprofilen jeweils nach 4–6 Wochen Behandlung in ausreichender Dosis wirkungslos waren. Je nach erreichter Besserung und der Anzahl der erfolglosen Behandlungsversuche können unterschiedliche Strategien sinnvoll sein. Eine empirisch abgesicherte Reihenfolge der im Folgenden beschriebenen Therapiestrategien gibt es aber bislang nicht. 144 Kapitel 15 · Depressive Störungen . Abb. 15.2. Grade der Besserung bei der unipolaren Depression. (Aus Benkert u. Hippius 2007) 1 2 R e m is s i o n E u t h y m ie 3 R e s p o n se 4 50% P a r t ie l l e R e s p o n se 5 Non R e s p o n se 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 25% Z e it B e g in n d e r B e h a n d l u n g 5 Stellt sich in den ersten beiden Behandlungswochen eine partielle Response ein, kann zunächst mit der begonnenen Behandlung fortgefahren werden. Bleibt sie aus, kann schon früh im Behandlungsverlauf von einer relativ geringen Chance, in den nächsten 2–4 Wochen noch eine Response bzw. Remission zu erreichen, ausgegangen werden (7 Abschn. 15.3, Wirkungseintritt). 5 Bei Vorliegen einer Non-Response oder Therapieresistenz sollte zunächst die Compliance des Patienten, etwa durch Messung des Plasmaspiegels, sowie die Diagnose überprüft werden. Eine vertiefte Psychoedukation und konsequente Psychotherapie ist anzustreben. Als Begleittherapien sind Bewegungs- und Lichttherapie, ggf. auch schon der Schlafentzug (s. unten) frühzeitig einzusetzen (. Abb. 15.3). 5 Der Algorithmus der . Abb. 15.3 bezieht sich auf einen ersten Behandlungsschritt mit Antidepressiva. Bei fehlender Remission oder sogar Verschlimmerung der Symptomatik unter einer KVT oder IPT im ersten Behandlungsschritt ist rechtzeitig ein Antidepressivum parallel einzusetzen. Zwar ist der Zeitpunkt empirisch nicht festgelegt, sollte nach einem Zeitraum von 4 bis 8 Wochen aber spätestens erfolgt sein. 5 Es gibt einen additiven Effekt der Kombination aus Antidepressiva und Psychotherapie, insbesondere bei Patienten mit belastenden Konflikten in der Anamnese (7 Abschn. 15.2). Häufigste Strategien 5 Meistens wird bei fehlender Response die Dosis erhöht. Diese Strategie kann manchmal erfolgreich sein, ist aber durch Studien nur für TZA, MAO-Hemmer und Venlafaxin belegt. Die Bestimmung der Plasmakonzentration des TZA kann eine relative Unterdosierung aufdecken (7 Kap. 2). Eine Dosiserhöhung unter SSRI ist in der Regel nicht mit besseren Behandlungsergebnissen verknüpft. 5 Bei fehlender Response wird oft auch das Antidepressivum gewechselt. Es sollte dann ein Antidepressivum mit einem anderem Angriffspunkt im ZNS gewählt werden, z. B. nach erfolgloser Gabe eines SSRI ein Antidepressivum mit überwiegender NA-Rückaufnahmehemmung. Allerdings wird dann beim Wechsel auf ein drittes Antidepressivum nur noch eine geringe Remissionsrate gesehen (Fava et al. 2006). Kombinationsstrategien mit zwei Antidepressiva Darunter wird der gleichzeitige Einsatz von zwei Antidepressiva mit nachgewiesener antidepressiver Wirksamkeit in jeweiliger Monotherapie verstanden. 145 15.5 · Ungenügende Response, Therapieresistenz und chronische Depression 15 Therapieerfolg unter Antidepressiva unzureichend Optimierung der Behandlung: Compliance überprüfen Plasmaspiegelkontrolle Diagnose überprüfen Psychoedukation vertiefen Bewegungstherapie Lichttherapie Schlafentzug Wenn keine Besserung, zusätzliche Optionen: Konsequente Psychotherapie Wechsel des AD Dosiserhöhung erwägen Kombination: SSRI/Venlafaxin + Mirtazapin Augmentation: AD + Lithiuma AD + SD-Hormone AD + AAP Keine Besserung EKB . Abb. 15.3. Wichtigste Maßnahmen bei unzureichendem Therapieerfolg. AD Antidepressivum, PT Psychotherapie, SE Schlafentzug, SD-Hormone Schilddrüsenhormone, AAP aty- Wichtig Die komplexen pharmakologischen Wirkungen geben heute immer früher Anlass, zwei Antidepressiva zu kombinieren. Ausschlaggebend sind zwei Gründe: 5 Der oft komplementäre pharmakologische Wirkmechanismus des Antidepressivums öffnet neue Response-Chancen, z. B. verstärkte Serotoninrückaufnahmehemmung durch einen SSRI und gleichzeitigen präsynaptischen α2-Antagonismus durch Mirtazapin. Durch die Blockade des 5-HT2A-Rezeptors (Mirtazapin) wird die therapeutische Wirkung der SSRI wahrscheinlich verstärkt. Dies gilt auch für Venlafaxin. 5 Das Wirkspektrum zweier Antidepressiva kann eine breitere psychopathologische Symptomatik abdecken, z. B. Antriebssteigerung durch Venlafaxin und gleichzeitige Schlafförderung durch Mirtazapin. pische Antipsychotika, a 7 Abschn. »Augmentations-und Kombinationsstrategien«. (Aus Benkert u. Hippius 2007) 5 Auch wenn man nach Versagen eines SSRI einen zweiten SSRI verschreibt, besteht eine Chance auf Response von 50%. 5 Kombinations- bzw. Augmentationsstrategien im Vergleich zu KVT (7 Abschn. 15.2). Augmentationsstrategien Unter Augmentation versteht man die zusätzliche Verordnung einer Substanz, für die, wenn sie allein eingenommen wird, keine antidepressive Wirksamkeit besteht. Lithium. Bei der am besten belegten Augmentati- onsstrategie werden Lithiumkonzentrationen, wie bei der Phasenprophylaxe (0,6–0,8 mmol/l), angestrebt (7 Kap. 6). Es wird ein synergistischer Effekt über die serotonerge Transmission angenommen. Ein Therapieerfolg kann nach 2–4 Wochen erwartet werden. Die Kombination SSRI und Lithium führte bei 50% der Patienten nach 1–2 Wochen (selten nach 6 Wochen) zu einer Response. Gesicherte Prädiktoren fehlen bislang. Ergebnisse einer Studie sagen aus, dass 146 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 15 · Depressive Störungen eine erfolgreiche Lithiumaugmentation mindestens 1 Jahr fortgeführt werden soll. Schilddrüsenhormone. In einigen kontrollierten Studien war die Gabe von T3 (L-Trijodthyronin) zu einem TZA bei therapieresistenten Patienten, auch bei euthyreoter Stoffwechsellage, erfolgreich. Auch zusätzliches Thyroxin (T4) in supraphysiologischen Dosen kann zum Therapieerfolg führen. Empfohlen werden kann diese Augmentation am ehesten bei subklinischem Hypothyreodismus (hohes TSH, normale Schilddrüsenhormone). Atypische Antipsychotika. Es gibt zunehmend posi- tive Berichte, die für den Einsatz dieser Gruppe mit Antidepressiva sprechen. Elektrokrampftherapie. Sie ist nach wie vor eine The- rapiestrategie mit gut belegter Wirksamkeit bei Therapieresistenz. Während diese Therapie in den USA sehr frühzeitig bei Therapieresistenz eingesetzt wird, gilt sie im deutschsprachigen Raum oft als Ultima Ratio (. Tab.. 15.3). 15.6 Andere Medikamente und Verfahren zur Depressionsbehandlung Zur Depressionsbehandlung können, neben Antidepressiva und Psychotherapie, noch weitere Verfahren und Medikamente zur Anwendung kommen. Benzodiazepine 5 Es gibt keine Belege für eine spezifische antidepressive Wirkung von Benzodiazepinen. Es wurde aber in einer Metaanalyse über die Kombination von Benzodiazepinen mit Antidepressiva im Vergleich zur alleinigen Therapie mit Antidepressiva ein deutlicher Vorteil für die Kombination beschrieben. 5 Zum kurzfristigen Einsatz in Kombination mit Antidepressiva sind Benzodiazepine bei starker Unruhe, Angst, Suizidalität und Panikattacken gut geeignet. Nach 2–4 Wochen sollten sie ausgeschlichen werden. 5 Bei stark gehemmt-depressiven Patienten mit Stupor und Mutismus ist Lorazepam das Mittel der Wahl (7 Abschn. 8.4.1). Antipsychotika 5 Es gibt jetzt einige Studien, die auch eine antidepressive Wirkung der atypischen Antipsychotika bei Depressionen ohne psychotische Merkmale belegen. Für ihre Eignung als Add-on-Therapie gibt es immer mehr Hinweise. 5 Atypische Antipsychotika haben in der Therapie bei depressiven Störungen im Rahmen schizophrener und schizoaffektiver Störungen schon jetzt einen wichtigen Stellenwert (7 Kap. 7), als Monotherapie bei einer Depression sind sie nicht indiziert. Hormone 5 Ein Einsatz von Östrogenen kann bei Frauen in der Menopause erfolgversprechend sein. Bei Frauen ohne depressive Anamnese zeigte sich eine 2,5-fache höhere Assoziation für eine Depression in der Menopause im Vergleich zur Prämenopause (Freeman 2006). Frauen mit bekannter postpartaler Depression sind offenbar sensitiv für psychotrope Effekte von Östrogenen und Gestagenen. Der Einsatz einer Östrogensubstitution in Kombination ist bei diesen Patientinnen erwägenswert, als Monotherapie aber meist nicht ausreichend. Grundsätzlich scheint die Remissionsrate bei zusätzlicher Hormonherapie einer alleinigen Therapie mit Antidepressiva überlegen zu sein (Thase 2005). Allerdings muss auf die laufende Diskussion über das erhöhte Risiko des Einsatzes von Hormonen bei der Frau hingewiesen werden. Ein Einsatz kommt nur in enger Zusammenarbeit mit dem Gynäkologen in Frage. 5 Schilddrüsenhormone haben ihren Einsatz in der Augmentationstherapie bei Therapieresistenz (7 Abschn. 15.6). 5 Testosteron zur Stimmungsregulation ist weiter sehr umstritten und kann derzeit bei Männern wegen der Gefahr der Induktion manischer Symptome und der Gefahr des Zellwachstums (besonders Prostatakarzinom) nicht empfohlen werden. Eine neue Studie zeigt, dass bei Frauen die Libido durch Testosteron nicht gesteigert wird und eine andere Studie, dass bei älteren Männern Dehydroepiandrosteron (DHEA) und niedrige Dosen Testosteron im Vergleich zu Placebo ohne Wirkung auf die Lebensqualität (»Antiaging«) waren. Schlafentzug 5 Der Schlafentzug ist bei vielen Patienten eine sinnvolle Zusatztherapie zur Gabe von Antidepressiva. Da ca. 50% der Patienten vom Schlafentzug profitieren können, ist ein solcher Therapieversuch, besonders bei zunächst unzureichender 147 15.7 · Spezielle pharmakotherapeutische Empfehlungen 15 Wirkung des Antidepressivums, lohnend. Der Effekt ist unmittelbar am Folgetag beobachtbar; er hält allerdings meist nur kurzfristig an. 5 Die Behandlung erfolgt meist in Serien (1- bis 2mal pro Woche). Die Patienten wachen entweder die ganze Nacht oder die zweite Nachthälfte durch. Die Durchführung in Gruppen erleichtert das Wachbleiben. 5 Während der Schlafentzugsnacht und am Folgetag darf keine (auch nicht vorübergehende) Schlafperiode eintreten. onen (therapieresistente Depression) ist es alleiniger Pharmakotherapie überlegen. Der Vorteil der EKB liegt im raschen Therapieerfolg. 5 Wichtigste Indikationen sind die schwer gehemmte Depression (auch mit Suizidalität), die Depression mit psychotischen Merkmalen und die therapieresistente Depression. 5 Die Behandlung erfolgt, bevorzugt stationär, in Serien von 6–12 Sitzungen. 5 Die EKB wird in der Regel parallel zu der begleitenden antidepressiven Therapie eingesetzt. Lichttherapie Repetitive transkranielle Magnetstimulation 5 Die Patienten werden täglich einer Lichtquelle mit artifiziellem weißem Licht ausgesetzt. Der Wirkmechanismus ist noch ungeklärt; es wird eine Normalisierung (»phase advance«) von zirkadianen Rhythmen, die in der Depression verzögert sein sollen, postuliert. Die Response bei der »seasonal affective disorder« (SAD) tritt innerhalb von 1–4 Wochen ein. Mehrere kontrollierte Studien zeigen die antidepressive Wirkung der Lichttherapie bei SAD, die der Wirkung von Antidepressiva entspricht. 5 Ein einstündiger täglicher Spaziergang am Morgen über mehrere Wochen soll einen ähnlichen Effekt haben. 5 Durchführung: Je nach Stärke der künstlichen Lichtquelle erfolgt eine Exposition über 30– 120 min täglich (bei 10.000 Lux 30 min, bei 2500–6000 Lux 60–120 min), bevorzugt morgens zwischen 6 und 8 Uhr, über 2–4 Wochen. 5 Vor Beginn der Lichttherapie ist eine augenärztliche Kontrolle anzuraten. Es kann zu Beginn über Kopfschmerzen, Sehstörungen, überanstrengte Augen, Übelkeit und Müdigkeit geklagt werden. Sehr selten sind leichte manische Symptome. Lichttherapie soll nicht mit photosensiblen Medikamenten (TZA, Hypericum, Phenothiazine) gleichzeitig gegeben werden. Bewegungstherapie 5 Es gibt eine Reihe neuer Befunde, die einen genuinen antidepressiven Effekt für regelmäßige körperliche Aktivitätsprogramme beschreiben. Elektrokrampfbehandlung 5 Die Elektrokrampfbehandlung (EKB) ist ein Behandlungsverfahren, dessen Wirksamkeit und Verträglichkeit bei sachgemäßer Durchführung gut belegt ist (die Entstehung struktureller zerebraler Läsionen wurde bei sachgemäßer Anwendung nicht beobachtet); in bestimmten Indikati- 5 Die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) ist ein nichtinvasives Verfahren, bei dem kortikale Neurone mit kurzdauernden Magnetfeldern hoher Intensität stimuliert werden. Die bisherigen Ergebnisse deuten darauf hin, dass repetitive Stimulationen des (bevorzugt linken) präfrontalen Kortex antidepressive Wirkungen, möglicherweise über eine Erhöhung des serotonergen Tonus, haben können. Ausmaß und Dauer der antidepressiven Wirkung ist gering. rTMS ist nicht zugelassen; es besteht kein Narkoserisiko. Eine Indikation ist, wenn überhaupt, eher bei leichten bis mittelschweren Depressionen gegeben. Vagusnervstimulation 5 Nach operativer Implantation eines Schrittmachers (Narkoserisiko!), der an den linken N. vagus angeschlossen wird, erfolgt eine intermittierende repetitive Stimulation, die über Mittelhirnstrukturen zu limbischen und kortikalen Arealen geleitet werden soll. Es wird vermutet, dass es durch die Stimulation zu einer Normalisierung dieser hyperaktiven Areale kommt. Trotz einiger erfolgversprechender Ergebnisse ist die Vagusnervstimulation zur klinischen Anwendung noch nicht ausgereift. 15.7 Spezielle pharmakotherapeutische Empfehlungen Nur die Besonderheiten, die über die allgemeinen Empfehlungen hinausgehen, werden bei jeder Diagnose beschrieben. 148 15.7.1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 15 · Depressive Störungen Depressive Episode und rezidivierende depressive Störung Die depressive Episode kann im Rahmen einer unioder bipolaren affektiven Störung auftreten. Oft treten zusätzlich die Merkmale eines somatischen Syndroms auf. Synonym wird der Begriff melancholischer Typ verwandt. Das Syndrom entspricht dem früheren Konstrukt der endogenen Depression. Nach der ICD10 müssen bei Vorliegen des somatischen Syndroms 4 der folgenden 8 Merkmale vorhanden sein: 5 Interesseverlust oder Verlust an normalerweise angenehmen Aktivitäten 5 Mangelnde Fähigkeit, auf freundliche Umgebung oder freudige Ereignisse emotional zu reagieren 5 Frühmorgendliches Erwachen; zwei oder mehr Stunden vor der gewohnten Zeit; 5 Morgentief 5 Psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit 5 Deutlicher Appetitverlust 5 Gewichtsverlust 5 Deutlicher Libidoverlust In diesem Kapitel wird die Therapie der unipolaren Depression besprochen (bipolare Depression 7 Kap. 6). Die Schwerpunkte der Therapie folgender Diagnosen finden sich in 7 Abschn. 15.2: 5 leichte depressive Episode (F32.0) 5 mit somatischem Syndrom (F32.01) 5 mittelgradige depressive Episode (F32.1) 5 mit somatischem Syndrom (F32.11) 5 schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome (F32.2) Die Therapie der schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen (»wahnhafte Depression«) (F32.3) wird in 7 Abschn. 30.2.9 beschrieben. Die Pharmakotherapie einer einzelnen depressiven Episode oder einer wiederholten Depression im Rahmen einer rezidivierenden Depression ist identisch. Die Erhaltungstherapie bzw. die Rezidiviprophylaxe wird dann allerdings verschieden gestaltet (7 Abschn. 15.4). Unterschiedliche Wirksamkeit von Antidepressiva bei der depressiven Episode Die vielen randomisierten Studien der letzten Jahre ermöglichen es, Unterschiede herauszuarbeiten. Mehr prospektive Studien müssen die Befunde aber noch absichern: Wichtig 5 Aufgrund des günstigeren Nebenwirkungsund Risikoprofils sind SSRI und die neuen dualen Antidepressiva den TZA vorzuziehen. Auch ist das Risiko, eine Manie zu induzieren, bei TZA größer. 5 Zwischen SSRI und TZA gibt es keine Wirkunterschiede. 5 SSRI haben auch im Vergleich zu den neuen Antidepressiva etwas geringere Nebenwirkungen. 5 SSRI sind geringfügig weniger wirksam im Vergleich zu Substanzen mit direkter Beeinflussung von mindestens 2 Monoaminsystemen (Mirtazapin, Venlafaxin). Eine Ausnahme ist Escitalopram; es ist der selektivste SSRI. Dies zeigt sich nicht nur beim schnelleren Wirkungseintritt sondern auch beim andauernden Effekt und der Remissionsrate. 5 Beim schweren melancholischen Typ wurde ein Vorteil von Venlafaxin gegenüber SSRI gesehen. Hinweise für differenzielle Wirksamkeit bei besonderen Symptomkonstellationen sind nur in Ansätzen vorhanden. Die sedierend-schlafanstoßende Komponente (z. B. bei Mirtazapin, Amitriptylin) kann man sich bei ängstlich-agitierter Ausprägung der Depression, zunutze machen. Jedoch wirken auch nichtsedierende Antidepressiva (z. B. SSRI und MAO-Hemmer) angstreduzierend. Die initiale Sedierungspotenz ist weitgehend auf den Histamin-H1-Rezeptorantagonismus zurückzuführen. Komorbiditäten mit anderen psychiatrischen Erkrankungen 5 30% der Patienten mit unipolarer Depression haben eine zusätzliche Angsterkrankung (einschließlich Panikstörung und posttraumatische Belastungsstörung). Eine spezielle Antidepressivapräferenz besteht nicht. Allerdings sollte man die Antidepressivadosis, wie bei den Angsterkrankungen, langsam aufdosieren. 5 Ein Drittel der depressiven Patienten gibt eine zumindest vorübergehende Abhängigkeitsproblematik oder Drogenmissbrauch (7 Kap. 11 und 28) an. Beide Erkrankungen werden parallel behandelt. 5 Komorbide Persönlichkeitsstörungen verschlechtern nach einer Metaanalyse die »Outcome«-Rate 149 15.7 · Spezielle pharmakotherapeutische Empfehlungen bei Depressionen um das Doppelte; bis auf Elektrokonvulsionstherapie (EKT) war die Besserungsrate schlecht (Newton-Howes 2006). 15.7.2 Dysthymie und Double Depression Die dystyme Störung ist ein chronisch-depressives Syndrom, meist leichter Ausprägung. Die Schwere einer depressiven Episode wird nicht erreicht. Es können sich wochenlange Perioden der Besserung in den chronischen Verlauf einschieben. Tritt ein aktuelle depressive Episode hinzu (bei 40%), spricht man von der sog. Double Depression; sie ist sehr therapieresistent. Je länger eine depressive Symptomatik anhält, umso ungünstiger ist der Behanlungsverlauf. Psychotherapie 7 Abschn. 15.5. 5 Die Wirksamkeit von Antidepressiva, in gleicher Dosierung wie bei der depressiven Episode, ist bei der Dystymie gesichert. SSRI sind aufgrund ihrer Verträglichkeit besonders geeignet. Die Behandlung sollte über 2–3 Jahre erfolgen. 5 Eine Vergleichsstudie mit 94 dystymen Patienten zeigte eine Responserate nach 16 Wochen für den SSRI Sertralin von 58%, für die Kombination Sertralin und IPT von 57%, für IPT von 35% und für unterstützende Psychotherapie von 31%. Die Autoren ziehen den Schluss, dass dysthyme Patienten von der Pharmakotherapie einen größeren Vorteil, als von der Psychotherapie haben (Markowitz et al. 2005). 15.7.3 Minor Depression und unterschwellige Depression Die Minor Depression hat einen geringeren Ausprägungsgrad; es sind weniger Diagnosekriterien erfüllt. Beide Begriffe werden synonym gebraucht. 5 Der Nutzen von Antidepressiva ist bei der Minor Depression umstritten. SSRI scheinen wirksam zu sein. 15.7.4 Rezidivierende kurze depressive Episoden (»recurrent brief depression« nach DSM-IV) Die wiederkehrende kurzzeitige depressive Störung, mit einer zwar sehr kurzen, aber oft sehr schwerer Symptomatik bis hin zur Suizidalität, wird manchmal 15 auch zu den unterschwelligen Depressionen gezählt, sollte aber wegen der schwierigen Behandlungsmöglichkeit eine Sonderstellung einnehmen. Bislang ist keine befriedigende antidepressive Pharmakotherapie etabliert. Psychologische Intervention ist in jedem Falle indiziert. Rapid Cycling 7 Abschn. 5.4. 15.7.5 Atypische Depression Bei der atypischen Depression ist die affektive Schwingungsfähigkeit erhalten geblieben. Weiterhin sollten (nach DSM-IV) zwei der folgenden Symptome für eine Diagnose vorhanden sein: 5 vermehrter Appetit oder Gewichtszunahme, 5 erhöhtes Schlafbedürfnis, 5 ausgeprägtes körperliches Schweregefühl mit Müdigkeit und 5 eine Empfindlichkeit gegenüber Zurückweisung. Die atypische Depression ist eng mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert. 5 SSRI sind die Mittel der Wahl bei der atypischen Depression. Die ebenfalls wirksamen MAOHemmer sind bei dieser Indikation zu risikoreich. 5 Es gibt erste klinische Hinweise für eine alternative (oder additive) Wirksamkeit der KVT (Jarett et al. 1999). 5 Eine wichtige Hypothese besagt, dass es sich bei der atypischen Depression um eine Form der bipolaren affektiven Störung II handelt. Deshalb sollte bei der Diagnose einer atypischen Depression besonders sorgfältig nach Symptomen einer bipolaren Störung gesucht werden. 15.7.6 Saisonal abhängige affektive Störung (SAD, Winterdepression) Die phasischen Stimmungsschwankungen stehen in Abhängigkeit von den Jahreszeiten, meist mit depressiven Episoden im Winter. Es kommt oft zu atypischer Symptomausprägung (Hypersomnie, Hyperphagie mit Kohlenhydratheißhunger). 5 Es wird eine serotonerge Dysfunktion postuliert; SSRI werden empfohlen. 5 Eine Indikation zur Lichttherapie ist gegeben (7 Abschn. 15.6), auch mit SSRI gleichzeitig. 5 Eine pathophysiologische Rolle konnte Melatonin nicht zugeschrieben werden. 150 Kapitel 15 · Depressive Störungen 15.7.7 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 Suizidalität Wichtig Zur Behandlung der akuten Suizidaltät 7 Kap. 34, Notfallpsychiatrie. 5 Für Lithium (7 Kap. 6) wird ein suizidprotektiver Effekt bei langfristiger Therapie in mehreren Studien unabhängig von Alter und Geschlecht berichtet. 5 Bei schwerer Suizidalität kann auch EKB (7 Abschn. 15.6) erwogen werden. 5 Öffentlichkeitsarbeit und Fortbildung hatte einen positiven Effekt (Hegerl et al. 2006). 15.7.8 Depression bei körperlichen Erkrankungen 5 Depressive Störungen stellen einen behandlungsbedürftigen und prognostisch relevanten Komplikationsfaktor bei körperlichen Erkrankungen dar, weil eine begleitende Depression die Prognose der körperlichen Erkrankung verschlechtern kann (McConnel et al. 2005). 5 Besonders intensiv wurde dieser Zusammenhang bei Herzerkrankungen und Schlaganfall untersucht; depressive Symptome nach Herzinfarkt oder zerebralen Ischämien (»post-stroke depression«) verschlechtern oft die Prognose und Rehabilitationserfolge. 5 Es gibt Studien, die für einen rechtzeitigen Einsatz von Antidepressiva bei Herzinfarkt und Schlaganfall sprechen (Taylor et al. 2005; Glassmann 2005). Allerdings ist eine Senkung der Mortalität durch SSRI bisher nicht nachgewiesen. 5 Es gibt hohe Evidenzen zum engen, wahrscheinlich ursächlichen Zusammenhang zwischen Depression (und Dauerstress) und körperlichen Folgekrankheiten, besonders Herz-Kreislauf-Erkrankungen (mit Arteriosklerose und Hypertonie); ein Zusammenhang mit Diabetes Typ 2 und Osteoporose wird diskutiert (. Abb. 15.4). 5 Bei mittelschweren bis schweren Depressionen nach einem Herzinfarkt sind SSRI zu empfehlen. 5 Wenn Diabetes und Depression zusammen auftreten, sind SSRI zu empfehlen. TZA sind wegen der möglichen Gewichtszunahme zu meiden. 5 Auch die Depression bei Parkinson-Erkrankung ist häufig. Es werden neurochemische Gemeinsamkeiten diskutiert. Trimipramin und Clomipramin sollten wegen der dopamin-antagonistischen Komponente gemieden werden. SSRI sind die Mittel der Wahl. 5 Die Depression ist oft mit der Demenz assoziiert (10–30%); die Depression kann den Beginn einer Demenz anzeigen. Davon abzugrenzen ist die depressive Pseudodemenz bei affektiven Erkrankungen mit kognitiv-mnestischen Defiziten. 5 SSRI sind die Mittel der ersten Wahl bei einer demenzassoziierten Depression. Sie verbessern auch Verhaltensauffälligkeiten und Alltagsaktivitäten, allerdings nicht die Kognition. 14 15 Dauerstress Depression Fehlregulation der Stresshormon-Achse Imbalanz des Symphatikus-ParasymphatikusSystems 16 17 18 19 5 Viszerale Adipositas 5 Erhöhte Insulinresistenz 5 Hypertonie Störung der Hämostase 5 5 5 5 Pulsfrequenz ↑ Ventrikuläre Arrythmie ↑ Herz-Frequenz-Variabilität ↓ QT-Variabilität ↑ 20 Erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen . Abb. 15.4. Zusammenhang zwischen Dauerstress/Depression und Folgekrankheiten. (Nach Benkert 2005) 151 15.8 · Depression und Stress 5 Die Behandlung mit TZA im Alter ist besonders risikoreich (u. a. Herzrhythmusstörungen) und sollte vermieden werden. 5 Bei vielen Hauterkrankungen (Akne, Psoriasis, Urtikaria) wird eine Komorbidität mit der Depression gesehen. Antidepressiva sind wirksam. Die H1-Blockade (bei Amitriptylin) kann man bei Pruritus und Urtikaria auch ohne depressive Symptomatik nutzen. 15.8 Depression und Stress Wie eng Dauerstress und Depression zusammenhängen, wurde schon an den gemeinsamen körperlichen Folgekrankheiten gezeigt (7 Abschn. 15.7). Aber die depressiven Symptome (und die Angstsymptome) sind auch von den Stressreaktionen auf der körperlichen Ebene, der Verhaltensebene und der kognitivemotionalen Ebene kaum auseinander zu halten und schließlich sind die Stress- und die Depressionsphysiologie auf vielen Abschnitten identisch (Holsboer 2000). Man muss davon ausgehen, dass bei der Depression – zumindest für den großen Teil der Depression, die durch Stress verursacht oder durch Stress ausgelöst ist – primär eine Kontrollstörung der Stressphysiologie vorliegt (Benkert 2005). Es werden dafür verantwortlich gemacht: 5 Die stressinduzierte Corticotropin-releasingHormon- (CRH-)Hyperaktivität und der vermehrter Kortisolumlauf bei fehlregulierter HPAAchse; CRH selbst führt bei Tieren zu depressionsähnlichem Verhalten und Angstzuständen. 5 Das durch Stress konstant aktivierte noradrenerge/adrenerge System, das zu Arousalund Vigilanzsteigerung und schließlich gesteigertem Angstverhalten führt. Dauerstress führt schließlich zur Erschöpfung des Noradrenalinsystems. Die noradrenerge Hypoaktivität geht mit motorischer Verlangsamung, kognitiver Hemmung und emotionaler Verarmung einher und ist schließlich von einer Depression nicht mehr zu unterscheiden. Noradrenalinaktivierende Antidepressiva könnten kompensatorisch eingesetzt werden. 5 Eine Dysfunktion des Serotoninrezeptorsystems. Allerdings sind die Zusammenhänge komplexer, als wir sie von der Serotoninhypothese der Depression (7 Kap. 5.2) (und der Angst) kennen. Unter anderem senken erhöhte Kortisolspiegel die Serotoninsynthese. Hypothetisch könnten, wie bei der Depression und den Angststörungen, 15 SSRI auch bei Dauerstress therapeutisch wirksam sein. 5 Wahrscheinlich kommt es auch zu einer verminderten Ausschüttung des gefäßerweiternden Transmitters Stickoxid. Zum Thema der Bedeutung des Serotoninrezeptors ist im Jahre 2003 die Arbeit von Caspi et al. (2003) erschienen. Sie legt gleichzeitig empirische Daten zur Interaktion von Genotyp, Umwelt und Depression vor. Die Autoren konnten nachweisen, dass die Kurzform des Promotors des 5-HT-Transporte-Gens (s/s) für die veränderte Stresssensitivität verantwortlich ist. Individuen mit diesen 2 kurzen Allelen (s/ s) entwickelten im Gegensatz zu Individuen mit langen Allelen (l/l) signifikant häufiger depressive Symptome auf mehrere stressreiche Lebensereignisse. Es wird vermutet, dass der l/l-Genotyp weniger stressempfindlich gegen Stressoren ist. Die Befunde sind im Kern mehrfach bestätigt. Burnout-Syndrom Das Erschöpfungssyndrom oder Burnout-Syndrom hat seine Ursachen im Dauerstress mit den gleichen Risiken für Folgekrankheiten, besonders den HerzKreislauf-Erkrankungen. Menschen in helfenden Berufen sind besonders gefährdet. Die Klassifikation erfolgt in der ICD-10 in einer Z-Kategotie (Probleme verbunden mit Schwierigkeiten bei der Lebensgestaltung). Im Vordergrund stehen: 5 Körperliche Erschöpfung mit Energiemangel, chronische Müdigkeit, Schwächegefühl und somatoforme Störungen 5 Emotionale Erschöpfung mit Depression, innerer Leere und Reizbarkeit 5 Geistig Erschöpfung mit Leistungseinbußen, Kreativitätsmangel und dem Gefühl der Sinnlosigkeit 5 Soziale Erschöpfung mit sozialem Rückzug, dem Empfinden ausgesaugt zu werden und dem Risiko, dass sich der Dauerstress im Arbeitsbereich auch auf andere Lebensbereiche (Familie, Partnerschaft) überträgt. Psychologische Therapien (Stressbewältigung) stehen im Vordergrund. Eine Pharmakotherapie ist nicht etabliert. Ein »Off-label«-Versuch mit Antidepressiva kann indiziert sein. 152 15.9 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 15 · Depressive Störungen Behandlung depressiver Störungen im Kindes- und Jugendalter Bei Kindern und Jugendlichen mit depressiven Störungen sind entwicklungs- und altersabhängige Symptome zu beachten. Gerade bei Kindern wird man meistens den Verlauf abwarten müssen, um die Diagnose sicherstellen zu können. Kinder mit depressiven Störungen weisen häufig eine Verleugnungstendenz und ein großes Schamgefühl auf. Auch gesunden Kindern fällt es teilweise schwer, sich über ihre Befindlichkeit zu äußern. Deshalb ist die Beobachtung von nonverbalen Signalen, z. B. im Spiel-, Ess- und Schlafverhalten, wichtig. Je nach Alter bzw. Entwicklungsstand unterscheidet sich die Symptomatik teilweise erheblich. Im Gegensatz zu den depressiven Störungen im Erwachsenenalter, sind bei Kindern und Jugendlichen chronische Störungen, mit zunehmender und abnehmender Symptomatik, die mit langen Krankheitsepisoden, hohen Rückfallraten und großen psychosozialen Einschränkungen einhergehen, häufig (Pine et al. 1999; Schulte-Markwort u. Forouher 2005). Pharmakotherapie und Psychotherapie Genauso wie im Erwachsenenalter gilt bei depressiven Syndromen im Kindes- und Jugendalter, dass bei mittelgradigen und schweren depressiven Episoden sowie dann später während der Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe eine Kombination aus antidepressiver Pharmakotherapie und Psychotherapie erfolgen sollte. In der Akutphase schwerer depressiver Syndrome ist die medikamentöse Therapie führend. Verschiedene Übersichten (Reinecke et al. 1998; Michael u. Crowley 2002; Compton et al. 2004; Mufson et al. 2004) bestätigen die Wirksamkeit von Psychotherapie (vor allem KVT, doch auch IPT) gegenüber verschiedensten Kontrollbedingungen, sowie auch gegenüber antidepressiver Pharmakotherapie. 5 Eine große Studie an 493 Jugendlichen mit Major Depression über 12 Wochen zeigte aber, dass mit dem Antidepressivum Fluoxetin höhere Remissionsraten (60%) als mit KVT (43%) erzielt werden konnten; es waren beide aktive Therapien deutlich wirksamer als Placebo (35% Remissionsrate). Das beste Ergebnis wurde jedoch mit der Kombination von Fluoxetin und KVT (71% Remission) erzielt, was auch im Hinblick auf die Suizidalität galt. Es wird diskutiert, dass Fluoxetin möglicherweise eine wirksame Sonderstellung bei der antidepressiven Pharmakotherapie von Kindern und Jugendlichen einnimmt (March et al. 2004). Dies geht auch aus der Metaanalyse von Whitting- ton et al. (2004) hervor. Dort wird Fluoxetin als einzig wirksames SSRI bei Kindern und Jugendlichen herausgestellt. Fluoxetin ist deshalb seit kurzem ab dem Alter von 8 Jahren bei mittelgradigen bis schweren Episoden einer Major Depression in Kombination mit Psychotherapie zugelassen (7 Abschn. 5.12). Nichtmedikamentöse biologische Therapieverfahren Die nichtmedikamentösen, biologischen Therapieverfahren der Depression wurden nur teilweise bei Kindern und Jugendlichen untersucht. Für den Schlafentzug zeigen sich bei jugendlichen Patienten ähnliche Ergebnisse wie für Erwachsene. Naylor et al. (1993) entzogen 17 psychiatrisch erkrankten jugendlichen Patienten für 36 h den Schlaf. Sie fanden, dass die schwer depressiven Jugendlichen sich signifikant hinsichtlich der depressiven Symptomatik besserten, während depressive Patienten in Remission oder psychiatrische Kontrollpatienten sich verschlechterten. Im Gegensatz zu Erwachsenen blieb der Effekt nach der Erholungsnacht bestehen. In einer doppelblind placebokontrollierten Studie konnten Swedo et al. (1997) zeigen, dass es bei Kindern und Jugendlichen mit SAD zu einer signifikanten Stimmungsverbesserung unter Lichttherapie kam. Seit der initialen Administration der EKT bei Jugendlichen ist diese Behandlung kontrovers betrachtet worden. Insgesamt werden EKT bei Kindern und Jugendlichen nur sehr selten angewandt und machen nur ca. 1% aller EKT aus. Die Responserate ist aber generell sehr hoch. Die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) ist bei Kindern und Jugendlichen so gut wie nicht untersucht, es finden sich nur einige Fallberichte. Die Vagusnervstimulation ist nur bei Kindern und Jugendlichen mit Epilepsie untersucht. Bei diesen Studien konnte unter der Vagusnervstimulation auch eine Verbesserung der Stimmung festgestellt werden (Martinez et al. 2005). Bei therapieresistenten depressiven Syndromen im Jugendalter kommen auch Augmentationsstrategien wie die zusätzliche Behandlung mit Lithium oder Schilddrüsenhormonen, medikamentöse Kombinationstherapien oder die zusätzliche Anwendung der oben beschriebenen nichtmedikamentösen, biologischen Therapieverfahren in Betracht (Sharan u. Saxena 1998). 15.10 · Checkliste 15.10 153 15 Checkliste ? 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Viele Patienten stehen Psychopharmaka skeptisch gegenüber, insbesondere bei schweren Depressionen sind sie aber unverzichtbar. Welche Möglichkeiten zur Förderung der Compliance im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans kennen Sie? Wie ist bei der Behandlung der schweren Depression eine Kombinationstherapie von Psychotherapie (KVT, IPT) und Antidepressiva anhand der derzeitigen wissenschaftlichen Datenlage zu beurteilen? Welche der modernen Antidepressiva sind bei der leichten Depression zu bevorzugen, welche bei der schweren Depression? Welche Antidepressiva zeigen einen schnellen Wirkungseintritt in den ersten beiden Wochen? Welche Bedeutung hat eine individuelle Besserung von ca. 20% in den ersten beiden Wochen für den weiteren Behandlungsverlauf? Einzelne Symptomkomplexe einer Depression können, je nach pharmakologischem Wirkprofil des Antidepressivums, unterschiedlich schnell auf die Behandlung ansprechen. Welche Beispiele kennen Sie? Wie ist das Risiko für ein Rezidiv nach einer ersten depressiven Episode einzuschätzen? Was bedeutet das für die pharmakologische, aber auch für die psychotherapeutische Behandlung? Was verstehen sie unter dem Begriff »Erhaltungstherapie«, wie lange sollte sie fortgeführt werden? 8. Wann sollte bei einer unipolaren depressiven Störung eine medikamentöse Rezidivprophylaxe durchgeführt werden? Welche Rolle spielen psychotherapeutische und psychoedukative Interventionen? 9. Welche Möglichkeiten der Rezidivprophylaxe bei der unipolaren depressiven Störung kennen Sie? 10. Welche Behandlungsoptionen gibt es, wenn ein erstes Antidepressivum nicht zu ausreichendem Therapieerfolg führt? 11. Was versteht man unter dem Begriff der Augmentation, welche Möglichkeiten kennen Sie? 12. Welche Rolle spielen Benzodiazepine in der Depressionsbehandlung, welche Stärken haben sie, wo liegen Gefahren? 13. Was antworten Sie einem Patienten, wenn er befürchtet unter einem Antidepressivum eine Abhängigkeit zu entwickeln? 14. Welche Zusatztherapien neben der medikamentösen und der psychotherapeutischen Behandlung von depressiven Störungen gibt es? 15. Bei schweren körperlichen Erkrankungen treten gehäuft depressive Störungen auf; eine Depression wiederum begünstigt körperliche Folgekrankheiten. Welche Beispiele kennen Sie? 16. Als ein Risikofaktor für die Entstehung einer Depression wird Dauerstress diskutiert, welche Befunde kennen Sie? 17. Welche Therapie gilt als erste Wahl bei Kindern und Jugendlichen mit mittelgradigen und schweren depressiven Episoden? 155 16.1 · 16 Panikstörung 16.1 Gesamtbehandlungsplan – 157 16.2 Therapie 16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.4 Antidepressiva – 157 Benzodiazepine – 158 β-Rezeptorenblocker in der Therapie von Angststörungen Psychotherapie – 159 16.3 Behandlung der Panikstörung im Kindes- und Jugendalter – 159 16.4 Checkliste – 157 – 160 – 158 156 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 16 · Panikstörung Die Panikstörung ist gekennzeichnet durch rezidivierende, paroxysmal auftretende Angstzustände mit vegetativen Begleitsymptomen (Herzklopfen, Atemnot, Schwindel, Übelkeit). Unter Panikattacken versteht man eine Zeitspanne intensiver Angst oder Unbehagens, welche mit mindestens 4 von 14 körperlichen oder psychischen Symptomen einhergeht. Üblicherweise erreicht eine Panikattacke ihr Maximum innerhalb von 10 min und dauert ca. 30–45 min an. Initial tritt die Panikattacke oft unerwartet (spontan) auf, später wird sie auch durch angstvoll besetzte Situationen ausgelöst. Oft bildet sich parallel ein Vermeidungsverhalten/Agoraphobie aus. Die Agoraphophie kann nach neueren Untersuchungen aber auch den Panikattacken vorausgehen (Bienvenu et al. 2006). Da im Rahmen der Panikstörung vielfältige körperliche Symptome, auch isoliert, auftreten, wird die psychiatrische Ursache dieser Krankheit oft viel zu spät oder gar nicht erkannt (Maier et al. 1985; Frommberger et al. 1993). Die häufigsten Symptome der Panikstörung sind in . Abb. 16.1 dargestellt. Die gesicherte Wirksamkeit von trizyklischen Antidepressiva bei Angsterkrankungen ist lange bekannt (Klein u. Fink 1962). Das klinische Ansprechen auf Imipramin war die Grundlage für die immer noch gültige Klassifikation der Angsterkrankungen, die damals zur Abgrenzung der Panikstörung von der generalisierten Angststörung (7 Kap. 17) führte. Neurobiologie der Angst. Im Zentrum der neurobio- logischen Hypothesen stehen, insbesondere in Bezug auf die verfügbaren Psychopharmaka zur Behandlung der Panikstörung, Funktionsstörungen im SerotoninNoradrenalin- und GABA-System. Zusätzlich scheinen verschiedene Neuropeptide und Steroide fehlreguliert zu sein (Bandelow et al. 2006; Wiedemann et al. 2008). Serotonin-Neurone haben in den Raphe nuclei einen hemmenden Einfluss auf noradrenerge Neurone im Locus coeruleus. Selektive Serotoninrückaufnahmeinhibitoren (SSRI) vermitteln sehr unterschiedliche und entgegengesetzte Effekte auf die Angst: Stimulation des 5-HT1A-Rezeptors löst eher anxiolytische, Stimulation des 5-HT2A/2C-Rezeptors eher anxiogene Effekte aus. Die Aktivierung des Locus coeruleus führt zu einer erhöhten Freisetzung von Noradrenalin mit den Folgen eines erhöhten Blutdrucks und einer erhöhter Herzfrequenz. Der Nucleus paraventricularis des Hypothalamus führt zu einem Anstieg der Aktivität des endokrinen Stresshormonsystems mit einer erhöhten Freisetzung von Corticosteroiden. Der noradrenerge α2-Rezeptorantagonist Yohimbin kann Panikattacken über eine erhöhte Verfügbarkeit von Noradrenalin provozieren. Schließlich verstärken Benzodiazepine die Wirkungen des inhibitorischen Transmitters GABA. All diese Befunde unterstützen die Hypothese, dass Panikattacken in Hirnstammkernen generiert werden. Diese werden dort durch eine serotonerge und noradrenerge Neurotransmission kontrolliert, ähnlich wie einige wichtige basale Funktionen des Organismus zur Steuerung des Kreislaufs, der Atmung oder des Säure-Basen-Haushalts. Die Folge ist eine basale Aktivierung des Sympathikus, die aber bei Panikattacken nicht regelhaft mit einer Aktivierung des Stresshormonsystems und des autonomen Nervensystems einhergeht (Kellner u. Wiedemann 1998). Die Aktivität des hypothalamisch-hypophysäradrenalen (HPA) Systems wird durch verschiedene . Abb. 16.1. Symptome bei der Panikstörung. (Aus Rupprecht u. Möller 2008) 157 16.2 · Therapie adaptive Antworten moduliert. Stress und Angst führen zu einer erhöhten CRH-Konzentration im Locus coeruleus und verstärkten die Aktivität noradrenerger Neurone. Auch Noradrenalin stimuliert die Freisetzung von CRH. Gleichzeitig dämpft eine vermehrte Serotoninfreisetzung aus den Raphekernen die CRHNeurone im Locus coeruleus (Holsboer 2003). 16.1 Gesamtbehandlungsplan Zur Therapie der Panikstörung stehen wirksame psychotherapeutische Verfahren und Psychopharmaka, insbesondere Antidepressiva, zur Verfügung. Leichte bis mittelschwere Panikstörungen können idealerweise allein psychotherapeutisch behandelt werden, bei ausgeprägtem oder chronifiziertem Krankheitsbild bietet sich eine Kombination beider Verfahren an (7 Abschn. 16.2). Auf der psychopathologischen Ebene können Stressreaktionen und akute Angstsymptome, die bei der Panikstörung auftreten, kaum unterschieden werden; auch die Ähnlichkeiten mit der depressiven Symptomatik sind evident. Das ist physiologisch verständlich. Tatsächlich induzieren Stressoren nicht nur Depressionen, sondern auch Angststörungen (Benkert 2005). Auch ist das Risiko für das Auftreten einer Depression bei Menschen mit Angsterkrankungen 7bis 12-mal höher als bei Gesunden (Jacobi et al. 2004). So ist auch die Komorbidität mit Depressionen (und auch Abhängigkeitssyndromen) hoch. Es gibt also viele Gründe, auch leichte Panikstörungen so früh wie möglich zu behandeln. Eine unzureichend behandelte Panikstörung geht für den Patienten mit erheblichem Leidensdruck und dem Risiko einer Chronifizierung einher. Eine begleitende Agoraphobie ändert nicht grundsätzlich das Therapieverhalten, legt aber den Schwerpunkt eher auf die KVT. 16.2 Therapie Vor der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung ist es besonders wichtig mögliche medizinische Ursachen und Substanzmissbrauch auszuschließen. 16 Wichtig Zu Beginn einer Therapie sollte immer geprüft, ob 5 eine Soforttherapie notwendig ist 5 komorbide Diagnosen, insbesondere eine Depression, vorhanden sind 5 Suizidalität besteht 5 Substanzmissbrauch bekannt ist 5 die Panikstörung von einer Agoraphobie begleitet wird 5 organischen Ursachen für die Angst zu finden sind 5 eine positive/negative Haltung zur Pharmakotherapie/Psychotherapie besteht Behandlung der akuten Panikattacke Meistens kann durch ein beruhigendes Gespräch eine akute Panikattacke schnell aufgelöst werden. Bei einer schweren Panikattacke kann vorübergehend ein Benzodiazepine, z. B. Lorazepam, 0,5–1 mg verordnet werden; bei einer bestehenden Antidepressivatherapie auch additiv. 16.2.1 Antidepressiva Während leichte Schwergrade sowohl psychotherapeutisch als auch pharmakologisch behandelt werden können, ist bei schweren Panikstörungen in der Regel ein Antidepressivum indiziert. Wenn primär eine psychopharmakologische Therapie der Panikstörung, z. B. bei Ablehnung einer KVT oder Fehlen eines Therapeuten, indiziert ist, sollten in diese allerdings psychoedukative und verhaltenstherapeutische Elemente eingeschlossen werden. Dem Patienten sollen die richtigen Einstellungen und Verhaltensmaßnahmen vermittelt werden, um einen dauerhaften Therapieerfolg zu gewährleisten. 5 Antidepressiva sind bei der medikamentösen Behandlung der Panikstörung anderen Psychopharmaka vorzuziehen, zumal oft auch depressive Störungsbilder parallel vorhanden sind. Besonders gut untersucht sind: Imipramin, Clomipramin, SSRI, irreversible MAO-Hemmer und Venlafaxin. Ein Wirkungsunterschied zwischen den Substanzgruppen besteht nicht. 5 Wegen der guten Verträglichkeit bieten sich SSRI (7 Abschn. 5.11.1) und Venlafaxin (7 Abschn. 5.11.2) als erste Wahl an. Bewährte, bei der Panikstörung zugelassene SSRI sind: Citalopram und Escitalopram. Auch das duale Anti- 158 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 16 · Panikstörung depressivum Venlafaxin ist bei dieser Indikation zugelassen. 5 Die Dosis sollte, anders als bei der Depression, sehr langsam einschleichend erfolgen, weil Patienten mit Panikstörung, im Vergleich zu depressiven Patienten, die Nebenwirkungen der Antidepressiva relativ schlecht tolerieren. Häufig werden zu Beginn der Therapie bei zu hoher Dosis Unruhe und Schlaflosigkeit erlebt, manchmal kann die Angst anfänglich sogar zunehmen (»jitteriness«). Empfohlene Initialdosis ist die maximal halbe Zieldosis: Citalopram 10 mg, Escitalopram 5 mg, Venlafaxin 37,5 mg. Die Zieldosis entspricht dann wieder der antidepressiven Therapie. Bei Clomipramin können Tagesdosen von 30– 60 mg ausreichen. 5 Erst nach 2–4 Wochen ist mit einem gewünschten Therapieeffekt zu rechnen; hierüber muss der Patient informiert werden, um die Compliance zu sichern. Eine Wirksamkeit sollte dann in den ersten 8 Wochen gesehen werden. 5 Bei schwerer Panikstörung kann eine überlappende Behandlung mit Benzodiazepinen indiziert sein (Beginn mit beiden Substanzklassen, nach 2–4 Wochen Ausschleichen des Benzodiazepins). Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe 5 Derzeit sind zur Behandlungsdauer keine allgemeinen Empfehlungen möglich. In der Regel wird nach erfolgreicher medikamentöser Behandlung die Fortführung der Gabe von Antidepressiva über 1–2 Jahre empfohlen, um einem Rückfall vorzubeugen. So konnte gezeigt werden, dass bei Weiterführung der Erhaltungstherapie mit Antidepressiva in einem hohen Prozentsatz der Behandlungserfolg beibehalten wird. Auf eine ausreichende Therapiedauer von mindestens 8 Wochen ist zu achten. 5 Das Absetzen der Medikation sollte sehr langsam erfolgen. Therapieresistenz 5 Zum Vorgehen bei Therapieresistenz gibt es zu wenig abgesicherte Studien. Es kann, wie bei der Depression (7 Abschn. 5.11), eine Kombinationstherapie mit zwei Antidepressiva aus verschiedenen chemischen Gruppen, z. B. SSRI mit einem trizyklischen Antidepressivum, versucht werden. Die Psychotherapie ist dann zu intensivieren. 16.2.2 Benzodiazepine 5 Benzodiazepine sind hochwirksame Anxiolytika. Sie können Panikattacken koupieren und sind auch in der Behandlung der Panikstörung sicher wirksam (Ballenger et al. 1998). 5 Zur schnellen Kupierung von Panikattacken sind Benzodiazepine (z. B. Alprazolam 0,5 mg oder Lorazepam 0,5 mg) gut geeignet, auch i.v.-Gaben sind in dieser Indikation möglich. Ein überlappender initialer Einsatz von Benzodiazepinen erscheint wegen der fehlenden initialen Wirkung der Antidepressiva oft sinnvoll. 5 Benzodiazepine sind zwar auch in der Erhaltungstherapie und der Rezidivprophylaxe wirksam; die gut belegten Therapiemöglichkeiten durch Antidepressiva (s. oben) sind wegen der nicht vorhandenen Abhängigkeits- und Toleranzentwicklungen einer dauerhaften Benzodiazepinmedikation vorzuziehen. Weitere Vor- und Nachteile der Benzodiazepine . Tab. 8.1. 5 Zur Behandlung der Panikstörung benötigt man in der Regel maximal 4 mg Alprazolam (die Dosis ist höher als bei der generalisierten Angststörung). Die Startdosis sollte nicht mehr als 1,5 mg Alprazolam betragen. 5 Benzodiazepine können bei der Panikstörung auch als Bedarfsmedikation in sehr niedrigen Dosen (Lorazepam 0,5 mg) angewandt werden, z. B. bei der Flugangst. 5 Bei akuter Symptomatik sollten Benzodiazepine nicht länger als 1–2 Wochen gegeben werden, nach 4–6 Wochen sollten sie in der Regel abgesetzt sein. 5 Nur in Ausnahmefällen, z. B. bei therapieresistenten Angststörungen und eher auch im höheren Lebensalter können langfristig geringe Dosen Benzodiazepine (z. B. Lorazepam bis zu 1 mg) toleriert werden. 5 Weitere Einzelheiten zu den Benzodiazepinen 7 Kap. 8. 5 Nicht wirksam als Anxiolytikum ist Buspiron (7 Abschn. 8.2.2) bei Panikstörungen. 16.2.3 β-Rezeptorenblocker in der Therapie von Angststörungen 5 β-Rezeptorenblocker, z. B. Propranolol oder Atenolol, vermindern β-adrenerg vermittelte somatische Symptome der Angst (Schwitzen, Tremor, Herzrasen und Magen-Darm-Beschwerden). Sie besitzen nur geringe sedierende Eigenschaften. 159 16.3 · Behandlung der Panikstörung im Kindes- und Jugendalter 5 β-Rezeptorenblocker sind bei Angsterkrankungen nicht wirksam. Sie schwächen aber die vegetativen Begleiterscheinungen der Angst ab. 5 Eine Ausnahme scheinen Angstsyndrome, deren Ursache auf kardiovaskulären Erkrankungen mit erhöhter Herzfrequenz, z. B. bei Mitralklappenprolaps, zu sein (Zwanzger et al. 2000). 5 β-Rezeptorenblocker werden häufig als Einmalgabe bei psychischen Stresssituatinen wie Lampenfieber, Redner- und Prüfungsangst eingesetzt. Der wissenschaftliche Nachweis dieser Wirkung ist nicht überzeugend. 16 5 Die Kombinationstherapie mit KVT und Antidepressiva ist nach einer neuen Studie auch bei der unkomplizierten, akuten Panikstörung geringfügig günstiger als die alleinige Therapie mit Antidepressiva oder der alleinigen KVT einzuschätzen (Furukawa et al. 2006). 5 Bei schwerer oder chronischer Panikstörung, insbesondere mit einer komorbiden Depression, sollte immer die medikamentöse Therapie mit einer KVT angestrebt werden (Linden 2005). Fazit Fazit Antidepressiva und Psychotherapie bei Panikstörung – Bewertung Pharmakotherapie bei Panikstörung – Bewertung 5 Unter den Antidepressiva sind SSRI oder Venlafaxin Mittel der ersten Wahl. 5 Wichtig ist ein einschleichender Beginn mit der maximal halben Zieldosis. 5 Mindesttherapiedauer sind 8 Wochen. 5 Um einem Rückfall vorzubeugen, wird eine Therapiedauer mit Antidepressiva über 1–2 Jahre empfohlen. 5 Bei Therapieresistenz können auch 2 Antidepressiva aus verschiedenen Gruppen, wie bei der Behandlung der Depression, verordnet werden. 5 Benzodiazepine sind bei Panikstörung sehr wirksam (nur Alprazolam ist zugelassen), sollten aber wegen der überwiegenden Nachteile nur zu Beginn der Therapie bei schweren Erkrankungen eingesetzt werden. Bei immer wiederkehrender Angst vor Panikattacken können Benzodiazepine als Bedarfsmedikation in sehr niedrigen Dosen bereitgehalten werden, z. B. bei der Angst vor möglichen Panikattacken beim Fliegen. 5 Eine erstmanifestierte, unkomplizierte Panikstörung kann akut mit einer KVT allein, mit Antidepressiva allein oder mit einer Kombination aus beiden behandelt werden. 5 Es mehren sich Studien mit einer Präferenz des Einsatzes einer Kombinationstherapie in der akuten Behandlungsphase. 5 Da nach Absetzen von Antidepressiva das Risiko für einen Rückfall steigt, ist im Rahmen einer Erhaltungstherapie die KVT die erste Option. Die zweite Option ist der langfristige Einsatz von Antidepressiva. 5 Empfohlen werden KVT-Auffrischungssitzungen (»booster session«). 5 Die schwere oder chronische Panikstörung, besonders mit begleitender Depression, sollte möglichst kombiniert behandelt werden. 5 Bei begleitender Agoraphobie sollte immer eine KVT – allein oder in Kombination mit Antidepressiva – angesetzt werden. 16.3 16.2.4 Psychotherapie 5 Die KVT ist, besonders wie in einer Studie gezeigt wurde, bei sachgerechtem Einsatz von Expositions- und Konfrontationsübungen, bei der Therapie der Panikstörung unter den psychotherapeutischen Verfahren am besten evaluiert (Foa et al. 2002). Der Vorteil der KVT liegt in der aktiven Teilnahme, dem Erlernen der Selbstexposition und den oft anhaltenden Effekten, besonders auch nach Abschluss der Akuttherapie und im weiteren Verlauf nach Beendigung der akuten Therapie. Behandlung der Panikstörung im Kindesund Jugendalter Bis zu 90% der Kinder und Jugendlichen mit Panikstörungen leiden zusätzlich noch an anderen Angststörungen oder affektiven Störungen (Diler 2003); generell gelten für die Behandlung die gleichen Empfehlungen wie für das Erwachsenenalter. Es gilt, dass leichte bis mittelschwere Panikstörungen meistens psychotherapeutisch behandelt werden können, bei ausgeprägten oder chronifizierten Krankheitsbildern bietet sich eine Kombination aus Psychotherapie und Pharmakotherapie an. 160 Kapitel 16 · Panikstörung Auswahl der Antidepressiva 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Es kommen die gleichen Medikamente wie für das Erwachsenenalter in Betracht: Antidepressiva (vorwiegend SSRI, 7 Abschn. 16.1.1), Benzodiazepine (vorwiegend Akutbehandlung, 7 Abschn. 16.2.2) und β-Blocker (7 Abschn. 16.2.3). Für die Behandlung von Panikstörungen im Kindes- und Jugendalter liegt für keine der oben erwähnten Substanzen eine Zulassung vor. Auch fehlen kontrollierte Studien für eine Pharmakotherapie von Panikstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Es gibt nur einzelne Fallberichte oder kleine offene Studien, in denen TZA (Imipramin, Desipramin), Benzodiazepine (Alprazolam, Clonazepam) und SSRI positiv abgeschnitten haben; β-Blocker sind nicht untersucht worden (Masi et al. 2006). Pharmakotherapie und Psychotherapie Therapeutisch sollten nach einer Psychoedukation kognitiv-(verhaltenstherapeutische) Maßnahmen erfolgen. KVT ist effektiv bei Kindern und Jugendlichen mit Panikstörungen hinsichtlich der Reduktion bzw. Remission von Panikattacken, Verminderung des Vermeidungsverhaltens, Verbesserung der Copingstrategien in früheren Vermeindungssituationen und Verminderung der begleitenden depressiven Symptome. Belegt sind diese Ergebnissen durch einzelne Fallberichte über eine Besserung der Panikstörung bei Kindern und Jugendlichen unter der Kombination von KVT und Pharmakotherapie (Diler et al. 2003). 16.4 Checkliste ? 1. Welche Möglichkeiten zur Behandlung einer akuten Panikattacke kennen Sie? 2. Welche Behandlungsoptionen bestehen für eine längerfristige Behandlung der Panikstörung? 3. Unter welchen Bedingungen ist bei der Panikstörung eine Kombinationstherapie aus KVT und Antidepressiva anzustreben? 4. Welche Antidepressiva haben sich bei der längerfristigen Behandlung der Panikstörung bewährt? 5. Wie sollte eine Panikstörung mit begleitender Agoraphobie behandelt werden? 6. Warum sollte bei der Behandlung der Panikstörung mit Antidepressiva, wie z. B. den SSRI oder dem dualen Antidepressivum Venlafaxin, langsam aufdosiert werden? 7. Nach welcher Behandlungsdauer mit Antidepressiva ist mit einem positiven Effekt zu rechnen? 8. Welche Rolle spielen Benzodiazepine bei der Behandlung der Panikstörung. Wo liegen ihre Vorteile, wo ihre Gefahren und Risiken? 9. Über welchen Zeitraum sollte eine pharmakologische Behandlung der Panikstörung durchgeführt werden? 10. Was ist beim Absetzen von Antidepressiva bei der Behandlung der Panikstörung mit Antidepressiva zu beachten? 161 17.1 · 17 Generalisierte Angststörung 17.1 Gesamtbehandlungsplan – 162 17.2 Therapie 17.2.1 17.2.2 17.2.3 17.2.4 17.2.5 Antidepressiva – 162 Benzodiazepine – 163 Buspiron – 163 Pregabalin – 163 Psychotherapie – 163 17.3 Behandlung der GAD im Kindes- und Jugendalter 17.4 Checkliste – 162 – 165 – 164 162 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Die generalisierte Angststörung (GAD, früher auch »Angstneurose«) ist gekennzeichnet durch unrealistische oder übertriebene Angst und Besorgnis über Belange des Alltags (Beruf, Finanzen, Angehörige und Partner); damit verbunden sind Hypervigilanz, erhöhte Aufmerksamkeit, Nervosität und motorische Anspannung. Häufig sind Beschwerden der vegetativen Übererregbarkeit mit Schwitzen, Herzklopfen, Schwindel, Muskelspannungen oder Oberbauchbeschwerden, Übelkeit und Durchfall. Assoziationen auch zu anderen Schmerzen, ähnlich wie bei der Depression, sind typisch. Die Symptome sind oft chronisch mit fluktuierender Intensität und sollten mindestens 6 Monate vorhanden sein (ICD-10). Unter Belastung verschlimmern sich die Beschwerden. Die Kriterien für eine Panikstörung, phobische oder hypochondrische Störung dürfen für die Diagnose einer GAD nicht erfüllt sein. Viele GAD-Patienten haben eine ängstliche-vermeidende Persönlichkeitsstruktur. Es wird angenommen, dass es bei der GAD, besonders unter Stresssituationen, zu ähnlichen neurobiologischen Fehlregulierungen wie bei der Panikstörung (7 Kap. 16) kommt. Im Mittelpunkt der Hypothesen zur Entstehung der GAD steht die einer Störung zentraler Serotoninsysteme. Sie wird primär durch die Wirksamkeit serotonerger Substanzen gestützt. 11 17.1 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 17 · Generalisierte Angststörung Gesamtbehandlungsplan Wie bei den anderen Angsterkrankungen (Panikstörung, phobische Störungen) sind psychotherapeutische Interventionen wesentlicher Bestandteil der Therapie. Psychopharmakologische Strategien haben nach vorliegenden Studienergebnissen aber die gleiche Wirksamkeit und können, je nach individueller Wertschätzung der Therapieverfahren, auch als erste Option in die Therapie eingebunden werden. Allerdings fehlen ähnlich sorgfältig durchgeführte und abgesicherte Studien wie bei der Panikstörung, der Zwangsstörung oder besonders bei den depressiven Störungen, die eine differenzielle Indikation für die einzelnen Therapieverfahren erlauben. Es besteht bei der GAD eine hohe Komorbidität mit depressiven Störungen und Suchterkrankungen. Dabei werden Alkohol und Benzodiazepine oft zur Entlastung bei Ängsten missbraucht. Es gibt Hinweise aus prospektiven Studien die für Risikozusammenhänge zwischen GAD und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sprechen. Die Daten haben aber nicht die Evidenz wie bei der Depression (7 Abschn. 15.7.8). 17.2 Therapie Neben der KVT haben besonders 4 Pharmakagruppen gute anxiolytische Wirkung: Antidepressiva, Benzodiazepine, Buspiron und Pregabalin (Mitte et al. 2005; Rickels u. Rynn 2002). Vom wissenschaftlichen Standpunkt ist zzt. nicht entschieden, ob die KVT oder eine Pharmakotherapie bei der GAD wirksamer ist (Mitte 2005). Nicht indiziert sind Antipsychotika. Sie haben zwar auch – schon in geringerer Dosierung – eine anxiolytische Wirkung, sind aber mit einem zu hohen Nebenwirkungsrisiko behaftet. Mögliche Gabe von β-Rezeptorenblockern bei Angststörungen 7 Abschn. 16.2.3. Wichtig Zu Beginn einer Therapie sollte immer geprüft, ob 5 eine Soforttherapie (mit Benzodiazepinen) notwendig ist 5 Suizidalität besteht 5 komorbide Diagnosen, insbesondere eine Depression oder eine Suchterkrankung, vorhanden sind (Cave: Benzodiazepine), ggf. mit Drogenscreening 5 früherer Benzodiazepin- oder Substanzmissbrauch bekannt ist 5 organischen Ursachen für die vielfältigen körperlichen Beschwerden zu finden sind 5 eine positive/negative Haltung zur Pharmakotherapie/Psychotherapie besteht 17.2.1 Antidepressiva 5 In frühen Studien konnte bereits gezeigt werden, dass das trizyklische Antidepressivum Imipramin eine gute anxiolytische Wirkung bei der GAD hat (Hoehn-Saric et al. 1988). Allerdings ist der Wirkungseintritt im Vergleich zu Benzodiazepinen um zwei oder mehr Wochen verzögert. 5 Eine gleich gute Wirkung haben SSRI (z. B. Escitalopram) und das duale Antidepressivum Venlafaxin. Sie sind Mittel der ersten Wahl bei der GAD. Allerdings muss auch bei ihnen ein langsamer Wirkungseintritt von 2–4 Wochen eingeplant werden. Der Vorteil der SSRI und von Venlafaxin gegenüber Imipramin liegt in der geringeren Nebenwirkungsquote und gegenüber Ben- 163 17.2 · Therapie zodiazepinen in dem fehlenden Abhängigkeitsrisiko. 5 Unter Antidepressiva sprechen bevorzugt psychische Symptome der Angststörung (chronische Besorgtheit, Anspannung, Grübelneigung, Ängste im interpersonellen Bereich) an. 5 Die Dosierung der Antidepressiva entspricht weitestgehend (Venlafaxin schon ab 75 mg täglich) der Behandlung depressiver Störungen. 5 Antidepressiva sollten bei der GAD im Rahmen einer Erhaltungstherapie mindestens 6– 12 Monate, eher 1–2 Jahre gegeben werden. 17.2.2 Benzodiazepine 5 Benzodiazepine zeigen bei raschem Wirkungseintritt (wichtig in Notfallsituationen) eine gute Wirkung bei allen Angsterkrankungen, so auch bei der GAD. 5 Oftmals kann gerade zu Beginn einer Psychotherapie oder bei einer akuten Exazerbation auf eine Begleitmedikation mit einem Benzodiazepin nicht verzichtet werden. Dies gilt auch zur Überbrückung bis zum Wirkungseintritt von anderen anxiolytisch wirkenden Medikamenten. 5 Bei akuten Angstzuständen sind Benzodiazepine Mittel der ersten Wahl. 5 Wegen des chronischen Charakters der GAD ist von der Notwendigkeit einer längerfristigen Behandlung (1–2 Jahre) auszugehen. Wenn Benzodiazepine langfristig verordnet werden sollen, ist aber das Problem einer Abhängigkeitsentwicklung zu bedenken. Therapieversuche mit Antidepressiva oder Buspiron sind vorzuziehen. 5 Besonders hilfreich können Benzodiazepine bei im Vordergrund stehenden vegetativen Beschwerden sein, die manchmal durch Antidepressiva zu Beginn der Therapie noch verstärkt werden können. 5 Benzodiazepine sollten nach 4–6 Wochen, zumindest der wesentliche Dosisanteil, abgesetzt sein. Selbst bei chronischer GAD sollte ein völliges Absetzen nach 4–6 Monaten gelingen. 5 Bei der überwiegenden Mehrzahl der Patienten findet sich keine nennenswerte Dosissteigerung über die Zeit der Anwendung. 5 Die Dosierung entspricht der Behandlung der Panikstörung. In 7 Abschn. 16.2.2 finden sich auch die weiteren Vor- und Nachteile der Benzodiazepine. 5 Weitere Einzelheiten zu den Benzodiazepinen 7 Abschn. 8.4.1 und 8.11.1. 17.2.3 17 Buspiron 5 Buspiron ist als nichtsedierendes Anxiolytikum bei der GAD gut wirksam, aber nicht speziell für diese Indikation zugelassen. Es muss der langsame Wirkungseintritt von mindestens 2 Wochen, wie bei Antidepressiva (7 Abschn. 8.4.2), bedacht werden. 5 Buspiron und Benzodiazepine haben eine gleich gute Wirksamkeit (Mitte et al. 2005). 5 Insbesondere bei suchtgefährdeten Patienten ist Buspiron eine Alternative zu den Antidepressiva. 5 Buspiron ist allerdings für einen Benzodiazepinentzug nicht geeignet. Nach erfolgtem Entzug kann Buspiron aber eingesetzt werden. Buspiron wirkt aber nicht bei der Panikstörung. 5 Dauer der Behandlung mit Buspiron wie bei den Antidepressiva. Dosierung und weitere Einzelheiten 7 Abschn. 8.4.1 und 8.11.2. 17.2.4 Pregabalin 5 Pregabalin (7 Abschn. 8.2.2 und 8.11.2) ist eine neue Therapieoption und hat kürzlich die Zulassung für die Behandlung der GAD erhalten. Spezifische Indikationen müssen noch erarbeitet werden. 17.2.5 Psychotherapie 5 KVT ist der wichtigste psychotherapeutische Ansatz bei der GAD (Zubrägel u. Linden 2005). Der kognitive Ansatz ist besonders wirksam zur Bearbeitung von ängstlich-dysfunktionalen Kognitionen (kognitive Umstrukturierung); aber auch der verhaltenstherapeutische Ansatz mit Konfrontation mit den Sorgen in sensu ist wertvoll. 5 Auffrischungssitzungen (»booster session«) sind zu empfehlen. 5 Outcomedaten sprechen für einen Effekt nach KVT von bis zu 12 Monaten (Gould et al. 1997). Sogar 8-10 Jahre nach der KVT wurden noch positive Effekte beobachtet (Durham et al. 2003). Für die Pharmakotherapie gibt es solche Daten nicht. 5 Über vergleichende Langzeiteffekte zwischen KVT und Antidepressiva oder Benzodiazepinen gibt es keine gesicherten Daten. Bei der Behandlung der GAD konnte bislang keine generelle Überlegenheit oder Unterlegenheit der Psycho- 164 1 2 3 4 5 6 7 Kapitel 17 · Generalisierte Angststörung therapie gegenüber der Pharmakotherapie festgestellt werden (Lader u. Bond 1998; Mitte et al. 2005); dabei waren Benzodiazepine in der Regel die Vergleichssubstanzen (Gould et al. 1997). 5 Nur in Analogie zu den anderen Angsterkrankungen kann geschlossen werden, dass bei leichter und mittelschwerer GAD ohne chronische Entwicklung primär KVT indiziert ist. Bei schwerer und chronischer GAD kann allein, besser aber in Kombination mit KVT, ein Antidepressivum verordnet werden. 5 In einer neuen Studie bei Patienten über 60 Jahre mit gemischten Symptomen von GAD, Phobien und depressiven Störungen war ein SSRI (Sertralin) KVT überlegen (Schuurmans et al. 2006). 5 Obwohl die psychodynamische Psychotherapie gerade bei der GAD immer noch häufig angewandt wird, sind abgesicherte Evalutionsstudien nicht vorhanden. 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Fazit Pharmakotherapie und Psychotherapie bei der GAD – Bewertung 5 Therapie der ersten Wahl bei der leichten bis mittelschweren GAD ist die KVT. Medikamentöse Alternativen sind die Antidepressiva Escitalopram oder Venlafaxin. 5 Bei schweren oder chronischen Formen sollte gleich zu Beginn der Behandlung Escitalopram oder Venlafaxin gegeben werden. Eine Kombination mit KVT ist sinnvoll. 5 »Booster sessions« sind angebracht. 5 Für die grundsätzliche Anwendung der KVT sprechen positive Langzeiteffekte (wenngleich die Ergebnisse sich auf wenige Daten beziehen und für Antidepressiva solche Studien noch nicht vorliegen). 5 Bei bekanntem Substanzmissbrauch oder begleitender depressiver Störung sind immer Antidepressiva indiziert. 5 Die medikamentöse Therapie bei der GAD (Ausnahme Benzodiazepine) sollte im Rahmen einer Erhaltungstherapie mindestens 6 Monate, eher 2 Jahre, beibehalten werden (nicht Benzodiazepine). 5 Handelt es sich um eine akute GAD, ggf. verbunden mit Suizidalität, auch in einer Notfallsituation (7 Kap. 34), sind Benzodiazepine hoch wirksam. Auf das rechtzeitige und richtige Absetzen muss geachtet werden. 5 Benzodiazepine sind auch bei allen anderen Formen der GAD sehr wirksam, sollten aber wegen der überwiegenden Nachteile nur zu Beginn der Therapie bei schweren Erkrankungen eingesetzt werden. 17.3 Behandlung der GAD im Kindes- und Jugendalter GAD im Kindesalter ist gekennzeichnet durch exzessive und unkontrollierbare Sorgen über verschiedene Abläufe und Aktivitäten im täglichen Bereich. Der Verlauf ist nicht selten chronisch und es liegen häufig Komorbiditäten vor. Therapie der ersten Wahl bei der leichten bis mittelschweren GAD ist die KVT. Bei schweren oder chronischen Formen sollte gleich zu Beginn der Behandlung ein SSRI gegeben werden. Es sollte dann auch eine Kombination mit KVT erfolgen (Hudson et al. 2005). Auswahl der Antidepressiva Genau wie bei Erwachsenen sind die SSRI und die dualen Antidepressiva die wichtigsten Medikamentengruppen für die längerfristige Behandlung von GAD. Sie sind jedoch für diese Indikation im Kindesund Jugendalter nicht zugelassen. Es gibt zu SSRI (Fluoxetin, Fluvoxamin und Sertralin) und Venlafaxin 5 placebokontrollierte Studien. In allen Studien war Verum dem Placebo signifikant überlegen (Rynn et al. 2007). Untersuchungen zu Buspiron und Pregabalin, zwei Substanzen, die bei Erwachsenen zur Behandlung von GAD eingesetzt werden können, gibt es zu diesem Störungsbild im Kindes- und Jugendalter nicht. Es wurden auch noch keine Kombinationsstudien mit Psychotherapie durchgeführt. 17.4 · Checkliste 17.4 Checkliste ? 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Welche Psychopharmaka sind Mittel der ersten Wahl zur längerfristigen Behandlung der GAD? Ab wann ist bei den SSRI und dem dualen Antidepressivum Venlafaxin mit einem Wirkungseintritt zu rechnen? Welche Medikamente zeigen in Notfallsituationen eine gute und schnelle anxiolytische Wirkung? Ab wann ist ein Wirkungseintritt bei einer Behandlung mit dem nichtsedierenden Anxiolytikum Buspiron zu erwarten? Welche Vorteile bieten Antidepressiva und das Anxiolytikum Buspiron gegenüber den Benzodiazepinen? Über welchen Zeitraum sollte eine Behandlung der GAD mit Antidepressiva oder Buspiron erfolgen? Wann ist bei der Behandlung der GAD eine Kombinationstherapie aus KVT und einem Antidepressivum sinnvoll? 165 17 167 18.1 · Phobische Störungen 18.1 Gesamtbehandlungsplan – 168 18.2 Therapie 18.2.1 18.2.2 Antidepressiva und andere Medikamente – 168 Psychotherapie – 169 18.3 Behandlung der phobischen Störungen im Kindes- und Jugendalter – 169 18.4 Checkliste – 168 – 170 18 168 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Bei der Phobie werden eher ungefährliche, aber subjektiv angstauslösende Situationen oder Objekte gemieden oder unter Angst ertragen. Die Ängste reichen von leichten Befürchtungen bis hin zu panischer Angst. Die spezifische Phobie wird durch bestimmte Situationen, wie Höhen und Objekte, oder durch Tiere ausgelöst. Es wird versucht die phobische Situation zu meiden. Bei der sozialen Phobie (Syn.: soziales Angstsyndrom) steht die anhaltende Angst vor sozialer Bewertungen im Vordergrund. Unterschieden werden bei der sozialen Phobie eine »spezifische Form« (z. B. Redeangst) und eine »generalisierte Form«, bei der schließlich weite Bereiche sozialer Situationen gemieden werden. Differenzialdiagnostisch muss die phobische Störung von der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeit getrennt werden. Das ist aufgrund des chronischen Verlaufs beider Erkrankungen oft nicht leicht. Die Agoraphobie ist häufig mit Panikattacken (7 Kap. 16) assoziiert. Sie bezieht sich auf ein breites Spektrum von Ängsten das eigene Haus zu verlassen, Geschäfte zu betreten, sich in Menschenmengen aufzuhalten bis hin zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. 11 18.1 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 18 · Phobische Störungen Gesamtbehandlungsplan Mit der Verhaltenstherapie und den Antidepressiva gibt es zwei wirkungsvolle Behandlungsoptionen bei phobischen Störungen. Auf komorbide Störungen, wie andere Angsterkrankungen, depressive Störungen und Substanzmissbrauch, ist besonders zu achten. Gerade bei dieser Patientengruppe besteht oft Suizidalität. Die zusätzlichen Symptome entscheiden oft darüber, ob ein Antidepressivum eingesetzt wird. Besondere neurobiologische Normabweichungen wurden bisher nicht gefunden. Die Wirksamkeit serotonerger Substanzen spricht für eine gestörte serotonerge Funktion. Wichtig Allzu oft werden SSRI allein schon bei schüchternen oder gehemmten Menschen verordnet. Dieser Bereich der leichten Störungen sollte psychotherapeutisch behandelt werden. Wenn allerdings eine phobische Angst sehr ausgeprägt ist und sie eindeutigen Krankheitswert hat, besteht neben der Psychotherapie auch eine Indikation für eine pharmakologische Behandlung. Sie sollte dann auch rechtzeitig, entsprechend den Vorgaben (7 Abschn. 18.2) behandelt werden, denn es gibt, wie für die Depression (7 Kap. 15), auch für phobische Störungen ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. 18.2 Therapie 18.2.1 Antidepressiva und andere Medikamente 5 Bei der spezifischen Phobie sind Antidepressiva in der Regel nicht indiziert. Handelt es sich um gelegentliche, vorhersagbare Ereignisse, kann nach Bedarf ein Benzodiazepin (wie bei den Panikattacken 7 Abschn. 16.2.2) gegeben werden. Manchmal ist auch ein β-Rezeptorenblocker wirksam (7 Abschn. 16.2.3). 5 Selektive Serotoninrückaufnahmehemmer (SSRI) und das duale Antidepressivum Venlafaxin sind die Mittel der Wahl, wenn Antidepressiva bei den phobischen Störungen indiziert sind (Muller et al. 2005). Zwar wird für andere Medikamentengruppen eine Wirksamkeit beschrieben (MAO-Hemmer Moclobemid, Clomipramin), diese haben aber höhere Nebenwirkungsrisiken. Unter den SSRI ist zwar Paroxetin besonders gut geprüft, hat aber im Vergleich zu dem SSRI Escitalopram Nebenwirkungsnachteile (7 Abschn. 5.6). Benzodiazepine sind den SSRI bei den Phobien unterlegen. Buspiron kann eine Alternative sein. 5 Die Dosis der Antidepressiva wird in der gleichen Höhe wie bei der depressiven Störung gegeben (7 Abschn. 5.11). 5 Die antiphobische Wirkung von Escitalopram und Venlafaxin tritt oft mit zeitlicher Verzögerung nach der antidepressiven Wirkung auf. Es werden Behandlungszeiträume von 12 Wochen empfohlen. Um ein Rezidiv zu vermeiden ist aber 169 18.3 · Behandlung der phobischen Störungen im Kindes- und Jugendalter durchaus eine längere Therapie angebracht. In einer Studie war die Rezidivneigung unter Erhalt des SSRI deutlich geringer als in der Gruppe, in der das Antidepressivum abgesetzt wurde (Stein et al. 1998). 5 Antidepressiva sollen sehr langsam über Wochen abgesetzt werden. 5 Stehen bei der sozialen Phobie körperliche Symptome wie Zittern oder Schwitzen im Vordergrund, werden oft β-Rezeptorenblocker gegeben (7 Abschn.. 16.2.3); der Wirksamkeitsnachweis ist aber keineswegs überzeugend. 5 Die Therapie der Agoraphobie ist identisch mit der Therapie der Panikstörung (7 Abschn. 16.2). Cave Es werden immer noch Antipsychotika bei Phobien und anderen Angststörungen empfohlen. Dies sollte wegen des relativ hohen Nebenwirkungsrisikos unterbleiben. 18.2.2 Psychotherapie 5 Bei den spezifischen Phobien besteht eine klare Präferenz für Verhaltenstherapie (Hamm 2006). 5 Für die soziale Phobie zeigen Metaanalysen ähnlich gute Effekte für die KVT und die Expositionstherapie (Gould et al. 1997). Eine wertvolle Ergänzung dieser Therapieformen ist das soziale Kompetenztraining mit dem Erlernen sozialer Verhaltensweisen (Stangier et al. 2006). 5 Die Ergebnisse der psychotherapeutischen Studien bei Patienten mit Panikstörung mit und ohne Agoraphobie unterscheiden sich nicht (Furukawa et al. 2006). Einzelheiten 7 Abschn. 16.2.4. Fazit Pharmakotherapie mit Antidepressiva und Psychotherapie bei phobischen Störungen – Bewertung 5 Expositionstherapie und kognitive Verfahren sind allein und in Kombination mit Antidepressiva gut wirksam. 5 Bei der spezifischen Phobie sind primär verhaltenstherapeutische Maßnahmen indiziert. Wenn die Konfrontation mit der angstauslösenden Situation selten ist (z. B. Flugangst) kann bei Bedarf auch ein Benzodiazepin oder ein β-Blocker gegeben werden. 18 5 Bei den anderen phobischen Störungen konnte eine generelle Überlegenheit oder Unterlegenheit der Kombination von Psychotherapie und Psychopharmakotherapie gegenüber der alleinigen Verhaltenstherapie nicht festgestellt werden. Es fehlen aussagekräftige Vergleichsstudien. 5 Sollen bei phobischen Störungen Anidepressiva gegeben werden, sind Escitalopram (SSRI) oder Venlafaxin (duales Antidepressivum) Mittel der ersten Wahl. 5 Bei Response sollte das Antidepressivum mindestens 6–12 Monate weiter gegeben werden. 5 Bei nicht voller Remission kann ein anderes Antidepressivum oder Buspiron, ggf. auch ein Benzodiazipin hinzu gegeben werden. Bei Non-Response sind ähnliche Strategien, wie bei der therapieresistenten Depression (7 Kap. 15), anzuwenden. 18.3 Behandlung der phobischen Störungen im Kindes- und Jugendalter Soziale Phobien haben eine hohe Prävalenz und beginnen meistens im späten Kindesalter bzw. frühen Jugendalter. Als komorbide Erkrankungen treten häufig andere Angststörungen und affektive Störungen hinzu. Die Patienten sind in der Folge in ihrer emotionalen, sozialen und schulischen Entwicklung stark beeinträchtigt. Bei der Behandlung phobischer Störungen im Kindes- und Jugendalter wird primär KVT eingesetzt. Bei schweren und chronischen Verläufen ist eine zusätzliche medikamentöse Therapie mit SSRI empfehlenswert (Mancini et al. 2005). Pharmakotherapie Im Kindes- und Jugendalter wurden im Bereich der phobischen Störungen vorwiegend pharmakologische Studien zur sozialen Phobie durchgeführt. Es gibt keine Placebokontrollierten Studien bei den Störungsbildern spezifische Phobien oder Agoraphobien. Im Kapitel Panikstörungen (7 Kap. 16) wird auf Panikstörungen eingegangen, die häufig mit Agoraphobie einhergehen. Die Therapie der Störung mit Trennungsangst im Kindesalter, auch als Schulphobie bezeichnet, wird in 7 Kap. 33 beschrieben. In mehreren kontrollierten Studien konnte die Effizienz der SSRI (Fluoxetin, Fluvoxamin und Paroxetin) gegenüber Placebo bei der Behandlung von sozialen Phobien im Kindes- und Jugendalter gezeigt werden (Clark et al. 2005). 170 1 2 Kapitel 18 · Phobische Störungen Auch das Benzodiazepin Alprazolam zeigte in einer kontrollierten Studie bei Kindern und Jugendlichen mit Überängstlichkeit und Vermeidungsverhalten eine positive Wirkung und kann zur kurzfristigen Therapie unterstützend eingesetzt werden (Mancini et al. 2005). 3 4 5 6 18.4 ? 1. 2. 7 3. 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Checkliste 4. 5. 6. Welche Antidepressiva sind Mittel der ersten Wahl bei einer pharmakologischen Behandlung phobischer Störungen? Wann ist bei phobischen Störungen mit einer Wirkung von Antidepressiva (SSRI, Venlafaxin) zu rechnen? Wann sind Antidepressiva bei der sozialen Phobie eine sinnvolle Behandlungsindikation? Über welchen Zeitraum sollte eine Behandlung mit Antidepressiva mindestens erfolgen? Welche Rolle spielen Antipsychotika bei der Behandlung phobischer Störungen? Warum sollten soziale Phobien im Kindesund Jugendalter frühzeitig behandelt werden und wie sollte sich die Behandlung bei einer ausgeprägten Symptomatik gestalten? 171 19.1 · Zwangsstörung 19.1 Gesamtbehandlungsplan – 172 19.2 Therapie 19.2.1 19.2.2 19.2.3 Antidepressiva – 173 Andere Medikamente – 173 Psychotherapie – 174 19.3 Behandlung der Zwangsstörung im Kindes- und Jugendalter – 174 19.4 Checkliste – 172 – 175 19 172 1 2 3 4 5 6 7 Kapitel 19 · Zwangsstörung Eine Zwangsstörung ist gekennzeichnet durch wiederkehrende, als unsinnig oder quälend erlebte Zwangsgedanken und/oder -handlungen. Zwangsgedanken betreffen besonders aggressive, religiös-blasphemische, sexuelle Gedankeninhalte; ferner Themen der Symmetrie, Kontamination und des Hortens. Zwangshandlungen umfassen Kontroll-, Ordnungs-, Zähl-, Wiederholungs-, Reinigungs- und Sammelzwänge. Es wird diskutiert, ob nicht eine größere Gruppe von Krankheiten mit zwangsähnlichen Phänomenen eher zu den Zwangskrankheiten gezählt werden sollten (»obsessive compulsive spectrum disorder«). Für sie gibt es ähnliche neurobilogische Hypothesen und Therapiestrategien. Dazu gehören insbesondere Impulskontrollstörungen mit aggressiven und sexuellen Impulsen (7 Kap. 29), Tics und das Gilles-de-laTourette-Syndrom (7 Kap. 32). Insgesamt bieten beide Therapieformen zwangskranken Menschen eine große Hilfe, die Responderraten sind aber insgesamt noch nicht befriedigend. Bei starker sozialer Isolierung sind psychosoziale Maßnahmen angebracht. Der psychoanalytische Erklärungsansatz war jahrzehntelang attraktiv. Zwar können Zwangspatienten hinsichtlich verschiedener Begleitsymptome durchaus von einer psychodynamischen Psychotherapie profitieren, für die eigentlichen Zwangstörungen ist aber ein Wirksamkeitsnachweis bisher nicht erbracht (Benkert u. Lenzen-Schulte 2004). Es besteht eine hohe Komorbidität von depressiven Störungen und Angststörungen. Bei dieser Konstellation sollte immer frühzeitig ein Antidepressivum gegeben werden. Die Zwangsstörung sollte diagnostisch von der ichsyntonen anankastischen Persönlichkeitsstörung getrennt werden. Neurobiologie der Zwangsstörung. Der entschei- 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 dende Schritt zum Einblick in möglicherweise gestörte Stoffwechselschritte bei der Zwangskrankheit war der Behandlungserfolg mit Serotoninrückaufnahmehemmern. Sie legen eine serotonerge Dysfunktion bei Zwangspatienten nahe. Unterstützt wird die Hypothese durch den Befund, dass es nach Gabe des Serotoninagonisten m-Chlorophenypiperazin (m-CPP) bei Zwangskranken zu einer Verschlechterung der Symptomatik kommt. Bei Gesunden ist m-CPP wirkungslos. Weiterhin erlauben es heute bildgebende Verfahren, immer intensiver auch topographische Schädigungen im Gehirn nachzuweisen. Primäre Störungen im kortikostriatothalamokortikalen Regelkreis (Kordon et al. 2006) mit besonderer Bedeutung des Striatums werden für den Ausfall entscheidender Filterstationen verantwortlich gemacht, sodass unerwünschte Impulse in höhere Gehirnzentren gelangen können. 19.1 Gesamtbehandlungsplan Es stehen auch bei der Zwangsstörung zwei wertvolle Therapiestrategien, psychologische Verfahren und Antidepressiva, zur Verfügung. Sie sollten in der Regel, wenn irgend möglich, gemeinsam angewandt werden (Kordon et al. 2008). Allerdings stehen, zumindest bei der leichten Zwangshandlung verhaltenstherapeutische Maßnahmen im Vordergrund, während bei vorherrschenden Zwangsgedanken möglichst SSRI mit KVT kombiniert angewandt werden sollten. Allerdings gibt es noch zu wenige kontrollierte Studien, um klare Empfehlungen zu geben. 19.2 Therapie Neben der dominierenden Indikation für KVT und Antidepressiva wird in seltenen Fällen bei schweren und therapieresistenten Erkrankungen ein neurochirurgischer Eingriff vorgenommen (Schruers et al. 2005). Vorher kann noch ein Versuch mit transkranieller Magnetstimulation, Vagusnervstimulation oder Elektrokrampfbehandlung (7 Abschn. 15.6) vorgenommen werden. Wichtig Zu Beginn einer Therapie sollte immer geprüft, ob 5 es sich um ein akutes Krankheitssyndrom so starker Ausprägung handelt, dass den sofortigen Einsatz eines Antidepressivums, ggf. vorübergehend eines Benzodiazepins, notwendig macht; 5 Suizidalität besteht; 5 komorbide Diagnosen, insbesondere eine depressive Störung oder eine Angststörung vorhanden sind; 5 Substanzmißbrauch bekannt ist; 5 der Patient sich sozial völlig zurückgezogen hat; 5 eher Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen vorherrschen; 5 die Krankheit mit motorischen oder sprachlichen Tics einhergeht. 173 19.2 · Therapie 19.2.1 Antidepressiva Es sind überzeugende Wirksamkeitsnachweise für Antidepressiva mit überwiegender oder selektiver 5HT-Rückaufnahmehemmung wie Clomipramin (trizyclisches Antidepressivum (TZA)) bzw. die SSRI Fluoxetin, Fluvoxamin und Paroxetin (diese 3 SSRI sind zugelassen), aber auch für Citalopram und Sertralin vorhanden. Historisch war Clomipramin schon Ende der 1960er Jahre das erste TZA, von dem eine überlegene Wirksamkeit bei der Zwangsstörung berichtet wurde. Interessant war die Beobachtung, dass die anderen TZA diese Wirkung nicht entfalteten. Man erkannte dann bald, dass die Ursache in dem besonders starken serotoninwiederaufnahmehemmenden Mechanismus von Clomipramin lag. Damit begann die Suche nach der Bedeutung des Serotoninstoffwechsels für die neurobiologische Hypothese der Zwangsstörung. 5 Da kein Unterschied in der Wirksamkeit zwischen Clomipramin und den SSRI besteht, gelten SSRI aufgrund der geringeren Nebenwirkungen als Mittel der ersten Wahl. Auch innerhalb der SSRI gibt es keine Wirkunterschiede. 5 Die Dosis soll langsam auftitriert werden. Es sind meist höhere Dosen als zur Depressionsbehandlung notwendig. Beispiele sind: – Escitalopram: Beginn mit aufsteigend bis maximal 20 mg. – Clomipramin: Beginn mit 25–50 mg, maximal 300 mg. – Fluoxetin: Beginn mit 10–20 mg, maximal 80 mg. – Fluvoxamin: Beginn mit 50 mg, maximal 300 mg. 5 Der Therapieerfolg stellt sich oft erst nach 2– 3 Monaten ein. Vorher sollte nicht von einer Non-Response ausgegangen werden. 5 Meist wird nur eine graduelle Besserung von 40– 50% erreicht. 5 Begleiten depressive Störungen oder Angststörungen die Zwangskrankheit, sollten zunächst – unabhängig von der syndromalen Ausgestaltung der Zielkrankheit – SSRI verordnet werden. 5 Horten und sexuelle bzw. religiöse Obsessionen als Symptome einer Zwangskrankheit scheinen nur mäßig auf SSRI (und KVT) anzusprechen (Rufer et al. 2006). Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe 5 Bei der Zwangsstörung ist eine längerfristige medikamentöse Erhaltungstherapie (mindestens 12–24 Monate) erforderlich. Bei voller Response 19 sollten Absetzversuche langsam ausschleichend und möglichst nur unter einer KVT-Kombination erfolgen, z. B. 25% der Dosis in 2 Monatsschritten (s. unten). 5 Wenn ein Patient nach Absetzversuchen mehr als 2 Rückfälle hatte, ist an eine Langzeitmedikation zu denken. Cave Die Antidepressiva dürfen nicht plötzlich abgesetzt werden. Das Rückfallrisiko ist zu hoch. Ein Absetzversuch sollte sehr langsam erfolgen. Im Verlauf sollte die pharmakologische Behandlung durch eine KVT ergänzt werden um langfristige Therapieeffekte zu sichern. Therapieresistenz 5 Mindesten 30% der Patienten respondieren auf eine Monotherapie mit einem SSRI nicht. Dann kann – ein anderer SSRI – oder Clomipramin – oder im nächsten Schritt eine Kombinationstherapie aus Clomipramin und SSRI indiziert sein. 5 Bei Therapieresistenz zeigten erste Studien auch eine gute Wirkung durch die zusätzliche Gabe der atypischen Antipsychotika Risperidon oder Quetiapin zu den SSRI. 5 Positive Berichte gibt es zur Kombination von SSRI mit dem Benzodiazepin Clonazepam und Buspiron. 5 Die Tiefenhirnstimulation ist bei therapieresistenten Zwangsstörungen eine neue Therapieoption, die aber noch weiter abgesichert werden muss. Sie bietet gegenüber den früheren neurochirurgischen Verfahren den Vorteil, dass nur sehr wenig Hirngewebe verletzt wird, da der Zielort im Gehirn nur elektrisch stimuliert wird. 19.2.2 Andere Medikamente 5 Es gibt jetzt mehrere Studien in denen eine Addon-Therapie mit SSRI und atypischen Antipsychotika (s. oben, Therapieresistenz) positiv beurteilt wird (Schruers et al. 2005). Von neuen Studien sind weitere wichtige Ergebnisse, insbesondere bei therapieresisten Zwangskranken zu erwarten. 174 1 2 Kapitel 19 · Zwangsstörung 5 Benzodiazepine und Buspiron allein sind in der Regel nicht wirksam. In einer Notfallsituation können aber Benzodiazepine kurzfristig verordnet werden. Wichtig 3 4 5 6 5 Zwänge im Rahmen einer Schizophrenie sprechen nicht auf SSRI an. Antipsychotika sind dann indiziert. 5 Begleitende motorische oder sprachliche Tics und Zwangssymptome im Sinne einer überwertigen Idee müssen zusätzlich auch mit einem Antipsychotikum behandelt werden. 7 Fazit 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 5 KVT in Kombination mit Exposition und Reaktionsmanagement war in einer Studie wirksamer als Exposition mit Reaktionsmanagement allein. 5 Die Verhaltenstherapie hat einen nachgewiesenen Langzeiteffekt. Durch die in die Therapie integrierte Rückfallprophylaxe wird die Selbstbehandlungskompetenz aufgebaut und aktiviert. 5 Auch Patienten, die unter einer medikamentösen Therapie nur eine partielle Response zeigen, profitieren von einer zusätzlichen KVT, allerdings ist der Gewinn umso größer desto eher KVT angesetzt wird (Tenneij et al. 2005). 5 Wird eine komorbide depressive Störung diagnostiziert, sollte die KVT immer mit einem SSRI kombiniert werden (O’Connor et al. 2006). 5 Wenn die Antidepressiva bei der Zwangsstörung abgesetzt werden sollen, besteht das Risiko einer Rückfallquote von ca. 80%. Eine parallele KVT ist in dieser Situation dringend indiziert. Pharmakotherapie der Zwangsstörung – Bewertung 5 SSRI sind Mittel der Wahl bei Zwangskrankheiten. 5 Eine Indikation ist regelmäßig bei schweren Erkrankungen und bei begleitender Depression gegeben. 5 Die Dosis ist höher als bei der depressiven Störung, sie muss langsam aufdosiert werden. 5 Der Therapieerfolg stellt sich viel später als bei der Depression ein (ca. 2–3 Monate). 5 Es ist eine Therapiedauer von mindestens 12–24 Monaten anzustreben. 5 Ein Absetzversuch soll sehr langsam und möglichst unter dem Schutz einer KVT erfolgen. Das Risiko eines Rückfalls ist beim Absetzen sehr hoch. 5 Bei Therapieresistenz können auch mehrere SSRI nacheinander gegeben werden. 19.2.3 Fazit Pharmakotherapie mit Antidepressiva und Psychotherapie bei Zwangsstörung – Bewertung 5 Zwangshandlungen sprechen generell besser auf KVT an als Zwangsgedanken. 5 Bei leichten Störungen ist KVT zunächst allein (besonders bei Zwangshandlungen, möglicherweise auch bei Zwangsgedanken) indiziert, bei schweren Erkrankungen sollten immer KVT und SSRI kombiniert werden. 5 Bei begleitender Depression sollte regelmäßig die KVT mit einem SSRI kombiniert werden. 5 KVT hat einen besseren Langzeiteffekt als Antidepressiva. 5 Bei Absetzversuch der Antidepressiva sollte spätestens mit einer KVT begonnen worden sein. Psychotherapie 5 Bei vorherrschenden Zwangsgedanken sind KVT und Antidepressiva wahrscheinlich gleich wirksam. Bei leichten Störungen ist eine alleinige psychologische Therapie zunächst anzustreben, bei mittelschweren und schweren Störungen sollte gleich zu Beginn ein SSRI mit angesetzt werden (March et al. 1997). 5 Dagegen zeichnet sich bei vorherrschenden Zwangshandlungen generell ein Vorteil für die KVT im Vergleich zu Antidepressiva ab. Bei schweren Erkrankungen sollte, falls die KVT nicht schnell anspricht oder nicht zur Verfügung steht, mit einem SSRI parallel begonnen werden. 19.3 Behandlung der Zwangsstörung im Kindesund Jugendalter Bei Kindern ist es häufig schwierig rituelle Handlungen von Zwangsstörungen zu unterscheiden. Kinder mit Zwangsstörungen sind meistens verschlossen und ziehen sich zurück, da sie große Ängste haben, ihre Gedanken und Handlungen mitzuteilen. Als zentrales Element bei den Zwangsstörungen im Kindesalter sind häufig Familienmitglieder eingebunden. Die Zwangstörungen können ab dem 4. Lebens- 175 19.4 · Checkliste jahr auftreten. Die Ergebnisse zum Verlauf der juvenilen Zwangsstörungen zeigen eine hohe Stabilität der Erkrankung und ihrer Komorbiditäten. Bei den Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter gelten die gleichen Empfehlungen wie bei Erwachsenen mit Zwangsstörungen: Bei leichten Störungen ist zunächst KVT allein indiziert, bei schweren Störungen sollte immer KVT und SSRI bzw. Clomipramin kombiniert werden (O’Kearney et al. 2006). Pharmakotherapie Fluvoxamin aus der Gruppe der SSRI ist ab 8 Jahren zur Behandlung von Zwangsstörungen zugelassen. Placebokontrollierte Studien wurden mit SSRI (Fluoxetin, Fluvoxamin und Sertralin) bei Kindern und Jugendlichen durchgeführt. In allen Studien zeigte sich nach 8–13 Wochen Therapie eine Besserung zwischen 42–49% im Vergleich zu Placebo (Wewetzer et al. 2003). Zu Clomipramin gibt es auch positive Befunde, allerdings nur mit Studiendauern von 5–8 Wochen. Pharmakotherapie und Psychotherapie Psychotherapeutisch ist die Verhaltenstherapie und hier speziell die Expositionsbehandlung mit Reaktionsverhinderung eine effektive Behandlungsmethode zur Behandlung von Zwangsstörungen im Kindesund Jugendalter. Eine Cochrane-Untersuchung aus dem Jahr 2006 konnte allerdings nur vier Studien, die die Kriterien für eine kontrollierte Studie erfüllten, in ihre Metaanalyse aufnehmen (O’Kearney et al. 2006). In zwei kontrollierten Studien wurde Psychotherapie und medikamentöse Therapie bzw. deren Kombination bei Kindern und Jugendlichen mit Zwangsstörungen verglichen. Dabei zeigte sich in der einen Studie, dass die Kombination von KVT und Sertralin, den alleinigen Therapieformen überlegen war, welche wiederum gegenüber Placebo überlegen waren. In 19 der anderen Studie erwies sich, dass KVT-Gruppentherapie signifikant bessere Ergebnisse als die medikamentöse Therapie mit Sertralin erzielte (Sousa et al. 2006). 19.4 Checkliste ? 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Für welches Antidepressivum wurde als erstes eine überlegene Wirksamkeit bei Zwangsstörungen nachgewiesen? Welcher Wirkungsmechanismus liegt dem zugrunde? Welche Antidepressiva werden bei der Behandlung der Zwangsstörung eingesetzt? Welche Dosierungen sind bei der Behandlung der Zwangstörungen mit Antidepressiva notwendig? In welchem Zeitraum kann bei der Behandlung der Zwangsstörung mit Antidepressiva mit einem Therapieeffekt gerechnet werden? Wie stark ist der zu erwartende Therapieeffekt? Wie lange sollte eine Behandlung mit SSRI bei entsprechendem Therapieerfolg fortgeführt werden? Was ist beim Absetzen der SSRI zu beachten? Welche pharmakologischen Therapieoptionen gibt es, falls SSRI nicht zum gewünschten Therapieerfolg führen? 20 177 20.1 · Posttraumatische Belastungsstörung 20.1 Gesamtbehandlungsplan – 178 20.2 Therapie 20.2.1 20.2.2 20.2.3 Antidepressiva – 178 Andere Psychopharmaka Psychotherapie – 179 20.3 Behandlung der PTSD im Kindes- und Jugendalter 20.4 Checkliste – 178 – 180 – 178 – 179 178 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 Kapitel 20 · Posttraumatische Belastungsstörung Die posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) ist ein Störungsbild, das sich in der Regel innerhalb von 6 Monaten nach einem traumatisierenden Ereignis von außergewöhnlicher Schwere entwickelt und sich in wiederholten, sich aufdrängenden Erinnerungen oder Wiederinszenierungen des Ereignisses in Gedächtnis, Tagträumen oder Träumen äußert, die von starker Angst oder einem Gefühl der Hilflosigkeit geprägt sind. Dabei entwickeln sich häufig emotionaler und sozialer Rückzug, Gefühlsabstumpfung, Vermeidungsverhalten bez. an das Trauma erinnernder Stimuli, anhaltende Hypervigilanz, Schlafstörungen und kognitive Verzerrungen. Eine PTSD kann sich auch nach alltäglichen Ereignissen wie Unfällen entwickeln. Während der größte Teil der Traumatisierten die Ereignisse bewältigt, kommt es bei einem Drittel zu psychischen Problemen. Dauert die PTSD länger als 3 Monate, wird sie als chronisch eingestuft. In der DSM-IV-Klassifikation wird die PTSD den Angsterkrankungen zugeordnet, in der ICD-10 wird sie als Reaktion auf Belastungen gesehen. Neurobiologie der PTSD. Hyperarousal und Reizbarkeit wird als Aktivierung des sympathischen und endokrinen Systems bei Stress gesehen. Aber anders als bei der Depression führt die Dysregulation der Stresshormonsekretion bei der PTSD zu einem erniedrigten peripheren Kortisolspiegel. Dieser Befund mag für die Sonderstellung der PTSD im Rahmen der Angsterkrankungen sprechen. Im Vergleich zur Depression fehlen aber weitgehend abgesicherte weitere neurobiologische Befunde (Ehlert 2006). Da die SSRI wirksam sind, wird auch eine serotonerge Dysfunktion postuliert. Auf den genetischen Zusammenhang zwischen »life events« und Depression wird in 7 Abschn. 15.8 hingewiesen. 15 16 17 18 19 20 20.1 Gesamtbehandlungsplan Die PTSD ist oft eine chronische Erkrankung und muss langfristig behandelt werden. Dazu bieten sich Antidepressiva und psychologische Verfahren auf der Grundlage der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) an; sie können kombiniert angewandt werden. Der Schwerpunkt liegt allerdings auf der Psychotherapie (Bradley et al. 2005). Bei der PTSD besteht eine hohe Komorbidität mit Angststörungen und Depressionen, aber auch somatoformen Störungen. Während die Angstsymptomatik über die Zeit eher abnimmt, treten depressive Symptome vermehrt auf. So wird auch die PTSD als Prä- diktor der Depression gewertet. Da Alkohol und illegale Drogen die Beschwerden der PTSD mildern können, ist bei der PTSD eine zusätzliche Komorbidität mit Alkohol- und Drogenabusus häufig. Die PTSD ist oft bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen zu finden. Ein wichtiger Risikofaktor für die PTSD sind vorbestehende Angsterkrankungen (Kendler et al. 1995; Hautzinger 2006). Erstmalig wurde, wie bei der Depression (7 Abschn. 15.8), auf die Assoziation zwischen PTSD und Herz-Kreislauf-Erkrankungen hingewiesen (Kubzansky et al. 2007). Eine gebesserte Symptomatik kann nach einigen Monaten oder Jahren – ganz oder in Teilsymptomen – wieder aufflackern. Manchmal dauern Episoden jahrzehntelang. 20.2 Therapie 20.2.1 Antidepressiva 5 Die meisten positiven Ergebnisse liegen zu den SSRI Paroxetin und Sertralin vor (zugelassen: Paroxetin). Insgesamt sind die Erfolge mit Antidepressiva bei der PTSD geringer als bei der Depression; 40–50% respondieren unter SSRI. Durch SSRI werden sowohl die PTSD-typischen als auch die komorbiden Begleitsymptome gebessert. 5 Man beginnt mit niedriger Dosis für mindestens 8 Wochen und setzt dann auf eine eher hohe Erhaltungsdosis wie bei der Therapie der Depression. 5 Oft werden Besserungen erst nach langfristiger Therapie gesehen. 5 Es gibt Empfehlungen zu 1- bis 2-jähriger Behandlungsdauer; nach Absetzen ist das Risiko für einen Rückfall groß (Davis et al. 2006). 5 Nach Besserung sollen SSRI sehr langsam abgesetzt werden. Bei Wiederauftreten der Symptome werden SSRI wieder angesetzt. 5 Es wird davon ausgegangen, dass eine frühzeitige Intervention mit Antidepressiva einer chronischen PTSD-Entwicklung vorbeugt. 5 Kommt es zu keiner Besserung mit SSRI, können auch andere Antidepressiva versucht werden. 20.2.2 Andere Psychopharmaka 5 Zur Therapie der Begleitsymptome der PTSD, gerade bei bestehender Komorbidität, können atypische Antipspychotika (AAP) gegeben wer- 179 20.3 · Behandlung der PTSD im Kindes- und Jugendalter den. Sie sind besonders bei psychose-ähnlichen Zuständen hilfreich. 5 Es gibt vermehrt Hinweise, dass AAP über die Psychose-Indikation hinaus eine ähnlich gute Wirkung wie Antidepressiva haben. Abgesehen von der Off-label-Indikation der atypischen Antipsychotika ist aber das Nebenwirkungsrisiko, besonders wegen der Möglichkeit der Induktion eines metabolischen Syndroms (7 Abschn. 7.6), höher als bei den Antidepressiva einzuschätzen. 5 Bei Aggressionen im Rahmen einer PTSD können auch Antikonvulsiva (7 Kap. 6) verordnet werden. 5 Es gibt keine Indikation für eine Monotherapie mit Benzodiazepinen. 20.2.3 Psychotherapie KVT und EMDR (»eye movement desensitization and reprocessing«) (Hofmann 2006; Maercker 2005) sind etablierte Verfahren. Der Schwerpunkt der verhaltenstherapeutischen Arbeit liegt in Expositionsverfahren und Angstbewältigungstraining. EMDR ist eine Variante des Konfrontationsverfahrens mit suggestiven (hypnotischen) Anteilen. In einer Metaanalyse konnte zwischen EMDR und der traumafokussierten KVT kein Unterschied gefunden werden (Bradley et al. 2005; Butler et al. 2006). Für beide Verfahren liegen die meisten positiven Studien vor. Begleitende Angstsymptomatik und Depression wird auch durch die psychologischen Verfahren parallel gebessert. KVT und ähnliche psychotherapeutische Verfahren gehen meist über 30–40 Therapiekontakte und einen Zeitraum von 6–9 Monaten. Es wird empfohlen mit einer derartigen Psychotherapie frühestens 2 Monate nach dem Trauma zu beginnen. In den ersten Wochen nach einer traumatischen Erfahrung kommt es meist zur Spontanrückbildung der anfänglichen Symptomatik. Studien zur Frühintervention nach einem akuten Trauma zeigten keine positiven Effekte (Maercker 2005; Sijbrandij et al 2007). In einer randomisierten follow-up-Studie konnten zwar bei Vergleich zwischen Fluoxetin und EMDR während der Akutbehandlung keine eindeutigen Unterschiede festgestellt werden, nach 6 Monaten allerdings war das psychotherapeutische Konfrontationsverfahren signifikant dem Antidepressivum überlegen (van der Kolk et al 2007). 20 Fazit Pharmakotherapie mit Antidepressiva und Psychotherapie bei der PTSD – Bewertung 5 Therapie der ersten Wahl ist KVT oder EMDR. Beide Therapien können gleichwertig angewandt werden. Die Vorteile des psychotherapeutischen Verfahrens (hier EMDR) sind im längerfristigen Verlauf evident. 5 Bei schweren Formen, insbesondere wenn sie von starken Angstsymptomen oder Depressionen begleitet werden, kann gleich zu Beginn mit einem SSRI kombiniert werden. 5 Bei fehlender Response oder Partialresponse unter KVT oder EMDR sollte ein SSRI verordnet werden, danach bei fehlender Besserung auch ein anderes Antidepressivum. 5 Es gibt keine aussagekräftigen Studien, die Vorteile einer Kombination gegenüber der Monotherapie mit Antidepressiva, KVT oder EMDR zeigen würden. 20.3 Behandlung der PTSD im Kindes- und Jugendalter Damit die Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit PTSD wirksam ist, sollte ein Schutz vor Retraumatisierung und ein vom Patienten als sicher und kontrollierbar erlebtes Umfeld voraus gesetzt sein. Meistens ist die Einbeziehung der Bezugspersonen erforderlich und hilfreich. Zu Beginn der Therapie ist eine Aufklärung über die psychischen Traumafolgen indiziert (Psychoedukation). Anschließend stellt die KVT mit Expositionsbehandlung sowie das Erlernen von Techniken zur Stressbewältigung die Therapie der Wahl dar (Herpertz-Dahlmann et al. 2005). In einigen Studien konnte die Wirksamkeit der KVT und EMDR bei Kindern und Jugendlichen mit PTSD nachgewiesen werden (Stallard 2006). Placebokontrollierte Studien liegen zu PTSD bei Kindern und Jugendlichen nicht vor. Pharmakotherapie Falls eine medikamentöse Behandlung aufgrund des Schweregrads und der Chronizität der Erkrankung indiziert ist, sollte die Therapie zunächst mit einem SSRI initiiert werden. Als Alternativen oder als zusätzliche medikamentöse Therapie kommt Clonidin bei starken Erregungszuständen und Impulsivität in Frage, ein Stimmungsstabilisierer bei ausgeprägter affektiver Begleitsymptomatik und ein AAP bei selbstverletzendem Verhalten, Dissoziationsphänomen, psy- 180 1 Kapitel 20 · Posttraumatische Belastungsstörung chotischen und aggressiven Symptomen. Bei komorbidem ADHS sollte der Patient mit Psychostimulanzien oder Atomoxetin behandelt werden. 2 20.4 3 4 5 ? 1. 2. 3. 6 4. 7 5. 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Checkliste Welche komorbiden Störungen treten häufig bei der PTSD auf? Was sind die Therapien der ersten Wahl bei der PTSD? Wann sollten bei der PTSD Antidepressiva eingesetzt werden? Welche Responserate ist bei der Behandlung der PTSD mit SSRI (Paroxetin und Sertralin) zu erwarten? Wie lange sollte bei der PTSD eine Behandlung mit Antidepressiva fortgeführt werden? 181 21.1 · 21 Akute Belastungsstörung und Anpassungsstörung 21.1 Therapie 21.2 Behandlung der akuten Belastungsstörung und der Anpassungsstörung im Kindes- und Jugendalter 21.3 Checkliste – 182 – 183 – 182 182 Kapitel 21 · Akute Belastungsstörung und Anpassungsstörung 36 Wie bei der posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD, 7 Kap. 20) sind sowohl bei der akuten Belastungsstörung als auch bei der Anpassungsstörung Stressoren die Auslöser der Krankheit. Ganz im Gegensatz zu den übrigen ICD-Diagnosen bestimmt bei diesen 3 Krankheitsbildern die Ätiologie die diagnostische Einordnung. Der Zusammenhang zwischen Stressoren, den verursachten psychischen Störungen, besonders der Depression, und den möglichen gravierenden Folgekrankheiten, allen voran den Herz-Kreislauf-Erkrankungen (7 Abschn. 15.7.8), ist in der biologischen Psychiatrie ein neues wichtiges Forschungsgebiet. Allerdings wird die Bedeutung des Stresses in der Diagnostik und der Therapie psychiatrischer Erkrankungen insgesamt viel zu wenig berücksichtigt (Benkert 2005). Bei der akuten Belastungsstörung sind es außergewöhnliche psychische oder physische Belastungen, die zu Reaktionen innerhalb von wenigen Minuten nach dem Ereignis führen. Nach einem Zustand der »Betäubung« und eingeschränkter Aufmerksamkeit schwankt die Symptomatik zwischen Angst, Depression, Verzweiflung und Erregung oder auch Rückzug. Der Zustand hält wenige Stunden bis Tage an. Bei der Anpassungsstörung sind die Belastungen nicht unbedingt von außergewöhnlicher Bedrohlichkeit und sie haben kein katastrophales Ausmaß. Sie werden nach ICD-10 als »Zustände von subjektivem Leid und emotionaler Beeinträchtigung definiert, die soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung oder nach belastenden Lebensereignissen, wie auch schwerer körperlicher Erkrankung, auftreten«. Die Anpassung an die neue Situation gelingt nicht. Die Symptomatik beginnt innerhalb eines Monats und dauert bis 6 Monate an. Überdauernd sind oft gemischte Störungen von eher subkategorialem Schweregrad, vorrangig Angst und depressive Reaktionen. Die Störung kann dann bei zusätzlich auftretender depressiver Reaktion bis zu 2 Jahren andauern, 7 Abschn. 21.1. 37 21.1 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 38 39 40 Therapie 5 Spezifische Behandlungsinterventionen sind bei akuten Belastungen wenig erforscht. Der Schwerpunkt der Therapie liegt auf der Psychotherapie mit primärer Krisenintervention zur Bewältigung der Stressoren. 5 Zu Beginn können zur Entlastung kurzfristig Benzodiazepine (7 Kap. 8) eingesetzt werden. Bei Suizidalität sollten sie eher vermehrt als in zu niedrigen Dosen angesetzt werden. 5 Bei Schlafstörungen sind zunächst Non-Benzodiazepinhypnotika (7 Kap. 9) indiziert. 5 Falls sich bei der Anpassungsstörung auch nach psychotherapeutischen Interventionen fortgesetzt Ängste oder depressive Reaktionen (ICD 43.21/22) zeigen oder verbleiben, sind diese, wie 7 Kap. 15 (»Depressive Störungen«) beschrieben, zu behandeln. Auch wenn für den Einsatz von Antidepressiva bei definierten Belastungen im Vergleich zu den unipolaren Depressionen kaum systematische Untersuchungen vorliegen, sollten sie bei Auftreten dieser Komplikation eingesetzt werden. 5 Durch den engen Zusammenhang zwischen Dauerstress und Depression bieten sich auch für beide Konstellationen ähnliche Therapien, also KVT und Antidepressiva, an. 21.2 Behandlung der akuten Belastungsstörung und der Anpassungsstörung im Kindes- und Jugendalter Gerade bei akuten Belastungsreaktion und Anpassungsstörungen im Kindes- und Jugendalter ist der Entwicklungsaspekt zu berücksichtigen. Der Verlauf bzw. Übergang in andere psychiatrische Störungsbilder hängt von der Länge der Deprivation und dem Schweregrad der Symptomatik ab. Im anglosächsischen Sprachraum wird die akute Belastungsstörung bei Kindern und Jugendlichen häufig auch als Vorläufersymptomatik einer PTSD angesehen (March 2003). Die Effektivität psychologischer und pharmakologischer Behandlungen ist im Kindes- und Jugendalter unzureichend untersucht. Der Schwerpunkt der Therapie liegt sicherlich auf der Psychotherapie. Im Rahmen der Krisenintervention können kurzfristig Benzodiazepine und/oder atypische Antipsychotika eingesetzt werden, bei einer längerfristigen Therapie sind Antidepressiva indiziert. Bei den häufig vorkommenden Schlafstörungen ist die Gabe von Non-Benzodiazepinhypnotika (7 Kap. 9) teilweise angezeigt. 21.3 · Checkliste 21.3 Checkliste ? 1. 2. Welche Psychopharmaka können bei der akuten Belastungsstörung zur kurzfristigen Entlastung eingesetzt werden? Welche Medikamente können längerfristig bei der Anpassungsstörung – sinnvollerweise in Kombination mit psychotherapeutischen Interventionen – eingesetzt werden? 183 21 185 22.1 · 22 Somatoforme Störungen 22.1 Therapie 22.1.1 22.1.2 22.1.3 Antidepressiva – 187 Andere Medikamente – 188 Psychotherapie – 188 22.2 Spezifische Syndrome 22.2.1 Somatisierungsstörung und somatoforme autonome Funktionsstörung – 188 Hypochondrische Störung – 188 Somatoforme Schmerzstörung – 189 Körperdysmorphe Störung – 189 Chronisches Müdigkeitssyndrom – 189 Fibromyalgiesyndrom – 190 Prämenstruelles Syndrom – 190 Colon irritabile – 190 22.2.2 22.2.3 22.2.4 22.2.5 22.2.6 22.2.7 22.2.8 – 187 – 188 22.3 Behandlung der somatoformen Störung im Kindes- und Jugendalter – 191 22.4 Checkliste – 191 186 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 Kapitel 22 · Somatoforme Störungen Der Begriff umfasst je nach Diagnosesystem verschiedene Störungsbilder, bei denen körperliche Beschwerden im Vordergrund stehen, für die keine (ausreichende) organische Erklärung gefunden wird. Zur Beschreibung des Beschwerdekomplexes wurden bisher verschiedenste Begriffe verwendet: z. B. psychosomatische, psychogene oder funktionelle Beschwerden, vegetative Dystonie oder Dysregulation, Hysterie, nervöse Beschwerden, Psychoneurose. Früher wurden die Syndrome unter den Begriffen psychosomatische Störungen oder psychovegetative Störungen zusammengefasst. Ca. 40% Patienten suchen einen Allgemeinarzt oder Internisten mit körperlichen Beschwerden auf, ohne dass hierfür eine spezifische organische Ursache gefunden werden kann (Khan et al. 2003). Die meisten Patienten mit einer depressiven Störung oder einer Angststörung leiden unter vegetativen und körperlichen Symptomen. Die somatoforme Störung ist nicht nur in Bezug auf das Erscheinungsbild und möglicher Komorbiditäten, sondern auch in Bezug auf die möglichen Ursachen sehr heterogen (zit. nach Kapfhammer 2008, S. 950, hier mit Hervorhebungen): 5 Patienten, die eine primäre psychische Störung, z. B. Depression, Panik, andere Angststörungen, Anpassungsstörungen oder psychische Störungen durch psychotrope Substanzen vorrangig in ihren integralen körperlichen Symptomen schildern. 5 Patienten, die bei nachweisbarer psychosozialer Problematik oder emotionaler Bedrängnis bestimmte körperliche Symptome zeigen, für die keine ausreichende medizinische Erklärung besteht. Typisches Beispiel ist die Konversionsstörung. 5 Patienten mit habituell wiederkehrenden, zahlreichen medizinisch unerklärten körperlichen Beschwerden und Symptomen, die zu einer über- mäßigen Inanspruchnahme von Ärzten und klinischen Einrichtungen führen und mit einer starken psychosozialen Behinderung einhergehen. Typisches Beispiel ist die Somatisierungsstörung. 5 Patienten, die besorgt und überzeugt sind, körper- 38 lich krank oder in ihrem körperlichen Erscheinungsbild verunstaltet zu sein, ohne dass hierfür ausrei- 39 chende objektive Befunde erhoben werden können. Als typisches Beispiel imponiert die Hypochondrie einerseits, die körperdysmorphe Störung andererseits. 40 Die Heterogenität spiegelt sich auch in der Aufzählung der verschiedensten Diagnosen unter den spezi- fischen Syndromen (7 Abschn. 22.2) wieder. Die Autoren des Leitfadens sind sich bewusst, dass auch diese Gliederung nur vorübergehend sein wird. Sie hat aber die wichtige gemeinsame Klammer einer ähnlichen Therapiestrategie. Das somatische Syndrom bei der depressiven Störung. Da der Zusammenhang zwischen der depressiven Störung und Schmerzen bzw. somatischen Symptomen in der Psychiatrie eine große Bedeutung hat (Fava 2002; Peveler et al. 2006), wird auf die von Kapfhammer (2008) erstellte Übersicht aufmerksam gemacht (zit. S. 959, hier mit zusätzlicher Literatur): Das somatische Syndrom bei einer Depression markiert den Schweregrad einer depressiven Störung. Depressive Patienten mit einer hohen Anzahl von körperlichen Symptomen profitieren sehr häufig in einem geringeren Umfang von einer antidepressiven Medikation als jene Patienten, die vorrangig nur affektive und kognitive Beschwerden aufweisen (Greenberg et al. 2003; Papakostas et al. 2004). Auch scheint »Somatisierung« ein Prädiktor für ein verstärktes Absetzen einer aufgenommenen antidepressiven Pharmakotherapie infolge von Nebenwirkungen zu sein (Agosti et al. 2002). Nicht voll remittierte Depressionen wiederum stellen sich in erster Linie durch ein chronisches Syndrom multipler somatoformer Beschwerden dar (Akiskal 1983). In epidemiologischen Untersuchungen erhöht sich mit einer steigenden Anzahl »medizinisch unerklärter Körpersymptome« das Risiko für eine künftige Major Depression signifikant (Kroenke et al. 1994). Und wiederum werden depressive Patienten mit zahlreichen somatoformen Beschwerden im primärärztlichen Versorgungssystem sehr viel seltener korrekt diagnostiziert und adäquat behandelt (Greden 2003). Patienten mit somatoformen Störungen weisen sehr häufig einen chronischen Verlauf auf. Starkes subjektives Leiden und starke psychosoziale Beeinträchtigungen charakterisieren weiter das Krankheitsbild, das durch komorbide psychische Störungen verschlimmert wird. Allgemeinärzte und Internisten, die in der Regel zunächst in der Primärversorgung mit diesem Syndrom konfrontiert werden, sind mit der Führung der Patienten oft überfordert. 187 22.1 · Therapie Neurobiologie der somatoformen Störung. Das sero- tonerge System ist in verschiedenen Studien immer wieder mit somatoformen Störungen in Zusammenhang gebracht worden (Tölle u. Flor 2006). Für die Psychopharmakotherapie bedeutsam ist daher die Annahme, dass depressive und Angststörungen ähnliche Dysfunktionen der Neurotransmittersysteme wie die somatoformen Störungen aufweisen. Bei den Schmerzsyndromen sind besonders die serotonergen und noradrenergen Neurotransmittersysteme involviert. Beide sind interaktiv über Interneurone in die deszendierende zentrale Hemmung der Schmerzleitung eingebunden. Besonders effektiv sind deshalb Antidepressiva mit einer kombinierten serotonergen und noradrenergen Wirkung (7 Abschn. 22.1.1). Diese Antidepressiva können auch bei isoliertem Schmerz eingesetzt werden. 5 eine depressive Störung, Panikstörung oder generalisierte Angst als Ursache für die körperlichen Störungen verantwortlich zu machen sind; 5 Benzodiazepin- oder Substanzmissbrauch – auch früher – bekannt ist; 5 eine stabile Arzt-Patientenbeziehung aufgebaut werden kann; 5 eine positive/negative Haltung zur Pharmakotherapie/Psychotherapie besteht; 5 die psychosozialen Ursachen (z. B. aktuelle Stressoren, Verluste in der frühen Kindheit, Missbrauch) bekannt sind. 22.1.1 22.1 Therapie Vorrangig sind bei somatoformen Störungen psychotherapeutische Verfahren indiziert. Das Therapieziel liegt neben einer Symptomreduktion in einer Bewältigung psychosozialer Stressoren und in einer verringerten Inanspruchnahme von ärztlichen Diensten. Auch Antidepressiva sind bei vielen somatoformen Störungen wirksam. Sie können mit psychotherapeutischen Verfahren kombiniert werden. Da Patienten mit somatoformen Störungen zum großen Teil von Allgemeinärzten und Internisten versorgt werden, ist auch eine primär psychopharmakologische Behandlung akzeptabel, wenn psychologisch Verfahren zunächst nicht zur Verfügung stehen. Die Bedeutung der Antidepressiva auch bei der Krankheitsgruppe der somatoformen Störungen nimmt mit der Entwicklung neuer wirksamer Substanzen zu. Wichtig Zu Beginn einer Therapie sollte immer geprüft, ob 5 organische Ursachen sicher ausgeschlossen wurden, z. B. Helicobacter pylori; 5 die Möglichkeiten einer medizinischen Therapie ausgeschöpft sind, z. B. physikalische Therapie bei Fibromyalgie; 5 dann nach Ausschluss der organischen Ursachen für die körperlichen Beschwerden weitere medizinische Konsultationen sicher vermieden werden können; 6 22 Antidepressiva Trotz hoher Prävalenz der Störungsgruppe sind methodisch einwandfreie Studien zur medikamentösen Therapie kaum vorhanden. Therapieempfehlungen beruhen zumeist auf Beobachtungen aus Studien mit affektiven oder psychotischen Störungen und Angstsyndromen, jeweils mit begleitenden somatischen Symptomen. Nach den bisherigen Erfahrungen sind die therapeutischen Effekte von Antidepressiva bei somatoformen Störungen geringer als bei der Behandlung von Angststörungen und Depressionen. 5 Bei depressiven Störungen mit somatischen Symptomen sind Antidepressiva Mittel der Wahl. 5 Es hat sich gezeigt, dass selektive Serotonin-Noradrenalinrückaufnahmehemmer (SNRI, duale Antidepressiva) bei der Behandlung von Depression mit körperlichen Beschwerden und Schmerzen den selektiven Serotoninrückaufnahmehemmern (SSRI) überlegen sind. Es sind: Duloxetin, Milnacipran und Venlafaxin. Deswegen sind – obwohl noch nicht genügend evaluiert – diese Antidepressiva primär indiziert, wenn Schmerzen im Vordergrund stehen. 5 Wenn eine psychotherapeutische Maßnahme nicht sofort gestartet werden kann, sollte gleich ein Versuch mit Antidepressiva für einige Wochen begonnen werden. 5 Die Dosis entspricht der Therapie bei depressiven Störungen (7 Kap. 15). 5 Da zur Dauer der Behandlung keine Daten vorliegen, sollte man wie bei der Depression verfahren (7 Kap. 15). 188 Kapitel 22 · Somatoforme Störungen 22.1.2 21 22 23 24 25 26 Andere Medikamente 5 Begleitsymptome wie Anspannung oder Angst rechtfertigen einen vorübergehenden Einsatz von Benzodiazepinen. Zur längerfristigen Behandlung sollten aber Antidepressiva gewählt werden. Cave Problematisch ist der immer noch verbreitete langfristige Einsatz von Depotantipsychotika (z. B. Fluspirilen) mit dem Risiko von Spätdyskinesien, auch wenn sie wirksam sein mögen. Gerade auch für Depotantipsychotika fehlen kontrollierte Studien bei den somatoformen Störungen. 27 22.1.3 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Psychotherapie Somatoforme Störungen galten lange als schwer behandelbar und wurden mit geringen Erfolgsaussichten eingeschätzt (Rief u. Freyberger 2006). Inzwischen liegen bereits einige Therapiestudien und sogar schon Metaanalysen (Looper u Kirmayer 2002) zu kognitiv und verhaltenstherapeutisch orientierter Psychotherapie vor. Neue physiologische Erkenntnisse (z. B. die Entdeckung von Helicobacter pylori beim Magengeschwür) und pharmakotherapeutische Erfolge bei einigen Syndromen, erweitern aber zunehmend den alleinigen bisherigen psychotherapeutischen Ansatz. Problematisch bleibt weiterhin das Fehlen von abgesicherten Evaluationstudien zur psychodynamischen Therapie. 5 KVT ist in der Regel bei somatoformen Störungen Wartelisten überlegen, besonders auch bei dem Zielkriterium chronischer Schmerz (Butler et al. 2006). Die Effektstärken bei Hypochondrie und körperdysmorphen Störungen liegen im oberen Bereich, während die Ergebnisse bei komplexen somatoformen Störungen und Somatisierungssyndromen insgesamt nicht so positiv ausfallen und bislang bestenfalls im mittleren Effektbereich liegen. Aussagen zum Langzeiteffekt sind zzt. nicht möglich. 5 Auch Biofeedback wird bei chronischem Schmerz und Reizdarm als erfolgreiche Therapie gewertet. 5 Es gibt positive Studien zur psychodynamisch interaktionellen Gruppenpsychotherapie bei verschiedenen somatoformen Syndromen. 5 Studien, die eine Aussage zum Vergleich Antidepressiva und Psychotherapie erlauben würden, sind nicht vorhanden. 22.2 Spezifische Syndrome Es werden hier jene Syndrome erwähnt, für die es eigene pharmakotherapeutische Studien oder Therapievorschläge gibt. Grundsätzlich gelten die Empfehlungen nach 7 Abschn. 22.1. Wenn für die weiteren Diagnosen, die in der ICD-10 unter somatoformen Störungen genannt werden, keine medikamentöse Therapie bekannt ist, werden die Diagnosen auch nicht genannt. 22.2.1 Somatisierungsstörung und somatoforme autonome Funktionsstörung Die Beschwerden beziehen sich auf multiple Körpersysteme. Im Vordergrund stehen gastrointestinale Beschwerden, abnorme Hautempfindungen, aber auch sexuelle und menstruelle Beschwerden. Bei der somatoformen autonomen Funktionsstörung beziehen sich die Körperbeschwerden vorrangig auf Organsysteme mit autonomer Innervierung. Die klassischen »pychosomatischen Erkrankungen« finden sich in dieser Kategorie, z. B. die Funktionsstörungen des kardiovaskulären Systems. 5 Es gibt eine positive Studie zum Anxiolytikum Opipramol (7 Kap. 8). Die Somatisierungssymptome wurden positiv beeinflusst. 5 Auch unter Johanniskrautextrakt (7 Kap. 5) war unabhängig von der depressiven Symptomatik eine Reduktion der körperlichen Beschwerden feststellbar. 5 Diese beiden Medikamente sind durchaus Alternativen zu den gebräuchlichen antidepressiven Therapieverfahren (7 Abschn. 22.2.1). 22.2.2 Hypochondrische Störung Im Vordergrund steht die beharrliche Beschäftigung mit der Möglichkeit an einer schweren Krankheit zu leiden. Die Wahrnehmungssensibilität gegenüber normalen körperlichen Sensationen ist erhöht. Es besteht Krankheitsüberzeugung. 5 Treten hypochondrische Symptome bei anderen psychischen Störungen auf, so lassen diese sich in der Regel erfolgreich im Rahmen der psychopharmakologischen Therapie, z. B. einer depressiven Störung, mitbehandeln. 5 Es gibt Pilotstudien, in denen ein positiver Effekt von SSRI gezeigt wurde. 189 22.2 · Spezifische Syndrome 22.2.3 Somatoforme Schmerzstörung Chronischer und quälender Schmerz kann physiologisch oder durch eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden. Emotionale Konflikte oder psychosoziale Probleme spielen eine wesentliche Rolle. Schmerzäußerungen führen oft zu intensiver persönlicher, sozialer oder medizinischer Zuwendung, was als Verstärkung zur Chronifizierung von Schmerz beiträgt. Ferner sind komorbide depressive Störungen oder Angststörungen häufig. 5 Der antinozizeptive Effekt der Antidepressiva bei chronischen Schmerzen besteht unabhängig vom antidepressiven Effekt. Es mehren sich Studien, die auf den stärkeren antinozizeptiven Effekt für Antidepressiva mit dualer Komponente mit Wirkung auf das serotonerge und das noradrenerge Neurotransmittersystem im Vergleich zu SSRI hinweisen (Fishbain 1998). 5 Dennoch gibt es eine Vielzahl von Studien, in denen auch der positive Effekt der SSRI nachgewiesen wurde. 5 Patienten mit somatoformer Schmerzsstörung zeigten Besserungen unter dem Antiepilektikums Topiramat (300–400 mg/Tag). 5 Bei chronischem Spannungskopfschmerz war die Kombination von Amitriptylin mit Citalopram oder Mirtazapin wirksam. 5 In der Rezidivprophylaxe der Migräne sind neben β-Adrenorezeptorantagonisten (7 Kap. 8) (Propranolol, Metoprolol), die Antiepileptika Valproat und Topiramat, Kalziumantagonisten und Serotoninagonisten auch Antidepressiva mit gutem Erfolg eingesetzt worden. Da eine hohe Komorbidität mit Depression und Angststörungen besteht, sind Antidepressiva besonders bei parallelen depressiven oder ängstlichen Störungsbildern vielversprechend. 5 Eine Langzeitbehandlung mit Benzodiazepinen soll vermieden werden. Neben den bekannten Risiken (7 Kap. 8) kann es auch zu einer Senkung der Schmerzschwelle kommen. Schmerzsyndrome unabhängig von einer somatoformen Schmerzstörung Antidepressiva können erfolgreich zur symptomatischen Behandlung chronischer Schmerzzustände unterschiedlicher Ätiologie eingesetzt werden; die gleichzeitige Gabe von Analgetika kann oft reduziert werden. Mögliche Indikationen sind Schmerzsyndrome bei Krebserkrankungen, Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises, Kopfschmerzen, Lumbalgien, Polyneuropathien (z. B. diabetisch), neural- 22 giforme Schmerzen (Postzosterneuralgie, Trigeminusneuralgie) und Thalamusschmerz. Antidepressiva sind auch bei Zosterschmerz, besonders als Augmentation zur Opioidanalgesie, wirksam. Eine Toleranzentwicklung besteht nicht. 5 Trizyklische Antidepressiva sowie duale Antidepressiva (Duloxetin, Mirtazapin, Venlafaxin) mit kombinierter serotonerger und noradrenerger Wirkung sind besser wirksam als SSRI. 5 Duloxetin ist zur Behandlung schmerzhafter Polyneuropathien bei Diabetes mellitus zugelassen. Ob ein möglicher Vorteil für Duloxetin im Vergleich zu anderen Antidepressiva mit ähnlichem Wirkungsmechanismus besteht, ist bisher nicht gezeigt worden. 22.2.4 Körperdysmorphe Störung Die überwertige Überzeugung, dass ein Körperteil oder das körperliche Erscheinungsbild verunstaltet ist, kennzeichnet diese somatoforme Störung. 5 Für die körperdysmorphe Störung wird über Behandlungserfolge mit verschiedenen SSRI berichtet. In einer kontrollierten Studie mit trizyklischen Antidepressiva war Clomipramin besser als Desimipramin. Die körperdysmorphen Symptome besserten sich unabhängig von Zwangssymptomen. 5 Die Dosis der SSRI entspricht der antidepressiven Wirkdosis. 5 Es ist eher von einer Langzeitbehandlung auszugehen. 5 Bei wahnhaftem Ausmaß haben sich zusätzlich Antipsychotika bewährt. Aber es gibt Studien, in denen sich auch unter Antidepressiva die wahnhafte Überzeugung gebessert hat. 22.2.5 Chronisches Müdigkeitssyndrom Beim chronischen Müdigkeitssyndrom stehen Müdigkeit und körperliche und geistige Erschöpfung im Vordergrund, besonders nach Belastung. Weitere Symptome sind Muskelschmerzen, Kopf- und Gelenkschmerzen, leichte Temperaturerhöhung, Frösteln, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, körperliche Missempfindungen oder schmerzhafte Lymphknoten. Der Verlauf ist oft chronisch (mindestens 6 Monate). Die diagnostische Einordnung ist noch unklar; es gibt viele Überschneidungen zur Neurasthenie, den depressiven Störungen, den Angst- 190 21 22 23 24 Kapitel 22 · Somatoforme Störungen störungen und den Erkrankungen dieses Kapitels. Eine entscheidende Bedingung für das Auftreten der Erkrankung findet sich im Dauerstress. Die Ursache ist unbekannt. 5 Die bisherigen Untersuchungen mit Antidepressiva führen zwar zu Besserungen, sogar über einen Zeitraum von 3 Jahren, aber überzeugende kontrollierte Studien fehlen. 5 Dexamphetamin (7 Kap. 14) zeigte in einer kontrollierten kleinen Studie positive Ergebnisse (Olson et al. 2003). 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 22.2.6 Fibromyalgiesyndrom Das Fibromyalgiesyndrom zeichnet sich durch chronische (über mindestens 3 Monate anhaltende) polytope Schmerzen oder Steifheit im Stütz- und Bewegungsapparat sowie druckschmerzhafte Muskelansätze an typischen Stellen (»tender points«) aus. Zusätzlich treten oft Kopfschmerzen, Erschöpfbarkeit, Schlafstörungen, neuropsychiatrische Symptome, gastrointestinale Beschwerden, andere vegetative Symptome (Zyanose der Akren, Dermographismus) oder Schwellungsgefühl an Händen und Füßen auf. Die Ursache ist nicht geklärt; es gibt mehrere Hypothesen zu einer veränderten Schmerzmatrix. Im Liquor soll die Substanz P erhöht und Serotonin und Tryptophan erniedrigt sein. Stress wird als Auslöser vermutet. Häufig findet sich eine begleitende depressive Symptomatik. 5 Über Behandlungserfolge mit trizyklischen Antidepressiva (z. B. Imipramin oder Clomipramin) in niedrigen Dosen bis 75 mg/Tag sowie von SSRI (Fluoxetin, Citalopram) wird berichtet. Die Erfolge sind geringer als bei der Depression. 5 Es zeichnet sich, wie bei anderen Schmerzsyndromen, auch beim Fibromyalgiesyndrom eine Überlegenheit von dualen Antidepressiva gegenüber SSRI ab (z. B. Venlafaxin 75 mg/Tag, Duloxetin 60 mg/Tag). Auch Milnacipran (7 Kap. 5) zeigte gegenüber Placebo bessere Ergebnisse. 37 38 39 40 22.2.7 Prämenstruelles Syndrom Das prämenstruell-dysphorische Syndrom zeigt körperliche und psychische Symptome, die zyklusgebunden während der späten Lutealphase auftreten und die Patientinnen erheblich beeinträchtigen. Es sind Irritabilität und Dysphorie, Anspannung, Schlafstörungen, vermehrter Hunger nach Kohlenhydraten, Span- nungsgefühl der Brüste, Wassereinlagerung, Gelenkund Muskelschmerzen. 5 Die Wirksamkeit von SSRI ist in vielen Studien belegt (Dimmock et al. 2000). 5 Auch unter dualen Antidepressiva (Venlafaxin) und ebenfalls unter Clomipramin kam es zu Responseraten von bis zu 70%, gegenüber 20% unter Placebo und 30% unter nichtserotonergen Antidepressiva (Freeman 2004). 5 Die Wirkung wird meist schon im ersten Zyklus gesehen, bereits niedrige Dosen sind wirksam. 5 Antidepressiva können als Dauertherapie und als intermittierende Gabe (in der Lutealphase bis zum Ende der Menstruation) gegeben werden. 5 Besonders bei intermittierender Gabe entsteht kein Wirkungsverlust bei längerfristiger Therapie (über mehr als 6 Zyklen); nach Absetzen der Medikation gibt es häufig Rezidive. 5 Anxiolytika wie Alprazolam und Buspiron (7 Kap. 8) scheinen den Antidepressiva unterlegen zu sein. 22.2.8 Colon irritabile Bei den Symptomen eines Reizdarms bestimmen multiple rezidivierende abdominelle Beschwerden mit Bauchschmerzen, Missempfindungen, Obstipation und Diarrhoe oder Blähungen das Krankheitsbild. Es bestehen Überschneidungen mit anderen somatoformen Störungen, Depressionen, Angststörungen und auch Zwangsstörungen. 5 In vielen Studien mit Antidepressiva zeigen sich zwar Vorteile gegenüber Placebo. Es konnte aber nicht nachgewiesen werden, dass auch die Kernsymptomatik der gastrointestinalen Beschwerden von einer medikamentösen Therapie profitiert. Fazit Pharmakotherapie und Psychotherapie bei der somatoformen Störung – Bewertung 5 Psychotherapeutische Interventionen haben den wichtigsten Stellenwert bei der Therapie der somatoformen Störung. Für die KVT gibt es für viele Syndrome gute Evaluationsstudien, für die psychodynamisch orientierte Psychotherapie fehlen diese weitgehend. 5 Besonders für die Therapie des chronischen Schmerzes eignet sich auch die Biofeedback- Therapie. 22.3 · Behandlung der somatoformen Störung im Kindes- und Jugendalter 5 Antidepressiva sind immer indiziert, wenn komorbide Depression und Angststörungen vorhanden sind. 5 Antidepressiva haben auch bei vielen Syndromen dieses Krankheitsbildes einen positiven Effekt; er ist aber geringer als bei den depressiven Störungen oder Angststörungen. 5 Wenn psychotherapeutische Verfahren nicht zur Verfügung stehen, ist ein Versuch mit Antidepressiva indiziert. 5 Antidepressiva und Psychotherapie können kombiniert angewandt werden. 5 Die Langzeiteffekte von Antidepressiva und Psychotherapie sind nicht untersucht, genauso wenig wie Vergleiche zwischen den Therapieformen. 5 Bei dominierenden Schmerzsyndromen, auch in Form von isolierten Schmerzen bei organischen Erkrankungen, sind Antidepressiva mit dualer Wirkung auf das serotonerge und das noradrenerge Neurotransmittersystem, wie Duloxetin, Milnacipran und Venlafaxin, Mittel der ersten Wahl. 5 Beim praemenstruellen Syndrom haben SSRI eine positive Wirkung. 5 Benzodiazepine und Antipsychotika haben keine längerdauernde Indikation bei somatoformen Störungen. Behandlung der somatoformen Störung im Kindes- und Jugendalter Die häufigsten Symptome der somatoformen Störung im Kindes- und Jugendalter sind abdominelle Beschwerden, die meistens von Übelkeit, Kopfschmerzen, muskulärer Schwäche, Nachlassen der körperlichen Energie, Rücken- und Gliederschmerzen sowie Nahrungsmittelintoleranzen mit Diarrhöen begleitet sind. Das Klagen über körperliche Beschwerden ist häufig als Anpassungsreaktion auf psychosoziale Belastungen zu sehen. Neben Trennungsängsten und depressiven Symptomen stellen die somatoformen Beschwerden ein Leitsymptom der Schulphobie (7 Abschn. 33.2) dar. Die klinische Präsentation der Symptome wird durch das jeweilige Entwicklungsstadium beeinflusst und hängt davon ab, wie die Bezugspersonen auf die körperlichen Beschwerden reagieren. Therapie Bei schweren oder chronifizierten somatoformen Störungsbildern, die häufig mit erheblichen psychosozialen Funktionseinschränkungen einhergehen, ist 22 meistens eine stationäre Behandlung angezeigt. Therapeutisch steht die KVT im Mittelpunkt. Eine kontrollierte Studie konnte die Wirksamkeit der familientherapeutischen KVT bei wiederkehrenden Bauchschmerzen im Kindesalter nachweisen. Systematische Studien zur pharmakologischen Behandlung bei den somatoformen Störungen im Kindes- und Jugendalter liegen nicht vor, sodass ähnliche Empfehlungen wie im Erwachsenenalter gelten. In der Akutphase kann vorübergehend ein Benzodiazepin gegeben werden, bei längerfristiger medikamentöser Behandlung sollte eine Therapie mit SSRI erfolgen (Brunner u. Resch 2005). 22.4 Checkliste ? 1. 2. 3. 22.3 191 4. 5. 6. 7. 8. 9. Welche Gruppen von Antidepressiva sind bei der Behandlung von Depressionen mit somatischem Syndrom zu empfehlen? Unter welchen Bedingungen können bei somatoformen Störungen vorübergehend Benzodiazepine verabreicht werden? Welche Risiken bestehen beim dem noch verbreiteten Einsatz von Depotantipsychotika (z. B. Fluspirilen) bei der Behandlung somatoformer Störungen? Welche Medikamente haben sich bei der Behandlung der somatoformen Schmerzstörung bewährt? Welchen Stellenwert haben Antidepressiva bei der Behandlung von Schmerzsyndromen bei körperlichen Erkrankungen? Welche Effekte konnten bei der Behandlung des chronischen Müdigkeitssyndroms mit Antidepressiva erreicht werden? Welche Gruppen von Antidepressiva werden bei der Fibromyalgie eingesetzt und mit welchem Erfolg? Welche psychopharmakologischen Behandlungsmöglichkeiten des prämenstruellen Syndroms sind belegt? Wie ist der Therapieeffekt von Antidepressiva bei somatoformen Störungen im Vergleich zu dem bei Depressionen und Angststörungen einzustufen? 193 23.1 · Essstörungen 23.1 Anorexia nervosa – 195 23.1.1 Therapie der Anorexia nervosa 23.2 Bulimia nervosa 23.2.1 Therapie der Bulimia nervosa 23.3 Binge-eating-Störung 23.4 Adipositas 23.5 Behandlung der Essstörungen im Kindes- und Jugendalter – 198 23.6 Checkliste – 195 – 196 – 196 – 197 – 197 – 198 23 194 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Kapitel 23 · Essstörungen Es gibt 3 Essstörungen, bei denen die Psychopharmakotherapie in den letzten Jahren immer mehr Bedeutung gewonnen hat: die Bulimia nervosa, die Bingeeating-Störung und die Adipositas. Die Behandlung der Bulimia nervosa und der Binge-eating-Störung besteht indikationsabhängig mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung zumeist aus einer Kombination aus Psychotherapie und der Behandlung mit Antidepressiva. Eine Psychopharmakotherapie für die Anorexia nervosa ist noch nicht etabliert. Eine große Zahl von körperlichen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten kann auf unerkannte Essstörungen hinweisen: 5 Wachstumsstörungen 5 Große Schwankungen des Körpergewichts 5 Unfähigkeit zur Gewichtszunahme 5 Veränderte Essgewohnheiten 5 Schwierigkeiten der Nahrungsaufnahme im sozialen Kontext 5 Abneigung gegen Messung des Gewichts 5 Exzessive körperliche Betätigung und häufiges Durchführen von Diäten bereits in frühem Alter 5 Drogenabusus 5 Rasche Erschöpfbarkeit 5 Verspätete Menarche 5 Obstipation oder Diarrhö 5 Neigung zu Knochenbrüchen 5 Hypokaliämie 5 Hyperphosphatämie 5 Metabolische Azidose oder Alkalose 5 Hohe Amylaseserumkonzentrationen Die Adipositas ist eine primär internistische Erkrankung, die jedoch zentralnervös mitreguliert wird und mit psychischen Problemen einhergehen kann (z. B. Anpassungsstörungen, Impulskontrollstörungen). Deshalb erfordern die für die Adipositas neu zugelassenen Präparate jetzt auch eine Besprechung im Rahmen der Psychopharmakotherapie. In diesem Zusammenhang interessiert auch besonders die Gewichtszunahme als Nebenwirkung von verschiedenen Psychopharmaka. Ein Maß für das Körpergewicht ist der BodyMass-Index (BMI: Körpergewicht [kg] dividiert durch das Quadrat der Körpergröße [m2]). Bei der Adiositas und dem metabolischen Syndrom (7 Kap. 7) gewinnt immer mehr der Bauchumfang (Ansammlung von viszeralem Fett) als Maß an Bedeutung. Zentrale und periphere Auswirkungen der veränderten Energiezufuhr tragen zur Aufrechterhaltung des pathologischen Essverhaltens bei und kön- nen eine Ursache für vielfältige komorbide psychische Störungen sein oder sie verstärken. Neurobiologie der Essstörungen. Die Nahrungsaufnahme wird durch eine Vielzahl von Inhibitoren und Stimulatoren reguliert. Dem Hypothalamus werden Signale über das Ausmaß des Fettgewebes und die aktuelle Stoffwechsellage über die Hormone Leptin, Insulin und Adiponectin zugetragen. Dabei spielen gegensätzliche Regulationsmechanismen eine wichtige Rolle. Gegenspieler von Leptin (anorexigen) ist Ghrelin (orexigen). Die multiplen hormonellen Veränderungen werden als Adaptationen an das geringe Körpergewicht gesehen. Es wird angenommen, dass Diät und Fasten zu einer Störung des genetisch bedingten vulnerablen, Neurotransmitterund neuroendokrinologischen Systems führen, die weitere Komplikationen (z. B. komorbide Symptomatik, Körperschemastörung, körperliche Hyperaktivität) zur Folge hat, so dass sich ein Circulus vitiosus mit einer chronifizierten Essstörung ergeben kann. Bei der Anorexia nervosa führt eine Gewichtsrestitution bei den meisten Patienten zu einer Normalisierung der Veränderungen der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse (HerpertzDahlmann u. Holtkamp 2008). Der Serotonindysregulation wird bei den Essstörungen eine besondere Bedeutung zugeschrieben (Brewerton 1995). Bei der Anorexia nervosa wird – im Gegensatz zur Bulimie – ein hyperserotonerger Status postuliert. Zur Ätiopathogenese der Essstörungen existieren insgesamt jedoch nur Hypothesen (Laessle u. Pirke 2006). Es finden sich auch zerebrale Veränderungen, die sich bei Normalisierung des Essverhaltens zumeist zurückbilden. Das Zentrum der Gewichtregulation liegt im Nucleus arcuatus des Hypothalamus. Klinisch findet sich in der strukturellen Bildgebung bei Anorexia nervosa nicht selten eine »Pseudoatrophia cerebri«. Bulimische Frauen waren häufiger als Kinder adipös, haben eine familiäre Adipositasbelastung und eine frühe Menarche. Es gibt Hinweise, dass ein gemeinsames genetisches Risiko für Bulimia nervosa und Adipositas besteht. Der genetische Anteil an der Entwicklung der Adipositas scheint stärker zu sein, als früher angenommen wurde. Darüber hinaus spielen sozioökonomische und psychosoziale Faktoren eine wichtige Rolle in der Ätiologie der Adipositas. 195 23.1 · Anorexia nervosa 23.1 Anorexia nervosa Die monomorphe Symptomatik der Essstörung des Jugend- und frühen Erwachsenenalters bereitet differenzialdiagnostisch kaum Schwierigkeiten. Die Anorexia nervosa ist eine oft chronische, rezidivierende Erkrankung. Sie ist gekennzeichnet durch einen starken Gewichtsverlust, der selbst verursacht ist. Hauptkriterien für die Diagnose sind: Körpergewicht unter 85% der Norm (bzw. ein BMI ≤17,5), die intensive Furcht vor einer Gewichtszunahme, eine gestörte Körperwahrnehmung und Amenorrhö (Ausbleiben von ≥3 Zyklen). Bei vielen Patienten findet sich auch eine übertriebene Aktivität. Patienten, die die Mahlzeit erbrechen oder Laxanzienabusus betreiben (Purging Subtyp) haben eine ungünstigere Prognose als der restriktive Subtyp. 90% der Erkrankten sind Frauen. Wahrscheinlich spielt für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung die »psychobiosoziale« Interaktion (genetische, neurochemische, psychosoziale Faktoren) eine wichtige Rolle. Allerdings ist die Bedeutung sozialer Faktoren, etwa die Idealisierung schlanker Frauen, keineswegs geklärt. Frauen sind ca. 10-mal häufiger betroffen als Männer. Der Altersgipfel liegt bei Mädchen bei 17– 18 Jahren, bei Jungen bei 12 Jahren; Erstmanifestationen nach dem 40. Lebensjahr sind selten, aber möglich. Es besteht eine hohe Komorbidität zu depressiven Störungen, Angststörungen und der Zwangsstörung. 23.1.1 Therapie der Anorexia nervosa Zur Gewichtsregulierung und zur Besserung der psychosozialen Anpassung haben sich psychoedukative und kognitiv-verhaltenstherapeutische Maßnahmen oder Interpersonelle Psychotherapie als bedingt erfolgreich herausgestellt. Es gibt keine abgesicherte medikamentöse Therapie; nur bei komorbiden Störungen können Antidepressiva empfohlen werden (s. unten, 7 Abschn. »Medikamentöse Therapie«). 23 Wichtig Zu Beginn einer Therapie muss 5 eine sorgfältige medizinische Untersuchung durch den Internisten, Endokrinolgen, Gynäkologen und ggf. Pädiater erfolgen; eine Klinikeinweisung kann indiziert sein; 5 abgewogen werden, ob eine ergänzende Diagnostik durch EEG und CT erfolgen soll; 5 festgestellt werden, ob komorbide Diagnosen bestehen; 5 hinterfragt werden, ob ein erhöhter Alkoholkonsum bekannt ist (bei dem restriktiven Subtyp selten); 5 eine stabile Arzt-Patienten-Beziehung aufgebaut werden. Die Behandlung soll so früh wie möglich beginnen. Therapieziele bei der Behandlung der Anorexia nervosa Normalisierung des Essverhaltens und Gewichtszunahme und – soweit erforderlich – Stabilisierung innerhalb eines adäquaten Gewichtsbereiches (BMI >17,5) und physiologischer Stoffwechselprozesse 5 Verbesserung von Körperwahrnehmung und Wiederherstellung der eigenen Körperakzeptanz 5 Klärung der Ambivalenz gegenüber einer Gewichtszunahme 5 Abbau möglicher Reifungsängste 5 Bearbeitung mit der Symptomatik zusammenhängender bzw. zugrunde liegender Problembereiche 5 Aufbau von alternativen Fähigkeiten und Erarbeitung konkreter Lösungsmöglichkeiten 5 Umgang mit gesunder Ernährung 5 Einbeziehung der Familie/Partner 5 Realitätstestung und Rückfallprophylaxe bereits während der stationären Therapie Die parenterale (Zwangs-)Ernährung sollte nur den Patienten vorbehalten bleiben, die unter psychoedukativen oder verhaltenstherapeutischen Maßnahmen keine Gewichtszunahme gezeigt haben. Eine zu schnelle Gewichtszunahme kann zu generalisierten Ödemen oder – in Einzelfällen – zu einer Herzinsuffizienz führen. Die Mortalitätsrate ist mit 0,56% pro Jahr sehr hoch. Die häufigste Todesursache bei Anorexia nervosa sind ventrikuläre Arrhythmien und plötzlicher Herztod. 196 Kapitel 23 · Essstörungen Psychotherapie 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 5 Ein strukturierter Plan zur Gewichtszunahme (Ernährungsmanagement) mit kontingentem Gewichtsvertrag ist die Basis möglicher psychotherapeutischer Bemühungen. 5 Grundsätzlich sind die typischen dysfunktionalen Kognitionen durch KVT korrigierbar. Auch eine gezielte IPT war konventioneller Verhaltenstherapie überlegen. Allerdings stoßen diese Bemühungen bei untergewichtigen Patienten auf großen Widerstand. Insgesamt ist die Reihe an positiven Ergebnissen zur KVT und IPT gering. 5 Übungen zur Körperwahrnehmung und Körperakzeptanz, Konfrontationsübungen. 5 Training zum Problemlösen und zur Erhöhung der Stress- bzw. Ärger- und Frustrationstoleranz. 5 Wichtig ist die Einbeziehung des sozialen Umfeldes in die Therapie. Familientherapie zeigte auch in Langzeitstudien erste positive Ergebnisse. 5 Eine Therapie mit Antidepressiva, auch SSRI, oder anderen Psychopharmaka zeigte bisher keine Erfolge. 5 Empfohlen werden kann daher nur ein Versuch mit SSRI (z. B. Fluoxetin 20 mg tgl.) bei einer komorbiden Störung, die auf SSRI anspricht. 33 34 23.2 35 36 37 38 39 40 Wichtig Bei der Abklärung der Diagnose ist auf eine sorgfältige internistische Untersuchung zu achten. Durch das Erbrechen und ggf. Laxanzienabusus kann es zu deutlichen Laborabnormalitäten kommen. Alkohol- und Drogenmissbrauch muss hinterfragt werden. Medikamentöse Therapie Trotz der oft wahnhaft anmutenden Überzeugung der Patienten, übergewichtig zu sein, waren Antipsychotika bislang überwiegend unwirksam. In einer Studie war Olanzapin, bezogen auf Gewichtszunahme und Therapieakzeptanz erfolgversprechend. 32 nahme gegensteuernden Maßnahmen wie Fasten oder übermäßige körperliche Aktivität) unterschieden. Mischformen von Anorexia und Bulimia nervosa sind häufig. Bulimia nervosa tritt oft in Zusammenhang mit affektiven Störungen und bei Patienten mit Impulskontrollstörungen, Drogenabhängigkeit, Angststörungen, dissoziativen Störungen und (anamnestischem) sexuellem Missbrauch auf. Bulimia nervosa Bei dieser bulimischen Form der Essstörung kommt es zu häufigen Essattacken ungewöhnlich großer Mengen an Nahrungsmitteln während eines bestimmten Zeitintervalls mit Kontrollverlust, (mindestens 2mal pro Woche für 3 Monate; Dauer ≤2 h); rezidivierendem Erbrechen, exzessiver körperlicher Betätigung oder Fasten (auch mindestens 2-mal pro Woche für 3 Monate) und übermäßiger Beschäftigung mit dem Essen, der Figur und dem Gewicht. Starke Gewichtsschwankungen bei Normal- bis Übergewicht sind die Regel. Dabei werden der Purging-Typ (mit selbstinduziertem Erbrechen oder Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder Klistieren) und der restriktive Typ (ohne regelmäßiges Erbrechen/Laxanzienmissbrauch, aber mit anderen unangemessenen, einer Gewichtszu- 23.2.1 Therapie der Bulimia nervosa Im Gegensatz zur Anorexia nervosa gibt es für die Bulimie neben der Psychotherapie (eingeschlossen Ernährungstherapien und bewegungstherapeutische Verfahren) eine zweite Therapieoption mit Antidepressiva. Psychotherapie allein und in Kombination mit Antidepressiva Konventionelle Verhaltensmaßregeln, auch mit Teilnahme an Selbsthilfegruppen, führen bei einem Teil der Patienten bereits zum Erfolg. Bei hartnäckigen oder chronischen Störungen und wenn im Vordergrund dysfunktionale Gedanken stehen, ist dagegen KVT indiziert. Besonders zur Rezidivprophylaxe eignet sich KVT (Jacobi et al. 2004). Die interpersonelle Theorie geht davon aus, dass die Essstörung einen inadäquaten Bewältigungsversuch bei Problemen in sozialen Beziehungen darstellt. IPT hat als psychotherapeutisches Verfahren neben der KVT inzwischen Anerkennung erfahren. KVT hat sich in der Kombination mit Antidepressiva gut bewährt (Walsh et al. 1997). In einer großen Metaanalyse zeigten sich Vorteile für die KVT im Vergleich zu Antidepressiva (Whittal et al. 1999). Therapie mit Antidepressiva 5 Trizyklische Antidepressiva und SSRI sind wirksam. Es empfiehlt sich wegen des günstigeren Nebenwirkungsrisikos SSRI zu geben. 5 Zugelassen ist nur der SSRI Fluoxetin. 197 23.4 · Adipositas 5 Höhere Dosen SSRI hatten oft einen besseren Effekt. 5 Die notwendige Dauer der medikamentösen Therapie ist noch unklar; 24 Monate Erhaltungstherapie zur Rückfallprophylaxe scheinen aber günstig zu sein. 5 Auch bei der Bulimia nervosa sollten Antidepressiva nur im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans zusammen mit einer psychotherapeutischen Intervention erfolgen. Fazit Pharmakotherapie mit Antidepressiva und Psychotherapie bei der Bulimia nervosa – Bewertung 5 Bereits konventionelle Verhaltensmaßregeln im Rahmen eines Therapiesettings sind bei vielen Patienten wirksam. 5 Bei hartnäckigen Störungen und zur Rezidivprophylaxe ist die KVT indiziert. 5 Auch die Therapie mit SSRI ist wirksam; in Kombination mit KVT ist eine bessere Wirkung zu erwarten. 5 Unter den SSRI ist das Mittel der Wahl Fluoxetin (weil es zugelassen ist). Die Dosis wird höher als bei der antidepressiven Therapie gewählt. Eine 2-jährige Therapie ist zu empfehlen. 23.3 Binge-eating-Störung Die Binge-eating-Störung ist als Syndrom für die Essstörungen wichtig, aber noch kein allgemein akzeptiertes Krankheitskonzept. Die Binge-eating-Störung kommt etwa doppelt so häufig wie die Bulimia nervosa vor und ist durch den intermittierenden Verzehr großer Nahrungsmengen bei fehlender dauerhafter Beschäftigung mit der Figur gekennzeichnet. Da sich im Gegensatz zur Bulimia nervosa keine regelmäßigen, einer Gewichtszunahme gegensteuernden Maßnahmen finden, sind die Patienten meist übergewichtig. Hauptkriterien sind: rezidivierendes »binge eating«; sehr schneller Verzehr von Nahrungsmitteln; Essen, bis unangenehmes Völlegefühl erreicht ist; Ekel- oder Schuldgefühl nach einem »binge«. Es findet sich im Gegensatz zur Adipositas ohne Binge-eating-Störung eine doppelt so hohe Inzidenz von affektiven Störungen und Angststörungen, gerade bei Frauen. 23 Therapie der Binge-eating-Störung 5 Konventionelle verhaltenstherapeutische Maßnahmen, KVT und IPT haben sich als wirksam erwiesen. Zur Erhaltung des Therapieerfolgs sind »booster sessions« nötig. 5 Auch SSRI sind wirksam, wobei der positiven Wirkung auf die Impulskontrolle besondere Bedeutung zukommt. 5 KVT und SSRI (Fluoxetin) hatten kombiniert eine gute Wirkung. 5 Aussagekräftige Vergleichsuntersuchungen gibt es nicht (de Zwaan 2002). 5 Auch Sibutramin, ein Antiadipositum, (7 Abschn. 13.2 und 7 Abschn. 23.4) hat eine gute Wirkung bei »binge eating«. 23.4 Adipositas Adipositas ist ein neues Grenzgebiet der Psychopharmakotherapie. Die Erkrankung ist primär eine internistische Erkrankung (Übergewicht: BMI >25; Adipositas: BMI >30). Sie ist mit einem deutlich erhöhten Risiko für Begleiterkrankungen, etwa Diabetes und Schlafapnoe, besonders aber Herz-Kreislauf-Erkrankungen, verbunden. 12–18% der erwachsenen Bevölkerung sind adipös; die Steigerungsraten sind in den letzten 50 Jahren rasant. Der beste Prädiktor für ein erhöhtes Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen ist der Bauchumfang (Cut-off-Wert: 88 cm für Frauen, 102 cm für Männer, gemesen beim Ausatmen). In der Psychoparmakotherapie hat eine Gewichtszunahme besonders unter Antipsychotika (7 Abschn. 7.6) aber auch einigen Antidepressiva (7 Abschn. 5.6) einen großen Einfluss auf die medikamentöse Compliance. Darüber hinaus tritt Adipositas bei mehreren psychiatrischen Erkrankungen, unabhängig von einer Psychopharmakagabe, als Symptom oder Teil der Störung auf. Es gibt viele Hinweise, dass diese Patienten mit einem erhöhten Risiko für internistische Erkrankungen belastet sind. Besonders ist dabei auf die Fettumverteilung in den Bauchbereich z. B. bei Depressiven zu achten (7 Abschn. 15.8). Therapie der Adipositas 5 Die Therapie der Adipositas ist primär internistisch. 5 Eine medikamentöse Therapie sollte von verhaltenstherapeutischen (u. a. Selbsthilfemanuale) und diätetischen Maßnahmen begleitet werden. 198 Kapitel 23 · Essstörungen 26 5 Medikamentöse Therapien waren bisher bei Adipositas nicht zugelassen. Nicht zugelassene »Schlankheitspillen« 7 Abschn. 13.1. 5 Als Antiadiposita sind heute 3 Präparate zugelassen (7 Kap. 13); sie sollten unter internistischer Kontrolle verabreicht werden: – Orlistat, ein Lipasehemmer, der nur im Darm wirksam ist; – Sibutramin ein kombinierter Serotonin-Noradrenalinrückaufnahmehemmer; – Rimonabant, ein Cannabinoid-1-Rezeptorantagonist. 5 Über den Einsatz dieser Antiadiposita bei Gewichtszunahme unter Antipsychotika gibt es erste positive Ergebnisse. 27 23.5 21 22 23 24 25 28 29 30 31 32 33 34 Behandlung der Essstörungen im Kindesund Jugendalter Essstörungen beginnen meistens in der Adoleszenz. Der Erkrankungsbeginn für die Anorexia nervosa liegt bei 14 Jahren, für die Bulimia nervosa zwischen 16 und 19 Jahren und für die Binge-eating-Störung zwischen 9 und 12 Jahren. Die Therapie der Essstörungen im Kindes- und Jugendalter stützt sich auf drei Säulen: 5 somatische Rehabilitation und Ernährungstherapie 5 individuelle psychotherapeutische Behandlung 5 Einbeziehung der Familie Psychotherapie bei Anorexie, Bulimie und Binge-eating-Störung dern und Jugendlichen mit Anorexia nervosa, besonders wenn ausgeprägte Körperschemastörungen vorlagen. Die Patientinnen haben unter Olanzapin zugenommen und die Psychopathologie hat sich gebessert. Bei begleitenden affektiven Symptomen kann auch ein SSRI helfen. Besonders effektiv scheint die Kombination mit Psychotherapie zu sein (Dennis et al. 2006). Therapie der Adipositas Adipositas stellt eine extreme gesundheitliche Belastung für Kinder- und Jugendliche dar. Bis zu einem Drittel der Kinder und Jugendlichen sind übergewichtig. Deshalb sind präventive Maßnahmen vorrangig, wobei Schulprogramme am vielversprechendsten erscheinen (Sharma 2007). Therapeutisch stehen am Beginn der Therapie die Psychoedukation und die Motivationsphase. Diese beiden Punkte sind für den weiteren Therapieverlauf von entscheidender Wichtigkeit. Nach dem Ausschluss von internistischen Erkrankungen für die Adipositas, sollte eine Umstellung der Lebensführung erfolgen. Dazu sollte die ganze Familie einbezogen werden und eine Ernährungsberatung erfolgen. Danach stehen verhaltenstherapeutische und diätetische Maßnahmen sowie bei extremer Adipostias eine medikamentöse Therapie im Vordergrund. Die Wirksamkeit der beiden Antiadiposita Orlistat und Sibutramin ist in kontrollierten Studien abgesichert (7 Kap. 13). Sie sind ab dem Alter von 12 Jahren zugelassen. 23.6 ? Für die Psychotherapie dieser drei Erkrankungen konnte eine Effizienz für die KVT und die interpersonale Therapie (IPT) nachgewiesen werden. Allerdings wurden die Studien vornehmlich bei erwachsenen Patientinnen durchgeführt. Die Familientherapie scheint wirksamer als eine einzeltherapeutische Behandlung zu sein. Auch gruppentherapeutische Verfahren eignen sich im Rahmen des multimodalen Therapiekonzeptes (Herpertz-Dahlmann 2005). 1. 38 Pharmakotherapie bei Anorexie, Bulimie und Binge-eating-Störung 5. 39 Die Empfehlungen für eine medikamentöse Therapie bei Bulimie und Binge-eating-Störung entsprechen denen im Erwachsenenalter und beschränken sich vorwiegend auf die SSRI. Einige Fallberichte und offene Studien berichten über einen positiven Effekt des atypischen Antipsychotikums Olanzapin bei Kin- 35 36 37 40 Checkliste 2. 3. 4. 6. Welche Rolle spielen Antidepressiva bei der Behandlung der Anorexia nervosa? Unter welchen Bedingungen ist der Einsatz von Antidepressiva bei der Anorexia nervosa sinnvoll? Wann ist die Gabe eines Antipsychotikums, z. B. Olanzapin, bei der Anorexia nerovsa , sinnvoll? Welche Antidepressiva können zur Behandlung der Bulimia nervosa eingesetzt werden? Welche Gruppe von Antidepressiva ist bei der Behandlung der Bulimia nervosa wegen der relativ geringeren Nebenwirkungen zu bevorzugen? Welche Antiadiposita sind mittlerweile zugelassen? 199 24.1 · 24 Schlafstörungen 24.1 Primäre Insomnie – 200 24.1.1 24.1.2 24.1.3 Gesamtbehandlungsplan der primären Insomnie – 201 Therapie der primären Insomnie – 202 Therapie der Insomnie bei psychiatrischen Erkrankungen – 203 24.2 Hypersomnie 24.3 Narkolepsie 24.4 Schlafapnoesyndrom 24.5 Behandlung der Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter – 205 24.6 Checkliste – 204 – 204 – 206 – 205 200 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 Kapitel 24 · Schlafstörungen Die Klassifikation der Schlafstörungen nach ICD-10 erfolgt in sog. nichtorganische und organische Schlafstörungen (wobei der Begriff »nichtorganisch« hier ungünstig gewählt wurde, weil alle psychischen Störungen eine biologische Grundlage haben). Definition Unter den nichtorganischen Schlafstörungen werden die Dyssomnie und die Parasomnie getrennt. Während für die Parasomnien (7 Kap. 32), z. B. Schlafwandeln, Albträume oder Pavor nocturnus, keine Indikation für Hypnotika besteht, ist die primäre Insomnie die wichtigste Erkrankung unter den Dyssomnien. Die Hypersomnie (7 Abschn. 24.2) zählt die ICD-10 auch zu den nichtorganischen Schlafstörungen. Die wichtigen organischen Schlafstörungen sind das Schlafapnoesyndrom (7 Abschn. 24.4), die Narkolepsie (7 Abschn. 24.3) und das Restlesslegs-Syndrom (7 Abschn. 24.5). Als eigene Gruppe werden Schlafstörungen im Rahmen psychiatrischer und körperlicher Störungen oder Substanzabusus abgegrenzt. Schlafstörungen sind ein häufiges Leitsymptom vieler psychiatrischer Erkrankungen. Besonders ausführlich ist der gestörte Schlaf bei affektiven Erkrankungen dokumentiert; etwa 90% der Patienten haben eine Insomnie, 10% eine Hypersomnie. Die Schlafstörungen werden dann zusammen mit der Primärerkrankung behandelt. Die Therapie wird in den entsprechenden Kapiteln und hier in 7 Abschn. 24.1.3 besprochen, weil auch für diese Gruppe die Regeln der primären Insomnie anzuwenden sind. Das Chronic-Fatigue-Syndrom wird in 7 Abschn. 5.4 besprochen. 36 24.1 37 38 39 40 Primäre Insomnie Insomnie wird mit dem Begriff Schlafstörungen synonym benutzt, was aber, wie die Übersicht oben zeigt, nicht ganz korrekt ist, weil »Schlafstörung« einen Oberbegriff definiert. Unter primärer Insomnie (abgekürzt Insomnie) wird ein Zustand mit ungenügender Dauer oder Qualität des Schlafs über eine längeren Zeitraum verstanden. Ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung berichtet über zumindest gelegentliche Schlafstörungen. Als überdauernd oder deutlich beeinträchtigend werden Schlafstörungen bei ca. 10% der Bevölkerung angegeben (im Alter zunehmend). Die meisten Menschen benötigen mindestens 6 h Schlaf. Die Bedeutung der nächtlichen Erholungsphasen auf verschiedene physiologische Prozesse, besonders auf das Gedächtnis, wird zunehmend untersucht. Auch gibt es Untersuchungen, die auf ein erhöhtes Diabetesrisiko bei Schlafmangel hinweisen. Der Zusammenhang ist so zu erklären: Das Hungergefühl während der Nacht wird durch die Produktion von Leptin (7 Kap. 23) unterdrückt (nachts kennen wir kein Hungergefühl); bei Schlafmangel ist das Sättigungsgefühl aufgrund zu wenig ausgeschütteten Leptins verringert; es wird mehr Nahrung als nötig zu sich genommen; das Gewicht steigt. In den letzten Jahren rückt der Terminus nichterholsamer Schlaf in den Vordergrund. Oft stehen neben der Schlaflosigkeit auch Störungen der Tagesbefindlichkeit und der Funktionsfähigkeit im Vordergrund. Die Einführung des übergeordneten Begriffs nichterholsamer Schlaf hebt dann allerdings die alten Einteilungen zur Schlafstörung auf; Insomnie und Hypersomnie können nun unter einem Begriff zusammengefasst werden. Vor der Hypnotikaverordnung ist eine genaue Schlafanalyse notwendig: Beschreibung der Ein- und Durchschlafstörungen, Früherwachen, Schlaflänge und Häufigkeit der Schlafunterbrechungen. Ursachen der Insomnie Die häufigsten Ursachen sind: 5 Begleitsymptomatik von organischen Erkrankungen (z. B. neurodegenerative Erkrankungen, Herz- oder Lungenerkrankungen, maligne Erkrankungen, chronische Infektionen) 5 Schmerzsyndrome 5 Psychische Stressoren 5 Umgebungsbedingten Stressoren (Lärmbelastung, Schichtarbeit, Jetlag) 5 Schlechte Schlafhygiene 5 Körperliche Krankheiten und andere körperliche chronische Belastungen, auch häufiges nächtliches Wasserlassen 5 Nahezu alle psychiatrischen Erkrankungen 5 Konstitutive Faktoren 5 Medikationseffekte und Drogen: – Sympathomimetika, Theophyllin – Hormone, wie Schilddrüsenhormone, Kortisol, Kontrazeptiva – stimulierende Substanzen (Koffein und synthetische Substanzen, z. B. Amphetamine, Ecstasy), auch L-Dopa 201 24.1 · Primäre Insomnie – – – – – selektive Serotoninrückaufnahmehemmer (SSRI) Antibiotika (z. B. Gyrasehemmer) Nootropika (z. B. Piracetam) Antihypertensiva, z. B. β-Rezeptorenblocker, Diuretika Alkohol und andere Rauschmittel Wichtig Bei Schlafstörungen müssen immer körperliche und substanzinduzierte Ursachen ausgeschlossen werden und komorbide psychiatrische Diagnosen erkannt werden. Neurobiologie der Insomnie. Patienten mit Insom- nien weisen zu etwa 35% eine positive Familienanamnese für Schlafstörungen auf. Im Alter besteht eine höhere Vulnerabilität des Schlafes. Schlafregulierende Substanzen haben einen besonderen Einfluss auf »rapid-eye-movement« (REM)und Non-REM-Schlafepisoden. Der REM-Schlaf ist durch schnelle Augenbewegungen und allgemeine Muskelerschlaffung, Steigerung der Temperatur und des Gehirnstoffwechsels charakterisiert. Die REMPerioden umfassen ca. 25% der Schlafdauer. In dieser Zeit treten die meisten Träume auf. Bei REMSchlafentzug kann es zu Angstzuständen kommen. Wirkung von Benzodiazepinen auf die Schlafphasen 7 Abschn. 9.2.1. Es wird angenommen, dass insbesondere monoaminerge »REM-off«- und cholinerge »REM-on«Neurone zu diesem zyklischen Verlauf beitragen. Einschlafphasen sind vermutlich an sinkende Entladungsraten sertonerger und noradrenerger Neurone gekoppelt. Trizyklische Antidepressiva (TZA) und SSRI haben eine dosisabhängige REM-reduzierende Wirkung (Wilson u. Argyropoulos 2005). Unter den schlafregulierenden Substanzen scheint das Orexinsystem für die Schlaf-Wach-Regulation eine zentrale Rolle zu spielen. Orexin-1 und -2 werden im Hypothalamus aus dem Präkursormolekül Präproorexin gebildet. Orexinerge Neurone projezieren in verschieden Hirnregionen, die für die Regulation des REM-Schlafs und des Non-REM-Schlafs, aber auch für die Regulation des Appetits und weiterer Stoffwechselschritte verantwortlich sind. Bei einem Orexindefizit kommt es zu erhöhter Müdigkeit und weiteren Symptomen der Narkolepsie (7 Abschn. 24.3) und auch zu metabolischen Störungen wie Adipositas und Diabetes. Orexinrezeptorantagonisten können die Symptome bei Orexindefizit abfangen (Brisbare- 24 Roch et al. 2007). Es entwickelt sich an diesem System ein neuer neurobiologischer Ansatz in der Schlafforschung. Das hyptothalamisch-hypophysär-adrenale (HPA- ) System stellt das wichtigste stressadaptive System dar, und scheint, wie bei der Depression und den Angststörungen auch bei der Insomnie von Bedeutung zu sein. Relativ häufig kommen bei Schlafstörungen eine Verminderung des Tiefschlafanteils und eine verkürzte REM-Latenz vor. Da das Growth-hormone-releasingHormon (GHRH) tiefschlaffördernd wirkt, Kortikotropinreleasing-Hormon (CRH) dagegen den Tiefschlaf unterdrückt, spielt möglicherweise eine Störung der Balance zwischen diesen beiden Systemen für die Genese von Schlafstörungen eine bedeutsame Rolle, insbesondere bei Schlafstörungen von Depressiven. Zudem wird angenommen, dass viele hypothalamische Neurone, an denen GHRH wirkt, GABAerg sind. Die multifaktorielle Regulierung des Schlafes wird weiterhin durch eine Vielzahl schlaffördernder Substanzen (Prostaglandine, Cytokine, Neuropeptide, biogene Amine) beeinflusst (Wiegand u. Hajak 2006). 24.1.1 Gesamtbehandlungsplan der primären Insomnie Hypnotika sollen prinzipiell erst nach Ausschöpfen anderer Therapiemöglichkeiten gegeben werden. Die Grunderkrankungen sollen zunächst behandelt werden. In der Regel ist eine Kombination aus aufklärenden Maßnahmen, Verhaltenskorrekturen (Schlafhygiene), KVT und kurzfristigem Einsatz von Hypnotika indiziert. Wenn die Insomnie nicht rechtzeitig behandelt wird, werden Tendenzen zur Chronifizierung unterstützt. Damit geht ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Depression oder von Angststörungen einher. Eine weitere schwerwiegende Folge unzureichender Therapie der Insomnie ist Abusus von Hypnotika und Alkohol, oft mit folgender Tagesmüdigkeit verbunden. Daraus wiederum kann der Missbrauch von Stimulanzien resultieren. Alkohol verkürzt zwar die Einschlaflatenz, unterdrückt jedoch den REM-Schlaf und führt zu fragmentiertem Schlaf mit frühmorgendlichem Erwachen. 202 21 22 23 24 25 26 27 Kapitel 24 · Schlafstörungen Ein Schlafspezialist ist zu zuziehen bei 5 chronischer Insomnie, wenn eine kurzfristige Gabe von Hypnotika nicht hilft; 5 exzessiver Tagesmüdigkeit; 5 schlafbezogenen Atemstörungen oder kardialen Problemen; 5 abnormalem Schlafverhalten. Auch wenn die Schlafstörungen im Rahmen psychiatrischer und körperlicher Störungen nicht in diesen Abschnitt besprochen werden, soll daran erinnert werden, dass Schlafstörungen im Rahmen von Notfallsituationen sofort mit Hypnotika behoben werden müssen (7 Kap. 34). Wichtig 28 29 30 Bei Schlafstörungen mit Suizidalität oder im Rahmen von akuten Psychosen oder anderen schweren psychischen Erkrankungen sind Hypnotika vorübergehend auch in höheren Dosen indiziert. 24.1.2 33 34 35 36 37 38 39 40 Hypnotika und Psychotherapie im Vergleich 5 Der Vergleich von kombiniert verhaltentherapeutisch/pharmakologischer Behandlung gegenüber den jeweiligen Einzelverfahren kann aufgrund der wenigen vorliegenden Untersuchungen nur vorläufig beurteilt werden. In der Tendenz zeigte sich in klinischen Studien keine Erhöhung in der Effektivität bei der kombinierten Anwendung beider Verfahren, hingegen imponierten bei verhaltenstherapeutischen Maßnahmen noch 6– 12 Monate nach Therapieende weiter bestehende Therapieeffekte (Morin et al. 1994). 5 In einer Studie bei älteren Patienten schnitt die Gruppe mit nichtmedikamentösen Maßnahmen in der Kurz- und Langzeitbehandlung besser ab als Zopiclon. Die Psychotherapie war hier eine Mischung aus Schlafhygiene, Schlafrestriktion, Stimuluskontrolle und KVT (Sivertsen et al. 2006). Verhaltenstherapeutische Techniken und Entspannungsverfahren 31 32 und Beratung des Patienten zur Schlafhygiene allgemeine verhaltenstherapeutische Techniken und Entspannungsverfahren. Wichtig Therapie der primären Insomnie Nichtmedikamentöse Maßnahmen und Psychotherapie 5 Jede medikamentöse Therapie der Insomnie sollte, wenn möglich, erst nach Ausschöpfen nichtpharmakologischer Verfahren begonnen werden. Bei Kombinationsbehandlungen mit pharmakologischen Therapieverfahren besteht die Gefahr, dass die psychotherapeutische Behandlung gegenüber der Pharmakotherapie in den Hintergrund tritt, da der Erfolg im Vergleich verzögert auftritt und der Zeitaufwand für Patient und Therapeut größer ist. 5 Das Grundprinzip nichtpharmakologischer Therapieverfahren zur Verbesserung des Schlafes ist die aktive Einbeziehung des Patienten in die Behandlung. Die nichtpharmakologischen Ansätze haben den Vorteil, dass sie das Krankheitsgeschehen im Vergleich zu pharmakologischen Ansätzen kausal beeinflussen und langfristig wirksam sein können. 5 Die wichtigsten nichtpharmakologischen Therapieverfahren umfassen neben der Aufklärung 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 Schlafhygiene (s. unten) Stimuluskontrolle (Schlaf nur im Bett) Schlafrestriktion mit Schlafprotokoll Progressive Muskelrelaxation Autogenes Training Paradoxe Intervention Kognitive Fokussierung Gedankenstopp Biofeedback Yoga, Meditation Verhaltensregeln der Schlafhygiene 5 Einhalten der individuell notwendigen Schlafmenge: nach dem Aufwachen nicht im Bett liegen bleiben. Wenn notwendig, Schlafzeit verkürzen. 5 Einhalten regelmäßiger Schlafzeiten: feste Zeiten, um ins Bett zu gehen und um wieder aufzustehen (auch am Wochenende und im Urlaub). 5 Verzicht auf längere Tageschlafepisoden. Eine Regeneration mit einem »Nap« (Nickerchen) kann jedoch hilfreich sein. Dabei handelt es sich um eine Schlafphase von 15–20 min, die auch zum Stressabbau genutzt werden kann. 5 Angenehme Schlafbedingungen: ca. 17°C, keine Gegenstände, die an Arbeit oder Belastungen erinnern. 203 24.1 · Primäre Insomnie 5 Ausgeglichene Ernährung: leicht verdauliche Speisen am frühen Abend. 5 Koffeinkarenz: kein Konsum von koffeinhaltigen Getränken (Kaffee, Tee, Cola) nach 17 Uhr. 5 Verzicht auf Appetitzügler. 5 Abendliche Alkohol1- und Nikotinkarenz. 5 Regelmäßige sportliche Betätigung am Vor- und Nachmittag. 5 Entspannende Abendgestaltung: keine geistig, emotional oder körperlich belastenden Betätigungen am Abend. 5 Auch am Wochenende oder im Urlaub Beibehaltung des Tag-Nacht-Rhythmus. 5 Individuell ausgerichtete Regelanwendung: Umstellung des Alltags in den Bereichen, in denen er am weitesten von den Empfehlungen abweicht. Hypnotika bei der primären Insomnie Die Therapie – sowie deren Bewertung – mit Hypnotika wird ausführlich in 7 Abschn. 9.11 dargestellt. 24 Antipsychotika bei der primären Insomnie 5 Initial sedierende Antipsychotika, haben eine schlafinduzierende Wirkung (7 Kap. 7). 5 Unter den konventionellen Antipsychotika sind Melperon (20–100 mg) und Pipamperon (20– 80 mg) aufgrund ihrer geringen antidopaminergen und anticholinergen Wirkung vorzuziehen und eignen sich auch bei älteren Menschen. 5 Bei hartnäckigen Schlafstörungen können atypische Antipsychotika (AAP) mit schlafanstoßendem Effekt, insbesondere Olanzapin (2,5– 10 mg) und Quetiapin (25–150 mg) zur Nacht verordnet werden. 5 Erhalten Patienten ein Antipsychotikum nicht zur antipsychotischen Behandlung, sondern zur Schlafinduktion, muss immer berücksichtigt werden, dass alle Antipsychotika auch in niedrigen Dosen deutliche Nebenwirkungen verursachen können. Fazit Wichtig Alle Schlafmittel sollten 5 in der niedrigst möglichen Dosis verordnet werden; 5 nur intermittierend 2- bis 4-mal/Woche gegeben werden; 5 nicht für längere Zeiträume, d. h. für nicht mehr als 4 Wochen, verschrieben werden; 5 langsam abgesetzt werden; 5 auf das Auftreten von Reboundphänomenen hin beobachtet werden (7 Abschn. 8.6.2). Antidepressiva bei der primären Insomnie 5 Antidepressiva mit sedierenden Eigenschaften (antihistaminischer und 5-HT2-antagonistischer Wirkung) wirken schlaffördernd. Die abendliche Dosierung bei primärer Insomnie (ohne depressive Störung oder Angststörung) sind: Amitriptylin (25–50 mg), Doxepin (25–100 mg), Mirtazapin (7,5–15 mg), Trimipramin (25–50 mg) (7 Abschn. 5.5). 1 Studien weisen in der Mehrzahl auf den kardial-protektiven Effekt von 20 g Alkohol bei Männern und 10 g bei Frauen hin. Der Zusammenhang zwischen diesen relativ niedrigen Dosen und einer Schlafinduktion bzw. Schlafstörung und Abhängigkeitsproblemen wurde aber bisher nicht grundlegend untersucht. Pharmakotherapie und Psychotherapie bei der primären Insomnie – Bewertung 5 Therapie der Wahl bei der primären Insomnie sind nichtmedikamentöse Verfahren. Sie umfassen neben der Aufklärung und Beratung des Patienten zur Schlafhygiene allgemeine verhaltenstherapeutische Techniken und Entspannungsverfahren. 5 Bei den wenigen Studien zum Vergleich der Effektivität bei der kombinierten Anwendung beider Verfahren zeigen sich Vorteile für verhaltenstherapeutische Maßnahmen. 5 Falls keine Kontraindikationen bestehen, können vor der Wahl von Hypnotika oft auch sedierende Antidepressiva, bei hartnäckigen Schlafstörungen auch AAP, eingesetzt werden. 5 Die Prinzipien der Therapie mit Hypnotika 7 Abschn. 9.11. 24.1.3 Therapie der Insomnie bei psychiatrischen Erkrankungen Schlafstörungen kommen bei psychiatrischen Krankheiten häufig vor. Sie sind i. d. R. durch gezieltes Einsetzen eines schlafinduzierenden Antidepressivums bez. Antipsychotikums vor dem Schlafengehen oder durch eine Dosisumverteilung gut zu behandeln. Erst bei Nichtansprechen dieser Maßnahmen soll zusätzlich ein herkömmliches Hypnotikum gegeben werden. 204 Kapitel 24 · Schlafstörungen Antidepressiva 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 den Phasen mit vermehrter Tagesschläfrigkeit noch weitere Verhaltensauffälligkeiten hinzutreten, z. B. sexuelle Enthemmung und übermäßiges Essen. 5 Die Therapie der Tagesmüdigkeit bei der primären Hypersomnie entspricht den Empfehlungen bei der Narkolepsie (7 Abschn. 24.3). 5 Bei 10% der affektiven Störungen kommt es nicht zu einer Insomnie, sondern zu einer Hypersomnie. Depressive Patienten mit Hypersomnie werden mit Antidepressiva behandelt. Antipsychotika 24.3 5 Bei Patienten, die an einer psychotischen Störung und begleitenden Schlafstörungen leiden, soll zunächst die abendliche Gabe des Antipsychotikums erhöht werden. Manchmal kann ein AAP abends in geringen Dosen zusätzlich gegeben werden. 5 Bei abhängigkeitsgefährdeten Patienten sind Antipsychotika den Benzodiazepinen vorzuziehen. Cave Viele Antidepressiva und niedrigpotente Antipsychotika zeigen z. T. ausgeprägte anticholinerge Eigenschaften. Bei älteren Patienten und Patienten mit organischen Vorerkrankungen kann dies zu erheblichen Komplikationen (u. a. Delir, Rhythmusstörungen, Blasenfunktionsstörungen) führen (7 Kap. 10). Auch die Nebenwirkungen der AAP müssen beachtet werden. 37 38 24.2 39 5 Hauptmerkmal der primären (idiopathischen) Hypersomnie ist eine übermäßige Schläfrigkeit mit verlängertem nächtlichem Schlaf und Schwierigkeiten aufzuwachen oder mit unbeabsichtigten und wenig erholsamen Schlafepisoden am Tag. Eine seltene Variante stellt das Klei- 40 ne-Levin-Syndrom dar, bei dem rezidivierend in 5 Die Wirkung setzt oft sofort, manchmal erst im Rahmen der Depressionsbehandlung nach 2– 4 Wochen, ein. Man kann dann nicht erkennen, ob die schlafinduzierende Wirkung auf die Lösung der Depression oder den primär schlaffördernden Effekt der Antidepressiva zurück zu führen ist. SSRI können zu Beginn der Behandlung das Schlafverhalten verschlechtern (Wilson u. Argyropoulos 2005). 5 Bei bestehender Therapie mit einem sedierenden Antidepressiva kann die abendliche Dosis erhöht werden, bei zusätzlicher Verordnung dieser Substanzen zu anderen nicht sedierenden Antidepressiva sind besonders die anticholinergen Nebenwirkungen zu beachten. 5 Bei abhängigkeitsgefährdeten Patienten sind Antidepressiva den Benzodiazepinen vorzuziehen, alternativ können Antipsychotika gegeben werden. Hypersomnie Weiter treten sekundäre Hypersomnien bei körperlichen Erkrankungen (z. B. Hypothyreose, chronischen Infektionen, entzündlichen Hirnerkrankungen), substanzinduziert (z. B. Missbrauch von Benzodiazepinen) und im Rahmen anderer psychischen Erkrankungen (z. B. atypische Depression) auf. Narkolepsie Die Narkolepsie ist eine Störung der REM-SchlafRegulation. Hauptsymptome der Narkolepsie sind Kataplexie (Verlust des Tonus der Skelettmuskulatur infolge affektiver Auslenkung wie Freude oder Ärger) und erhöhte Tagesmüdigkeit, die oft zu Schlafattacken am Tage führt. Im Schlaf-EEG finden sich häufig sog. Sleep-Onset-REM-Episoden, d. h. Episoden von REM-Schlaf innerhalb der ersten 10 min nach Schlafbeginn, häufiges Erwachen und eine Fragmentierung des REM-Schlafs. Es wird eine multifaktorielle Vererbung angenommen. Im familiären Umfeld wird häufiges Auftreten von vermehrter Tagesmüdigkeit beobachtet. Ätiologisch besteht die Hypothese einer Beteiligung noradrenerger und serotonerger Systeme und einer Dysfunktion des Orexinsystems (7 Abschn. 24.1). 5 Therapeutisch sind Verhaltensmaßregeln indiziert. Es ist ein regelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus und ein stabiles Lebensumfeld anzustreben. Durch regelmäßige Ruhe- und Schlafpausen kann Einschlafattacken vorgebeugt werden. Monotone Arbeitstätigkeiten sind zu vermeiden. 5 Medikamentös führt Modafinil (7 Abschn. 14.2) zu einer deutlichen Verbesserung von Einschlafattacken und Tagesmüdigkeit. Daher bleibt Methylphenidat (7 Abschn. 14.2), trotz seiner Zulassung bei der Narkolepsie, zweite Wahl nach Modafinil. 5 Natriumoxybat (7 Abschn. 14.2) ist als neue Therapieoption eingeführt worden. Es steht damit 24.5 · Behandlung der Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter erstmals ein Medikament zur Verfügung, das gleichzeitig gegen alle drei Hauptsymptome der Narkolepsie (Kataplexie, Tagesschläfrigkeit und gestörten Nachtschlaf) wirksam ist. 5 Antidepressiva (Imipramin, Clomipramin, Venlafaxin, MAO-Hemmer) können die REM-assozierten Symptome bei der Kataplexie unterdrücken. 24.4 Schlafapnoesyndrom Das Schlafapnoesyndrom ist durch nächtliche Atempausen charakterisiert. Es treten wiederholte Verengungen der oberen Luftwege auf, die zu einer zunehmenden Abnahme des Blutsauerstoffgehalts führen. Infolgedessen kommt es zu kurzen Aufwachereignissen wodurch sich die Verengung der Atemwege löst. Die Folge ist eine verstärkte Fragmentation des Schlafs und ein verminderter Tiefschlaf. Unterschieden werden ein zentral bedingtes und ein obstruktives Apnoesyndrom. Klinische Folgen sind Tagesmüdigkeit mit Einschlafneigung, Nachlassen der geistigen Leistungsfähigkeit mit Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen, depressive Verstimmungen, sexuelle Funktionsstörungen und morgendlichen Kopfschmerzen. Internistische Folgekrankheiten können sein: Hypertonie, Herzinsuffizienz, Herzrhythmusstörungen und Polyglobulie. Eine obstruktive Schlafapnoe mit wiederholten Kollapszuständen des Pharynx im Schlaf ist ein wichtiger kardiovaskulärer Risikofaktor. Die Diagnosesicherung ist durch eine polysomnographische Untersuchung im Schlaflabor mit Registrierung respiratorischer Parameter möglich. 5 Die Therapie richtet sich nach dem Schweregrad. Allgemeine Verhaltensmaßnahmen umfassen Regulierung des Schlaf-Wach-Rhythmus, Vermeidung von abendlichem Alkoholkonsum, keine Verordnung von sedierenden Medikamenten am Abend, ggf. Gewichtsreduktion. 5 Medikamentöse Therapieoptionen sind Theophyllin, das einen atemstimulierenden Effekt hat und Modafinil (7 Abschn. 14.2). 5 Bei schwerer Symptomatik ist eine kontinuierliche Überdruckbeatmung während der Nacht notwendig (»continuous positive airways pressure«, CPAP); in manchen Fällen ist auch ein chirurgischer Eingriff indiziert; dies gilt insbesondere für die obstruktive Schlafapnoe. 24.5 205 24 Behandlung der Schlafstörungen im Kindesund Jugendalter Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter kommen häufig vor und haben eine große Auswirkung auf die Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen. Etwa 4% der Jugendlichen erfüllen die klinischen Kriterien einer Insomnie. Die Häufigkeit der kindlichen Insomnien bei begleitenden neuropsychiatrischen Entwicklungsstörungen oder komorbiden psychiatrischen Störungen liegt bei 50–75%. Es finden sich folgende Schlafstörungen: 5 Bei Kleinkindern bis zum 4. Lebensjahr treten vor allem die psychophysiologischen Insomnien (»erlernte Insomnie«) und Schlafstörungen durch rhythmische Bewegung auf. 5 Kinder zwischen 3 und 5 Jahren leiden häufig unter nächtlichen Ängsten, Alpträumen und Non-REM-Parasomnien (z. B. Schlafwandeln, Pavor nocturnus, Enuresis nocturna). 5 Im Alter von 6–12 Jahren sind inadäquate Schlafhygiene (spätes Einschlafen und frühes Erwachen), nächtliches Zähneknirschen, Restlesslegs-Syndrom und »periodic limb movements in sleep« (7 Kap. 32) zu finden 5 Im Alter von 13–18 Jahren sind Störungen des zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmus, Narkolepsie und Insomnien führend. Parasomnien und Bewegungsstörungen 7 Kap. 32. Therapie Die primäre Insomnie sollte verhaltenstherapeutisch (z. B. mit Entspanunngsverfahren) behandelt werden. Bei längeranhaltender Insomnie können vorübergehend Hypnotika, Antidepressiva oder niedrigpotente Antipsychotika eingesetzt werden. Für die Störungen des zirkadianen Schlaf-WachRhythmus, die sehr häufig bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung, ADHS oder tief greifenden Entwicklungsstörungen vorkommen, gibt es einige Placebo-kontrollierte Studien mit Melatonin, die eine positive Wirkung hinsichtlich verlängerter Schlafdauer und reduzierter Einschlafphase nachweisen konnten (van der Heijden et al., 2007) (s. aber 7 Abschn. 9.1). Bei der Behandlung der nichtorganischen Insomnien sind vor allem die Psychoedukation und verhaltensmodifizierende Maßnahmen wichtig, bevor ggf. eine medikamentöse Therapie mit Clonazepam, TZA oder AAP (7 Abschn. 24.1.2) unternommen wird (Moore et al. 2006). 206 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Kapitel 24 · Schlafstörungen Die Therapie der primären Hypersomnien im Kindes- und Jugendalter sollten zunächst physikalische und verhaltenstherapeutische Maßnahmen beinhalten und nur in Ausnahmefällen sollten Psychostimulanzien verordnet werden. Für das Kleine-LevinSyndrom gibt es positive Ergebnisse zu Psychostimulanzien und Lithium. Bei der Narkolepsie ist eine ausführliche Psychoedukation besonders wichtig. Die medikamentöse Therapie besteht aus Psychostimulanzien (z. B. Methylphendidat oder Amphetaminpräparate). In Zukunft kommt möglicherweise auch Natriumoxybat und Modafinil bei Kindern und Jugendlichen in Betracht. Schlafapnoesyndrome kommen im Kindes- und Jugendalter vorwiegend bei Infektionen im NasenRachenraum oder bei Vergrößerung der Rachenmandeln vor. Auch Adipositas ist ein Risikofaktor. Es sollten die Grunderkrankungen behandelt werden bevor körperliche Folgen auftreten. 24.6 Checkliste ? 1. Bei welcher Gruppe psychiatrischer Erkrankungen sind Schlafstörungen besonders häufig? 2. Welche Medikamentengruppen zur Behandlung von Schlafstörungen kennen Sie? 3. Welche Hypnotika sind Mittel der ersten Wahl bei der Kurzzeittherapie von Schlafstörungen? 4. Welche Grundsätze sollten bei der Verordnung von Schlafmitteln – auch bei den Non-Benzodiazepinhypnotika – beachtet werden? 5. Welche Antidepressiva haben sich bei der Behandlung der primären Insomnie (ohne komorbide Angst oder Depression) bewährt? 6. Welche Gruppen von schlaffördernden bzw. schlafinduzierenden Psychopharmaka sollten bei abhängigkeitsgefährdeten Patienten verordnet werden? 7. Welche Komplikation kann besonders bei älteren Patienten bei der Therapie von Schlafstörungen mit Antidepressiva oder niederpotenten Antipsychotika auftreten? 8. Welche Behandlungsmöglichkeiten bei der Narkolepsie kennen Sie? 9. Welche pharmakologischen Therapieoptionen gibt es für das Restless-legs-Syndrom? 10. Wie sollte die Therapie von primären Insomnien im Kindes- und Jugendalter erfolgen? 207 25.1 · 25 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen 25.1 Gesamtbehandlungsplan – 208 25.2 Therapie 25.2.1 Spezifische Therapie bei Persönlichkeitsstörungen 25.3 Behandlung von Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter – 211 25.4 Checkliste – 208 – 213 – 209 208 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 Nach ICD-10 und DSM-IV werden Persönlichkeitsstörungen als meist früh in der Kindheit oder Jugend beginnende, anhaltende Muster von rigiden, nicht angepassten Denk- und Verhaltensweisen, die sich in nahezu allen Lebensbereichen als Störung für den Betreffenden oder die Umwelt äußern, definiert. Die vorherrschenden Symptome, die oft kombiniert auftreten, werden dann einzelnen Subtypen von Persönlichkeitsstörungen (oder Diagnosen) zugeordnet. Neurobiologie. Es gibt über die genetischen Befunde hinaus inzwischen eine Vielzahl von nachgewiesenen Veränderungen durch die strukturelle und funktionelle Bildgebung in frontalen und limbischen Hirnregionen bei Persönlichkeitsstörungen (Schmahl u. Bohus 2006). Ätiologisch wird bei den Persönlichkeitsstörungen davon ausgegangen, dass adversive Lebensbedingungen und -ereignisse im (frühen) Kindesalter zu Veränderungen neuronaler Netzwerke führen (Herpertz-Dahlmann u. Herpertz 2005). Speziell bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) finden sich verminderte Hippocampus- und Amygdalavolumina, die den Veränderungen bei der posttraumatischen Belastungsstörung ähneln (Lieb et al. 2004). 31 25.1 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Kapitel 25 · Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen Gesamtbehandlungsplan Spezifische Medikamente zur Behandlung der Persönlichkeitsstörungen gibt es noch nicht, die Therapie erfolgt im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans. Dieser beinhaltet psychotherapeutische Maßnahmen (v. a. Verhaltenstherapie), psychosoziale Unterstützung und die syndromorientierte medikamentöse und supportiv-psychiatrische Behandlung. Ein Gesamtbehandlungssplan ist bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen von besonderer Bedeutung, um die eingeschränkte Lebensqualität zu verbessern. 25.2 Therapie > Es muss immer zunächst geklärt werden, ob sich zusätzlich zu einer bestehenden Persönlichkeitsstörung eine mit Psychopharmaka sicher behandelbare psychiatrische Störung (Achse-I-Störung) entwickelt hat. Besonders häufig sind depressive Episoden, die mit Antidepressiva, wegen der besseren Verträglichkeit vorzugsweise mit selektiven Serotoninrückaufnahmehemmern (SSRI), gut behandelt werden können, sowie Substanzmissbrauch und -abhängigkeit (v. a. Alkohol, Benzodiazepine). Psychotherapie bei Persönlichkeitsstörungen Der Kern der Therapie von Persönlichkeitsstörungen liegt in psychotherapeutischen Behandlungsverfahren. Vor allem zwei psychotherapeutische Zugänge haben sich der empirischen Überprüfung gestellt und können hinsichtlich ihrer Wirksamkeit auf kontrollierte Studien verweisen. Dies ist speziell für die Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung die »dialektisch-behaviorale Therapie« (DBT) (Linehan et al. 2006; Kröger u. Kosfelder 2007) und die »Schematherapie« (Young et al. 2003, Giesen-Bloo et al. 2006). Die DBT integriert verschiedene Behandlungsmethoden: 5 Verhaltens- und Problemanalyse 5 Kontingenzmanagement 5 Kompetenz- und Problemlösetraining 5 Achtsamkeitsübungen 5 Akzeptanz- und Validierungsstrategien Neben der Einzeltherapie ist die Teilnahme an einer Gruppentherapie (Skillgruppe) vorgesehen. Die Behandlung erstreckt sich über 2 Jahre. Das Vorgehen folgt einer klaren Hierarchie. Dabei werden anfangs die Impulsivität, die suizidalen bzw. parasuizidalen Handlungen sowie manipulative Handlungen bearbeitet, erst dann folgt die Verringerung der Symptombelastung und in einem dritten Schritt dann die soziale Anpassung. Die Therapie von Borderline-Persönlichkeitsstörungen erfordert anfangs bzw. phasenweise während der DBT auch eine stationäre Behandlung und die zusätzliche Pharmakotherapie. Die Schematherapie ist eine Weiterentwicklung der kognitiven Therapie und bearbeitet die in der frühen Entwicklungsphase etablierten fehlangepassten Verarbeitungsmuster (Schemata) mittels kognitiver Methoden (Disputationstechniken, Realitätstesten usw.). Doch auch mit Interventionen zur Analyse von Traumatisierungen, Erkennen und Verändern von emotionalen Reaktionen, ungeschickten Bewältigungsformen, Kontrolle von Temperament und Impulsivität, kommen Imaginations- und Verhaltensübungen zum Einsatz. Jeder Persönlichkeitsstörung liegt ein bestimmtes Set von Schemata zugrunde, das aufgespürt und auf kognitiver und emotionaler Ebene sowie in den Handlungsabläufen verändert werden muss, um ein wenig belastetes Leben führen zu können. Die Schematherapie wird ambulant durchgeführt, erstreckt sich, je nach Persönlichkeitsstörung über 2–3 Jahre. 209 25.2 · Therapie Psychopharmaka bei Persönlichkeitsstörungen Bei schweren psychopathologischen Symptomen ist der Einsatz von Psychopharmaka frühzeitig indiziert; er sollte nicht erst nach Ausbleiben des Erfolgs von psychotherapeutischen Maßnahmen erwogen werden. Der Wirksamkeitsnachweis der medikamentösen Therapie erfolgte zumeist in offenen oder randomisierten Studien mit kleinen Fallzahlen. Große Vergleichstudien, wie sie aus den anderen Kapiteln dieses Leitfadens bekannt sind, fehlen noch. Dennoch sind aus den bisherigen Studien bereits wichtige Therapieempfehlungen abzuleiten, obwohl Zulassungen für diese Indikationen weitgehend fehlen. Generell werden bei einer Persönlichkeitsstörung primär psychotherapeutische Maßnahmen empfohlen. Wichtig Die medikamentöse Therapie von Persönlichkeitsstörungen ist syndromorientiert. Sie richtet sich daher nach Zielsyndromen. Zielsyndrome für Psychopharmaka bei Persönlichkeitsstörungen 5 Wichtigste Zielsyndrome bei Persönlichkeitsstörungen sind: – depressive und andere affektive Symptome, – unkontrollierbare Impulsivität und Aggressivität, – dissoziative und psychotische Symptome. Pharmakotherapie 5 Empfehlungen zur Dauer der Therapie können nicht gegeben werden, da sich die meisten Studien nur auf eine Behandlung von wenigen Wochen beziehen. 5 Eine erfolgreiche Pharmakotherapie sollte man aber längerfristig mit der niedrigsten effektiven Dosis unter sorgfältiger Überwachung von möglichen Nebenwirkungen fortführen. Auch die wirksamen atypischen Antipsychotika (AAP) sind nebenwirkungsreich (7 Kap. 7). 5 Es besteht häufig eine ablehnende Haltung gegenüber Medikamenten. Die Compliance ist oft gering mit einer hohen Abbruchrate. Medikamente erzeugen bei manchen Patienten das Gefühl von Kontrollverlust. Auch kann die Medikation zum Interaktionsfeld werden. 5 Nebenwirkungen werden oft sensitiv oder verstärkt wahrgenommen. 25 5 Benzodiazepine sollten bei vorherrschender Angst nur akut und mit Vorsicht eingesetzt werden (Abhängigkeitsrisiko), 7 Abschn. 25.2.1. Wichtig Bei der Pharmakotherapie von Persönlichkeitsstörungen sollte folgendes psychiatrisch-psychotherapeutisches Vorgehen im Vordergrund stehen: 5 Die Pharmakotherapie ist in der Regel nur auf der Basis einer tragfähigen und kontinuierlichen therapeutischen Beziehung sinnvoll. 5 Die Dosierung sollte individuell, an Zielsymptomen und Nebenwirkungen orientiert, erfolgen. Meist sind relativ niedrige Dosierungen ausreichend. 5 Die Mitbeteiligung der Patienten bei Auswahl und Dosierung ist notwendig. 5 Die Erfolgserwartungen sollten zzt. eher niedrig angesetzt werden. 5 Notwendige Kontrolluntersuchungen, Nebenwirkungen und Begleiteffekte sind vorher zu besprechen, auch die Konsequenzen. Es können z. B. Ziele über einen Stufenplan vereinbart und ausgearbeitet werden. 5 Klare »Verträge« mit entsprechenden Maßnahmen und Konsequenzen können hilfreich sein (z. B. bei selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität). 5 Es sollte eine möglichst sichere Medikation und ggf. eine kleine Packungsgröße verschrieben werden. Cave 5 Das Suizidrisiko (Intoxikationen!) ist v. a. bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen groß. 25.2.1 Spezifische Therapie bei Persönlichkeitsstörungen 5 Bei der dissozialen Persönlichkeitsstörung fehlt noch weitgehend ein psychopharmakologischer Ansatz; das gilt auch für psychotherapeutische Interventionen. 5 Auch für Verhaltensauffälligkeiten bei histrionischen Persönlichkeitsstörungen kann aus den wenigen Fallberichten noch keine pharmakologische Empfehlung abgeleitet werden. 210 Kapitel 25 · Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen 28 5 Für die BPS liegen sowohl Studien zur Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren (dialektisch-behaviorale Therapie, s. oben) als auch Empfehlungen zur symptomatischen medikamentösen Therapie vor, die sich teilweise auch auf kontrollierte Studien stützen (Lieb et al. 2004). 5 Die bei BPS gefundenen wirksamen syndromorientierten Therapiemöglichkeiten lassen sich auch für Patienten mit dieser Symptomatik im Rahmen anderer Persönlichkeitsstörungen nutzen. 5 Für Persönlichkeitsstörungen mit Symptomen, die auch im Rahmen von Achse-I-Störungen auftreten und dabei wirksam behandelt werden können (v. a. depressive Symptome, Angstsymptome, psychosenahe Symptome, Zwangssymptome), lassen sich zumindest Hinweise für die Symptombehandlung bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen gewinnen. Dies trifft insbesondere für schizotypische, paranoide, zwanghafte und selbstunsichere Persönlichkeitsstörungen zu. 29 Affektstörungen (depressive Stimmung, Angst, Wut, Aggression) 21 22 23 24 25 26 27 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 5 Bei affektiven Symptomen (insbesondere depressiven Verstimmungen, Stimmungsschwankungen, Empfindlichkeit gegen Abweisung, Angst, pathologischem Ärger, Wut und Feindseligkeit) werden SSRI und Venlafaxin empfohlen; zu den SSRI liegen Studien vor, die sich bis über 3 Jahre erstrecken. Bei mangelnder Wirksamkeit eines ersten SSRI sollte nach etwa 6 Wochen ein Versuch mit einem zweiten SSRI oder Venlafaxin gemacht werden. Eine Verordnung von Venlafaxin sollte nur dann erfolgen, wenn bei den Patienten kein Suizidrisiko besteht (Cave: Intoxikationsrisiko).Danach als zweite Option kann eine Augmentation mit einem AAP in niedriger Dosis versucht werden. 5 Für die Therapie von aggressiven Affektdurchbrüchen und aggressiven Verhaltensweisen liegen positive Studienergebnisse für Haloperidol vor; allerdings sind AAP (z. B. Risperidon, Quetiapin, Olanzapin) wahrscheinlich in dieser Indikation besser geeignet und trotz fehlender kontrollierter Studien vorzuziehen. 5 Bei Impulsivität, Stimmungsschwankungen und affektiven Symptomen (Aggressivität, Depressivität) können bei zuverlässigen Patienten Lithium, Carbamazepin und Valproinsäure erwogen werden. Für Valproinsäure liegen kleinere kontrollierte Studien vor, die eine Wirksamkeit bei Aggressivität und Irritabilität im Rahmen von BPS belegen. Eine generelle Empfehlung kann jedoch für Stimmungsstabilisierer, v. a. in Anbetracht der möglichen Nebenwirkungen, in dieser Indikation nicht gegeben werden. 5 Bei therapierefraktärer Angst liegen Einzelfallberichte zur Wirksamkeit von Benzodiazepinen (Clonazepam, Alprazolam) vor.Unter Alprazolam wurde aber in Einzelfällen Kontrollverlust berichtet. Störungen der Impulskontrolle, Reizbarkeit und unkontrollierte Wut, impulsive Aggression, impulsive Selbstverletzung 5 Im Rahmen einer BPS werden bei impulsiver Aggression, Wut, Reizbarkeit und selbstverletzendem Verhalten SSRI und Venlafaxin empfohlen. Gewünschte Effekte auf Wut und impulsive Aggression treten oft früher und unabhängig von Wirkungen auf Stimmung oder Angst ein. Auch kann auf Valproinsäure oder ein AAP (Aripiprazol, Risperidon, Quetiapin, Olanzapin, Clozapin) zurückgegriffen werden. Für Lamotrigin liegt eine placebokontrollierte Studie bei Patienten mit BPS vor, die eine überlegene Wirksamkeit zur Reduktion des selbst erlebten Ärgers zeigte. 5 Carbamazepin und Valproinsäure werden bei impulsiver Aggression häufig eingesetzt. Für Valproinsäure liegen kleine kontrollierte Studien zur Wirksamkeit, insbesondere, wenn SSRI unwirksam sind. Auch Lithium war bei dieser Indikation wirksam. 5 Bei impulsiver Aggressivität und schweren Selbstverletzungsimpulsen wurde in Einzelfällen unter Einhaltung der übrigen Kontraindikationen und Kontrollen Clozapin mit Erfolg eingesetzt. Clozapin war Olanzapin überlegen (Krakowski et al. 2006). 5 Für Quetiapin und Risperidon liegen positive Einzelfallberichte bei Patienten mit antisozialer Persönlichkeitsstörung vor 5 Naltrexon war bei Selbstverletzungstendenzen im Rahmen einer BPS erfolgreich. Cave Benzodiazepine sollten auch bei dieser Zielsymptomatik nur in Akutsituationen gegeben werden. Einzelfälle von Kontrollverlusten wurden unter Benzodiazepinen berichtet. Möglicherweise sind in Akutsituationen AAP eine Alternative. 25.3 · Behandlung von Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen … Kognitive Symptome und Wahrnehmungsverzerrungen 5 Zur Behandlung von Beziehungsideen, Illusionen, meist passageren Halluzinationen und Pseudohalluzinationen und paranoiden Ideen sowie der häufig damit verbundenen Hostilität im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen haben sich konventionelle hochpotente Antipsychotika (z. B. Haloperidol, Perphenazin, Flupentixol) in niedriger Dosierung effektiv erwiesen. Allerdings zeigte sich bei längerer Gabe eine geringe Verträglichkeit aufgrund der bekannten Nebenwirkungen (7 Abschn. 7.6). 5 Allerdings sollte trotz fehlender kontrollierter Studien den AAP in möglichst niedriger Dosierung unter Einhaltung der üblichen Kontraindikationen und Kontrolluntersuchungen der Vorzug bei Behandlungsversuchen für diese Zielsymptomatik gegeben werden. 5 Bei dissoziativen Symptomen, insbesondere bei BPS, wird über positive Ergebnisse mit Naltrexon (Dosis meist 25–100 mg/Tag) in Kombination mit Psychotherapie berichtet. Verhaltensstörungen bei Intelligenzminderung 5 Bei aggressivem Verhalten bei Intelligenzminderung kann zunächst Risperidon versucht werden. Andere AAP wurden seither nicht in kontrollierten Studien untersucht. Bei chronisch aggressivem Verhalten ist im zweiten Schritt ein Therapieversuch mit Valproinsäure oder Carbamazepin vorsichtig indiziert. 5 Bei organisch bedingten aggressiven Störungen kann ein Therapieversuch mit β-Rezeptorenblockern auch in höherer Dosierung oder mit Clonidin erfolgreich sein (langsam aufdosieren). 5 Bei Oligophrenien und anderen geistigen Behinderungen tritt nicht selten neben motorischen Stereotypien repetitives selbstverletzendes Verhalten mit z. T. auch mutilierenden Selbstverletzungen auf. In dieser Indikation kann auch Risperidon eingesetzt werden. 5 Bei expansiven und disinhibierten Verhaltensstörungen im Rahmen von Oligophrenien kann ein Versuch mit Valproinsäure oder Antipsychotika (insbesondere Risperidon) empfohlen werden. 5 Keine Empfehlung kann trotz positiver Fallberichte für Naltrexon und Methylphenidat bei geistiger Retardation (IQ <50) und autistischen Symptomen ausgesprochen werden. 211 25 Spezifische Impulskontrollstörungen 5 Bei spezifischen Störungen der Impulskontrolle (pathologisches Spielen, Pyromanie, Kleptomanie, Trichotillomanie) haben sich in Fallserien SSRI in oft höherer Dosierung und über mehrere Monate als hilfreich erwiesen, eine Kombination mit psychotherapeutischen Interventionen ist in jedem Fall zu empfehlen. 5 Auch ein zweiter Versuch mit einem SSRI scheint angeraten, bevor ein AAP, ggf. auch in Kombination versucht werden kann. Fazit Pharmakotherapie und Psychotherapie bei Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen – Bewertung 5 Die medikamentöse Therapie von Persönlichkeitsstörungen ist syndromorientiert. Sie richtet sich daher nach Zielsyndromen. 5 Neben der Psychotherapie kann die medikamentöse Therapie, obwohl nur wenige kontrollierte Studien bekannt sind, eine wertvolle Therapieerweiterung sein. 5 Bei jeder spezifischen Störung muss auf das bis dahin am besten untersuchte wirksame Präparat zurückgegriffen werden (7 Abschn. 25.2). Es bleibt aber ein individueller Behandlungsversuch. 5 Speziell bei der BPS gibt es drei medikamentöse Optionen: – SSRI bei vorherrschender Depressivität, Angst oder Ärger, – AAP besonders bei kognitiven Störungen, – Stimmungsstabilisierer bei vorherrschenden impulsiven Störungen. 25.3 Behandlung von Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter Nach ICD-10 ist die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung vor Abschluss der Pubertät (ungefähr 16 Jahre) wahrscheinlich unangemessen. Vor diesem Lebensalter sollte sie nur dann vergeben werden, wenn die Mindestzahl der geforderten Kriterien erfüllt ist, die spezifischen Verhaltensmuster bereits in der Adoleszenz zeit- und situationsübergreifend auftreten und zur Einschränkung der schulischen, beruflichen und sozialen Leistungsfähigkeit führen. 212 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Kapitel 25 · Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen Eine Ausnahme macht lediglich die antisoziale Persönlichkeitsstörung. Diese Diagnose darf vor dem Alter von 18 Jahren nicht gestellt werden. Die entsprechende Diagnose im Kindes- und Jugendalter ist die Störung des Sozialverhaltens. Die verschiedenen Störungen des Sozialverhaltens sind durch dissoziales, aggressives oder aufsässiges Verhalten (länger als 6 Monate) mit Verletzungen altersentsprechender sozialer Erwartungen gekennzeichnet. Diese Störungen können mit deutlichen Symptomen einer emotionalen Störung, zumeist Depression und/oder Angst, kombiniert sein. Verhaltensstörungen, wie z. B. Störungen des Sozialverhaltens oder ADHS bzw. HKS (7 Abschn. 27.3), gehören zu den häufigsten Störungsbildern im Kindes- und Jugendalter. Häufig liegt eine Kombination beider Störungen (Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens) vor. Therapie der BorderlinePersönlichkeitsstörung Empirische Befunde zur psychotherapeutischen Behandlung der BPS bei Jugendlichen liegen nur vereinzelt vor. Insbesondere fehlen bislang kontrollierte Studien. Die Ergebnisse einer offenen Studie zur DBT mit jugendlichen Patienten sind jedoch viel versprechend in Bezug auf Suizidalität und selbstverletzendem Verhalten (Fleischhaker et al. 2006). Die pharmakologische Behandlung zielt auf einzelne Symptome z. B. Depression, Aggressivität, Impulsivität und Spannungszustände. Eine Vielzahl dieser Symptome spricht auf SSRI an. Eine Verordnung der SSRI sollte nur dann erfolgen, wenn bei den Patienten kein Suizidrisiko besteht. Bei hoher Impulsivität und Aggressivität kann ein Antipsychotikum (z. B. Risperidon) in Erwägung gezogen werden. Risperidon ist für diese Indikation im Kindes- und Jugendalter zugelassen. Benzodiazepine sollten auch bei dieser Zielsymptomatik nur in Akutsituationen gegeben werden. Ähnliches gilt für die symptomorientierte pharmakologische Behandlung anderer Persönlichkeitsstörungen. Liegen zusätzlich Beziehungsideen, Illusionen, Halluzinationen bzw. Pseudohalluzinationen und paranoiden Ideen sowie Hostilität vor, können Antipsychotika verordnet werden. Bei dissoziativen Symptomen kann ein pharmakologischer Behandlungsversuch mit Naltrexon unternommen werden. Therapie spezifischer Impulskontrollstörungen Bei den spezifischen Störungen der Impulskontrolle im Kindes- und Jugendalter gelten die gleichen Empfehlungen wie für das Erwachsenenalter und zwar sollte eine Kombination mit psychotherapeutischen Interventionen und SSRI erfolgen. Therapie von Verhaltensstörungen Therapeutisch haben sich bei Verhaltensstörungen spezielle Elterntrainings und Familienhilfen bewährt. Die Interventionen beim Patienten sollten Problemlösetrainings, z. B. im Sinne von sozialen Kompetenzgruppen, Veränderungen der Peer-Gruppen, Klärung der adäquaten Schulform etc., enthalten. Zur pharmakologischen Behandlungen von Verhaltensauffälligkeiten wie Störungen des Sozialverhaltens ohne zusätzlichem Vorliegen einer ADHS haben sich v.a. Risperidon und Lithium als wirksam erwiesen. Bei Vorliegen einer zusätzlichen ADHS zeigten Psychostimulanzien, Atomoxetin, Clonidin und Risperidon eine Wirksamkeit (Ipser u. Stein 2007; 7 Abschn. 14.2). Risperidon hat eine Zulassung für die Behandlung von Impulskontrollstörungen bei Kindern und Jugendlichen mit selbst- und/oder fremdaggressivem Verhalten. Verhaltensstörungen bei Intelligenzminderung Aggressives Verhalten bei Intelligenzminderung kann mit Risperidon behandelt werden, da eine Zulassung für diese Indikation für das Kindes- und Jugendalter vorliegt. Andere AAP wurden seither nicht in kontrollierten Studien untersucht, sollten aber bei Nichtansprechen oder zu starken Nebenwirkungen versucht werden. Es können auch niederpotente Antipsychotika eingesetzt werden. Auch kann eine Medikation mit Methylphenidat wirksam sein (IQ >50). Als Medikation der zweiten Wahl gelten Lithium, Valproat, Carbamazepin, β-Rezeptorenblocker und Clonidin. 25.4 · Checkliste 25.4 Checkliste ? 1. 2. 3. 4. 5. 6. Bei Persönlichkeitsstörungen liegen häufig komorbide psychiatrische Erkrankungen (Achse-I-Störungen) vor, auf welche Störungen ist besonders zu achten? Was bedeutet die Komorbidität von Persönlichkeitsstörungen und anderen psychiatrischen Erkrankungen für die medikamentöse Behandlungsstrategie? Welche Probleme ergeben sich häufig bei der medikamentösen (Mit)behandlung von Persönlichkeitsstörungen? Wie erfolgt die Auswahl von medikamentösen Behandlungsoptionen bei Persönlichkeitsstörungen? Welche Behandlungsoptionen haben sich bei der Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung bewährt? Wie werden Störungen des Sozialverhaltens bei Kindern und Jugendlichen definiert und welches Medikament ist zur Behandlung dieser Störungsbilder zugelassen? 213 25 26 215 26.1 · Sexuelle Funktionsstörungen 26.1 Erektionsstörungen 26.2 Vermindertes sexuelles Verlangen 26.3 Störungen der sexuellen Erregung bei der Frau 26.4 Ejaculatio praecox und Orgasmusstörungen 26.5 Gesteigertes sexuelles Verlangen und Paraphilie 26.6 Substanzinduzierte sexuelle Funktionsstörungen 26.7 Pharmakotherapie und Psychotherapie bei sexuellen Funktionsstörungen – 218 26.8 Behandlung sexueller Funktionsstörungen im Kindes- und Jugendalter – 219 26.9 Checkliste – 219 – 216 – 217 – 217 – 217 – 217 – 218 216 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Kapitel 26 · Sexuelle Funktionsstörungen Sexuelle Funktionsstörungen sind häufig. Jede 3. Frau und jeder 4. Mann klagen über chronische sexuelle Probleme. Insbesondere sind auch Patienten mit psychiatrischen Störungen, wie Depressions- und Angststörungen, Schizophrenien oder Abhängigkeitserkrankungen davon betroffen. Drei Störungsbereiche stehen im Rahmen der sexuellen Funktionsstörungen im Vordergrund: 5 Erektionsstörungen bzw. Störungen der Lubrikation und der sexuellen Erregung; 5 gestörtes sexuelles Erleben mit Ejakulationsstörungen bzw. Orgasmusstörungen und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr; 5 Libidostörungen mit vermindertem sexuellem Verlangen. Sexuelle Funktionsstörungen erfordern eine interdisziplinäre Diagnostik. Vor Beginn einer Therapie ist der Ausschluss organischer und psychiatrischer Ursachen zwingend. Gefäßerkrankungen, Diabetes mellitus, Hypothyreose und andere endokrine Störungen, neurologische Erkrankungen und andrologische bzw. gynäkologische Beschwerden führen häufig zu sexuellen Funktionsstörungen, genauso wie urologische oder gynäkologische Operationen. Während früher überwiegend psychotherapeutische bzw. sexualtherapeutische Maßnahmen bei sexuellen Funktionsstörungen angewandt wurden, hat die Möglichkeit der medikamentösen Behandlung der Erektionsstörungen mit Phosphodiesterase-Typ5-Inhibitoren (PDE-5-Hemmer) eine Therapiewende eingeleitet. Ein Sexualtherapeut kann sich jetzt bei gestörter Erektion mehr auf die mögliche Partnerproblematik und andere Ursachenaufarbeitungen (z. B. Missbrauchserfahrung) konzentrieren, während parallel die erektile Dysfunktion medikamentös behandelt wird. Im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans werden Verhaltenstherapie, Paartherapie und medikamentöse Maßnahmen mit unterschiedlichen Schwerpunkten eingesetzt. Es werden hier vorrangig die pharmakotherapeutischen Ansätze beschrieben. Wird eine hormonelle Therapie erwogen, ist immer der Urologe bzw. Gynäkologe und ggf. der Endokrinologe einzubeziehen. Auch wenn die neurobiologischen Ursachen immer mehr in den Vordergrund rücken, sind bei der sexuellen Funktionsstörung alle psychobiosozialen Bedingungen, insbesondere die Partnerbeziehung, zu berücksichtigen. Es zeigt sich bei der erfolgreichen Therapie der Erektionsstörungen beispielhaft, wie einerseits Psychotherapie biologische Auswirkungen haben kann, andererseits aber auch die Besserung der Erektionsstörungen durch PDE-5-Hemmer die psy- chischen Beeinträchtigungen bis hin zur Depression verbessert (Müller u. Benkert 2001). Neurobiologie der sexuellen Funktionsstörungen. Neben Störungen des peripheren Nervensystems, das die Erektion steuert, und neuroanatomischen und physiologischen Veränderungen des Penis, kann auch die zentrale Regulation der Erektion gestört sein. Neuropeptide und Steroidhormone spielen dabei eine entscheidende Rolle (Hartmann et al. 2006; 7 Abschn. 12.2.2). Die Bedeutung des Stickstoffmonoxids (NO) wird in Zusammenhang mit den PDE-5Hemmern besprochen (7 Abschn. 12.2.1). Darüber hinaus entstammen viele der heutigen Kenntnisse über die sexuellen Funktionen und deren Aktivierung bzw. Blockade durch spezifische Neurotransmitterrezeptoren der Psychopharmakaforschung. Dopaminagonisten können das sexuelle Verhalten verstärken, Dopaminantagonisten (z. B. Antipsychotika, 7 Kap. 7) können es dämpfen. Einige Antipsychotika können auch über die Erhöhung des Prolaktins einen negativen Einfluss auf das Sexualverhalten haben (7 Kap. 7). Es wird angenommen, dass eine wichtige dopaminerge Regulationzentrale für das sexuelle Verhalten im medialen präoptischen Areal (MPOA) des Hypothalamus liegt. Das serotonerge System übt dagegen einen inhibitorischen Einfluss auf das sexuelle Verhalten aus. Die serotonergen Neurone sind überwiegend in den Raphekernen lokalisiert. Die sexuelle Verhaltenshemmung, insbesondere die Ejakulationshemmung, ist eine Nebenwirkung der selektiven Serotoninrückaufnahmehemmer (SSRI), kann aber andererseits therapeutisch zur Ejakulationsverzögerung genutzt werden. 26.1 Erektionsstörungen Die frühere Unterscheidung in psychogene oder somatogene Ursachen erektiler Dysfunktionen führt oft nicht weiter, denn in den meisten Fällen sind psychologische, somatische und soziale Aspekte an der Störung beteiligt. Es besteht eine deutliche Abhängigkeit vom Alter. Allerdings können auch allein internistische (z. B. Hypertonie, Diabetes mellitus), neurologische (z. B. multiple Sklerose) oder Zustände nach Operationen (z. B. Prostatektomie) die Ursache einer Erektionsstörung sein. 5 Der Therapieschwerpunkt bei den Erektionsstörungen hat sich seit der Einführung von Sildenafil und weiterer selektiver PDE-5-Hemmer auf die orale Medikation verlagert (7 Abschn. 12.2.1). Die 217 26.5 · Gesteigertes sexuelles Verlangen und Paraphilie 5 5 5 5 Erfolgsquote ist hoch (PDE-5-Hemmer >80%, Placebo um 10%). Trotz der medikamentösen Therapieerfolge mit PDE-5-Hemmern ist die psychotherapeutische Führung, wenn möglich immer unter Einbeziehen der Partner, Voraussetzung für eine adäquate und längerfristig erfolgreiche Behandlung. Weitere medikamentöse Ansätze mit Yohimbin sind den PDE-5-Hemmern weit unterlegen. Testosteronsubstitution kann bei nachgewiesenem Hypogonadismus erfolgreich sein. Darüber hinaus ist eine Wirksamkeit von Testosteron bei Erektionsstörungen nicht nachgewiesen worden. Andere Therapieformen, wie intrakavernöse Injektionen, Vakuumpumpen oder Implantation einer Penisprothese, spielen seit Einführung der PDE-5-Hemmer in der Therapie der Erektionsstörungen kaum mehr eine Rolle (sekundäre und tertiäre Therapiestufe, 7 Abschn. 12.1). 26.2 Vermindertes sexuelles Verlangen Eine bewährte Pharmakotherapie bei verringerter Libido steht nicht zur Verfügung. Bei der Therapie sind psychische und endokrine Aspekte (Menopause, Androgendefizit) zu berücksichtigen. Es gibt keine zugelassene pharmakologische Therapie; abhängig von der Diagnostik können verschiedene Interventionen erwogen werden: 5 Beim Mann ist die Wirkung einer Hormonsubstitution fraglich (7 Abschn. 12.2.2). Für Testosteron gibt es positive Befunde nur bei Testosteronmangel, Dehydroepiandrosteron (DHEA) besitzt ein Aktivierungspotenzial. Die Wirksamkeit ist allerdings nicht gesichert. Bei Testosteron und DHEA besteht zusätzlich das Risiko des Zellwachstums in der Prostata. 5 Bei Frauen mit postmenopausaler Libidoverminderung kann ein hormoneller Therapieansatz mit einem synthetischen Steroid wirksam sein. Tibolon (Liviella®), ein synthetisches Steroid mit kombinierter östrogenerger, progesteronerger und androgener Aktivität (gonadomimetisch) wurde bei Libidominderung früher oft verschrieben. (Risiken 7 Abschn. 12.4.2). 5 Niedrig dosierte Testosterongaben bei sexuellen Appetenz- und Erlebensstörungen zeigten bei Frauen zwar positive Effekte (allerdings nicht in allen Studien); das Nebenwirkungsrisiko bleibt aber unklar, sodass die Therapie Frauen mit aus- 26 geprägter Androgendefizienz vorbehalten bleiben sollte. 5 Neben einer möglichen Hormonsubstitution sind psychotherapeutische Maßnahmen zu erwägen (Gromus 2002). 26.3 Störungen der sexuellen Erregung bei der Frau 5 Ein spezifisches Störungsbild wie die Erektionsstörung lässt bei der Frau nicht abgrenzen. Ein Ansatz für eine Pharmakotherapie hat sich nicht ergeben, besonders, da auch die PDE-5-Hemmer nicht den erhofften Erfolg gezeigt haben. Lokal sind östrogenhaltige Salben zur verbesserten Lubrikation wirksam. 26.4 Ejaculatio praecox und Orgasmusstörungen 5 Ejakulationsstörungen sind beim jungen Mann häufig. Früher konnten therapeutische Erfolge allein mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen (z. B. Squeeze-Technik) erreicht werden. Heute kann man die Nebenwirkung Ejakulationverzögerung der SSRI therapeutisch nutzen (7 Abschn. 12.4.4). 5 Eine etablierte pharmakologische Therapie bei Orgasmusstörungen gibt es nicht. 26.5 Gesteigertes sexuelles Verlangen und Paraphilie Gesteigertes sexuelles Verlangen mit Krankheitswert kann bei der Manie, Schizophrenie, Demenz, Oligophrenie und bei Persönlichkeitsstörungen auftreten. Die Therapie pathologisch gesteigerter Libido hat aber auch gerade bei Störungen der sexuellen Orientierung (Paraphilie) einen hohen Stellenwert, um sexuelle Straftaten zu verhindern. Die pharmakologische Behandlung kann zwar den gesteigerten sexuellen Drang dämpfen und Verhaltensänderungen bewirken, aber die Paraphilie nicht heilen. Eine begleitende Sozio- und Psychotherapie ist deshalb unabdingbar. 5 Das Antiandrogen Cyproteronacetat ist zur Behandlung schwerer Hypersexualität und sexueller Deviationen bei Männern zugelassen (7 Abschn. 12.4.5). Weiterhin sind das Gestagen Medroxyprogesteron und LHRH-Agonisten bei Paraphilie wirksam. 218 21 22 23 24 Kapitel 26 · Sexuelle Funktionsstörungen 5 Selektive Serotoninrückaufnahmehemmer (SSRI) können, analog zur Wirkung bei den verwandten obsessiven Erkrankungen, in höheren Dosierungen sowohl eine Verminderung des sexuellen Verlangens bewirken, als auch deviante sexuelle Phantasien und Praktiken bessern. Der Effekt ist aber noch nicht befriedigend evaluiert. 5 Bei schwerer Hypersexualität im Rahmen von manischen oder schizophrenen Erkrankungen werden auch Antipsychotika mit Erfolg eingesetzt. 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 26.6 Substanzinduzierte sexuelle Funktionsstörungen Unter einer großen Zahl von Pharmaka, besonders aber auch Psychopharmaka, kommt es zu sexuellen Funktionsstörungen. Sie sind ein wichtiger Aspekt reduzierter Lebensqualität, besonders unter Antipsychotika und ein häufiger Grund für Non-Compliance. Am häufigsten tritt erektile Dysfunktion auf. 5 Folgende Medikamente und Drogen können besonders häufig eine erektile Dysfunktion hervorrufen: – Psychopharmaka: Antipsychotika, Benzodiazepine, Carbamazepin, Lithium, trizyklische Antidepressiva (TZA), SSRI und Venlafaxin (7 Abschn. 5.11.2). – Andere Pharmaka: ACE-Hemmer, β-Rezeptorenblocker, Cimetidin, Clonidin, Kalziumantagonisten, Kortikosteroide, Methyldopa, Metoclopramid, Reserpin, Spironolacton, Thiazide. – Drogen: Alkohol und Nikotin bei chronischer Einnahme; auch Opiate/Opioide. 5 Ejakulationsverzögerungen können unter SSRI auftreten. Schmerzhafte Ejakulationen sind unter dem Antidepressivum Reboxitin (7 Abschn. 5.11.3) beobachtet worden. 5 Libidosteigerungen sind für Stimulanzien und Kokain beschrieben. 5 Priapismus kommt v. a. unter α-adrenolytischen Substanzen, besonders Antipsychotika, vor. Dass auch andere Mechanismen bei Priapismus involviert sind, demonstrieren Ereignisse unter Sildenafil, SSRI und Antipsychotika ohne α1-blockierende Effekte. Cave Bei anhaltender Erektion von über 4 h muss unverzüglich ein Arzt aufgesucht werden (urologischer Notfall). Therapie bei sexuellen Funktionsstörungen unter Psychopharmaka 5 Die größten Erfahrungen bestehen für erektile Dysfunktionen unter Antidepressiva. Zuwarten und beraten ist bei leichten oder mittelschweren Störungen unter SSRI nur bedingt hilfreich. Dosisreduktion oder »drug holidays« (wenn psychiatrisch vertretbar) ist unter SSRI (nicht Fluoxetin) nur dann eine Option, wenn kein Rückfallrisiko besteht. 5 Bei hartnäckigen Störungen ist ein Wechsel auf ein Antidepressivum mit weniger sexuellen Nebenwirkungen, wie bei Mirtazapin oder Bupropion (7 Kap. 5) zu erwägen. 5 Nach Ausschluss von Kontraindikationen ist weiterhin die Gabe eines PDE-5-Inhibitors bei Erektionsstörungen eine Alternative. Für Sildenafil liegen Studien zum Wirksamkeitsnachweis bei medikamentös induzierter erektiler Dysfunktion vor. Darüber hinaus verbesserten sich parallel zur erektilen Funktion auch die depressive Symptomatik und die Lebens- sowie Partnerschaftsqualität (s. oben, Einleitung). 5 Ein generelles Vorgehen bei Antipsychotikainduzierten sexuellen Störungen ist nicht etabliert, ein individuelles Vorgehen unter Berücksichtigung der psychosozialen Komponenten ist angeraten. Zunächst zuwarten und beraten, dann umsetzen auf ein atypischen Antipsychotikum (das keine Prolaktinerhöhung hervorruft) und schließlich die zusätzliche Gabe eines PDE-5Hemmer sind die Optionen. 26.7 Pharmakotherapie und Psychotherapie bei sexuellen Funktionsstörungen Die Behandlung sexueller Funktionsstörungen bei Männern und Frauen ist eine wichtige ärztliche und psychotherapeutische Aufgabe. Bei Erfolg können komorbide psychische Symptome gebessert und Lebens- und Partnerschaftsqualität gesteigert werden. Die positiven Wirksamkeitsnachweise für PDE-5Hemmer bei der erektilen Dysfunktion sprechen für 219 26.9 · Checkliste eine Pharmakotherapie. Sexuelle Funktionsstörungen sind aber oft nur ein Aspekt einer gestörten Beziehung. Eine psychotherapeutische Begleitung und/oder eine breiter angelegte paarorientierte Psychotherapie sind deshalb sinnvoll (Althof u. Wieder 2004; Levine 2004). Es liegen spezielle sexualtherapeutische Verfahren vor, die gut evaluiert sind (Kockott u. Fahrner 2000). Die Kombinationsbehandlung ist allerdings im Vergleich zu den Monotherapien nicht evaluiert. Bei bekannten organischen Ursachen der Erektionsstörung, gerade auch im höheren Lebensalter (s. oben, Einleitung), und guter Wirksamkeit der PDE-5-Hemmer, kann auch eine alleinige Pharmakotherapie akzeptiert werden. Für die Libido- und Orgasmusstörungen, besonders bei der Frau, gibt es keine etablierte Pharmakotherapie, sodass sexualtherapeutische Maßnahmen im Vordergrund stehen müssen (Gromus 2002). Fazit Pharmakotherapie und Psychotherapie bei sexuellen Funktionsstörungen – Bewertung 5 Bei der Pathogenese und der Therapie der sexuellen Funktionsstörungen sind alle psychobiosozialen Faktoren zu berücksichtigen. Deshalb ist eine begleitende Psychotherapie bei den meisten Patienten sinnvoll. 5 Bei Erektionsstörungen sind PDE-5-Hemmer Mittel der Wahl. 5 Bei vermindertem sexuellem Verlangen kann eine Hormontherapie nur bei nachgewiesenem Hormondefizit empfohlen werden. 5 Für Libido- und Orgasmusstörungen, besonders bei der Frau, steht keine risikoarme Pharmakotherapie zur Verfügung. 26.8 Behandlung sexueller Funktionsstörungen im Kindes- und Jugendalter In der Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es immer wieder Patienten, die ein gesteigertes sexuelles Verlangen und paraphilie Tendenzen zeigen. Ursächlich für diese Störungen sind häufig Erkrankungen, die mit kognitiven Defiziten einhergehen. Zur medikamentösen Behandlung kommen Antidepressiva, AAP (v. a. Risperdon) und ggf. Antiandrogene (z. B. Cyproteronacetat) in Betracht (Geradin u. Thibaut 2004). 26.9 26 Checkliste ? 1. 2. 3. Was ist bei der Diagnostik von sexuellen Funktionsstörungen zu berücksichtigen? Eine große Zahl von Substanzen und Pharmaka kann sexuelle Funktionsstörungen auslösen, welche Rolle spielen Psychopharmaka und Drogen? Wie sind die pharmakologischen Möglichkeiten zur Behandlung von sexuellen Funktionsstörungen bei Frauen einzuschätzen? 221 27.1 · 27 Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen 27.1 Gesamtbehandlungsplan – 222 27.2 Therapie 27.2.1 27.2.2 Psychostimulanzien und andere Medikamente Psychotherapie – 223 27.3 Behandlung von ADHS im Kindes- und Jugendalter 27.4 Checkliste – 222 – 224 – 222 – 223 222 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Kapitel 27 · Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) bzw. hyperkinetischen Störungen sind zusammen mit den Störungen des Sozialverhaltens, die häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (7 Abschn. 27.3). Sie bleiben bei rund 1/3 der Patienten bis ins Erwachsenalter fortbestehen. Die Erkrankung manifestiert sich in der Kindheit vorrangig mit Defiziten in der Aufmerksamkeit sowie mit Hyperaktivität und Impulsivität. Häufig resultieren Komplikationen im Lernverhalten, in verminderter Organisationsleistung und z. T. erheblichen Fehlanpassungen im Sozialverhalten. Diese Leitsymptome finden sich dann im Erwachsenenalter wieder, häufig prägen hier Aufmerksamkeitsdefizite und emotionale Instabilität die Symptomatik. Für hyperkinetische Störungen (HKS), die nach ICD-10 klassifiziert werden, ist zur Diagnosestellung eine Symptomatik aus Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung einerseits und Hyperaktivität und Impulsivität andererseits gefordert, für die ADHS, die nach DSM-IV klassifiziert werden, ist eine Beeinträchtigung in einer dieser beiden Hauptbereiche zur Diagnosestellung ausreichend, weswegen sich auch die Prävalenzzahlen unterscheiden. Es finden sich gehäuft Komorbiditäten: Persönlichkeitsstörungen (v. a. antisoziale Persönlichkeitsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung), Alkohol- und Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit, Angsterkrankungen und affektive Störungen. Neurobiologie. Die wesentlichen pathogenetischen Vorstellungen zu ADHS umfassen sowohl genetische als auch umweltbedingte Ursachen, wobei der genetische Anteil auf 70–90% beziffert wird. Die molekular-genetischen Kopplungs- und Assoziationsstudien konnten vorwiegend dopaminerge und serotonerge Befunde replizieren. Kinder mit ADHS weisen eindeutig höhere Raten an prä-, peri- und postnatalen Komplikationen und psychosozialen Belastungsfaktoren auf. Bildgebende Untersuchungen ergaben, dass bei betroffenen Personen die präsynaptischen DopaminTransporter um etwa 70% erhöht sind. Pharmakologische und elektrophysiologische Befunde stützen die Hypothese, dass auch das noradrenerge Neurotransmittersystem und das posteriore Aufmerksamkeitsnetzwerk an der Pathophysiologie der ADHS wesentlich beteiligt sind und strukturelle und funktionelle Auffälligkeiten im Bereich des präfrontalen Kortex, des anterioren Gyrus cinguli sowie der Basalganglien und ihrer Verbindungen bestehen. In hirnelektrischen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass bei Kindern mit ADHS eine Beeinträchtigung der aufmerksamkeitsabhängigen und zielorientierten Informationsverarbeitungsprozesse besteht. In neuropsychologischen Untersuchungen finden sich oft schlechtere Leistungen in verschiedenen Parametern der exekutiven Funktionen (Remschmidt u. Heiser 2004; Stellungnahme der Bundesärztekammer 2005). 27.1 Gesamtbehandlungsplan Während die Behandlung der ADHS in der Kinderund Jugendpsychiatrie im Sinne einer multimodalen Therapie gut etabliert ist (7 Abschn. 27.3), kristallisiert sich in der Erwachsenenpsychiatrie ein therapeutisches Vorgehen erst langsam heraus. Die Therapie mit Psychostimulanzien wird durch die fehlende Zulassung und den in der Öffentlichkeit überschätzen Risiken einer Abhängigkeitsentwicklung stark eingeengt und die psychologischen Therapien sind noch zu wenig evaluiert. Dennoch empfiehlt es sich schon heute, trotz reduzierter Forschungsbasis, eine medikamentöse Therapie mit verhaltenstherapeutischen Techniken zu kombinieren. 27.2 Therapie 27.2.1 Psychostimulanzien und andere Medikamente 5 Neben dem Psychostimulans Methylphenidat stehen jetzt Atomoxetin zur Therapie bei ADHS zur Verfügung. Beide Substanzen sind im Erwachsenenalter nicht zugelassen und müssen »off-label« verschrieben werden. Erste Hinweise gibt es zur Wirksamkeit von Modafenil (7 Kap. 14). 5 In den letzten Jahren hat man in der medikamentösen Therapie der ADHS auch bei Erwachsenen positive Erfahrungen, besonders mit Psychostimulanzien, gemacht. Bei Erwachsenen haben sich beim Einsatz von Psychostimulanzien Ansprechraten bis zu 78% gezeigt. Die Wirksamkeit erstreckt sich sowohl auf die Kernsymptome Hyperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeitsdefizite als auch auf die komplexen Begleitsymptome wie soziale Defizienzen, schulische Probleme und Kommunikationsstörungen. 5 Bedingt durch eine öffentliche Diskussion besteht Unsicherheit, in welchem Ausmaß eine Behandlung mit Psychostimulanzien einen Risikofaktor für einen späteren Substanzmissbrauch darstellt. Neuere Untersuchungen ergeben jedoch klare 223 27.3 · Behandlung von ADHS im Kindes- und Jugendalter 5 5 5 5 5 Hinweise, dass die Therapie mit Stimulanzien im Kindes- und Jugendalter sogar zu einem erniedrigten Risiko für einen späteren Substanzmissbrauch beitragen kann. Der Einsatz von Psychostimulanzien ist aufgrund seiner hohen Ansprechrate grundsätzlich zu empfehlen, muss jedoch engmaschig kontrolliert werden. Die verpflichtende Aufbewahrung der BtM-Rezepte für den einzelnen Patienten bietet eine gute Kontrollmöglichkeit. Die meisten Erfahrungen liegen in der Erwachsenenbehandlung innerhalb der Gruppe der Psychostimulanzien mit Methylphenidat (7 Abschn. 14.2) vor. Der selektive Noradrenalinrückaufnahmehemmer Atomoxetin (7 Abschn. 14.2) reduziert Impulsivität, Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörung. Ein Abhängigkeitspotenzial besteht nicht. Bei komorbider Suchterkrankung sollte an ein Alternativpräparat (selektiv noradrenerge Antidepressiva wie Nortriptylin, Desipramin, Reboxetin, ggf. auch MAO-Hemmer oder Venlafaxin) gedacht werden (7 Abschn. 14.2). Die Kontrollbedingungen im therapeutischen Setting müssen dann sehr engmaschig sein (regelmäßiges Drogenscreening). Diese Antidepressiva sind eine Alternative zu Methylphenidat. Die Dosierungen liegen in Bereichen der antidepressiven Behandlung, es sollte in jedem Falle zunächst mit einer niedrig bis mittleren Dosierung begonnen werden, um die Ansprechrate zu überprüfen. Modafinil (7 Abschn. 14.2) zeigte in ersten Untersuchungen zur ADHS von Kindern und Erwachsenen eine gute Wirksamkeit, insbesondere bei kognitiven Störungen. Die vorliegenden Daten rechtfertigen den Einsatz dieser Substanz zzt. als Medikament der zweiten Wahl bei ADHS. Therapiedauer: Nach bisheriger klinischer Erfahrung sollte eine erfolgreiche pharmakologische Behandlung über 6–18 Monate fortgeführt werden, bevor ein Reduktions- bzw. Absetzversuch initiiert wird. 27.2.2 Psychotherapie 5 Psychologische Therapien sind bei ADHS noch wenig untersucht. Bei der Anwendung psychotherapeutischer Verfahren wird, ausgehend von den Erfahrungen aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie, empfohlen, störungsspezifisch vorzugehen. 27 5 Die Psychotherapie sollte in der Regel mit einer Pharmakotherapie kombiniert werden, da erfahrungsgemäß einige Symptome (z. B. Aufmerksamkeit, emotionale Instabilität) eher durch die Pharmakotherapie und andere (z. B. Organisationsverhalten, Verhalten in Beziehungen) eher durch die Psychotherapie zugänglich sind. 5 Es liegen bislang nur vorläufige Studien zur Wirksamkeit verhaltenstherapeutischer Maßnahmen im Erwachsenenalter vor. 5 Empfohlen wird eine Variante der Verhaltenstherapie. Sie lehnt sich an die dialektische-behaviorale Therapie (DBT) bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung an. Fazit Psychopharmakotherapie und Psychotherapie bei ADHS – Bewertung 5 Methylphenidat und Atomoxetin sind wirksam, aber bei Erwachsenen nur »off-label« zu verordnen. Risiken und Nebenwirkungen sind streng zu beachten, besonders bei Patienten mit Abhängigkeitsproblemen. 5 Bei Abhängigkeitsproblemen ist die Therapie mit Antidepressiva vorzuziehen. 5 Empfehlenswert ist es, die medikamentöse Therapie mit Verhaltenstherapie zu kombinieren. Evaluiert ist diese Kombination aber nicht. 27.3 Behandlung von ADHS im Kindes- und Jugendalter Die Behandlung der ADHS sollte grundsätzlich multimodal erfolgen und die einzelnen Komponenten sollten individuell für jeden Patienten abgestimmt werden. An erster Stelle steht die Aufklärung und Beratung der Eltern, des Patienten und auch anderer Bezugspersonen (z. B. Lehrer, Erzieher). Es folgen dann, abhängig von Art und Ausmaß der Symptomatik, situativen Einflüssen und Komorbidität, verschiedene Entscheidungsschritte zur Optimierung der Behandlungsstrategie. Medikamentöse Therapie Bei stark ausgeprägter situationsübergreifender hyperkinetischer Symptomatik mit krisenhafter Zuspitzung sollte eine Pharmakotherapie begonnen werden. Hierbei sind Psychostimulanzien (7 Abschn. 14.3.1) auf Grund ihrer erwiesenen Wirksamkeit Medikamente 224 Kapitel 27 · Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen 22 der ersten Wahl. Unter bestimmten Voraussetzungen ist auch Atomoxetin ein Mittel der ersten Wahl. Diese Medikamente sind für Kinder und Jugendliche zugelassen. Auf die medikamentöse Behandlung der Komorbiditäten wird in 7 Abschn. 14.3.1 eingegangen. 23 Psychoedukative, psychosoziale und psychotherapeutische Interventionen 21 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Die Behandlung der ADHS von Kindern und Jugendlichen setzt erzieherische und behandlungsorganisatorische Kooperationen voraus, deswegen ist die Psychoedukation unverzichtbar. Die psychotherapeutischen Ansätze basieren auf verhaltenstherapeutischen Prinzipien. Als hilfreich sind verhaltenstherapeutische Interventionen mit dem Kind und im Kindergarten bzw. in der Schule sowie das Eltern-Training einzustufen. Die Therapie stützt sich vorwiegend auf operante Techniken. Sollte die hyperkinetische Symptomatik weniger stark ausgeprägt sein, empfiehlt sich ein Selbstinstruktionstraining und Neurofeedback. Bei externalisierenden Auffälligkeiten des Kindes in der Schule (ADHS mit Störungen des Sozialverhaltens) sollte eine Aufklärung und Beratung der Lehrer erfolgen sowie eine Intervention in der Schule vorgenommen werden. Sollte dies nicht genügen, empfiehlt sich eine zusätzlich Pharmakotherapie. Bei externalisierenden Auffälligkeiten des Kindes in der Familie können ein Elterntraining und die Intervention in der Familie hilfreich sein. Wenn dies nicht zu einer Verbesserung der Symptomatik führt, ist auch hier eine zusätzliche Pharmakotherapie zu empfehlen. Bei schwierigen Therapieverläufen muss eine komorbide Störung in Betracht gezogen werden, die dann unter anderem durch soziales Kompetenztraining, Übungsbehandlung sowie Einzel- und Gruppenpsychotherapie behandelt werden kann. Multimodale Therapie Aus einer großen pharmakologisch-psychotherapeutischen Kombinationsstudie zu ADHS bei Kindern und Jugendliche ist abzuleiten, dass die Kombination aus Psychostimulanzien mit einer intensiven psychosozialen, verhaltenstherapeutisch-orientierten Intervention aber auch die alleinige ausreichend dosierte und monatlich kontrollierte PsychostimulanzienMedikation signifikant wirksam waren. Die kombinierte Therapie hatte zusätzlich noch eine signifikante Wirksamkeit in Bezug auf die Entwicklung sozialer Fertigkeiten, eine Verbesserung der Symptomatik komorbider Störungen, Eltern-Kind-Beziehungsstörungen und Schulleistungsprobleme, was die alleinige medikamentöse Behandlung nicht hatte. Als weniger wirksam haben sich die alleinige intensive psychosoziale, verhaltenstherapeutisch orientierte Intervention und eine sozialpsychiatrisch-orientierte Therapie erwiesen. In einer weiteren Studie erzielten zusätzliche psychosoziale und psychotherapeutische Maßnahmen neben der differenzierten, individuellen Medikation kein besseres Ergebnis als Medikation mit intensiver Psychoedukation, Begleitung der Familie und Krisenmanagement (Remschmidt u. Heiser 2004; Stellungnahme der Bundesärztekammer 2007). 27.4 Checkliste ? 1. 2. Welche Problematik besteht bei der medikamentösen Therapie des ADHS im Erwachsenenalter? Welche Therapiekomponenten sollten bei ausgeprägter ADHS-Symptomatik im Kindesund Jugendalter zum Einsatz kommen und worin liegt der Vorteil einer Kombinationsbehandlung? 225 28.1 · 28 Abhängigkeitsstörungen 28.1 Suchtmittel – 227 28.1.1 28.1.2 28.1.3 28.1.4 28.1.5 28.1.6 28.1.7 28.1.8 Alkohol – 227 Benzodiazepine – 229 Opiate/Opioide – 230 Kokain und Amphetamin – 231 Ecstasy und Eve – 231 Psychotomimetika (LSD, Meskalin, Psilocybin) Cannabis – 232 Nikotin – 232 28.2 Behandlung der Abhängigkeitsstörungen im Kindes- und Jugendalter – 233 28.3 Checkliste – 234 – 232 226 21 Kapitel 28 · Abhängigkeitsstörungen In diesem Kapitel werden die typischen Abhängigkeitserkrankungen mit Entzugssyndromen und Intoxikationssymptomen mit der entsprechenden Thera- pie beschrieben. Anders als in den übrigen Kapiteln folgt die Gliederung hier den wichtigsten Suchtmitteln. 22 Definition 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 Riskanter Konsum Die Kriterien für Missbrauch oder Abhängigkeit werden nicht erfüllt, die Substanz wird jedoch übermäßig konsumiert. Bei einem riskanten Substanzkonsum besteht ein erhöhtes Risiko zur Entwicklung eines Missbrauchs oder einer Abhängigkeit. Nach Ansicht der WHO und der Deutschen Hauptstelle gegen Suchtgefahren kann von einem riskanten Alkoholkonsum ausgegangen werden, wenn eine Frau täglich >20 g reinen Alkohols, ein Mann täglich >30 g reinen Alkohols konsumiert. Missbrauch/schädlicher Gebrauch Kriterien für Abhängigkeit werden nicht erfüllt. Jedoch besteht Konsum trotz des Wissens um ein ständiges oder wiederholtes soziales, psychisches oder körperliches Problem, das durch den Gebrauch der Substanz verursacht oder verstärkt wird, und/oder um Situationen, in denen ihr Gebrauch eine körperliche Gefährdung darstellt. Abhängigkeit Periodische oder chronische Einnahme einer psychotropen Substanz, durch die der Abhängige und/oder die Gemeinschaft geschädigt werden. Charakteristisch sind übermächtiges Verlangen nach der Substanz mit Kontrollverlust, körperliche Entzugserscheinungen (Entzugssyndrom bei sistierendem Konsum), Toleranzentwicklung (Dosissteigerung oder Wirkungsverlust), Konsum trotz nachweislicher Schädigung. Unterschieden werden: 5 Körperliche Abhängigkeit: Toleranzentwicklung, Kontrollverlust, substanzspezifisches Entzugssyndrom. 5 Psychische Abhängigkeit: ständiges, zwanghaftes Beschäftigtsein mit dem Drogenkonsum bzw. der Sicherung der Versorgung mit der Droge; hohes Rückfallrisiko nach durchgeführtem Entzug. Polytoxikomanie Wiederholter abhängiger Konsum verschiedener psychotroper Substanzen aus wenigstens 3 Substanzkategorien über einen Zeitraum von 6 Monaten, ohne dass eine einzelne psychotrope Substanz dominiert. Sind die diagnostischen Kriterien für eine oder mehrere Substanzabhängigkeiten erfüllt, so sind aufgrund der spezifischen therapeutischen Implikationen diese (z. B. Alkoholabhängigkeit oder Opiatabhängigkeit) anstelle der Polytoxikomanie zu verwenden. 33 34 Therapiephasen bei Abhängigkeit und Sucht Es können folgende Phasen unterschieden werden: 35 36 37 38 39 40 Definition Motivation Beratung und Motivation zur Durchführung weitergehender Therapiemaßnahmen, wie z. B. einer Entgiftungs- und Entwöhnungsbehandlung steht im Vordergrund. Es ist eine primär hausärztliche Tätigkeit im Rahmen mehrerer Kurzinterventionen. Entgiftung Symptomatische und protektive medikamentöse Behandlung des (körperlichen) Entzugssyndroms bis zu dessen Beendigung. Unter qualifizierter Entgiftung versteht man die zusätzliche Anwendung psychotherapeutischer, insbesondere motivationsfördernder Maßnahmen. Die Entgiftungsbehandlung wird im Regelfall unter stationären Bedingungen durchgeführt. Für Patienten, die absprachefähig sind, kein Entzugskrampfanfall oder Delir in der Vorgeschichte haben und keine relevanten Alkoholfolgeerkrankungen bestehen, kommt auch eine ambulante Entgiftungsbehandlung in Frage. 6 227 28.1 · Suchtmittel Entwöhnung Psycho- und soziotherapeutische sowie rehabilitative Maßnahmen zur Behandlung insbesondere der psychischen Abhängigkeit (z. B. stationäre oder ambulante Kurz- oder Langzeittherapie mit unterschiedlichem Behandlungsansatz, v. a. verhaltenstherapeutische Interventionsstrategien) sind in der Entwöhnungsphase entscheidend. Unterstützend kann eine medikamentöse Rückfallprophylaxe bzw. Substitution eingesetzt werden . Tab. 11.1). Nachsorge In dieser Phase soll die stufenweise soziale und berufliche Wiedereingliederung und Neustrukturierung des sozialen Umfelds erfolgen. Die Teilnahme an Selbsthilfegruppen ist erwünscht. Neurobiologie der Abhängigkeitsstörungen. Sub- stanzen, die abhängiges Verhalten induzieren, können die Dopaminfreisetzung im Nucleus accumbens des Striatums stimulieren. Allerdings führt eine direkte Blockade des Dopaminsystems durch Antipsychotika nicht zum Therapieziel, weil damit auch andere wichtige Verhaltensweisen, wie z.B. Sexualität, blockiert werden. Alkohol und andere Drogen führen durch komplexe Lernmechanismen zur Toleranzentwicklung (Abschwächung der Drogenwirkung) und Sensitivierung (verstärkte Wirkung) bei neuerlicher Exposition. In engem Zusammenhang mit dem dopamingeren System steht das opioiderge System (Heinz u. Kinast 2008) 28 – – fremd- oder eigengefährdendes Verhalten, seltener Angst oder depressive Stimmung; Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen, Desorientiertheit, Bewusstseinsstörungen; Stand- und Gangunsicherheit: Nystagmus, Ataxie, Dysarthrie, Schwindel. Therapie. Bei Fremd- oder Selbstgefährdung oder Erregungszustände wird Haloperidol (7 Kap. 7; 7 Kap. 34) eingesetzt. Leichte und mittelschwere Alkoholintoxikationen stellen in der Regel keine Indikation für eine pharmakotherapeutische Intervention dar. Cave 28.1 Suchtmittel Im Anschluss an die Darstellung der Abhängigkeitserkrankungen folgt jeweils die Therapie mit den entsprechenden Schwerpunkten. Der Einsatz von Benzodiazepinen bei Alkoholintoxikationen ist wegen synergistischer Effekte am GABAA-Rezeptorkomplex kontraindiziert. Alkoholentzugssyndrom 28.1.1 Alkohol Alkohol hat einen komplexen physiologischen Effekt und hat sowohl eine stimulierende als auch sedierende Wirkung. Alkohol entfaltet eine Vielzahl von Wirkungen im ZNS, besonders am dopaminergen und opioiden System, am GABAA-Benzodiazepinrezeptorkomplex, 5-HT3-Rezeptor (stimulatorisch) und NMDA-Rezeptorkomplex (inhibitorisch). Alkoholintoxikation 5 Bei akuter Alkoholintoxikation können bei schwerer Ausprägung folgende Symptome auftreten: – Enthemmung, Rededrang, Euphorisierung, bei schwerer Intoxikation auch aggressives 5 Bei unkompliziertem Alkoholentzugssyndrom kann es u. a. zu Blutdruckerhöhung, Tachykardie, Tremor, Ängsten, psychomotorischer Unruhe, Übelkeit, Erbrechen und Diarrhö kommen. 5 In schweren Fällen entwickelt sich ein Alkoholentzugsdelir (Delirium tremens, s. unten) oder ein Grand-mal-Entzugskrampfanfall, in seltenen Fällen eines Status epilepticus. Therapie. Der Einsatz einer medikamentösen Therapie ist dringend indiziert. Im deutschsprachigen Raum ist bei stationärer Behandlung Clomethiazol (7 Abschn. 11.2.3) Mittel der ersten Wahl. Ambulant werden Tiaprid oder Carbamazepin verordnet. 228 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 Kapitel 28 · Abhängigkeitsstörungen Cave Clomethiazol ist nicht für die ambulante Anwendung geeignet, da es selbst zu einer Abhängigkeitsentwicklung führt. Eine gleichwertige Alternative zu Clomethiazol sind Benzodiazepine (7 Abschn. 11.2.3) Alkoholentzugsdelir (Delirium tremens) 5 Das Alkoholentzugsdelir kann sich als eine akute organische Psychose primär oder aus einem Entzugssyndrom heraus entwickeln. Klinisch ist das Alkoholentzugsdelir u. a. mit einer tief greifenden Orientierungsstörung, psychomotorischer Unruhe, Auffassungsstörungen, Wahrnehmungsstörungen, optischen Halluzinationen und einer Umkehr des Tag/Nacht-Rhythmus erkennbar. Unbehandelt endet es in einem Drittel der Fälle letal. Therapie. Das Delirium tremens darf nur stationär behandelt werden. Clomethiazol, ggf. in Kombination mit einem Antipsychotikum, ist das Mittel der Wahl. Alkoholfolgekrankheiten 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Alkoholhalluzinose 5 Es treten akustische Halluzinationen mit dialogisierenden und beschimpfenden Stimmen, Angst und Verfolgungswahn auf. Es werden bevorzugt Antipsychotika, z. B. Haloperidol (5–10 mg/Tag) verordnet. Eifersuchtswahn 5 Wahnhafte Überzeugungen, vom Geschlechtspartner betrogen zu werden bestimmen das Krankheitsbild, das fast ausschließlich bei Männern vorkommt. Antipsychotika sind indiziert. Der alkoholbedingte Eifersuchtswahn spricht aber schlechter als der Wahn bei schizophrenen Störungen auf eine antipsychotische Behandlung an. Wernicke-Korsakow-Syndrom 5 Verwirrtheit bis zur Desorientierung, Vigilanzschwankungen, Augenmuskelparesen, Ataxie (Wernicke-Enzephalopathie) bzw. Desorientiertheit, amnestische Störungen und Konfabulationen (Korsakow-Syndrom) prägen das Krankheitsbild. Es wird hoch dosiert Vitamin B1 gegeben. Hepatische Enzephalopathie 5 Es kommt zu einem deliranten Syndrom unterschiedlicher Schwere mit Bewusstseinsstörungen bis hin zu Stupor und Koma. Weitere Symptome sind: erhöhte Serumammoniakspiegel, psychomotorische Unruhe (auch stuporöse Zustandsbilder), »flapping tremor« der ausgestreckten Hände. Bei schwerer Ausprägung ist eine Intensivüberwachung notwendig. Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit Therapieprinzipien und Gesamtbehandlungsplan 5 Voraussetzung für die Vermeidung von Alkoholrückfällen ist die Berücksichtigung neurobiologischer und psychosozialer Faktoren. Die Behandlung alkoholabhängiger Patienten sollte im Rahmen eines individuellen Gesamtbehandlungsplanes erfolgen. Dieser schließt pharmakologische, psychotherapeutische und sozialpsychiatrische Methoden ein. Gemeinsam mit dem Patienten wird ein konkret formuliertes Behandlungsziel erarbeitet. 5 Hauptziel in der Behandlung alkoholabhängiger Patienten ist das Erreichen der Abstinenz, das aber bei Bestehen eines hohen Schweregrades zugunsten eher erreichbarer Ziele, z. B. Verhinderung von Folgeschäden, aufgeweicht werden kann. Schon die Verlängerung der Abstinenzphasen kann dann zunächst ein Therapieziel sein. Wichtig 5 Die Entgiftung ist i. Allg. stationär als qualifizierter Entzug mit psychoedukativen Maßnahmen und Motivationsförderung vorzunehmen. 5 Die Entwöhnungstherapie findet in anderen Ländern überwiegend ambulant, in Deutschland noch überwiegend stationär über 2–3 Monate statt. Weniger als 3% der Alkoholabhängigen unterzog sich im Jahr 2002 einer stationären Langzeitentwöhnung, weniger als 1% beendete ein vom Rentenversicherungsträger finanziertes strukturiertes ambulantes Entwöhnungsangebot. 5 Hilfreich ist eine Orientierung am Stufenmodell der Veränderung, nach welcher der Betroffene einen Kreislauf von Vorahnungsphase (Motivationsarbeit), Entscheidungsphase (Planung der Behandlung/Entgiftung), Handlungsphase (Entgiftung), Abstinenzerhaltungsphase (Rückfallpro- 229 28.1 · Suchtmittel phylaxe) und möglicherweise Abstinenzbeendigungsphase (Rückfall und erneute Motivationsarbeit) durchläuft. 5 Motivationale Therapie, kognitiv-behaviorale Therapie, Vorgehen nach dem 12-Schritte-Modell der anonymen Alkoholiker stellen erfolgreiche psychotherapeutische Interventionen in der Behandlung alkoholabhängiger Patienten dar. Die Kombination dieser Techniken wird unter dem Begriff der alkoholismusspezifischen Psychotherapie (ASP) zusammengefasst. Insbesondere die motivationale Therapie ist für die Anwendung im klinisch-psychiatrischen wie auch hausärztlichen Alltag geeignet; für alle Techniken stehen praxisnahe Manuale zur Verfügung. 5 Die aktive Teilnahme an Selbsthilfegruppen (z. B. Anonyme Alkoholiker mit einem strukturierten 12-Stufen-Programm) ist für viele Patienten in der Nachsorgephase zur Abstinenzerhaltung hilfreich. Eine aus einem 12-Stufen-Programm abgeleitete Gruppentherapie wurde in einer großen amerikanischen Studie zu psychotherapeutischen Behandlungsverfahren bei Alkoholabhängigkeit (»Projekt Match«) in seiner Wirksamkeit bestätigt. 5 In den letzten 10 Jahren hat die medikamentöse Rückfallprophylaxe zunehmend ihre Wirksamkeit erwiesen. Sie muss mit den anderen suchttherapeutischen Hilfen in einen Gesamtbehandlungsplan eingebunden werden. Definition 5 Craving (unstillbares zwanghaftes Verlangen nach Alkohol) wird als Zeichen der psychischen Abhängigkeit mit erhöhter Auftrittswahrscheinlichkeit von Rückfällen angesehen. Pharmakotherapie der Rückfallprophylaxe Nur 10% der Patienten erhalten zur Rückfallprophylaxe die richtige Therapie. Eine Pharmakotherapie ist immer dann indiziert, wenn es bereits zu mehreren Rückfällen kam. Es sind in den letzen Jahren mehrere Optionen entwickelt worden: 5 Acamprosat (7 Abschn. 11.2.4) ist das Mittel der ersten Wahl. Es zeigt in Kombination mit kognitiver Verhaltenstherapie eine bessere Wirksamkeit als die Medikation allein. 5 Naltrexon (7 Abschn. 11.2.4) ist in Europa zur Alkoholrückfallprophylaxe noch nicht zugelassen, wurde aber bereits positiv bewertet. 28 5 Disulfiram (7 Abschn. 11.2.4) war früher das einzige Medikament, das zur Rückfallprophylaxe zur Verfügung stand. Wegen potenziell lebensbedrohlicher Komplikationen bei Trinkzwischenfällen stellt es jedoch keine Standardtherapie dar. Komorbidität bei Alkoholabhängigkeit 5 Bei der Alkoholabhängigkeit besteht eine erhöhte Komorbidität mit anderen psychiatrischen Erkrankungen, besonders der Depression und Angststörungen. Mehr als 30% aller alkoholabhängigen Patienten leiden an einer behandlungsbedürftigen Depression; mehr als 10% aller alkoholabhängigen Patienten suizidieren sich. Eine Antidepressivatherapie bei komorbiden Depressions- oder Angststörungen senkt die Rückfallhäufigkeit. Ein großer Anteil von Alkoholabhängigen ist nikotinabhängig; auch diese Behandlung unterstützt die Alkoholabstinenzerhaltung. Fazit Pharmakotherapie und Psychotherapie der Alkoholkrankheiten und der Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit – Bewertung 5 Bei Erregungszuständen durch Alkoholintoxikationen ist Haloperidol am risikoärmsten einzusetzen. 5 Beim Alkoholentzugssyndrom und dem Delirium tremens ist Clomethiazol das Mittel der Wahl. 5 Clomethiazol darf, besonders wegen eigener Abhängigkeitsentwicklung, nicht ambulant verordnet werden; es darf nicht länger als 2 Wochen gegeben werden. 5 Die Rückfallprophylaxe muss zwingend in einem Gesamtbehandlungsplan eingebunden werden. Psychotherapeutische Modelle, Selbsthilfegruppen und Pharmakotherapie sind zu integrieren. Eine Priorität einer Behandlungsform stellt sich hier (wie etwa bei den Angststörungen oder der Depression) nicht, da alle therapeutischen Möglichkeiten so intensiv wie möglich ausgeschöpft werden müssen. Die hohe Komorbidität bei Alkoholabhängigkeit ist zu berücksichtigen. 5 Acamprosat ist zzt. das wichtigste Mittel zur Rückfallprophylaxe. Für Naltrexon gibt es positive Studien. 28.1.2 Benzodiazepine Wenn Benzodiazepine länger oder in zu hohen Dosen eingenommen werden (zumeist ≥1 Jahr) erhöht sich 230 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 Kapitel 28 · Abhängigkeitsstörungen das Abhängigkeitsrisiko. Problematik und entsprechende Therapie werden in 7 Abschn. 8.6.1 dargestellt. 5 Darüber hinaus kann es zu Intoxikationen unter hohen Dosen oder Mischintoxikationen mit anderen sedierenden Substanzen (z. B. Alkohol, Opiate) kommen. 5 Symptome sind vor allem: Apathie, Bewusstseinstrübung, neurologische Symptome, gelegentlich Doppelbilder, Hypotension, Ateminsuffizienz, Schwindelzustände, Übelkeit und Kopfschmerzen. 5 Therapeutisch steht dann eine primäre Detoxifikation im Vordergrund. Als Antidot kann in besonderen Fällen die Gabe von Flumazenil durch Intensivmediziner erwogen werden. 28.1.3 Opiate/Opioide Zur Substanzgruppe der Opiate gehören Morphin und seine synthetischen und halbsynthetischen Derivate. Wichtigster Vertreter ist das Heroin. Opiate binden an spezifische Rezeptoren. 5 Den Opiaten gemeinsam sind euphorisierende, tranquilisierende und analgetische Wirkungen sowie eine Dämpfung des Atem- und Hustenzentrums, Obstipation und ausgeprägte periphere parasympathomimetische Eigenschaften wie z. B. Miosis. 5 Durch Opiate kommt es zu einer starken physischen und psychischen Abhängigkeit. Opiatintoxikation Intoxikationserscheinungen sind wegen des oft bestehenden zusätzlichen Substanzkonsums besonders gefährlich. Bei anfänglicher Euphorie kommt es zur vegetativen Dysregulation. Vigilanzstörungen können zu Somnolenz und Koma führen. Hinweisendes Symptom ist Miosis. 36 Therapie. Als Antidot wird Naloxon (Narcanti®) i.v. 37 gegeben. Bei zu schneller bzw. hoch dosierter Gabe von Naloxon können Opiatentzugssymptome mit Erregungszuständen auftreten. 38 Opiatentzugssyndrom und Entgiftungsbehandlung 39 5 Die wichtigsten Symptome des Opiatentzugssyndroms sind: – Verlangen nach einem Opiat – Rhinorrhö oder Niesen – Tränenfluss – Muskelschmerzen oder -krämpfe 40 – Abdominelle Spasmen, Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö – Pupillenerweiterung – Tachykardie oder Hypertonie – Gähnen und unruhiger Schlaf 5 Die Entzugssymptome treten 6–8 Stunden nach der letzen Opiateinnahme auf, zeigen ihren Gipfel nach 2–3 Tagen und klingen nach ca. 5– 10 Tagen wieder ab. 5 In der Regel kommt es zwar subjektiv zu massiven Beeinträchtigungen durch Entzugssymptome, aber objektiv meist nicht zu vital bedrohlichen Symptomen (im Gegensatz zum Delirium tremens). Therapie. Bei Entgiftungsbehandlung kommen opiat/opioidgestützte und nichtopiat-/nichtopioidgestützte Therapieverfahren zum Einsatz. Die Auswahl des Therapieverfahrens sollte im Hinblick auf den Gesamttherapieplan des Patienten (z. B. opiatfreie Langzeitentwöhnung, Substitution, Krisenintervention etc.) und den subjektiven Präferenzen des Patienten erfolgen. Für die erfolgreiche Durchführung eines Opiatentzugs sollte ein entsprechend geschultes Behandlungsteam vorhanden sein; verbindliche Verhaltensregeln, z. B. in Form einer schriftlichen Therapievereinbarung, sollten festgelegt werden, um häufigen Behandlungsproblemen (Beikonsum, Drogenhandel etc.) zu begegnen. 5 Die opiatgestützte Entgiftungsbehandlung wird mit dem Opiatagonisten Methadon, Levomethadon oder dem Opiatagonisten Buprenorphin durchgeführt (7 Abschn. 11.2.6). 5 Für die nichtopiatgestützte Entgiftung steht Clonidin zur Verfügung (7 Abschn. 11.2.6). Substitutionsbehandlung bei Opiatabhängigkeit Die Aufrechterhaltung der Therapieteilnahme der Patienten, die Verbesserung des Gesundheitszustandes und eine Verhinderung weiterer Folgeschäden stellen die wichtigsten unmittelbaren Ziele in der Behandlung opiatabhängiger Patienten dar. Diese Therapieziele lassen sich insbesondere für die Mehrzahl der schwerer betroffenen, noch nicht ausreichend stabilisierten Patienten am ehesten mit einer Substitutionsbehandlung erreichen. 5 Zur Substitutionsbehandlung werden die langwirksamen Opiatagonisten Methadon, Levomethadon oder der kombinierte Opiatrezeptoragonist/-antagonist Buprenorphin zusammen mit psychosozialen Begleittherapien eingesetzt. Eine Opiatsubstitution verbessert die Therapietreue 231 28.1 · Suchtmittel der Patienten und vermindert den Beikonsum von Heroin und anderen Drogen. Weitere Vorteile sind die Ermöglichung einer sozialen Reintegration, die Distanzierung von der Szene sowie eine Eindämmung der Beschaffungskriminalität und ein Wegfall des Infektionsrisikos. 5 Bei Erfolg der Substitutionsbehandlung kann die Einleitung einer »Take-home-Vergabe« bedacht werden. 28 Therapie. Zur Aufrechterhaltung der Opiatabstinenz kann der Opiatantagonist Naltrexon (. Tab. 11.1) eingesetzt werden. Problematisch sind die hohen Abbruch- und Rückfallquoten während der Behandlung. Alternative Behandlungsmöglichkeiten, z. B. die Einleitung oder Wiederaufnahme einer Substitutionsbehandlung sind bei instabilen Patienten zu prüfen. 28.1.4 Kokain und Amphetamin Wichtig Die Vergabe muss im Rahmen eines Gesamtbehandlungskonzepts stehen. Die Substitutionsbehandlung sollte daher durch eine entsprechend qualifizierte Einrichtung (Schwerpunktpraxis, Gesundheitsamt, Ambulanz) erfolgen, in welcher das Substitutionsmittel unter Aufsicht eingenommen wird. 5 In einer großen deutschen Untersuchung in mehreren Städten wird derzeit die Sicherheit und Effektivität einer ärztlich kontrollierten Heroinvergabe bei Schwerstabhängigen untersucht, die Veröffentlichung der Studienergebnisse liegt noch nicht vor, erste vorab über das BMG veröffentlichte Analysen sprechen für die Wirksamkeit und Sicherheit des Verfahrens. Entwöhnungsbehandlung und Rückfallprophylaxe der Opiatabhängigkeit Das Ziel dieses Behandlungsabschnittes ist die »Entwöhnung«. Sie ist aber für eine Mehrzahl der Patienten aufgrund der Schwere oder Dauer der Störung sowie erheblicher psychosozialer und medizinischer Komplikationen erst längerfristig erreichbar. Die Durchführung einer Entwöhnungsbehandlung sollte für ausreichend motivierte, psychisch stabile opiatabhängige Patienten erwogen werden. Sie wird in der Regel unter stationären Bedingungen in einer entsprechenden Fachklinik über einen Zeitraum von 8–52 Wochen durchgeführt. Während der Behandlung wird häufig ein Prinzip der therapeutischen Gemeinschaft mit definierten sozialen Grundregeln (Ersatzfamilie, Nachreifung) mit verschiedenen psychoedukativen, verhaltenstherapeutischen und rehabilitativen Maßnahmen angestrebt (z. B. Arbeitstherapie, berufliche und soziale Reintegration). Die Einleitung einer Entwöhnungsbehandlung erfolgt in der Regel über eine Drogenberatungsstelle und setzt den erfolgreichen Abschluss einer Opiatentgiftungsbehandlung (s. oben) voraus. Diese Psychostimulanzien hemmen die neuronale Wiederaufnahme von Dopamin, Noradrenalin und Serotonin. Damit tritt eine vermehrte Neurotransmission in mesolimbischen und mesokortikalen Projektionen des dopaminergen Systems (sog. Rewardsystem) auf. 5 Initial kommt es zu einer Stimulation mit euphorischen Zuständen, Aktivitätssteigerung, erhöhter Aufmerksamkeit, vermindertem Schlafbedürfnis und subjektiv erhöhter Leistungsfähigkeit. 5 Beim Kokainentzugssyndrom treten die Zeichen der verminderten katecholaminergen Transmission mit depressiver Verstimmung, Erschöpfung, Angst- und Erregungszuständen auf. Die Symptome können bei Kokainabhängigkeit mehrere Wochen anhalten. Die Therapie ist nur symptomatisch. Bei Angst- und Erregungszuständen im Rahmen eines Entzugs können Benzodiazepine eingesetzt werden. Therapie. Bislang existiert kein ausreichend untersuchter pharmakologischer Therapieansatz zur Behandlung einer Abhängigkeit von Kokain oder Psychostimulanzien. 28.1.5 Ecstasy und Eve Ecstasy (MDMA, 3,4-Methylendioxymetamphetamin) und Eve (MDA, 3,4-Methylendioxyamphetamin) sind synthetische (sog. Designer-) Drogen. Es wird keine physische, aber möglicherweise eine psychische Abhängigkeit induziert. 5 Die Wirkung entsteht durch Freisetzung von Serotonin aus präsynaptischen Vesikeln bei gleichzeitiger Serotoninrückaufnahmehemmung und Ausschüttung von Dopamin. 5 Bei chronischer Anwendung zeigen sich neurotoxische Effekte mit degenerativen Veränderungen serotonerger Neuronen u. a. im Neokortex und im Hippocampus. 232 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Kapitel 28 · Abhängigkeitsstörungen 5 Psychotrope Akuteffekte sind zentrale Stimulation und Euphorie. Typisch sind erhöhte Kontaktbereitschaft und Empathiegefühle, verminderte Ich-Abgrenzung sowie erhöhte Emotionalität. Im Gegensatz zu Halluzinogenen sind halluzinatorische Effekte seltener, Wahrnehmungsverschärfungen häufiger. 5 Später können auftreten: Schlaf- und Appetitminderung, Konzentrationsstörungen, Gereiztheit sowie Erschöpfungszustände; danach auch Depressionen Angstattacken, paranoide Syndrome und Depersonalisationssyndrome. Therapie. Bei akut auftretenden Angst- und Erregungszuständen sollten Benzodiazepine verordnet werden. Eine spezifische Pharmakotherapie der Abhängigkeit ist bislang nicht bekannt. 28.1.6 Psychotomimetika (LSD, Meskalin, Psilocybin) Die Substanzen dieser Gruppe charakterisiert eine vorwiegend zentralserotonerge Wirksamkeit durch einen partiellen Agonismus an Serotoninrezeptoren. 5 Bereits in sehr geringen Dosen kommt es zur Manifestation psychotischer Phänomene: Störungen von Stimmung, Denken, Wahrnehmung, Ich-Erleben, Zeit- und Raumerleben, rauschartigen Bewusstseinsveränderungen sowie insbesondere optischen und akustischen Illusionen bzw. Halluzinationen, wobei für die Ausgestaltung des Rauschzustandes neben Art, Dosis und Applikation die Umgebungsfaktoren (»Setting«) bedeutsam sind. 5 Es resultiert eine schnelle Toleranzentwicklung (bei Kreuztoleranz gegen verwandte serotonerge Substanzen) mit rascher Rückbildung bei Absetzen; physische und psychische Abhängigkeit sind selten. 5 Gefährlich sind Horrortrips mit suizidalen bzw. fremdaggressiven Impulsen sowie Flashback-Psychosen (noch nach Monaten). Therapie. Eine spezifische Pharmakotherapie der Abhängigkeit ist bislang nicht bekannt. Für die Behandlung von Flashbackpsychosen bestehen ebenfalls keine einheitlichen Leitlinien; positive Berichte existieren u. a. für Benzodiazepine, Clonidin und Naltrexon. 28.1.7 Cannabis Cannabis ist der wichtigste psychoaktive Bestandteil von Haschisch und Marihuana (Gewinnung aus indischem Hanf; Haschisch: Harz der Pflanze, Marihuana: getrocknete Blätter und Blüten). 5 Als psychotroper Akuteffekt zeigt sich dosisabhängig eine anregende bzw. dämpfende Wirkung mit Zunahme der Dämpfung bei höheren Dosen. Verzerrung von Sinneseindrücken, Euphorie, Entspannung und verändertes Zeitgefühl sind typisch, gefolgt von Sedierung. In höheren Dosen treten auch Halluzinationen auf. Horrortrips bzw. Flashback-Psychosen sind beschrieben. 5 Die Substanz besitzt ein Abhängigkeitspotenzial; es tritt eine Toleranzentwicklung ein. 5 Bis zu 25% der regelmäßigen Cannabisnutzer berichten über unangenehme psychische Nebenwirkungen. Langzeitmissbrauch kann zu schweren Persönlichkeitsveränderungen (amotivationales Syndrom mit Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Apathie, Desorganisiertheit) führen, die bei Abstinenz über mehrere Wochen reversibel sein können. Auch die Berichte über psychotische Symptome von Cannabiskonsumenten häufen sich. Einige große Studien zeigten eine positive Korrelation zwischen der konsumierten Menge an Cannabis und dem Auftreten von psychotischen Symptomen bzw. schizophrenen Störungen (Hall 2006). Therapie. Eine spezifische Pharmakotherapie ist bislang nicht bekannt. Die Einmalgabe des Cannabinoid1-Rezeptorantagonisten Rimonabant konnte in einer ersten offenen Studie akute euphorisierende Cannabis-Effekte aufheben. Zur rückfallprophylaktischen Wirksamkeit dieser Substanz liegen noch keine Daten vor. Rimonabant ist zur Therapie der Adipositas zugelassen (7 Abschn. 23.4). 28.1.8 Nikotin Nikotin besitzt eine dosisabhängige Wirkung auf nikotinische Azetylcholinrezeptoren (in niedrigen Dosen als Agonist, in höheren Dosen als Antagonist). Die Wirkungen entfalten sich sowohl über den Sympathikus als auch den Parasympathikus. 5 Es tritt eine charakteristische biphasische Wirkung mit initialer Stimulation sowie Dämpfung in höheren Dosen mit psychischer und physischer Abhängigkeit mit Toleranzentwicklung auf. 28.2 · Behandlung der Abhängigkeitsstörungen im Kindes- und Jugendalter 5 Bei Intoxikation kommt es zu Tachykardie, Blutdrucksteigerung, peripherer Vasokonstriktion (in sehr hohen Dosen auch Bradykardie und Hypotonie) und v. a. zu Beginn zu Übelkeit und Erbrechen. Sehr hohe Dosen können zu Atemdepression führen. 5 Bei Entzugssyndromen ist die Ausprägung sehr unterschiedlich: Reizbarkeit, Nervosität, Ruhelosigkeit, Konzentrationsstörungen, Benommenheit, Müdigkeit, Schwächegefühl, Dysphorie, depressive Verstimmungen, Schlafstörungen, Angstzustände, Kopfschmerzen, Obstipation, Übelkeit und Erbrechen, Appetitsteigerung und Gewichtszunahme (u. U. für mehrere Wochen). Nikotinersatzstoffe (7 Abschn. 11.2.11) sind, bei schrittweisem Ausschleichen, therapeutisch hilfreich. 5 Entwöhnungstherapie: Neben verhaltenstherapeutischen Maßnahmen (als Selbsthilfeintervention in Einzel- oder Gruppentherapie) gibt es bei der Raucherentwöhnung eindeutige Wirksamkeitsnachweise für die verschiedenen Nikotinersatzstoffe und Bupropion (7 Abschn. 11.2.11). Die Kombinationsbehandlung von Nikotinpflastern und Bupropion wies in einer großen placebokontrollierten Studie einen additiven Effekt auf. 5 Mit dem Cannabinoid-1-(CB1-)Rezeptorantagonisten Rimonabant (Acomplia®) (7 Abschn. 13.2; noch nicht zugelassen) und dem partiellen Agonisten am nikotinergen Acetylcholinrezeptor Vareniclin (Champix®) (7 Abschn. 11.2.11; zugelassen) stehen in Zukunft zwei zusätzliche Therapieoptionen zur Verfügung. 233 28 Prävention Vorwiegend wird bei Kindern und Jugendlichen versucht, aufklärende und präventive Maßnahmen einzusetzen. Randomisierte und kontrollierte Studien wurden zur Prävention von Nikotin-, Alkohol und Cannabiskonsum durchgeführt und konnten positive Effekte nachweisen. Dabei waren vor allem soziale Kompetenztrainings und schulbasierte Programme wirksam. Motivation und Therapie Gerade bei Abhängigkeitserkrankungen im Kindesund Jugendalter hängt der therapeutische Erfolg von der Motivation des Patienten und den psychosozialen Belastungsfaktoren ab. Die häufigsten Indikationen für Entgiftungen und Entwöhnungen in der Kinderund Jugendpsychiatrie stellen Alkohol- und Cannabisabhängigkeiten dar. Führend bei der Behandlung sind psychosoziale und psychotherapeutische Interventionen. Es konnte nachgewiesen werden, dass es durch KVT-Gruppenprogramme, Selbsthilfegruppen und Familientherapien zu einer Reduktion des Substanzkonsums bei Jugendlichen kam. Medikamentöse Therapien sind bei Überdosierungen und bei starken Entzugssymptomen notwendig und die Empfehlungen entsprechen dann denen im Erwachsenenalter. Erfahrungen mit den Anticraving-Substanzen zur Behandlung von Suchterkrankungen liegen für das Kindes- und Jugendalter nicht vor. Die Wirksamkeit einer Methadontherapie bei opiatabhängigen Kindern und Jugendlichen ist noch nicht endgültig geklärt (Gilvarry 2000). ADHS, Sucht und Psychostimulanzien 28.2 Behandlung der Abhängigkeitsstörungen im Kindes- und Jugendalter Im Kindes- und Jugendalter beginnen viele Suchterkrankungen und bis zum Alter von 18 Jahren haben über 50% der Jugendlichen suchterzeugende Substanzen eingenommen mit z. T. erheblichen psychosozialen Folgen. Häufig bestehen Komorbiditäten wie Angststörungen, affektive Störungen, Psychosen, ADHS oder Persönlichkeitsstörungen. Ob eine Entgiftung und Entwöhnung erfolgreich ist, hängt häufig von den ersten Erfahrungen damit ab. Kinder mit einer ADHS, die nicht mit Psychostimulanzien behandelt werden, haben ein größeres Risiko eine Suchterkrankung zu entwickeln, als Kinder mit ADHS ohne Psychostimulanzientherapie (Selbstmedikation). Ein großes Problem stellt allerdings der Schwarzmarkt für Psychostimulanzien (z. B. Schulhof) dar. Durch die Gabe von Retardpräparaten, wobei nur eine einmalige morgendliche Einnahme nötig ist, lässt sich das Problem vermindern (Greenhill 2006). 234 Kapitel 28 · Abhängigkeitsstörungen 28.3 Checkliste 21 ? 22 23 24 1. 2. 3. 25 4. 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Warum soll Clomethiazol, das Mittel der ersten Wahl zur Alkoholentgiftung, nicht ambulant verabreicht werden? Welche Medikamente zur Substitutionstherapie bei Opiatabhängigkeit kennen Sie? Was sind die häufigsten Indikationen für Entgiftungen und Entwöhnungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und welche therapeutischen Maßnahmen sind indiziert? Warum haben Kinder und Jugendliche mit einer ADHS, die nicht mit Psychostimulanzien behandelt werden, ein größeres Risiko eine Suchterkrankung zu entwickeln als Kinder mit ADHS ohne Psychostimulanzientherapie? 235 29.1 · Bipolare affektive Störungen 29.1 Gesamtbehandlungsplan – 237 29.2 Therapie 29.2.1 29.2.2 29.2.3 Manische Episode – 238 Bipolare affektive Störung – 238 Psychotherapie bei bipolaren affektiven Störungen 29.3 Behandlung der Bipolaren Störung im Kindes- und Jugendalter – 241 29.4 Checkliste – 237 – 241 – 240 29 236 21 22 23 24 25 26 27 28 29 Kapitel 29 · Bipolare affektive Störungen Patienten mit bipolarer Störung sind etwa die Hälfte des Jahres nicht symptomfrei. Dabei überwiegen die depressiven Episoden die manischen um den Faktor 3 (Kupka et al. 2005). Bei der bipoaren Störung besteht ein hohes Lebenszeitrisiko von 10–20% an einem Suizid zu sterben (Goodwin u. Jamison 1990). Die Psychopharmakotherapie der bipolaren Störungen ist deshalb so schwierig, weil sich im Krankheitsverlauf fünf verschiedene Symptomkonstellationen einstellen können, die jeweils sorgfältig voneinander abgegrenzt werden müssen. Schließlich ist die Phasenprophylaxe von diesen Syndromen zu trennen, dies sowohl für die bipolare affektive Störung als auch für die schizoaffektive Psychose. Deshalb muss mehr als bei jeder anderen psychischen Störung schon bei der Behandlung der einzelnen Episode der langfristige Verlauf und dessen besondere polare Natur berücksichtigt werden. Denn es ist möglich, dass die unsachgemäße Behandlung der akut bestehenden Episode (7 Abschn. 29.2.2) den langfristigen Verlauf der Störung ungünstig beeinflussen kann. Jedes Syndrom erfordert eine spezielle Pharmakotherapie. Besonders schwierig wird die Therapie dadurch, dass es für die einzelnen Therapien jeweils Alternativen gibt, die zzt. noch evaluiert werden. Bei Patienten mit häufigem Symptomwechsel subsyndromaler Ausprägung ist ebenfalls an eine bipolare Störung zu denken. Neurobiologie der bipolar affektiven Störung. Spe- zielle Untersuchungen, die für die Psychopharmakotherapie von Bedeutung sind, sind bei den einzelnen Syndromen nicht bekannt. Neurobiologisch, über die Genetik hinaus, sind zzt. auch keine Unterschiede zwischen einer unipolaren (7 Kap. 15) und einer bipolaren Depression evident. Bei der Manie wird aufgrund der guten Wirksamkeit von Antipsychotika, wie u. a. bei der Schizophrenie, auch eine Neurotransmitterdysbalance mit einem hyperaktiven dopaminergem System postuliert. 30 Definition 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Syndrome bei der bipolaren affektiven Störung Die Manie (Syn.: manische Episode) ist durch situationsinadäquat gehobene Stimmung, Erregung, Hyperaktivität, Rededrang (laut, theatralisch) und Größenideen gekennzeichnet. Ein manischer Patient kommt Tage lang ohne Schlaf aus. Es kann eine euphorische Manie von einer gereizten Manie abgegrenzt werden. Bei schweren Ausprägungsformen können Wahn und Halluzinationen hinzutreten (Manie mit psychotischen Symptomen). In der ICD-10 wird die manische Episode von der bipolaren affektiven Störung abgegrenzt, wenn es sich um eine einzelne manische Episode handelt. Die Hypomanie stellt eine leichtere Ausprägungsform der Manie dar. Wahn und Halluzinationen werden nicht beobachtet. Eine bipolare affektive Störung ist durch mindestens zwei affektive Episoden mit mindestens einer Hypomanie oder Manie charakterisiert (ICD-10). DSM-IV grenzt von der bipolaren Störung Typ I – bei der mindestens eine manische Episode diagnostiziert worden sein muss – die bipolare Störung vom Typ II ab, bei der neben depressiven nur hypomanische Episoden vorkommen dürfen. Die bipolare Depression (Synonym in der ICD-10: bipolare affektive Störung, depressive Episode) ist phänomenologisch nicht von der unipolaren Depression zu unterscheiden. Treten Wahn oder Halluzinationen hinzu, liegt eine Depression mit psychotischen Merkmalen vor. Werden depressive und manische Symptome gleichzeitig bzw. in raschem Wechsel beobachtet, wird von einer gemischten Episode gesprochen. Rapid Cycling ist durch mindestens 4 Episoden in einem Zeitraum von 12 Monaten gekennzeichnet. Eine Differenzierung zwischen Akutbehandlung und Phasenprophylaxe, wie bei den anderen Syndromen, erfolgt beim Rapid Cycling nicht. 237 29.2 · Therapie 29.1 Gesamtbehandlungsplan 5 Ähnlich wie bei der Therapie unipolarer Depressionen sollte auch die Pharmakotherapie bipolarer affektiver Störungen in einen Gesamtbehandlungsplan eingebettet sein. Entsprechend der Behandlungsphase ist folgende Gewichtung der Therapieschwerpunkte sinnvoll: – In der Akutphase wird – v. a. bei manischen Syndromen mit geringer oder fehlender Krankheitseinsicht – die Pharmakotherapie im Vordergrund stehen. – Im weiteren Behandlungsverlauf – Erhaltungstherapie und Phasenprophylaxe – nehmen psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen an Bedeutung zu. 5 Bei bipolaren affektiven Störungen ist die möglichst frühzeitige Vermittlung eines Krankheitskonzeptes von großer Bedeutung. Dabei erscheinen die folgenden Aspekte wichtig: – Dem Patienten sollte vermittelt werden, dass er an einer Störung leidet, bei der die Behandlung der aktuellen Episode ganz wesentlich den weiteren Krankheitsverlauf bestimmen kann. – Er muss darauf hingewiesen werden, dass die Behandlung mit einem trizyklischen Antidepressivum (TZA) das Risiko in sich birgt, eine Manie oder sogar ein Rapid Cycling zu induzieren; selektive Serotoninrückaufnahmehemmer (SSRI) haben ein geringeres Risiko, eine Manie oder Hypomanie zu induzieren. Der Patient sollte darüber aufgeklärt werden, dass es nach heutigem Kenntnisstand langfristig günstiger sein kann, bei leichter Depression auf ein Antidepressivum zunächst zu verzichten, auch wenn der akute Behandlungsverlauf u. U. verlängert wird. Bei leichter Depression können eine Verhaltenstherapie und die Gabe eines Stimmungsstabilisierers ausreichend sein. Patienten mit schweren manischen Syndromen sind in vielen Fällen nicht einwilligungsfähig bzw. müssen manchmal auch ohne ihr Einverständnis behandelt werden. Bei Patienten mit einer Manie ist eine unzureichende Compliance häufig der Grund für ein Nichtansprechen. 29 Wichtig Das Hauptelement der akuten Therapie der bipolaren affektiven Störung ist die Behandlung mit Psychopharmaka. Die sehr enge Zusammenarbeit mit einem Psychiater, der auf diesem Gebiet große Erfahrung hat, ist anzuraten. Deshalb sollte am Ende einer jeden Erstexploration einer affektiven Störung abgesichert sein, ob 5 Hinweise für eine bipolare affektive Störung (auch früher) vorliegen und 5 Hinweise auf psychotische Symptome (auch anamnestisch) bestehen. 29.2 Therapie Die Bewertung der Therapie ist gleichzeitig als Zusammenfassung vieler Einzeluntersuchungen zu verstehen. Wenn Psychotherapie eine Option darstellt, wird sie erwähnt. Es werden 4 Psychopharmakagruppen differenziert gewichtet: 5 Lithium (7 Kap. 6) 5 Antiepileptika (Carbamazepin, Lamotrigin, Valproinsäure) (7 Kap. 6) 5 Atypische Antipsychotika (AAP); unter ihnen sind Quetiapin und Olanzapin besonders intensiv untersucht (7 Kap. 7) 5 Antidepressiva (7 Kap. 5) Eine Monotherapie mit Benzodiazepinen ist nicht indiziert. Bei manischen Episoden können zu Beginn der Erkrankung sehr hohe Dosen, z. B. Lorazepam bis 20 mg tgl. als adjuvante Therapie oft sehr hilfreich sein (Cave: nicht in Kombination mit Olanzapin) (Indikation für Anxiolytika; vgl. . Tab. 8.2). Die primäre Behandlungsaufgabe liegt in einer Besserung der momentanen Krankheitsphase – besonders auch der Vermeidung eines Suizidrisikos – , einer Reduktion der Episodenhäufigkeit und einer Stabilisierung der Stimmung und der Lebensqualität zwischen den Episoden. 238 Kapitel 29 · Bipolare affektive Störungen 29.2.1 Manische Episode 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 Fazit Pharmakotherapie bei der manischen Episode – Bewertung 5 Eine klassische (euphorische) Manie kann mit Lithium, Valproinsäure oder mit einem AAP behandelt werden. Vorteile der AAP sind die im Vergleich zu Lithium bessere Handhabbarkeit, der schnellere Wirkungseintritt und die im Allgemeinen bessere Verträglichkeit. 5 Bei gereizten Manien oder bei Manien im Rahmen eines Rapid Cycling sollte einem AAP der Vorzug gegeben werden. Alternativ kann Valproinsäure erwogen werden. 5 Bei schweren manischen Syndromen, insbesondere mit psychotischen Symptomen, muss oft auf eine Kombinationstherapie zurückgegriffen werden. Am besten evaluiert sind Kombinationen von Valproinsäure mit einem AAP (zugelassen: Olanzapin, Quetiapin, Risperidon) oder Lithium zusammen mit einem AAP. Mehrere Studien belegen, dass diese Kombinationen wirksamer sind als Valproinsäure, Lithium oder ein AAP allein. 5 Carbamazepin kann nur im Einzelfall eine Alternative zu Lithium oder Valproinsäure sein. 32 33 34 35 29.2.2 Manische Episode im Rahmen einer bipolaren affektiven Störung 5 Die Behandlung der manischen Episode im Rahmen einer bipolaren affektiven Störung folgt den Prinzipien der Behandlung der einzelnen manischen Episode (7 Abschn. 29.2.1). Bipolare Depression (ICD-10: bipolare affektive Störung, depressive Episode) 37 5 Die Behandlung der depressiven Episode im Rahmen einer bipolaren affektiven Störung gehört zu den schwierigsten Aufgaben in der Pharmakopsychiatrie. Erst durch die sorgfältige Abgrenzung dieser Störung von der unipolaren Depression wurde die Sonderstellung evident. 5 Bei der bipolaren Depression sind alle Risiken wie bei der unipolaren Depression zu beachten (7 Kap. 15). Die Suizidgefährdung ist in der Regel höher. 39 40 Der Einsatz von Antidepressiva bei der bipolaren Depression ist vorsichtig abzuwägen und das unterschiedliche Risiko der einzelnen Substanzen bei der Therapieentscheidung zu berücksichtigen. Es ist relativ gut belegt, dass eine antidepressive Pharmakotherapie mit TZA bei Patienten mit einer bipolaren affektiven Störung nicht nur das Risiko, eine Manie oder Hypomanie zu induzieren, erhöht, sondern auch zu einer Zunahme der Phasenfrequenz bis hin zum Rapid Cycling führen kann (»cycling acceleration«). Das Risiko, ein Umkippen in die Manie (»switch«) zu induzieren, ist bei den neueren Antidepressiva (z. B. SSRI) geringer. Neuere Studien zeigen für die Behandlung mit SSRI kein erhöhtes Risiko für ein Umkippen in eine Manie (Gijsman et al. 2004; Bauer et al. 2005). Venlafaxin erhöht das Risiko (im Vergleich zu Sertralin und Bupropion), besonders bei 4 oder mehr Episoden im letzten Jahr (Gijsman et al. 2004; Post et al. 2006). Entscheidet man sich für die Gabe von Antidepressiva auch längerfristig (bei der mittelschweren oder schweren bipolaren Depression), sollte dies unter dem Schutz eines Stimmungsstabilisierers erfolgen. Dabei wird in den USA die Kombination AAP und SSRI (dort Olanzapin und Fluoxetin) favorisiert (Bowden 2005). Bipolare affektive Störung 36 38 Wichtig Fazit Pharmakotherapie und Psychotherapie bei bipolarer Depression – Bewertung 5 Leichte depressive Episoden sollten mit Verhaltenstherapie und Lithium, einem Antikonvulsivum oder einem AAP (Quetiapin oder Olanzapin) als Stimmungsstabilisierer behandelt werden, um das Risiko der Entstehung einer Manie oder eines Rapid Cycling gering zu halten. Die Pharmakotherapie (meist schon als längerfristige Rezidivprophylaxe ausgewählt) wird aufgrund der Schwere früherer Episoden (s. unten) individuell sorgfältig abgewogen. 5 Bei mittelschweren und schweren depressiven Syndromen, insbesondere mit Suizidalität, kann nicht auf die Gabe eines Antidepressivums verzichtet werden. Dann sind SSRI indiziert; TZA sind zu meiden. Es ist jedoch unklar, wann die antidepressive Therapie beendet werden soll, um das Risiko zu minimieren, eine Manie oder ein Rapid Cycling zu induzieren. 239 29.2 · Therapie 5 Die Behandlungsstrategie der bipolaren Depression mit Antidepressiva bleibt unsicher wird auch weiterhin kontrovers diskutiert und bedarf dringend weiterer Erforschung. Gemischte Episode bei bipolarer affektiver Störung Fazit Pharmakotherapie der gemischten Episode bei bipolarer affektiver Störung – Bewertung 5 Die vorhandenen wenigen Daten sprechen für eine Wirksamkeit von Valproinsäure und AAP (zugelassen Ziprasidon). 29 Fazit Phasenprophylaxe bei bipolarer affektiver Störung – Bewertung 5 Valproinsäure ist bei häufigeren Vorphasen, Lithium bei wenigen Vorphasen zu bevorzugen. 5 Olanzapin und Quetiapin haben einen phasenphrophylaktischen Effekt. Möglicherweise haben die anderen AAP den gleichen Effekt. 5 Lithium und Olanzapin sind gleich wirksam, wenn depressive Episoden verhütet werden sollen. Vorteile von Olanzapin sind die bessere Handhabbarkeit und der schnellere Wirkungseintritt. 5 Lamotrigin ist für die Prophylaxe depressiver Syndrome im Rahmen einer bipolaren Störung wirksam und zugelassen. Cave Phasenprophylaxe bei bipolarer affektiver Störung 5 In Anlehnung an die bei der unipolaren Depression gebräuchliche Terminologie (7 Kap. 15) kann auch bei bipolaren affektiven Störungen nach der Akutphase eine Phase der Erhaltungstherapie (zur Verhinderung eines Rückfalles derselben Episode) von einer Phasenprophylaxe (zur Vermeidung eines Rezidivs der Erkrankung) abgegrenzt werden. 5 Beim Absetzen einer Pharmakotherapie unmittelbar nach Abklingen der akuten Krankheitssymptome ist das Rückfallrisiko erhöht. Umgekehrt sinkt mit der Dauer der Beschwerdefreiheit nach Abklingen der akuten Krankheitssymptome das Rückfallrisiko. 5 Nach einer Episode einer bipolaren affektiven Störung sollte eine mindestens 12-monatige Erhaltungstherapie durchgeführt werden. Für den Start einer Phasenprophylaxe gibt es zzt. folgende Übereinstimmung: 5 Schon nach einer ersten manischen Episode muss eine langfristige Phasenprophylaxe erwogen werden. 5 Eine langfristige Phasenprophylaxe wird nach einer zweiten Krankheitsepisode in den meisten Fällen unumgänglich sein. Zur Definition des notwendigen Zeitabstands zur ersten Phase gibt es allerdings zu wenige Daten. 5 Nach Absetzen einer Lithiumprophylaxe ist das Rückfallrisiko wahrscheinlich höher als im naturalistischen Verlauf; mit jeder Phase nimmt möglicherweise die Phasenhäufigkeit weiter zu und kann in ein Rapid Cycling einmünden. 5 Wenn eine Lithiumprophylaxe doch abgesetzt wird, sollte dies, wenn irgend möglich, langsam über viele Monate erfolgen. 5 Nach Absetzen von Lithium geht, wenn es im Rahmen einer erneuten Episode einer bipolaren affektiven Störung wieder angesetzt wird, möglicherweise seine Effektivität verloren. Rapid Cycling Nach neueren epidemiologischen Untersuchungen soll ein Rapid cycling bei bis zu 25% aller Patienten mit einer bipolaren affektiven Störung vorkommen. Oft ist v. a. zu Behandlungsbeginn ein Rapid Cycling mit schnellen Stimmungswechseln schwer abzugrenzen von einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ, wenn bei dieser affektive Labilität im Vordergrund steht. 240 Kapitel 29 · Bipolare affektive Störungen 29.2.3 21 22 23 24 25 26 Fazit Pharmakotherapie bei Rapid Cycling – Bewertung 5 Ein Rapid Cycling kann meist nur durch eine Kombinationstherapie erfolgreich behandelt werden. Die besten Hinweise für eine Wirksamkeit liegen derzeit für Olanzapin und, am meisten abgesichert, für Quetiapin vor, eingeschränkt auch für Valproinsäure. 5 Haben die depressiven Episoden die Behandlungspriorität, sollte zunächst Lamotrigin gewählt werden. Auch Lamotrigin kann entweder mit Olanzapin oder mit Quetiapin kombiniert werden. 5 Stehen manische Phasen im Vordergrund sind Valproinsäure und die AAP vorzuziehen. 5 Auf Antidepressiva sollte verzichtet werden. 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Phasenprophylaxe bei schizoaffektiver Störung Die Behandlung des akuten schizomanischen und schizodepressiven Syndroms wird entsprechend der ICD-10-Klassifikation unter den schizophrenen Störungen im 7 Kap. 30 abgehandelt. Hier wird die Phasenprophylaxe besprochen, zu der es allerdings nur sehr wenige Studien mit kleinen Fallzahlen gibt. Fazit Phasenprophylaxe der schizoaffektiven Störung – Bewertung 5 Bisher gibt es kaum eine Absicherung der häufig geübten Praxis, prophylaktisch eine Kombination von Antidepressiva mit Antipsychotika zu geben. 5 Lithium und Carbamazepin haben wahrscheinlich einen phasenprophylaktischen Effekt bei der schizoaffektiven Störung; Carbamazepin hat jedoch Vorteile bei rein schizodepressiven Verläufen und bei im Vordergrund stehender psychotischer Symptomatik 5 Lithium hat bei der schizoaffektiven Störung wahrscheinlich eine geringere Wirksamkeit als bei der bipolaren affektiven Störung. Psychotherapie bei bipolaren affektiven Störungen Psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen haben bei bipolaren Störungen stützenden Charakter. Die Psychoedukation spielt besonders für die Compliance in der Phasenprophylaxe eine entscheidende Rolle (Vieta 2004). Die Bedeutung der psychotherapeutischen Behandlungsverfahren – auch im Vergleich zur Pharmakotherapie – kann gegenwärtig nur sehr zurückhaltend bewertet werden, weil in den Kontrollgruppen die Patientenzahlen sehr klein sind. Zusätzlich erschweren die heterogenen Episoden und unterschiedlichen Phasenhäufigkeiten die Studienauswertung (de Jong-Meyer et al. 2007). Zu den folgenden Verfahren liegen Erfahrungen vor: 5 Kognitive Verhaltenstherapie: Die KVT, sowohl einzeln als auch in Gruppen, erhöht die Medikamentencompliance. Ob auch die Lebensqualität und soziale Funktionen der Patienten verbessert sowie depressive Symptome und Rückfallraten reduziert werden, ist noch offen und wird kontrovers diskutiert (Scott et al. 2006; Lam 2006). KVT scheint dann indiziert, wenn die Erkrankung früh beginnt und noch wenige Episoden aufgetreten sind. 5 Familienzentrierte Therapie: Hier stehen Aufklärung über die Erkrankung sowie Vermittlung von kommunikativen und sozialen Fertigkeiten im Vordergrund. In einer ersten kontrollierten Studie über 9 Monate konnten die Rückfallraten in der mit familienzentrierter Therapie behandelten Patientengruppe gesenkt werden. 5 Interpersonelle und Sozialrhythmus-Therapie: Dieses Verfahren entstand aus der interpersonellen Therapie, die primär für die unipolare Depression entwickelt wurde. Die Prinzipien der interpersonellen Psychotherapie wurden um verhaltenstherapeutische Komponenten erweitert, die zum Ziel haben, zirkadiane und Schlaf-WachRhythmen zu stabilisieren, zwischenmenschliche Probleme zu mindern und die Medikamentencompliance zu erhöhen. Erste Befunde zeigen allerdings, dass IPSRT (»interpersonal and social rhythm therapy«) einer intensiven, regelmäßigen klinischen Betreuung mit Psychoedukation nicht überlegen ist (Frank et al. 2005). 241 29.4 · Checkliste Fazit Psychotherapie bei bipolaren affektiven Störungen – Bewertung 5 Psychoedukation (z. B. Medikamentencompliance, Schlafregulation, Selbstbeobachtung von Stimmung und Aktivitäten, Verhalten gegenüber Drogen und Alkohol, Stressbewältigung) sollte neben der Pharmakotherapie bei der bipolaren affektiven Störung gezielt in der Akuttherapie und Phasenprophylaxe eingesetzt werden. 5 Leichte depressive Episoden sollten mit Verhaltenstherapie und einem Stimmungsstabilisierer behandelt werden. 5 Grundsätzlich wird zzt. davon ausgegangen, dass bei allen Formen der bipolaren affektiven Störung zusätzliche psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen neben der Pharmakotherapie wertvoll sind. 29.3 Behandlung der Bipolaren Störung im Kindes- und Jugendalter Bipolare Störungen werden oft erst in der späten Adoleszenz diagnostiziert, da das Symptomspektrum im Kindesalter sehr viel unspezifischer ist und häufig durch wiederkehrende Zyklen von Dysphorie, Hypomanie und Agitiertheit gekennzeichnet ist. Häufig treten komorbid Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), Störungen des Sozialverhaltens, Angststörungen und Suchterkrankungen auf. Gerade bei Kindern beginnt die Erkrankung häufig mit einer Aufmerksamkeitsstörung. Therapie 5 Die manische Episode wird wie im Erwachsenenalter behandelt. 5 Das Hauptelement der akuten Therapie der bipolaren affektiven Störung ist auch im Kindes- und Jugendalter die Behandlung mit Psychopharmaka. Die Quintessenz der Studien zu bipolaren Störungen im Kindes- und Jugendalter (7 Abschn. 6.12) ist: Stimmungsstabilisierer haben generell eine geringe Effektstärke bei der Behandlung bipolarer Störungen im Kindesund Jugendalter und nur etwa 40% der Patienten profitieren von einer Monotherapie. Kombiniert man allerdings die Stimmungsstabilisierer, z. B. Lithium mit Valproinsäure oder Lithium mit aty- 29 pischen Antipsychotika, wird das Ergebnis deutlich besser (Kowatch et al. 2005). 5 Erst nach der medikamentösen Einstellung sind die Kinder und Jugendlichen meist aufnahmebereit für das Erlernen neuer Verfahren. Jetzt können Psychoedukation, Übungen zur Verbesserung der Kommunikation und zum Erlernen von Problemlösungsstrategien in Bezug auf das Umgehen mit den Symptomen der Krankheit sowie Übungen zur Emotionsregulierung und Impulskontrolle eingesetzt werden. Die therapeutischen Techniken hierfür basieren auf familiären und kognitiv-behavioralen Interventionen (Kowatch et al. 2005). 5 Durch eine familiäre Psychoedukation bei Kindern mit affektiven Störungen konnte nach einer 6-monatigen Nachuntersuchung im Vergleich zu Familien, die keine Psychoedukation erhalten hatten, ein besseres Wissen der Eltern über die affektiven Störungen ihrer Kinder, eine verbesserte familiäre Interaktion bzw. Unterstützung des Kindes und eine verbesserte Ausnutzung angemessener Hilfen für die Familien erzielt werden (Fristad et al. 2003). 29.4 Checkliste ? 1. 2. 3. 4. 5. 6. Welche Symptomkonstellationen bei der bipolaren affektiven Störung kennen Sie? Was versteht man unter Rapid Cycling? Welches Risiko besteht bei der Verabreichung von Antidepressiva insbesondere von TZA zur Behandlung einer Depression im Rahmen einer bipolaren affektiven Störung? Unter welchen Konstellationen kann bei einer Depression im Rahmen einer bipolaren affektiven Störung nicht auf die Gabe eines Antidepressivums verzichtet werden? Welche Antidepressiva sollten gewählt werden? Von welchen nicht-medikamentösen Therapieformen profitieren Kinder- und Jugendliche mit bipolaren Störungen? 243 30.1 · 30 Schizophrenie 30.1 Gesamtbehandlungsplan 30.2 Therapie – 245 – 245 30.2.1 30.2.2 30.2.3 30.2.4 30.2.5 30.2.6 30.2.7 30.2.8 Akutphase/Positivsymptomatik – 245 Negativsymptomatik – 246 Depressive Symptomatik – 247 Kognitive Störungen – 247 Katatone Symptomatik – 247 Komorbide psychiatrische Störungen bei Schizophrenie – 247 Schizoaffektive Störungen – 248 Schwere Depression mit psychotischen Symptomen (»wahnhafte Depression«) – 249 30.2.9 Schizotype Störungen, wahnhafte Störungen, induzierte wahnhafte Störungen – 249 30.2.10 Akute vorübergehende psychotische Störungen – 249 30.2.11 Langzeittherapie, ungenügende Response und Therapieresistenz – 249 30.2.12 Psychotherapie und psychosoziale Interventionen bei Schizophrenie – 251 30.3 Behandlung der Schizophrenie im Kindes- und Jugendalter – 253 30.4 Checkliste – 254 244 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Kapitel 30 · Schizophrenie Das komplexe Bild der Schizophrenien wird nach ICD-10 in verschiedene kategoriale Unterformen und Verlaufsbilder unterteilt. Gleichwohl orientiert sich die Therapie primär an Zielsyndromen. Bei den Unterformen treten in wechselnder Prägnanz Positivund Negativsymptomatik in den Vordergrund. Definition Die ICD-10 nennt folgende Subtypen der Schizophrenie: 5 Paranoide Schizophrenie. Es ist der häufigste Subtyp; im Vordergrund stehen Positivsymptome. 5 Hebephrene Schizophrenie. Affektive Veränderungen prägen das Krankheitsbild (meist flacher, inadäquater Affekt, Manierismen, flüchtige Halluzinationen, inkonsistenter Wahn, ungeordnetes Denken). Typisch sind ein früher Beginn und eine schnelle Entwicklung von Negativsymptomen, besonders mit Affektverflachung, Antriebsverlust und desorganisiertem Verhalten. 5 Katatone Schizophrenie. Sie wird geprägt durch psychomotorische Störungen mit Erregung, Stupor, Negativismus, Mutismus, Bewegungsstereotypien und Haltungsverharren. Vorübergehende isolierte katatone Symptome können bei jeder anderen Schizophrenieunterform und auch bei hirnorganischen sowie affektiven Störungen auftreten. 5 Undifferenzierte Schizophrenie. Es ist ein Subtyp, bei dem Positiv- und Negativsymptome weniger prägnant hervortreten. Eine Zuordnung zu einer anderen Unterform ist nicht möglich. 5 Schizophrenia simplex. Primäre Negativsymptomatik und kognitive Defizite entwickeln sich progredient. 5 Postschizophrene Depression. Eine depressive Episode tritt im Anschluss an eine schizophrene Erkrankung auf. Positiv- und Negativsymptome sind noch vorhanden, beherrschen aber nicht das Krankheitsbild. 5 Schizophrenes Residuum. In diesem chronischen Stadium stehen die anhaltenden Negativsymptome im Vordergrund. Im Verlauf schizophrener Störungen können bis zur klinischen Erstmanifestation zwei Vorstadien unterschieden werden, die in Umrissen schon Kraepelin 1919 als Vorläufersymptome beschrieben hatte, die dem Ausbruch psychotischer Symptome Monate oder Jahre vorausgehen: 5 Unspezifisches Vorstadium (früh): motorische, soziale, affektive und kognitive Auffälligkeiten bereits in Kindheit und Jugend (häufig retrospektive Interpretation). 5 Prodromalstadium mit erhöhtem Risiko für den Übergang in eine schizophrene Störung (spät): Es treten Hochrisikokonstellationen mit kurzen vorübergehenden psychotischen Symptomepisoden (»brief limited intermittend psychotic symptoms«, BLIPS) mit kurz anhaltenden Positivsymptomen und spontaner Remission auf (ausführlich 7 Abschn. 30.2.2). Das Risiko für den Übergang eines psychosenahen Prodroms in eine Schizophrenie ist mit etwa 30–80% pro Jahr erhöht; gleichwohl ist das Risiko »falsch-positiver« Vorhersagen mit etwa 30–60% ebenfalls hoch. Zwischen psychosenahen Prodromen und der klinischen Erstmanifestation einer schizophrenen Störung liegen 1–3 Jahre, die Erstdiagnose liegt bei Männern häufig zwischen 20 und 25 Jahren, bei Frauen zwischen 25 und 30 Jahren, bei Frauen ist zudem ein zweiter Häufigkeitsgipfel (ab dem 45. Lebensjahr) zu beobachten. Neurobiologie der Schizophrenie. Neben den für die Psychopharmakotherapie wichtigen neurochemischen Systemstörungen in der dopaminergen, serotonergen und glutaminergen Transmission (7 Kap. 7) haben neuroanatomische und jetzt besonders molekulargenetische Befunde für die Pathogenese der Erkrankung eine große Bedeutung. Die neurobiologische Hypothese geht davon aus, dass genetische und andere biologische Einflüsse zu embryonalen Hirnentwicklungsstörungen im ZNS führen. Es kommt zu einem Verlust nichtneuronaler Elemente, den Neuropils, als Korrelat hirnatrophischer Veränderungen im dorsolateralen präfrontalen Kortex. Die Degenerationshypothese (es kommt bei einem Drittel der Patienten zu kognitiven Einbußen mit defizitärem Ausgang) stützt sich auf gut abgesicherte hirnmorphologische Befunde. Wahrscheinlich gelten die Modelle zur Ätiologie der Schizophrenie jeweils nur für einen Teil der Patienten. Neu, aber gut bestätigt, ist die Entdeckung von den drei Dispositionsgenen: Dysbidin-Gen, Neuregulin-1-Gen und G72/DAOA-Gen. Sie kodieren Proteine von der Hirnentwicklung bis zur Stabilisierung der glutamatergen Synapsen. Damit kann gezeigt werden, dass die Gene nicht für Diagnosen, sondern für Funktionen kodieren. Es gibt keinen Hinweis für einen 245 30.2 · Therapie monogenen Erbgang. Somit werden wahrscheinlich keine kausalen, sondern nur risikomodulierende Gene gefunden. Es wird also bei der Schizophrenie, wie z. B. auch bei den bipolaren affektiven Störungen und Abhängigkeitserkrankungen, ein polygener Erbgang angenommen. Weiterhin spielt, wie bei der Depression (7 Kap. 15), die Gen-Umwelt-Interaktion eine wichtige Rolle. Aber auch diese neuen Befunde können weder zur Frühdiagnostik, noch zur individuellen Voraussage zur Wirkung eines spezifischen Antipsychotikums beitragen (Falkai u. Maier 2006). Ausführliche Darstellung der Neurobiologie schizophrener Erkrankungen findet sich bei Bogerts (2008). 30.1 Gesamtbehandlungsplan Dem Patienten sollte frühzeitig das Konzept eines Gesamtbehandlungsplans mit den beiden Schwerpunkten einer medikamentösen Therapie und den psychosozialen Therapiemaßnahmen erläutert werden: 5 In der Akutphase liegt der Schwerpunkt auf der Medikation. 5 In der Stabilisierungsphase und der Phase der Rezidivprophylaxe bzw. Symptomsuppression (Langzeittherapie) gewinnen psychosoziale Maßnahmen in Kombination mit einer verträglichen Antipsychotikabehandlung zunehmend an Bedeutung. Nur auf der Basis einer positiven Arzt-PatientenBeziehung kann die therapeutische Allianz langfristig gelingen. Dazu gehören: 5 Therapiemotivation, 5 Vermittlung eines Krankheitskonzepts, 5 Festigung der Compliance, 5 Einbeziehen von Bezugspersonen bzw. Familienangehörigen. Es wird heute eine möglichst frühzeitige Behandlung der schizophrener Störungen mit einem atypischen Antipsychotikum (AAP) empfohlen (7 Kap. 7). Wichtig Die entscheidenden Ziele bei der Behandlung des schizophrenen Patienten sind: 5 Symptomreduktion, 5 Verbesserung der Lebensqualität, 5 Reduktion der Rückfallrate. 30.2 30 Therapie Wichtig Zu Beginn einer Therapie sollten zunächst folgende Fragen geklärt sein: 5 Wie schwer ist die Episode? 5 Besteht Suizidalität? 5 Gibt es ein Risiko der Fremdgefährdung? 5 Kann der Patient ambulant betreut werden oder ist eine stationäre/teilstationäre Behandlung indiziert? 5 Können Angehörige oder Sozialarbeiter hinzugezogen werden? 5 Ist eine organisch bedingte oder substanzinduzierte Störung sicher durch körperliche und Laboruntersuchungen ausgeschlossen? 5 Handelt es sich um eine schizophrene Ersterkrankung oder um ein Rezidiv? 5 Gibt es komorbide psychiatrische Erkrankungen? 5 Wenn Akuität und Zielsymptomatik geklärt sind, können die ersten Behandlungsschritte folgen. Bei der Auswahl des Medikaments sind besonders zu berücksichtigen: – früheres Ansprechen, – Patientenpräferenz, – Nebenwirkungsprofil und Bereitschaft Nebenwirkungen zu tolerieren, – erwartete Compliance, – geplante Applikationsform. 30.2.1 Akutphase/ Positivsymptomatik 5 Ziel jeder medikamentösen Therapie in der akuten Phase einer Schizophrenie sind: – Symptomreduktion, – Verhindern von Selbst- und Fremdgefährdungen, – Versuch der sozialen Eingliederung und – Erstellung eines mittelfristigen und langfristigen Gesamtbehandlungsplans. 5 In der Akutphase ist abzuklären, ob eine Klinikeinweisung nötig ist. 5 Antipsychotika sind zur Akut- und Langzeitbehandlung der Schizophrenie sicher wirksame Medikamente. 5 Atypische Antipsychotika (AAP) (7 Kap. 7) wie Olazapin, Risperidon und Quetiapin haben sich 246 21 22 23 24 5 5 25 26 27 5 28 29 5 30 31 32 33 34 Kapitel 30 · Schizophrenie auch in der Akuttherapie der Schizophrenie bewährt. Sie haben gerade zu Beginn einer Therapie geringere Nebenwirkungen als konventionelle Antipsychotika. Besonders ist das Risiko für extrapyramidal-motorische Symptome (EPS) deutlich geringer. Die Dosis sollte, wenn möglich, langsam aufdosiert werden (7 Abschn. 7.5). Kommt es im Rahmen der akuten Symptomatik allerdings zu ausgeprägten pychomotorischen Erregungszuständen oder aggressiv-impulsivem Verhalten mit Eigen- oder Fremdgefährdung, können auch initial sehr hohe Dosen gegeben werden. Bei Unwirksamkeit der AAP können auch konventionelle hochpotente Antipsychotika (ggf. parenterale Applikation) versucht werden. Die kurzfristige Gabe von Benzodiazepinen in der Akuttherapie kann schnell Angst und Agitation lindern. Die vorübergehende Kombination eines Antipsychotikums mit Lorazepam (bis zu 10 mg tgl.) ist bei Erregungszuständen in der Regel effektiver als eine hohe antipsychotische Monotherapie. Erstmalig erkrankte Patienten sprechen besser auf eine antipsychotische Therapie an als mehrfach Erkrankte. Die Dosis ist auch niedriger. Die Symptome in dieser Frühphase überlappen sich mit depressiven Symptomen (Yung et al. 2003; Häfner u. Maurer 2006) genauso wie bei den im Rahmen der voll ausgeprägten Psychose auftretenden Negativsymptomen (Gerbaldo et al. 1995). Somit sind phänomenologisch die Schizophrenie und die Depression sowohl im Prodromalstadium, als auch in den Episoden der Negativsymtomatik nur schwer von einander zu unterscheiden (Gerbaldo et al. 1995; Häfner u. Maurer 2006). Es mehren sich somit auch die Indizien, die eine von Kraepelin Anfang des Jahrhunderts angenommene Dichotomie zwischen Schizophrenie und Depression immer unwahrscheinlicher werden lassen. Wichtig Negativsymptomatik. Die Symptome sind stärker als im Prodromalstadium ausgeprägt. Die Reduktion oder der Verlust normaler Funktionen und Verhaltensweisen wird deutlicher. Die Patienten sind affektflach, freudlos, sprachlich verarmt, oft ungepflegt, scheuen den Augenkontakt und ziehen sich sozial noch weiter zurück. Diese voll ausgeprägten Negativsymptome treten im Langzeitverlauf in den Vordergrund und können ohne wesentliche Positivsymptomatik bestehen (»primäre Negativsymptomatik«). In der Akutphase werden sie häufig von Positivsymptomen überlagert (7 Abschn. 30.2.1), im Langzeitverlauf bestehen oft Überschneidungen mit depressiver Symptomatik (7 Abschn. 30.2.3), EPS und psychosozialen Auswirkungen der Erkrankung (»sekundäre Negativsymptomatik«). Mit Besserung der Positivsymptomatik geht häufig ein Verschwinden der Negativsymptomatik einher. Die Therapie der Negativsymptomatik bleibt weiterhin schwierig. AAP sind gegenüber den konventionellen Antipsychotika zu bevorzugen und die Mittel der Wahl. Bei persistierenden Negativsymptomen kann eine Kombination eines AAP mit einem SSRI oder Mirtazapin versucht werden. Möglichst frühzeitig sollte die Behandlung schizophrener Störungen in der Akutphase mit einem AAP begonnen werden. Die Wahrscheinlichkeit des Ansprechens auf eine Medikation nimmt ab und die Prognose für den Patienten wird ungünstiger, wenn eine akute schizophrene Psychose – insbesondere bei einer Ersterkrankung – längere Zeit unbehandelt bleibt. 35 36 37 38 39 40 30.2.2 Negativsymptomatik In den letzten Jahren wurde bei der beginnenden Schizophrenie psychopathologisch ein Prodromalstadium herausgearbeitet. Da es der Negativsymptomatik sehr ähnelt, wird es in diesem Kapitel beschrieben. Es kann aber jeder Form der Schizophrenie vorausgehen. Prodromalstadium. Die ersten Zeichen sind Depres- sivität, Unruhe, Ängstlichkeit, Denk- und Konzentrationsprobleme, Mangel an Selbstvertrauen, Energieverlust, sozialer Rückzug und geringe Leistungsfähigkeit. Wichtig Patienten im Prodromalstadium müssen als Hochrisikopatienten erkannt werden. Eine konsequente Frühtherapie bei Erstmanifestation einer schizophrenen Störung ist angezeigt. Es ist anzunehmen, dass KVT im Prodromalstadium die Therapie der Wahl ist; Evidenzen liegen aber nicht vor. Eine frühzeitige Antipsychotika-Therapie kann allerdings noch nicht generell empfohlen werden. 247 30.2 · Therapie 30.2.3 Depressive Symptomatik Depressive Symptome und Suizidalität sind im Rahmen einer Schizophrenie häufig (an der Heiden et al. 2005). Die Depression ist auch das häufigste Symptom in der ersten psychotischen Episode. Die depressive Symptomatik kann schwer von einer Negativsymptomatik unterschieden werden (7 Abschn. 33.2.2). 5 AAP haben im Vergleich zu konventionellen Antipsychotika (z. B. Haloperidol) günstigere Effekte. 5 Bei Versagen psychosozialer und psychotherapeutischer Interventionen (supportive Ansätze, Stressbewältigungsverfahren; kognitive Verhaltenstherapie) sollte eine Dosisanpassung bzw. Umstellung des Antipsychotikums bei depressiven Syndromen erwogen werden. 5 Bei Erstmanifestation einer schizophrenen Störung nach Gabe eines AAP für 2–4 Wochen und anhaltender signifikanter Depressivität wird die zusätzliche Gabe eines Antidepressivums (bevorzugt SSRI) empfohlen. 5 Auch nach weitgehender Remission der Positivsymptomatik und Weiterbestehen oder Neuauftreten eines depressiven Syndroms ist nach Optimierung der Antipsychotikatherapie die vorsichtige zusätzliche Gabe von Antidepressiva für ca. 6–8 Wochen indiziert. 5 Allerdings soll die zusätzliche Gabe von Antidepressiva bei schizophrenen Patienten mit depressiven Symptomen während gleichzeitig bestehender florider Positivsymptomatik vermieden werden. Wichtig Bei ausgeprägter Suizidalität, auch unabhängig von depressiven Symptomen, ist eine vorübergehende sedierende Begleitmedikation mit einem Benzodiazepin (Lorazepam oder Diazepam) oft nötig (7 Kap. 34). 30.2.4 Kognitive Störungen Neurokognitive Defizite (verbales Gedächtnis, Exekutivfunktionen, Vigilanz, Wortflüssigkeit, motorische Fertigkeiten) stellen ein Kernsyndrom schizophrener Störungen dar und sind bei 60–80% der Patienten nachweisbar. Es besteht ein enger Zusammenhang zum sozialen Problemlöseverhalten und Alltagsaktivitäten (Green et al. 2000). Es gilt als gesichert, dass die 30 neurokognitiven Störungen keinesfalls Konsequenzen der antipsychotischen Behandlung sind. AAP sind bei der Therapie zu bevorzugen. Gezielte Therapierichtlinien bestehen noch nicht. 30.2.5 Katatone Symptomatik Seit dem Wissen um die schnelle Wirkung von Benzodiazepinen bei Mutismus und Katatonie (Heuser u. Benkert 1986) ist die Indikation einer Elektrokrampftherapie (EKB) kaum mehr gegeben. Nur noch bei der sehr seltenen lebensbedrohlichen febrilen Katatonie wird sie bei schizophrenen Störungen angewandt. > Bei Stupor und Mutismus oder starker psychomotorischer Hemmung (katatoniformen Zuständen) ist Lorazepam zunächst in einmaliger Dosis von 2–2,5 mg indiziert (auch als langsame i.v.-Gabe möglich). Vor dieser Medikation ist differenzialdiagnostisch ein malignes neuroleptisches Syndrom (7 Abschn. 7.6) auszuschließen. 30.2.6 Komorbide psychiatrische Störungen bei Schizophrenie Komorbide Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen Bei einem Großteil der Patienten mit Schizophrenie (insbesondere bei jüngeren Männern) liegt zusätzlich ein Substanzabusus oder eine Abhängigkeitserkrankung vor. Das Risiko für eine solche komorbide Erkrankung ist bei schizophrenen Patienten etwa 5fach gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöht. Am häufigsten werden Nikotin und Koffein konsumiert, bei 20–50% der Patienten besteht zusätzlich Alkoholmissbrauch oder -abhängigkeit. Weiterhin zeigt sich eine deutliche Tendenz zu Cannabismissbrauch ab. Dabei ist die Induktion einer frühen Manifestation einer schizophrener Störungen zu bedenken. 5 Bei Nikotinabhängigkeit (7 Kap. 11) und deren Behandlung ist der pharmakokinetische Einfluss auf die meisten Antipsychotika (in der Regel beschleunigter Metabolismus durch Induktion des CYP-Systems durch Rauchen) zu beachten. 5 Bei komorbider Alkoholabhängigkeit muss eine Entgiftungstherapie (7 Kap. 11) erwogen werden; zur Wirksamkeit bei der Alkoholrückfallprophylaxe liegt für Naltrexon in Kombination mit stabiler Antipsychotikamedikation und psychotherapeutischen Maßnahmen eine kontrollierte Studie vor. 248 21 22 23 24 25 26 27 Kapitel 30 · Schizophrenie 5 Bei komorbider Opiatabhängigkeit (7 Kap. 11) werden zur Schizophreniebehandlung AAP empfohlen. 5 Bei Vorliegen einer Schizophrenie und einer Suchterkrankung sind zur Erhöhung von Therapiemotivation, Compliance und der längerfristigen Einbindung der Patienten und ihrer Bezugspersonen integrative Therapieprogramme von besonderer Bedeutung. Neben einer Antipsychotikamedikation ist hier indiziert: – Motivationsförderung für die Therapie (z. B. »motivational interviewing«), – Psychoedukation, – kognitive Verhaltenstherapie (einzeln oder in Gruppen), – Familienintervention, – sozialpsychiatrische Interventionen. Komorbide Angst- und Zwangstörungen 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Häufig finden sich bei Patienten mit Schizophrenie zusätzlich Symptome von Angst- und Zwangsstörungen, die vor Beginn und nach Abklingen produktiv-psychotischer Episoden nachweisbar sein können. Die Abgrenzung einer komorbiden Angst- oder Zwangsstörung von der schizophrenen Kernsymptomatik ist oft nicht möglich. Bei etwa 20–30% der schizophrenen Patienten besteht auch während florider oder residualer psychotischer Episoden eine ausgeprägte Angst- oder Zwangssysmptomatik. 5 Angst- und Zwangsymptome können, genau wie affektive Störungen auch unter Antipsychotika als unerwünschte Wirkung auftreten. Die Behandlung besteht dann in der Regel in der Dosisreduktion oder im Wechsel auf ein anderes Antipsychotikum. 5 Ausgeprägte soziale Ängste sind bei schizophrenen Patienten recht häufig. Sie müssen von einer Negativsymptomatik abgegrenzt werden. Auch hier sind AAP neben psychotherapeutische Maßnahmen erfolgversprechend. Sonst sind die Therapien wie bei den phobischen Störungen anzuwenden (7 Abschn. 18.2.1). Allerdings sind sog. Floddingtherapien bei schizophrenen Patienten zu vermeiden, da die Gefahr einer Reaktivierung psychotischer Ängste unter starkem Stress besteht. 5 SSRI haben bei Zwangssymptomen bei schizophrenen Patienten keine Wirkung; psychotherapeutische Interventionen sind indiziert. Andere komorbide Syndrome Sehr häufig treten im Verlauf schizophrener Störungen akut behandlungsbedürftige unspezifische psychopathologische Symptome auf. 5 Aggressivität und Suizidalität: 7 Kap. 34. 5 Schlafstörungen: AAP mit sedierender Wirkung sind primär indiziert, aber auch Melperon und Pipamperon haben eine gute Wirkung (s. auch 7 Abschn. 24.1.2). 30.2.7 Schizoaffektive Störungen Unter schizoaffektiven Störungen treten gleichzeitig oder abwechselnd Symptome einer Schizophrenie und einer affektiven Störung auf. Nach ICD-10 wird eine schizoaffektive Störung klassifiziert, wenn sowohl eindeutig schizophrene als auch eindeutig affektive Symptome gleichzeitig oder nur durch wenige Tage getrennt und während der gleichen Krankheitsepisode vorhanden sind. Die Validität der Diagnose wird aufgrund neuer genetischer Untersuchungen wissenschaftlich immer mehr in Frage gestellt, denn psychotische, manische und depressive Syndrome kommen sowohl bei der Schizophrenie als auch bei der bipolaren affektiven Störung vor. Definition Es werden nach Überwiegen der Symptome getrennt: 5 schizophrene Symptome (schizodominant) und 5 affektive Symptome (affektdominant). Zur Akutbehandlung der schizoaffektiven Störung: 5 AAP (z. B. Olanzapin, Risperidon) sind bei manischer, depressiver oder gemischter Symptomatik wirksam. 5 Bei akuter schizomanischer Symptomatik ist die zusätzliche Gabe von Lithium indiziert. Bei stark erregten Patienten weist die Kombination von Lithium mit Antipsychotika eine bessere Wirksamkeit als eine Monotherapie auf. 5 Bei schizodepressiver Symptomatik kann die Kombination eines Antipsychotikums mit einem Antidepressivum versucht werden. Zur Phasenprophylaxe der schizoaffektiven Störung 7 Abschn. 29.2.2. Zur Akutbehandlung der »wahnhaften Depression« 7 Abschn. 30.2.8. 30.2 · Therapie 30.2.8 Schwere Depression mit psychotischen Symptomen (»wahnhafte Depression«) Weil die psychotische Symptomatik bei dieser Diagnose dominiert, erfolgt hier die Besprechung. 5 Die erste Option ist bei Beginn der Therapie die Gabe eines Antidepressivums (SSRI). 5 Bei ausbleibender Wirkung wird dann gegen die psychotischen Merkmale zusätzlich ein AAP (z. B. Olanzapin, Risperidon) bis zum Sistieren der psychotischen Symptomatik zu geben. Danach wird das Antipsychotikums über 3– 6 Monate langsam unter Beibehaltung des Antidepressivums abgesetzt. 5 Als zweite Option wird von Beginn an das Antidepressivum mit einem AAP kombiniert. 5 Eine Monotherapie mit einem Antipsychotikum ist nicht indiziert. 5 Bei sehr schweren, wahnhaften oder therapierefraktären Depressionen scheint die EKB einer Pharmakotherapie, insbesondere in Bezug auf einen frühen Wirkungseintritt, überlegen zu sein. 30.2.9 Schizotype Störungen, wahnhafte Störungen, induzierte wahnhafte Störungen Es gibt eine Gruppe von psychotischen Störungen, die vorwiegend mit Antipsychotika behandelt werden. Bei wahnhaften Störungen, insbesondere im Alter, sind medizinische Faktoren sorgfältig auszuschließen. In manchen Fällen fällt die Differenzialdiagnose schwer, z. B. bei chronischen taktilen Halluzinosen (Dermatozoenwahn). 5 Akute wahnhafte Exazerbationen (mit Angst und Erregung) sprechen relativ gut auf eine Antipsychotika-Behandlung an, während langjährig bestehende chronische Wahnstörungen häufig therapierefraktär sind (z. B. Eifersuchts-, Liebesoder Querulantenwahn). 5 Sonst sind bei Angst und Erregung auch zusätzliche vorübergehende Gaben von Benzodiazepinen nützlich. 5 Insbesondere bei Liebeswahn (Erotomanie), hypochondrisch-körperbezogenen Wahninhalten oder Halluzinationen kann aufgrund von klinischen Einzelfallberichten Risperidon in niedriger Dosierung empfohlen werden. Einzelfälle mit Eifersuchtswahn und zwanghafter Komponente wurden erfolgreich mit SSRI behandelt. 249 30 5 Bei induzierten wahnhaften Störungen ist vor Gabe eines Antipsychotikums zunächst die getrennte adäquate Therapie des Wahn-induzierenden Patienten anzustreben. Sistiert der induzierte Wahn nach etwa 2 Wochen nicht, sollte ein niedrig dosiertes AAP (z. B. Risperidon) erwogen werden. Psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen sind Schwerpunkt der Behandlung, um den ansonsten nicht seltenen Rückfällen vorzubeugen. 5 Supportive Psychotherapie ist in den meisten Fällen auch längerfristig indiziert. 30.2.10 Akute vorübergehende psychotische Störungen 5 In der ICD-10 werden parallel zur Schizophrenie und den schizoaffektiven Störungen unter F23 die akuten vorübergehenden psychotischen Störungen kategorisiert. 5 Es gibt sowohl zur Epidemiologie als auch zur Therapie keine empirischen Daten. Die Störungen zeichnen sich durch eine günstige Prognose aus, allerdings ist die Rezidivgefahr groß. 5 Die akute Störung wird mit Antipsychotika, ggf. zusätzlich mit Benzodiazepinen, behandelt. 5 Eine Entscheidung über eine Rezidivprophylaxe muss im Einzelfall getroffen werden. 30.2.11 Langzeittherapie, ungenügende Response und Therapieresistenz Im Verlauf einer schizophrenen Erkrankung kommt es bei etwa 20–30% der Patienten wahrscheinlich auch ohne Therapie zu keinem erneuten Rezidiv und weitgehender Erholung (Remission); bei mindestens einem Drittel der Patienten erfolgen jedoch weitere Episoden, die sich jeweils durch erneute Prodromalstadien ankündigen können und die sich im Anschluss zumindest partiell wieder zurückbilden (Teilremission). Ein weiteres Drittel der Patienten zeigt einen rasch chronifizierenden Verlauf mit einem zumindest über Jahre hinweg zunehmenden oder weitgehend stabil wirkenden Restzustand, v. a. mit ausgeprägter Negativsymptomatik, aber auch mit persistierenden Positivsymptomen und kognitiven Defiziten. Allerdings erfüllten sogar 90% aller schizophrenen Patienten nicht die gewünschten Kriterien für Symptomfreiheit, soziale Funktionalität und Wohlgefühl, trotz medikamentöser und psychosozialer Maßnahmen (Lambert et al. 250 21 22 23 24 Kapitel 30 · Schizophrenie 2006). Schließlich erleiden auch bei gesicherter Medikamenteneinnahme 20% der Patienten ein Rezidiv. Definition Man spricht von medikamentöser Therapieresistenz, wenn zwei unterschiedliche Antipsychotika in ausreichender Dosis für jeweils 4–8 Wochen nicht angesprochen haben. Zu definieren ist auch, bei welchen Subtypen eine ungenügende Response festzustellen ist. – 25 26 Mögliche Gründe für Therapieresistenz unter Antipsychotika 27 5 5 5 5 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 das allerdings mit einem hohen Nebenwirkungsrisiko verbunden ist. Bei pharmakologischer Therapieresistenz stellt das Umsetzen auf Clozapin unter individueller Nutzen-Risiko-Abwägung die Maßnahme der ersten Wahl dar (30–60% Erfolgsquote nach etwa 6 Wochen bei primären Non-Respondern). Clozapin scheint zusätzlich therapeutische Wirkungen bez. Suizidalität, Feindseligkeit, Aggressivität und Rauchverhalten zu besitzen. Non-Compliance Unzureichende Dosis oder Therapiedauer Absorptionsstörung Pharmakodynamische Gründe für individuelles Nichtansprechen 5 Pharmakokinetische Besonderheiten (z. B. beschleunigter Metabolismus durch Rauchen, Wirkungsabschwächung durch hohen Kaffeekonsum) 5 Gleichzeitige Drogeneinnahme oder andere psychiatrische Komorbidität 5 Falsche Diagnose 5 Zur Behandlungsoptimierung gibt es also eine Vielzahl von Strategien, wie Sicherstellung der Compliance, Dosisüberprüfung, Plasmaspiegelüberprüfung, Reevaluierung der Diagnose und der Komorbiditäten. 5 Immer sollten die psychosozialen Stressoren, die einen ungünstigen Einfluss auf den Behandlungsverlauf nehmen können, festgestellt werden. Entsprechende Maßnahmen, einschließlich psychotherapeutischer Interventionen, sind ggf. einzuleiten. 5 Bei schlechtem Ansprechen auf die bisherige Therapie oder gar Therapieresistenz gibt es verschiedene Möglichkeiten: – Kombination von Antipsychotkia. Es erhalten bis zu 25% der ambulanten und bis 50% der stationären Patienten mindestens zwei Antipsychotika gleichzeitig. Bei allen Kombinationsbehandlungen von Antipsychotika sind mögliche Komplikationen und auftretende Nebenwirkungen und Wechselwirkungen besonders sorgfältig zu prüfen und regelmäßig zu überwachen. Konventionelle Antipsychotika sollten wegen des erhöhten Risikos für EPS nur in Ausnahmefällen oder bei zu hohen Risiken unter AAP (z. B. metabolisches Syndrom, 7 Abschn. 7.6) verordnet werden. – Augmentationsstrategien. Bei unzureichendem Ansprechen der erwähnten Therapie können alternativ zu Kombinationen von Antipsychotika einige, aber wissenschaftlich nicht abgesicherte Strategien angewendet werden. Dazu gehört die Kombination mit Benzodiazepinen, Antidepressiva und Stimmungsstabilisierern. Wichtig Carbamazepin sollte nicht mit Clozapin kombiniert werden (erhöhtes Agranulozytoserisiko). Auch bei anderen Kombinationen sind die möglichen Wechselwirkungen sorgfältig zu beachten. Fazit Wechsel des Antipsychotikums. Allerdings ist ein Umsetzen unter einer schon bestehenden partiell wirksamen Antipsychotika-Therapie immer mit dem Risiko einer Exazerbation verbunden. Ein Umsetzen in der Stabilisierungsphase sollte sehr behutsam über Wochen erfolgen. Eine Ausnahmestellung unter den Antipsychotika hat immer noch das Clozapin, Pharmakotherapie bei Schizophrenie – Bewertung 5 AAP sollten Arzneimittel der ersten Wahl bei der Behandlung schizophrener Störungen in der Akutphase sein. Konventionelle Antipsychotika haben ein zu hohes EPS-Risiko. 5 Bei der Langzeittherapie ist der Patient über die möglichen Nebenwirkungen der Antipsychotika, auch der AAP, sorgfältig aufzuklären. 251 30.2 · Therapie 5 Bei Suizidalität und Fremdgefährdung ist eine stationäre Einweisung indiziert. 5 Symptomreduktion und Verbesserung der Lebensqualität sind zwei Therapieziele der Pharmakotherapie. 5 Die Subtypen bei der Schizophrenie sind zu differenzieren und ggf. spezifisch zu behandeln. 5 Bei begleitender depressiver Symptomatik können neben AAP auch Antidepressiva verordnet werden. Es ist dann darauf zu achten, dass sich die psychotische Symptomatik nicht verschlechtert. 5 Bei katatoniformen Zuständen ist in der Regel Lorazepam gut wirksam. 5 Substanzabusus oder Abhängigkeitserkrankungen sind bei schizophrenen Patienten besonders häufig; neben der Pharmakotherapie sind integrative Therapieprogramme anzustreben. 5 Komorbide Angst- und Zwangsstörungen können mit SSRI neben den AAP behandelt werden. Bei akuten Angstsymptomen sind Benzodiazepine hilfreich. 5 Bei schizomanischer Symptomatik sind neben AAP auch Lithiumsalze, bei schizodepressiver Symptomatik SSRI indiziert. 5 Man spricht von medikamentöser Therapieresistenz, wenn zwei unterschiedliche Antipsychotika in ausreichender Dosis für jeweils 4–8 Wochen nicht angesprochen haben. 5 Bei Kombinationstherapien müssen die Wechselwirkungen beachtet werden. 30.2.12 Psychotherapie und psychosoziale Interventionen bei Schizophrenie Im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans (7 Abschn. 30.1) gewinnen neben der medikamentösen Therapie psychoedukative, familientherapeutische und kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze an Bedeutung. Akutphase, Stabilisierungsphase und Langzeittherapie werden unterschieden. Das Vulnerabilitätsstressmodell ist ein wichtiger Pfeiler psychosozialer und familientherapeutischer Interventionen bei schizophrenen Patienten. 30 Definition Nach dem Vulnerabilitätsstressmodell besteht eine erhöhte Rückfallwahrscheinlichkeit durch ungünstige Umweltbedingungen, die mit der biologisch-genetischen Prädisposition des Patienten interagieren. 5 Ungünstige Umweltbedingungen sind belastende Lebensereignisse (»life events«) und ein überstimulierendes oder feindseliges soziales Umfeld einschließlich »high expressed emotions« (HEE) in der Familie. 5 HEE in der Familie äußern sich in vermehrter Kritik oder in übergroßer emotionaler Anteilnahme. HEE stehen in ungünstigem Zusammenhang mit Krankheitsverlauf und Rückfallhäufigkeit. 5 Eine positive, von gegenseitigem Interesse, Respekt und adäquater Zurückhaltung geprägte Familienatmosphäre und ein entsprechender Interaktionsstil führen hingegen zu einer besseren sozialen Anpassung und geringerer Rückfallrate bei durchschnittlich niedrigeren Antipsychotika-Dosen. Den subjektiven Aspekten des Krankheitserlebens (Krankheitskonzept, Bewältigung, Lebensqualität) sollte im Rahmen psychoedukativer, psycho- und soziotherapeutischer Maßnahmen frühzeitig Rechnung getragen werden. Die subjektive Akzeptanz und die vorhandenen psychosozialen Ressourcen des Patienten sowie das Einbeziehen seiner Lebenswelt haben im Rahmen einer partnerschaftlichen therapeutischen Allianz in der Langzeittherapie schizophrener Patienten große Bedeutung. Es ist darauf zu achten, dass aktive Beteiligung des Patienten, insbesondere in der Frühphase der Erkrankung, auch eine Belastung sein kann. Vor dem Einsatz eines der möglichen Verfahren ist nach einer Problemanalyse ein individueller, bedürfnisangepasster Therapieplan zu erstellen (Klingberg et al. 2006). Akutphase In der Akutphase steht die strukturierende und stützende Psychotherapie, die supportive Therapie, im Vordergrund. Aufgrund des Mangels an weiterführenden psychotherapeutischen Programmen wird sie in deutschen und internationalen »guidelines« als Standard empfohlen (DGPPN 2006, NICE 2002, APA 2004). 252 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 Kapitel 30 · Schizophrenie Voraussetzung ist die Vermittlung eines verständlichen Krankheitsmodells, das auch den Einsatz einer medikamentösen Behandlung im Rahmen der Psychoedukation erklärt. Die Ergebnisse der Metaanalysen dazu sind allerdings nicht einheitlich positiv (NICE 2002; Pekkala u. Merinder 2004). Psychoedukation ist vom klinischen Standpunkt besonders dann unerlässlich, wenn eine langfristige Behandlung mit Antipsychotika notwendig ist, um die Therapiemotivation und Compliance des Patienten zu erhöhen und Rückfälle zu vermeiden. Die Zugänglichkeit des Patienten für eine solche Aufklärung in der Akutphase hängt stark von der Ausprägung der aktuellen Symptomatik ab. Physiotherapie und Ergotherapie fördern das positive Körpererlebens und stärken Kreativität und Selbstvertrauen. Patienten können im Rahmen gestufter Trainingsprogramme (z. B. kognitives Computertraining) ohne Überforderung an zweckbezogene Tätigkeiten herangeführt werden. Stabilisierungsphase In der Stabilisierungsphase wird die Psychoedukation unter Berücksichtigung des Vulnerabilitätsstressmodells fortgesetzt (z. B. Angehörigengruppen, Entspannung des Familienklimas, bei konkreten Problemen Entwicklung von Lösungsstrategien). Auf die Therapiecompliance ist zu achten (u. a. Umgang mit Nebenwirkungen, Gewichtsmanagement, Alkohol- und Nikotinkonsum, Erkennen von Frühwarnzeichen). Langzeittherapie 33 34 35 36 37 38 39 40 In der Langzeittherapie gewinnt – zusätzlich zur medikamentösen Therapie – die Psychotherapie mit dem Schwerpunkt kognitive Verhaltenstherapie (KVT) zunehmend an Bedeutung. Ein Einsatzschwerpunkt sind residuale Positivsymptome, soziale Ängste, Depressivität und Negativsymptome. KVT als Gruppentherapie zeigte gegenüber der üblichen Therapie allerdings keine signifikanten Vorteile (es besserten sich nur die negative Selbsteinschätzung und Hoffnungslosigkeit; Siddle et al. 2006). Folgende Ziele sollen durch die KVT erreicht werden: 5 Verbesserung der Medikamentencompliance 5 Förderung vorhandener Bewältigungs- und Kompensationsressourcen 5 Verminderung psychosozialer Stressoren 5 Verbesserung der verbalen Kommunikationsfähigkeit 5 Verbesserung sozialer Kompetenzen 5 Aneignung lebenspraktischer Fertigkeiten 5 Selbstkontrollansätze zur Rezidivfrüherkennung (Schlafstörungen, Gereiztheit, depressive Verstimmung, Aggressivität, Misstrauen, Angst, affektive Labilität, reduzierte Belastbarkeit, Beziehungsideen, sozialer Rückzug) 5 Interventionsmöglichkeiten bei Rezidivverdacht organisieren (z. B. Vorstellung beim Psychiater, Dosissteigerung der Medikation) Das Integrierte Psychologische Therapieprogramm (Brenner et al. 1994; Briand et al. 2006) soll kognitive, soziale und Problemlösungsfertigkeiten (kognitive Differenzierung, soziale Wahrnehmung, verbale Kommunikation, soziale Fertigkeiten und interpersonelles Problemlösen) verbessern. Eine Metaanalyse über 28 unabhängige Studien ergab, dass das Therapieprogramm einen signifikant höheren mittleren Therapieeffekt im Vergleich zu Kontrollbedingungen erzielen konnte (Müller et al. 2007). Integriert wird die Soziotherapie mit: 5 Belastungserprobung im Alltag, 5 Arbeitstraining und 5 Berufsfindung. In der Langzeittherapie werden die psychotherapeutischen Strategien zunehmend positiv beurteilt (Butler et al. 2006; Turkington et al. 2006). Die meisten Studien gibt es zur KVT. Die Follow-up-Studien wurden i.d.R. über ein Jahr geführt. Allerdings wird aufgrund methodischer Schwierigkeiten die Evidenzdiskussion auch kontrovers geführt (Schooler et al. 1997; Bailer u. Rist 2001; Stieglitz u. Vauth 2001). Es besteht ein dringender Forschungsbedarf, besonders für psychotherapeutische Studien zur »effectiveness«, um die Praxisrelevanz zu überprüfen (Puschner et al. 2006). Fazit Psychotherapie und psychosoziale Interventionen bei Schizophrenie – Bewertung 5 Im Gegensatz zu den Angst- und depressiven Störungen erfolgen die psychotherapeutischen- und psychosozialen Interventionen allein additiv zur antipsychotischen Therapie. 5 Psychosoziale Interventionen sind ein fester Bestandteil im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans der Schizophrenie. 5 In der Langzeittherapie steht unter den psychotherapeutischen Strategien die KVT an prominenter Stelle; die Ergebnisse sind aber noch nicht eindeutig. 253 30.3 · Behandlung der Schizophrenie im Kindes- und Jugendalter 30.3 Behandlung der Schizophrenie im Kindesund Jugendalter Aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht stellt sich die Frage, inwieweit man die ICD-10- und DSM-IVKriterien der schizophrenen Störungen auch auf Kinder anwenden kann. Gerade bei Kindern unter 10 Jahren ist dies problematisch, da sie in diesem Alter oft unter kognitiven und emotionalen Entwicklungsstörungen leiden. Dies erschwert eine Klassifikation in ein System, das für Erwachsene konstruiert wurde. Im Jugendalter nähert sich die Symptomatik derjeniger erwachsener Patienten an. Im Kindes- und Jugendalter kann die Symptomatik situativ stark wechseln. Insbesondere das Ausmaß affektiver Symptome zeigt eine hohe intraindividuelle Variabilität. Auch bei sicherer Diagnosestellung ist eine wiederholte Überprüfung im weiteren Verlauf erforderlich; 20% der Schizophrenien im Jugendalter beginnen mit einer depressiven Symptomatik (Resch 2005; Remschmidt 2005). Verlaufstypen 5 Im Kindes- und Jugendalter können zwei Verlaufstypen unterschieden werden: ein schleichender, hebephrenie-ähnlicher Verlauf und eine akut einsetzende, schubartig verlaufende, meist paranoid-halluzinatorische Form mit ggf. katatonen »Zustandsbildern«. Die Störungen verlaufen häufig in Phasen oder Schüben. Bei der »early onset schizophrenia« (EOS) liegt der Beginn vor dem 18. Lebensjahr, bei der »very early onset schizophrenia« (VEOS) vor dem 13. Lebensjahr. 5 Je früher die Erkrankung allerdings beginnt, desto ungünstiger ist die Prognose mit rascher Progredienz oder schleichendem, unproduktivem Prozess. Erst ab der Pubertät verlaufen schizophrene Psychosen ähnlich wie im Erwachsenenalter, dann auch mit etwas besserer Prognose als im Kindesalter. Therapie mit Antipsychotika 5 In der akuten Krankheitsphase steht im Kindes- und Jugendalter, wie im Erwachsenenalter, die Psychopharmakotherapie mit Antipsychotika im Vordergrund, bevor dann mit Zurücktreten der akut-psychotischen Symptomatik psychound soziotherapeutische Maßnahmen an Bedeutung gewinnen. Folgende Behandlungsmaßnahmen sollten im Kindes- und Jugendalter zum Einsatz kommen (Remschmidt 2005): 30 psychopharmakologische Behandlung der Akutsymptomatik, – psychopharmakologische Aspekte der Rezidivprophylaxe, – psychotherapeutische Maßnahmen, – familienbezogene Maßnahmen, – spezifische Rehabilitationsmaßnahmen dort, wo sie indiziert sind. 5 Etwa 40% der Adoleszenten, die an einer Schizophrenie erkranken, sollten aufgrund der möglichen Chronifizierung ihrer Erkrankung oder aufgrund familiärer Probleme (»high EE«) in einer Rehabilitationseinrichtung weiter gefördert werden. 5 Dank ihrer besseren extrapyramidalen Verträglichkeit, ihrer überlegenen Wirksamkeit auch auf die Negativsymptomatik und der daraus resultierenden höheren Lebensqualität der Patienten kommen die AAP der Zielsetzung einer modernen Therapie ziemlich nahe. Es wird empfohlen, gerade bei kindlichen und jugendlichen Erstmanifestationen AAP anzuwenden, obwohl sie zumeist »off-label« verordnet werden müssen. Trotz der vorhandenen Nebenwirkungen von Clozapin empfiehlt es sich, nach zwei erfolglosen Therapieversuchen mit einem konventionellen Antipsychotikum und/oder AAP, auf Clozapin umzustellen. Auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gilt Clozapin als Referenzsubstanz für die AAP und es konnte in kontrollierten Studien gezeigt werden, dass Clozapin gegenüber Haloperidol und Olanzapin bei therapieresistenten schizophrenen Störungen im Kindes- und Jugendalter überlegen ist (Kumra et al., 1996; Shaw et al., 2006). Clozapin ist ab dem 16. Lebensjahr für die Behandlung von Psychosen zugelassen. 5 Zugelassene konventionelle Antipsychotika 7 Abschn. 7.12. – Elektrokrampfbehandlung 5 Zusätzlich zur medikamentösen Therapie kommt in seltenen Fällen auch die Elektrokrampfbehandlung (EKB) in Betracht. Lebensrettende Wirksamkeit kann die EKB bei der perniziösen Katatonie, als extreme Ausprägung der katatonen Schizophrenie, haben. Es sei hier erwähnt, dass die Hauptindikation für EKB im Jugendalter depressive bzw. bipolare Störungen mit Ansprechraten bis zu 100% sind (7 Kap. 15). Bei Jugendlichen mit schizophrenen Störungen liegt die Ansprechrate bei 42% (Rey u. Walter 1997). EKB ist nicht Therapie der ersten oder zweiten Wahl bei schizophrenen Störungen und soll nur 254 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Kapitel 30 · Schizophrenie bei therapieresistenten Patienten in Erwägung gezogen werden (Remschmidt et al. 2001). Pharmakotherapie und Psychotherapie 5 Die anfänglich im Vordergrund stehende Pharmakotherapie sollte immer mit einem psychound soziotherapeutischen Gesamtkonzept verbunden werden. 5 Voraussetzung für eine psychotherapeutische Behandlung sollte eine tragfähige Arzt-PatientenBeziehung mit Einbeziehung der Angehörigen sein. Im Mittelpunkt stehen die Erarbeitung von Belastungen und Ressourcen des Patienten. Mit Hilfe von Psychoedukation lassen sich die Rückfall- und Rehospitalisierungsraten senken. Weiterhin stehen die Identifizierung individueller Risikofaktoren und die Erarbeitung eines Planes, falls Krisen auftreten, im Mittelpunkt. 5 Die psychotherapeutischen Angebote sind vornehmlich verhaltensorientiert. Wichtig ist das (Wieder-) Erlernen sozialer Kompetenzen. Dadurch kann eine Verkürzung der stationären Aufenthaltsdauer, Verminderung der Rückfallrate und eine Verbesserung bei der Übertragung von sozialen Fertigkeiten auf Alltagssituationen erreicht werden. Auch Problemlösetrainings sind essenzieller Bestandteil der Therapie. Die Therapie stützt sich auf die Zerlegung von Problemen in Teilprobleme, Erarbeiten von Lösungen, Sichten von Vorgehensweisen, deren Bewertung und Umsetzung. 5 Es gibt Mehrkomponentenrehabilitationstrainings, die soziale Kompetenz- und Problemlösetrainings miteinander verbinden. Dazu gehört das Integrierte Psychologische Trainingsprogramm (7 Abschn. 30.2.11), welches für schizophrene Jugendliche modifiziert wurde (Kienzle und Martinus, 1992). Wichtig 5 In der akuten Krankheitsphase steht auch im Kindes- und Jugendalter die Psychopharmakotherapie im Vordergrund, bevor dann mit Zurücktreten der akut-psychotischen Symptomatik psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen an Bedeutung gewinnen. 30.4 Checkliste ? 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Welcher Stellenwert kommt der Behandlung mit Antipsychotika bei der Schizophrenie zu? Was versteht man unter Negativsymptomatik, welche medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten kennen Sie? Unter welchen Bedingungen ist bei der Schizophrenie die Kombination einer antipsychotischen Behandlung mit einem Antidepressivum sinnvoll? Welche Medikation wird bei Mutismus und Katatonie im Rahmen von schizophrenen Störungen eingesetzt? Welche Psychopharmaka werden zur Behandlung schizoaffektiver Störungen eingesetzt? Mit welchen Psychopharmaka wird eine schwere Depression mit psychotischen Symptomen behandelt? Wann spricht man bei der Behandlung der Schizophrenie von medikamentöser Therapieresistenz? Welche therapeutische Optionen gibt es? Warum haben schizophrene Störungen mit Beginn im Kindes- und Jugendalter eine schlechtere Prognose und wie sollten sie behandelt werden? 255 31.1 · Demenz 31.1 Gesamtbehandlungsplan – 258 31.2 Medikamentöse Therapie – 258 31.3 Nichtmedikamentöse Maßnahmen 31.4 Checkliste – 260 – 259 31 256 21 22 23 24 25 26 27 28 Kapitel 31 · Demenz Die Demenz (Syn.: demenzielles Syndrom) tritt bei verschiedenen organischen Grunderkrankungen auf. Die wichtigsten Merkmale sind Gedächtnisstörungen und kognitive Einbußen mit Verlust der Konzentration, gestörter Informationsverarbeitung und vermindertem Urteilsvermögen. Die Demenz tritt am häufigsten bei der Alzheimer-Krankheit (Syn.: AlzheimerDemenz/AD) und bei Gefäßerkrankungen (vaskuläre Demenz/VD) auf. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von weiteren hirnorganischen Erkrankungen, die zu einer Demenz führen, s. unten. Die Demenzen werden entsprechend ihrer Ätiologie in verschieden Diagnosegruppen unterteilt. Sie erfordern jeweils einen spezifischen Therapieplan und werden in diesem Kapitel systematisch besprochen. Wichtig Allerdings ist im praktischen Umgang mit Patienten mit Demenz die Differenzialdiagnose oft sehr schwierig, oft gar nicht möglich. Die Demenz ist in der Regel ein multimorbides Geschehen. 29 30 31 32 33 34 Die ersten klinischen Zeichen einer Demenz sind meist unspezifisch. Man spricht dann von leichter kognitiver Störung (»mild cognitive impairment«, MCI, s. unten). Allerdings entwickelt wahrscheinlich ein großer Teil dieser Patienten im weiteren Verlauf eine zu Beginn noch nicht diagnostizierbare AlzheimerKrankheit. Mehr als 70% der Patienten, die innerhalb von 2–3 Jahren eine Demenz entwickelten, hatten vorher ein MCI. Aufgrund der Alterspyramide nehmen Demenzerkrankungen deutlich zu, mit einer zu erwartenden Verdoppelung der Prävalenz bis 2050. Diagnostisches Vorgehen 35 36 37 38 39 40 Die Diagnostik stützt sich v. a. auf die genaue Anamnese, die Fremdanamnese und den neurologischen, psychiatrischen und neuropsychologischen Befund. Unterstützend sind standardisierte Testserien und die zerebrale Bildgebung. Es muss zunächst entschieden werden, ob in der klinischen Routineuntersuchung nur eine Eingangsdiagnostik mit grober Abschätzung der Defizite (zumeist durch den Allgemeinarzt) erfolgen soll oder ob das Ziel in einer Absicherung der Diagnose der Demenz liegt, die dann spezialisierten Zentren vorbehalten bleibt. Die Diagnosegruppen sind aufgrund der bestehenden Multimorbidität klinisch nur schwer, oftmals auch gar nicht, voneinander zu trennen. Wichtig Diagnostisch muss immer so früh wie möglich abgeklärt werden, ob dem beginnenden demenziellen Syndrom ein Krankheit zugrunde liegt, die ursächlich behandelt werden kann (z. B. HIV-Infektion, s. unten). Leichte kognitive Störung (MCI) Als MCI wird das Vorliegen eines kognitiven Defizits (mehr als 1,5 Standardabweichungen unterhalb der Altersnorm) bezeichnet, das sowohl subjektiv als auch objektiv zu belegen ist und das nicht zu einer Beeinträchtigung von Alltagsaktivitäten führt. Die leichte kognitive Störung bietet eine Möglichkeit der Sekundärprävention der Demenzen (Maßnahmen 7 Abschn. 31.1). MCI-Patienten leiden oft zusätzlich an einer depressiven Störung. Als mögliche Prädiktoren eines späteren Übergangs in eine AD werden u. a. neuropsychologische Untersuchungen, APOE-Genotypisierung, Liquormarker (Aβ42, Gesamt-Tau, hyperphosphoryliertes Tau), MRT (hippocampale/entorhinale Atrophie), SPECT und PET eingesetzt und hinsichtlich ihrer Vorhersagekraft untersucht. Demenz bei Alzheimer-Krankheit (AD) Die AD ist eine primär degenerative zerebrale Erkrankung mit progressivem Verlust von Nervenzellen. Die Folgen sind ein Abbau der intellektuellen Leistungsfähigkeit, Einschränkung der Bewältigung des Alltagslebens und Verhaltensauffälligkeiten. Die Ätiologie ist erst in Ansätzen bekannt; es finden sich charakteristische neuropathologische und neurochemische Merkmale. Die AD beginnt meist schleichend, in der Regel nach dem 60. Lebensjahr; nach erster Diagnosestellung führt sie im Durchschnitt nach 3,1– 6,6 Jahren zum Tode. Die Frühsymptome einer AD werden von der Umgebung des Patienten häufig erst später wahrgenommen, der Patient kann sie überspielen. Zunächst fallen Störungen der Merkfähigkeit und Konzentration, später Gedächtnis- und Orientierungsstörungen auf. Schließlich kommt verminderte Urteilskraft hinzu. Nicht nur kognitive Einbußen, sondern auch die demenzassoziierten Verhaltensstörungen (»behavioral and psychological symptoms in dementia«, BPSD) mit depressiven Störungen, Apathie, aggressivem Verhalten und Persönlichkeitsveränderungen (7 Abschn. 31.2) prägen im weiteren Verlauf das Krankheitsbild und führen schließlich zu einem Ver- 257 Demenz lust der Selbstständigkeit. Die AD-Diagnose ist erst durch eine autoptische neuropathologische Untersuchung zu sichern. Neurobiologie der AD. Typische, aber nicht pathognomonische neuropathologische Befunde sind: intrazelluläre neurofibrilläre Bündel aus hyperphosphoryliertem Tau-Protein, extrazelluläre Amyloidplaques aus Amyloid-β (Aβ) (insbesondere Aβ42, das durch proteolytische Spaltung des Amyloid-Precursor-Proteins (APP) durch die β- und γ-Sekretase entsteht), Neuronenverlust mit reaktiver Gliose, verminderte Aktivität der Acetylcholintransferase, aber auch Alterationen anderer Neurotransmittersysteme wie Somatostatin und Glutamat. Neuere Untersuchungen weisen auf Veränderungen des Glukosestoffwechsels und immunologische Störungen hin. Definition In der Amyloidhypothese der AD wird postuliert, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Anhäufung toxischer Amyloid-β-Peptide (Aβ) im Gehirn, der Bildung von Neurofibrillenbündeln und dem Untergang von Nervenzellkontakten und Nervenzellen besteht. Es ist ein wichtiges Ziel der Therapie und Prävention der AD solche Anti-Amyloidpharmaka zu finden, die sowohl die Bildung von Amyloidprotein verhindern als auch schon gebildete Aggregate abbauen können. Es findet sich ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer AD bei Angehörigen 1. Grades mit AD, bei familiärer Belastung mit Down-Syndrom (Trisomie), bei Vorliegen eines APOE-e4-Allels (besondere Bedeutung der Chromosomen 21, 14, 1 und 19) und bei Vorliegen kardiovaskulärer Risikofaktoren. Zur cholinergen Hypothese und der Hypothese der Fehlfunktion der glutamatergen Neurotransmission bei der AD: 7 Abschn. 10.2. Vaskuläre Demenz (VD) und gemischte Demenz Die VD entwickelt sich meist mehr oder weniger schnell nach einer Reihe von Schlaganfällen als Folge von zerebrovaskulärer Thrombose, Embolie oder Blutung. Somit ist an eine VD insbesondere bei plötzlichem Beginn, schrittweisen oder abrupten Verschlechterungen im Verlauf, Krampfanfällen in der Anamnese und Vorliegen fokal-neurologischer Ausfälle zu denken. In seltenen Fällen kann ein einziger ausgedehnter Infarkt Ursache sein. Zu Beginn zeigen 31 sich bei der VD häufiger als bei der AD Aufmerksamkeitsstörungen, Verlangsamung der Denkabläufe und der Psychomotorik, depressive Symptome (hier bis zu 40%, bei AD 15–25%) mit Antriebslosigkeit, aber auch Harninkontinenz, Gangstörungen und andere neurologische Zeichen. Die VD stellt die zweithäufigste Ursache einer demenziellen Entwicklung dar. Bei der gemischten Demenz (VD plus AD) kommt es bei AD-Patienten zu intrakraniellen Blutungen und ischämischen Infarkten (sehr häufig). Zusätzlich finden sich zahlreiche verschiedene Formen von VD, je nach der zugrunde liegenden Genese: 5 Post-Stroke-Demenz (nach Einzelinfarkt mit akutem Beginn, ca. 17%), 5 Multiinfarktdemenz (vorwiegend kortikale Demenz, ca. 40%) und 5 subkortikale vaskuläre Enzephalopathie (mit arterieller Hypertonie assoziiert, ischämische Läsionen überwiegend im Marklager, ca. 40%). Spezielle Demenzformen Es gibt neben der AD, der VD und den gemischten Formen noch eine große Zahl weiterer, entsprechend ihrer Ätiologie definierter Diagnosegruppen. Unter diesen ist die Demenz mit Lewy-Körperchen (»Lewy bodies«) am häufigsten. Sie zeichnet sich durch charakteristische Lewy-Körperchen in cholinergen Neuronen aus. Typisch sind hochgradige antipsychotikainduzierte (EPS, aber auch sedierende oder anticholinerge) Nebenwirkungen für diese Demenzform. Bei Parkinson-Patienten tritt im Verlauf der Erkrankung bei 40% der Patienten eine Demenz auf. Es ist die Demenz bei Parkinson-Syndrom. Als Risikofaktoren für das Auftreten dieser Demenz gelten ein akinetisch-rigider Verlaufstyp und höheres Lebensalter (meist ≥65 Jahre). Demenzen können auch bei Stoffwechselerkrankungen oder auch bei akuten Stoffwechselentgleisungen auftreten, z. B. bei Addison-Krankheit, Cushing-Syndrom, bei Nieren- und Leberversagen, Hypo- und Hypernatriämie, Hyper- und Hypoparathyriodismus oder Hypo- und Hyperthyriodismus. Auch Autoimmunerkrankungen, wie multiple Sklerose oder Lupus erythematosus, können die Ursache einer Demenz sein. Weitere Gründe für die Entwicklung einer Demenz können sein: Intoxikationen oder der Abusus von Alkohol oder anderen Drogen, Intoxikationen mit Schwermetallen; infektiöse Krankheiten (Herpesvirusinfektionen, HIV, Neurosyphilis, Neuroborreliose); Kopfverletzungen oder Epilepsie. 258 31.1 21 22 23 24 25 26 27 28 29 Kapitel 31 · Demenz Gesamtbehandlungsplan Die Behandlung der organischen Ursachen, die Ausschöpfung der Therapieeffekte mit Antidementiva und die nichtmedikamentösen Maßnahmen müssen eng ineinander greifen. Oft ist die Therapie der BPSD mit Antipsychotika (7 Abschn. 31.2) zusätzlich nötig. Ein stetiger Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Therapeuten ist anzustreben. Nur so kann man bei der immer zugrunde liegenden Multimorbidität dem Wunsch nach einer optimalen Fürsorge gerecht werden. Im Verlauf verschlimmern immer wieder Komorbiditäten, z. B. depressive Episoden, das Krankheitsbild. Vorübergehend notwendige internistische Begleitmedikation oder eine Narkose bei kleinen chirurgischen Eingriffen kann zu Veränderungen des Stoffwechsels und somit zu einer akuten Symptomverschlechterung führen. Das ist auch bei einschneidenden Lebensereignissen, wie Verlust der Wohnung oder des Partners, möglich. Prävention 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Es gibt mehrere Ansätze zum Versuch einer Primärprävention der Demenz. 5 Als mögliche protektive Faktoren hinsichtlich des Auftretens einer demenziellen Erkrankung gelten regelmäßige körperliche Aktivität, kognitiv stimulierende Freizeitaktivitäten (z. B. Lesen, Schreiben, Lösen von Kreuzworträtseln, Musizieren, Gesellschaftsspiele), soziale Aktivitäten und das Vermeiden kardiovaskulärer Risikofaktoren, z. B. kalorische Restriktion. 5 Weiterhin wurde eine Risikoreduktion durch regelmäßigen Verzehr von Fisch, Omega-3-Fettsäuren, mediterrane Diät und moderaten Alkoholkonsum beschrieben. Die mögliche Wirkung von Folsäure wird kontrovers diskutiert. 5 Für einen Einsatz von Östrogenen bei postmenopausalen Frauen fand sich kein Beleg; eher gab es Hinweise, dass bei älteren Frauen Östrogene und die Östrogen-Gestagen-Kombination negative Effekte auf kognitive Funktionen sowie ein höheres Risiko für MCI und Demenz haben. Auch vor der Gabe von α-Tocopherol (Vitamin E) ist abzuraten. Statine (Lipidsenker) reduzieren wahrscheinlich nicht die Inzidenz von Demenz. 5 Schließlich ist nach derzeitigem Wissensstand eine medikamentöse Behandlung der MCI mit Acetylcholinesterasehemmern (AChE-I) oder anderen Substanzen (Statine, Östrogene, Antiphlogistika, Antioxidanzien) nicht angezeigt. 31.2 Medikamentöse Therapie Demenz bei Alzheimer-Krankheit (AD) 5 Das Ziel einer medikamentösen Therapie im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplans liegt in einer Verminderung des Fortschreitens der Erkrankung, einer Verminderung der BPSD und dem Erhalt der Lebensqualität. Eine frühzeitige Behandlung sollte angestrebt werden. 5 Die AChE-I Donepezil, Galantamin und Rivastigmin sowie der NMDA-Antagonist Memantin sind gut evaluiert (7 Abschn. 10.6). Kombinationen von AChE-I und Memantin können vorteilhaft sein. Vaskuläre Demenz (VD) und gemischte Demenz 5 Im Vordergrund stehen Interventionen zur Prophylaxe vaskulärer Risikofaktoren. 5 Eine Behandlung der vaskulären Grundkrankheit ist für den Verlauf der VD wichtig. 5 AChE-I und Memantin können »off label« empfohlen werden, sind aber noch nicht ausreichend evidenzgesichert; dies gilt auch für die gemischte Demenz. Spezielle Demenzformen 5 Bei der Demenz mit Lewy-Körperchen sind AChE- I erfolgsversprechend. Bei einer notwendigen Antipsychotikaverordnung kann Quetiapin oder Clozapin gegeben werden. 5 Auch für die Demenz bei Parkinson-Syndrom liegen mit AChE-I positive Ergebnisse vor. Bei psychotischen Symptomen ist Quetiapin das Mittel der Wahl. 5 Für die anderen Demenzformen gibt es keine positiven Studien. Demenzassoziierte Verhaltensstörung (BPSD) 5 Die Pharmakotherapie der demenzassoziierten Verhaltensstörungen (BPSD) mit psychomotorischer Unruhe, Aggressivität, nächtlicher Desorientierung, desorganisiertem Verhalten oder paranoidem Erleben kann sich sehr schwierig gestalten. 5 Zunächst sollten medizinische, situative und umgebungsbedingte Auslöser überprüft und ggf. modifiziert werden und Stressoren, wenn möglich, reduziert werden. Alle nichtmedikamentösen Maßnahmen mit Zuwendung, Orientierungshilfen oder Tagesstrukturierung sind anzuwenden. 259 31.3 · Nichtmedikamentöse Maßnahmen 5 Vor einer symptomspezifischen medikamentösen Behandlung von BPSD sollte ein Behandlungsversuch mit AChE-I oder Memantin stehen. Auf diese Weise kann bei leicht ausgeprägten BPSD bereits teilweise eine ausreichende Besserung, bei ausgeprägten BPSD eine Einsparung von Antidepressiva oder Antipsychotika erreicht werden. 5 AChE-I und Memantin können demenzassoziierte Verhaltensstörungen günstig beeinflussen, wenngleich das Ausmaß der Verbesserungen insgesamt gering ist. 5 Die atypischen Antipsychotika (AAP) Risperidon und Olanzapin zeigen nach bisheriger Studienlage den besten Wirksamkeitsbeleg bei BPSD. 5 Risperidon hat als einziges AAP eine formale Zulassung in dieser Indikation. Wichtig Bei älteren Patienten mit Demenz besteht für alle Antipsychotika ein erhöhtes Risiko für zerebrovaskuläre Ereignisse. 5 Die Wirksamkeit von Melatonin (0,3–5 mg zur Nacht) bei Patienten mit Schlafstörungen im Alter und mit Demenz wird kontrovers diskutiert; zur Verordnung von Benzodiazepinhypnotika 7 Abschn. 9.10. 5 Die Empfehlungen zum Einsatz von Antidepressiva in der Behandlung depressiver Syndrome bei Demenz entsprechen den Empfehlungen zur Behandlung der Depression im Alter (7 Abschn. 5.10). 5 In 7 Abschn. 15.7.8 wird besonders auf die Notwendigkeit der Gabe von Antidpressiva bei körperlichen Krankheiten, die mit einer Depression assoziiert sind, eingegangen. Zu nennen ist hier besonders die Depression nach Schlaganfall (»post stroke depression«), die Vorläufer einer Demenz sein kann. Auch die Depression, die allgemein mit kognitiven Dysfunktionen auftritt und bei geriatrischen Patienten als Pseudodemenz bezeichnet wird, kann das erste Zeichen einer beginnenden Demenz sein. Bei diesen Depressionen auf organischer Grundlage sind SSRI indiziert. Wenn SSRI langfristig verordnet werden, sind die Risikovorbeugungen zu bedenken (7 Abschn. 5.6). 31 Wichtig Ältere Menschen haben eine erhöhte Suszeptibilität für Sedierung, Parkinsonoid, anticholinerge Wirkungen und Orthostase. Oft ist die renale Clearance vermindert und der hepatische Metabolismus verzögert. 31.3 Nichtmedikamentöse Maßnahmen 5 Die Information, Motivation und Psychoedukation des Patienten und der Angehörigen bzw. des Betreuers ist die Basis der Behandlung und sollte sich auch auf die Einnahme von Antidementiva beziehen. Es sollte besonders betont werden, dass ein vorübergehender Stillstand des Leistungsabbaus bereits ein Erfolg ist. Auch soziale, finanzielle und rechtliche Aspekte sowie Strategien zum Selbstmanagement und zur Problemlösung von Konfliktsituationen im Umgang mit dem Kranken sollten im Rahmen der Angehörigenarbeit besprochen werden. 5 Die Informiertheit aller Beteiligten über den diagnostischen und therapeutischen Stand ist die Basis für die Therapiearbeit (Lautenschlager et al. 2008): Für den Bereich der Demenzen und anderer neurodegenerativer Störungen sind dabei besonders zu erwähnen: – die Informationen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (http://www.dgppn.de), – der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (http://www.dgn.org/48.0.html), – der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (http://www .uni-duesseldorf.de/ awmf/ oder http://leitlinien.net/), – der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (http://www.dggg-online.de), – des Deutschen Zentrums für Alternsforschung (www.dzfa.de) sowie – des deutschen Zentrums für Altersfragen (http://www.dza.uni-heidelberg.de). 5 Weiterhin ist für eine psychosoziale Entlastung der Angehörigen zu sorgen, bei denen sich sonst in über 80% der Fälle depressive Störungen entwickeln können. 5 Psychotherapeutische und persönlichkeitsstützende Verfahren und verhaltenstherapeutische 260 Kapitel 31 · Demenz Interventionen können bei leichten bis mittel- 21 22 5 23 24 25 26 5 27 28 29 30 5 5 31 32 5 33 34 5 5 35 5 36 37 38 39 40 5 5 schweren Demenzen eingesetzt werden. Ein kompensatorisches Vorgehen mit dem Ziel, dass der Patient trotz Einbußen im Alltag zurechtkommt, ist anzustreben. Spezielle und verbliebene Fähigkeiten sollten gefördert werden. Einfache interne Strategien (»Memotechniken«) wie Gesichter-NamenAssoziationslernen und einfache externe Strategien (Listen, Kalender, aktive Hinweisreize wie Wecker) zur vereinfachten Umfeldstrukturierung können hilfreich sein. Informationen zu Personen, Zeit und Ort werden in der »Realitätsorientierungstherapie« (ROT) gelernt. In der »Milieutherapie« wird versucht, durch Anpassung des Wohn- und Lebensbereiches (Schaffung einer überschaubaren, aber anregenden Umgebung, konstant strukturierter Tagesablauf etc.) das Wohlbefinden und die verbliebenen Alltagskompetenzen des Patienten zu fördern. Bei schwereren Demenzen scheint die »Erinnerungstherapie«, die auch emotional entlastend ist und bei der auf alte Gedächtnisinhalte zurückgegriffen wird, sinnvoll zu sein. Weitere Maßnahmen können die »Validationstherapie«, die »Selbsterhaltungstherapie« (SET), Ergo-, Musik-, Kunst- und Bewegungstherapie sowie die multimodale sensorische Stimulation umfassen. Auch bei der BPSD sind nichtmedikamentöse Maßnahmen mit Zuwendung, Orientierungshilfen oder Tagesstrukturierung ein erster wichtiger Therapieschritt. Physiotherapie und sportlichen Aktivität unterstützen alle Therapiemaßnahmen. Defizite im sensorischen Bereich müssen soweit wie möglich behoben werden. Hilfen im Umgang mit Miktionsstörungen (insbesondere Inkontinenz) können auch zur Besserung psychiatrischer Begleitstörungen beitragen; Mobilität und Selbstwertempfinden werden gestärkt. Bei bereits eingetretener sozialer Isolierung sollten die von den Krankenkassen finanzierten ambulanten Soziotherapien genutzt werden. Die Pflege und Medikationseinnahme kann durch Sozialstationen oder Hausbesuche im Rahmen von Programmen der Institutsambulanzen psychiatrischer Kliniken verbessert werden. Auch Tageskliniken können die therapeutischen Optionen erweitern. 31.4 Checkliste ? 1. 2. 3. 4. Welche Antidementiva sind bei der Behandlung der Alzheimer-Demenz evaluiert? Wie werden vaskuläre Demenz und gemischte Demenzen pharmakologisch behandelt? Welche Medikamente werden bei demenzassoziierten Verhaltensstörungen eingesetzt? Was ist bei der Behandlung von Patienten mit einem demenziellen Syndrom zu beachten? 261 32.1 · 32 Bewegungsstörungen in der Psychiatrie 32.1 Therapie – 262 32.2 Behandlung von Bewegungsstörungen im Kindes- und Jugendalter – 263 32.3 Checkliste – 263 262 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Kapitel 32 · Bewegungsstörungen in der Psychiatrie Bewegungsstörungen sind ein Grenzgebiet der Psychiatrie. Sie können sowohl dem psychiatrischen als auch dem neurologischen Fachgebiet zugeschrieben werden. Da Parasomnien zusammen mit Bewegungsstörungen oft gemeinsam auftreten, werden sie in diesem Kapitel mit beschrieben. Restless-legs-Syndrom (RLS) und periodic limb movements in sleep (PLMS) Beim RLS kommt es zum Bewegungsdrang der Beine (oft mit sensiblen Störungen) und motorischer Unruhe. Die Symptome treten ausschließlich in Ruhe auf. Es kommt zu einer vorübergehenden Erleichterung bei Aktivität. Die Symptome sind abends und in der Nacht deutlich ausgeprägter als zu anderen Tageszeiten. Die Nachtruhe wird gestört. PLMS ist durch kurze stereotype Bewegungen bzw. Muskelkontraktionen im Bein mit einem Rhythmus von 20–60 s gekennzeichnet. Polysomnographie, Bewegungsaufzeichnung und Immobilisationstests sichern die Diagnose. RLS und PLMS treten besonders ab dem 50. Lebensjahr und oft auch kombiniert auf. Symptomatische Formen des RLS kommen u. a. bei Niereninsuffizienz, rheumatischer Polyarthritis und Eisenmangelanämie vor. Ticstörungen Tics sind plötzliche, unwillkürliche Bewegungen und/oder Lautäußerungen. Es sind dabei funktionell zusammenhängende Skelettgruppen gleichzeitig oder nacheinander einbezogen. Sie sind typischerweise schnell, abrupt einschießend und weniger als eine Sekunde andauernd, wobei sie sich oft in kurzen Serien stereotyp wiederholen. Tics sind nicht zweckgebunden und werden subjektiv als sinnlos erlebt. Sie variieren über die Zeit in ihrer Erscheinungsform (Komplexität, Art, Intensität, Häufigkeit) und lassen sich nach ihrer Qualität (motorisch/vokal) und ihrem Komplexitätsgrad (einfach, komplex) unterschieden. Die Spontanremissionsrate für die einfachen/multiplen Tics liegt zwischen 50–70%. Von chronischen Tics wird gesprochen, wenn die Tics länger als ein Jahr andauern. Treten sowohl motorische als auch und vokale Tics länger als ein Jahr auf, wird vom Gilles-dela-Tourette-Syndrom gesprochen. Die Spontanremission liegt hier zwischen 3 und 40%. Pathogenetisch wird davon ausgegangen, dass die Basalganglien und die mit ihnen verbundenen thalamischen und kortikalen Strukturen betroffen sind und eine erhöhte dopaminerge Aktivität im Striatum besteht (Rothenberger et al. 2005). Parasomnien Die folgenden Syndrome sind sowohl mit Bewegungsstörungen als auch mit Störungen des Schlafes assoziiert. In Alpträumen werden lebensbedrohliche Ängste erlebt. Sie treten im REM-Schlaf in den frühen Morgenstunden auf. Beim Erwachen ist der Betroffene orientiert. Dagegen ist Pavor nocturnus an den Tiefschlaf gebunden und geht mit einer vegetativen Erregung und vorübergehenden Desorientierung einher. Pavor nocturnus findet sich zumeist bei Kindern und Jugendlichen. Schlafwandeln (Somnambulismus) tritt im Tiefschlaf auf. Der Betroffene gestikuliert mit geöffneten Augen im Bett, geht im Zimmer auf und ab, reagiert kaum auf Ansprache und ist vorübergehend desorientiert. Zum Ablauf besteht eine Amnesie. Auch Zähneknirschen (Bruxismus) wird den Parasomnien zugezählt. Enuresis nocturna 7 Abschn. 33.3. 32.1 Therapie Die Therapie dieser Störungen wird i.d.R. ein Spezialist mit Schlaflabor übernehmen. Die wichtigen Therapieoptionen werden genannt. Für die Parasomnien gibt es keine etablierten medikamentösen Therapien. Restless-legs-Syndrom (RLS) und Periodic limb movements in sleep (PLMS) L-DOPA und Dopaminagonisten sind die Mittel der Wahl (7 Abschn. 14.2). Ticstörungen Es stehen Psychoedukation und eine symptomzentrierte Verhaltenstherapie (einschließlich Entspannungsverfahren) im Vordergrund. Bei starken Ausprägungen empfiehlt sich eine medikamentöse Therapie mit dem Dopamin2-Antagonisten Tiaprid oder dem Antipsychotikum Risperidon. Alternativ können Clonidin, Benzodiazepine, Baclofen, Antidepresssiva, Cannabinoide und ggf. Dopaminagonisten angewendet werden. Bei der Komorbidiät mit ADHS sollte bei leichterer Ausprägung zunächst mit einem Antipsychotikum behandelt werden, bei stärkerer Ausprägung ist teilweise eine Kombination aus Antipsychotikum und Methylphendiat sinnvoll. Bei komorbiden Zwangsstörungen kommt eine Kombination aus Antipsychotikum und Antidepressivum in Betracht (Rothenberger et al. 2005). 263 32.3 · Checkliste 32.3 32 Checkliste Fazit Pharmakotherapie und Psychotherapie bei Bewegungsstörungen 5 Restless-legs-Syndrom und »periodic limb movements in sleep« werden i.d.R. durch den Neurologen mit L-DOPA und Dopaminagonisten behandelt. 5 Die medikamentöse Therapie wird durch spezifische Verhaltensmaßregeln ergänzt, dies gilt besonders für die Ticstörungen. 32.2 Behandlung von Bewegungsstörungen im Kindes- und Jugendalter Parasomnien treten zumeist im Kleinkindalter auf. Die Behandlung der Parasomnien beinhaltet Psychoedukation der Eltern und Entspannungsverfahren mit den Kindern. Eine medikamentöse Empfehlung zur Behandlung von REM-Parasomnien (Alpträume) im Kindes- und Jugendalter gibt es nicht. Zur pharmakologischen Behandlung der Non-REM-Parasomnien (Pavor nocturnus, Schlafwandeln) wird Clonazepam empfohlen. Bei Bruxismus sollte zusätzlich zu den Entspannungsverfahren eine Vorstellung beim Zahnarzt erfolgen. Enuresis nocturna: 7 Abschn. 33.3 Das RLS und die PLMS haben ungefähr ein Prävalenz von 2% bei Kindern und können »off-label« mit Clonidin, Clonazepam, Gabapentin und Dopaminrezeptoragonisten behandelt werden. Die Ticstörungen beginnen im Median zwischen 6 und 7 Jahren. Etwa die Hälfte der Kinder leidet zusätzlich unter einer ADHS oder einer Zwangsstörung. Auch Schlafstörungen wie z. B. Ein- und Durchschlafschwierigkeiten, nächtliche Trennungsangst, Parasomnien wie Schlafwandeln und Pavor nocturnus kommen häufig komorbid vor. Die therapeutischen Maßnahmen sind die gleichen wie die im Erwachsenalter und sollten Psychoedukation, Verhaltenstherapie und ggf. eine Antipsychotikatherapie mit z. B. Risperidon beinhalten (Rothenberger et al. 2005) (7 Abschn. 32.1). ? 1. Welche Medikamente zur Behandlung des Restless-legs-Syndroms kennen Sie? 265 33.1 · Spezielle Störungen im Kindes- und Jugendalter 33.1 Tief greifende Entwicklungsstörungen – 266 33.1.1 Therapie – 267 33.2 Trennungsangst 33.2.1 Therapie – 268 33.3 Enuresis 33.3.1 Therapie – 269 33.4 Bindungsstörungen 33.4.1 Therapie – 270 33.5 Checkliste – 268 – 269 – 270 – 270 33 266 33.1 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Kapitel 33 · Spezielle Störungen im Kindes- und Jugendalter Tief greifende Entwicklungsstörungen Die tief greifenden Entwicklungsstörungen subsumieren eine Gruppe von Störungen, die durch qualitative Beeinträchtigungen in der gegenseitigen Interaktion und Kommunikation und durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten gekennzeichnet sind. Diese Störungen bestehen von frühester Kindheit an und manifestieren sich in den ersten 5 Lebensjahren. Die Kernsymptome zeigen eine entwicklungspsychologische Variabilität und erhebliche Unterschiede im Ausprägungsgrad, bleiben aber bis ins Erwachsenenalter als persistierende Symptomatik erhalten. Nach ICD-10 umfasst die Gruppe der tief greifenden Entwicklungsstörungen die folgenden Erkrankungen: 5 Frühkindlicher Autismus 5 Atypischer Autismus 5 Asperger-Syndrom 5 Rett-Syndrom 5 Desintegrative Störungen des Kindesalters 5 Überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien Das »Autismus-Spektrum« umfasst den frühkindlichen Autismus, den atypischen Autismus und das Asperger-Syndrom. Diese Bezeichnung soll demonstrieren, dass die Störungen sich nicht qualitativ unterscheiden, sondern quantitativ, d. h. in Bezug auf den Schweregrad der Störung. Vor allem beim frühkindlichen Autismus kommen häufig assoziierte Erkrankungen wie Epilepsie, Chromosomenanomalien (einschließlich fragiles XSyndrom, Down-Syndrom), tuberöse Sklerose, Neurofibromatose, metabolische Störungen (Phenylketonurie, Lesh-Nyhan-Syndrom, Histidinämie) und Infektionen (Röteln, Zytomegalie, Herpes simplex) vor. Während 30% der Betroffenen eine leichte Beeinträchtigung der Intelligenz aufweisen, haben 40% eine deutliche geistige Behinderung, und 30% verfügen über eine durchschnittliche Intelligenz. Die Prävalenz für die tief greifenden Entwicklungsstörungen liegt bei 30–60/10.000. In Bezug auf den frühkindlichen Autismus wird von einer Häufigkeit von 5–10/10.000 ausgegangen. Jungen sind beim frühkindlichen Autismus 3- bis 4-mal häufiger und beim Asperger-Syndrom 8-mal häufiger betroffen, wobei Mädchen meist stärker beeinträchtigt sind. Frühkindlicher Autismus Der frühkindliche Autismus wird auch nach dem Erstbeschreiber Kanner benannt (Kanner-Syndrom). Die Entwicklungsauffälligkeiten müssen in den ersten drei Jahren bereits vorhanden sein. Innerhalb der Diagnose des frühkindlichen Autismus unterscheidet man klinisch zwischen 5 »Low-functioning-Autismus«: Personen mit Intelligenzminderung und sehr geringen sprachlichen Fähigkeiten. 5 »High-functioning-Autismus«: Personen ohne Intelligenzminderung und mit guten sprachlichen Fähigkeiten. Etwa die Hälfte der Kinder entwickeln keine oder sehr verspätet eine nichtkommunikative Sprache, die später (im Schulalter oder danach) einen partiellen kommunikativen Charakter gewinnen kann. Viele Kinder zeigen eine Echolalie mit pronominaler Umkehr. Die Sprache ist durch grammatikalische Fehler und durch Neologismen gekennzeichnet. Der Sprechrhythmus ist häufig unmelodisch und abgehackt. Das Spielverhalten der Kinder mit frühkindlichem Autismus ist deutlich auffällig und interaktives Spielen ist kaum möglich. Spielzeug wird oft zweckentfremdet und stereotyp benutzt und häufig zur Selbststimulation von Sinnesbereichen umgewandelt. Zumeist bestehen Störungen der Reaktion auf Sprache, Geräusche und Körperempfindungen (Kälte, Schmerzen). Die meisten Patienten lehnen einen körperlichen Kontakt ab. Die Kinder zeigen ein ängstlich-zwanghaftes Bedürfnis nach Gleicherhaltung des Umfelds und umschriebene Ängste. Der Schlaf-Wach-Rhythmus ist häufig gestört. Neurobiologie. In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass Patienten mit einem frühkindlichen Autismus ein erhöhtes Gesamtgehirngewicht, ein erhöhtes Volumen des Zerebellums sowie Malformationen im parietotemporalen Kortex aufweisen, welche durch Störungen des neuronalen Wachstums und der Zellmigration verursacht werden. Weiterhin sprechen Befunde der funktionellen Bildgebung dafür, dass Prozesse der Gesichtserkennung, mentale Verarbeitungsprozesse und exekutive Funktionen verändert sind. Die Ergebnisse biochemischer Untersuchungen sind noch sehr heterogen. 30–50% der Kinder mit frühkindlichem Autismus weisen einen erhöhten Serotoninblutspiegel auf. Diskutiert werden auch Veränderungen im dopaminergen, noradrenergen und peptidergen System. Zur Erhebung neuropsychologischer Korrelate autistischer Störungen werden Intelligenzstruktur, exekutive Funktionen, Störungen der 267 33.1 · Tief greifende Entwicklungsstörungen »Theory of Mind« und schwache zentrale Kohärenz untersucht. Atypischer Autismus Der atypische Autismus wird vom frühkindlichen Autismus dadurch abgegrenzt, dass die Kinder nicht alle Kriterien nach ICD-10 bzw. DSM-IV erfüllen oder, dass sich Entwicklungsauffälligkeiten erst nach dem 3. Lebensjahr manifestieren. Diese Kinder sind meist stark intelligenzgemindert. Asperger-Syndrom Diese Störung wird in der Regel später als der frühkindliche Autismus und zwar zumeist um das 3. Lebensjahr diagnostiziert, was auf die frühe Sprachentwicklung und die gute kognitive Entwicklung der Kinder zurückzuführen ist. Die Sprache ist oft elaboriert mit großem Wortschatz. Die motorische Entwicklung ist häufig etwas verspätet. Die Patienten haben zumeist eine ausgeprägte Aufmerksamkeitsstörung. Sie werden dann auffällig, wenn besondere Anforderungen an ihre soziale Kompetenz und Emotionen gestellt werden (Kindergarten, Schule). Die betreffenden Kinder sind sowohl in ihrem nonverbalen Verhalten (Gesten, Mimik, Gebärden, Blickkontakt) als auch durch ihre Unfähigkeit, zwanglose Beziehungen zu Gleichaltrigen oder Älteren herzustellen, auffallend. Sie können auch emotional nur wenig mitreagieren und somit an den Emotionen anderer Menschen nur wenig teilhaben. Häufig haben sie intensive, eng umgrenzte und teilweise unsinnige Sonderinteressen mit lexikalischem Wissen. Es dominiert jedoch die reine Wissensspeicherung und es gelingt zumeist nicht, das Wissen in größere Zusammenhänge einzuordnen. Rett-Syndrom Beim Rett-Syndrom kommt es nach zunächst unauffälliger Entwicklung zwischen dem 7. und 24. Lebensmonat zu einem vollständigen Verlust des zielgerichteten Gebrauchs der Hände mit eigenartigen windenden Bewegungsstereotypien. Es kommt zu einem Verlust der Sprache und einer Verlangsamung des Kopfwachstums. Die Störung kommt fast ausschließlich bei Mädchen vor. Ursächlich hierfür ist eine Mutation des MECP2-Gens, welches auf dem distalen Abschnitt des X-Chromosoms lokalisiert ist. Tritt diese Mutation bei männlichen Individuen auf, so ist sie in der Regel tödlich. Desintegrative Störung des Kindesalters Bei der desintegrativen Störung des Kindesalters, auch Hellersche-Demenz genannt, kommt es zu einem Verlust bzw. fortschreitendem Abbau der Spra- 33 che, der intellektuellen, der sozialen und kommunikativen Fähigkeiten der Kinder. Die Darm- und Blasenkontrolle und motorische Funktionen sind ebenfalls betroffen. Die Störung tritt in der Regel zwischen dem 2. und 4. Lebensjahr auf und beginnt schleichend. Überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien Betroffene Kinder weisen eine schwere Intelligenzminderung (IQ <50) sowie eine erhebliche Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörung und stereotype Verhaltensmuster auf. Die Erkrankung ist häufig von einer Vielzahl von Entwicklungsstörungen begleitet. 33.1.1 Therapie Durch therapeutische Interventionen können einzelne Symptome bedeutsam gebessert, nicht aber geheilt werden. Frühförderung Die Behandlung muss so früh wie möglich beginnen und über längere Zeiträume durchgeführt werden. Die Behandlung kann die Interaktionsfähigkeit, die Anpassung an die Anforderungen des Alltags und die Selbständigkeit verbessern. Psychoedukation Das nicht adäquate Reagieren des Kindes auf Kontaktversuche der Eltern verlangt eine ausführliche Aufklärung der Eltern über Art und Schwere der Erkrankung. Die frühzeitige Entlastung der Familie und wirksame Unterstützung der Hauptbezugsperson müssen ein wesentlicher Bestandteil des Therapieplans sein. Eine individuelle Therapie ohne Einbeziehung der Bezugspersonen (Kindergarten, Schule) ist nicht sinnvoll, weil bei autistischen Kindern ein situationsübergreifender Transfer neuer Verhaltensweisen kaum stattfindet. Verhaltenstherapie Die gezielte Therapie bezieht sich auf die Entwicklung der sozialen Wahrnehmung, der Kommunikation und der Sprachförderung. Verhaltenstherapeutischen Techniken kommt ein besonderer Stellenwert zu, wie z. B. verstärkerorientiertem Training, Üben von Alltagssituationen anhand von Spielmaterial sowie Elementen des Rollenspiels. Zur Verbesserung der Selbstkontrolle und der Kontaktfähigkeit sind Therapieprogramme, die auf den Abbau von »Theory of Mind«Defiziten abzielen, wichtig. Die Kommunikation kann z. B. durch das Modifikationsprogramm nach 268 21 22 23 24 25 Kapitel 33 · Spezielle Störungen im Kindes- und Jugendalter Lovaas verbessert und exzessives, störendes Verhalten abgebaut werden. Durch Instruktionssysteme wie TEACCH kann die Selbständigkeit im lebenspraktischen Alltagsbereich und im Spielverhalten unter Betonung von Interaktionselementen trainiert werden. Zur Verbesserung der sozialen Fertigkeiten und der Kommunikationsfähigkeiten sind Aktivitäten mit Bezugspersonen (»Peers«) unverzichtbar. Für den Aufbau der Sprache ist es wichtig, die soziale Bedeutung der Sprache, z. B. durch sprachliches Kommentieren, für das Kind im sozialen Kontext zu erarbeiten und Einzelelemente sozialer Handlungen zu erfassen. Pharmakotherapie 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Eine signifikante Verbesserung von restriktiven, repetitiven und stereotypen Verhaltensmustern, Interessen und Aktivitäten sowie eine signifikante Reduktion von aggressivem und selbstverletzendem Verhalten konnte bei Patienten mit tief greifenden Entwicklungsstörungen in mehreren kontrollierten Studien durch Risperidon erzielt werden. Jedoch hat die Risperidonmedikation keinen Einfluss auf die soziale Interaktion und Kommunikation. Bei Unverträglichkeit von Risperidon können auch andere AAP wie z. B. Olanzapin, aber auch SSRI, Stimmungsstabilisierer und Clonidin eingesetzt werden. Bei Hyperaktivität und impulsivem Verhalten können Risperidon, andere AAP, Psychostimulanzien, Clonidin und Propranolol in Betracht kommen. Patienten mit einer überaktiven Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien profitieren zumeist nicht von einer Therapie mit Psychostimulanzien. Am ehesten sollte bei vorhandener Indikation mit einem AAP, z. B. Risperidon, behandelt werden. Bei komorbiden starken Ängsten kann eine Behandlung mit AAP, Buspiron oder Clonidin, bei depressiven Syndromen mit SSRI, notwendig sein. Bei zusätzlichen Anfallsleiden sind Stimmungsstabilisierer unverzichtbar. Weitere Therapiemaßnahmen Krankengymnastik und Heilpädagogik sind zur Behandlung motorischer Defizite und zur Besserung der Wahrnehmungsfähigkeit in Einzelfällen sinnvoll. Musiktherapie und Reittherapie können zur weiteren Kontaktaufnahme eingesetzt werden. Bei starken Eigen- und Fremdaggressionen kann die Festhaltetherapie in moderater Form zur Unterbrechung aggressiven Verhaltens eingesetzt werden. Eine stationäre Therapie bzw. eine Aufnahme in eine spezialisierte Institution ist bei erheblichen Selbst- und Fremdaggressionen, Stereotypien und Ritualen oder bei Überforderung der Familie indiziert. Die berufliche Eingliederung muss eine klientennahe Betreuung durch strukturierte und schrittweise aufgebaute Arbeitsaufträge und Anleitungen beinhalten (Leitlinien der Deutschen für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2003; Remschmidt 2005). Fazit Pharmakotherapie und Psychotherapie bei tief greifenden Entwicklungsstörungen 5 Die wichtigsten therapeutischen Maßnahmen bei tief greifenden Entwicklungsstörungen stellen Psychoedukation, Frühförderung, Verhaltenstherapie und Pharmakotherapie dar. Pharmakologisch hat sich zur Behandlung einiger Kern- und Begleitsymptome Risperidon bewährt. 33.2 Trennungsangst Die emotionale Störung des Kindesalters mit Trennungsangst wird auch als Schulphobie bezeichnet und gehört zusammen mit der Schulangst und dem Schulschwänzen in die Gruppe der Schulverweigerungen. Eine Trennungsangst liegt vor, wenn das Kind die Angst vor der Trennung von der Bezugsperson(en) als überwältigend erlebt, die Angst über die entwicklungsphysiologische Alterstufe hinaus andauert und die psychosoziale Entwicklung längerfristig erheblich beeinträchtigt ist, sodass das Kind z. B. den Kindergarten oder die Schule nicht mehr besuchen kann. Für die Entstehung dieser Störung ist eine Kombination aus ängstlicher Disposition und schwierigen Lebenseinflüsse, wie z. B. begründete Ängste vorm Verlassenwerden, maßgebend. 33.2.1 Therapie Psychoedukation und Verhaltenstherapie Leichtere Trennungsängste sind durch eine ambulante Psychoedukation und Vermittlung verhaltentherapeutischer Übungen der Bezugspersonen behebbar. Kind und Eltern müssen wieder die Erfahrung machen, dass bei einer Trennung die befürchteten Gefahren nicht eintreten. Dem Kind soll nicht in der Angst Zuwendung zukommen, sondern, wenn es erfolgreich die Angst überwunden hat. Es ist zu vermitteln, dass die begleitenden körperlichen Symptome, wie z. B. Magen- und Kopfschmerzen, tatsächlich vorliegen, 269 33.3 · Enuresis aber eine Folge der Angst sind. Auch die Bezugspersonen im Kindergarten und Schule müssen aufgeklärt und teilweise die Kinder dann speziell in der Einrichtung in Empfang genommen oder zu Hause abgeholt werden. Ist auch die elterliche Trennungsangst von Krankheitswert, sollte das erkrankte Elternteil sich ebenfalls einer verhaltenstherapeutischen Behandlung unterziehen. Bei mittelschweren Trennungsängsten ist eine tagesklinische Behandlung, bei schweren Ängsten eine vollstationäre Behandlung indiziert. Es wird dann zusammen mit dem Kind und den Eltern nach den Ursachen gesucht und es werden Verhaltenspläne für Trennungssituationen erarbeitet. Weitere verhaltenstherapeutische Behandlungsstrategien sind: Desensibilisierung, Lernen am Modell, Rollenspiele, KVT und Selbstbehauptungsübungen. Psychopharmakotherapie Falls eine antidepressive Begleitmedikation befristet indiziert ist, empfiehlt sich eine Behandlung mit einem SSRI. Eine Studie konnte die Wirksamkeit von Fluvoxamin nach vorheriger erfolgloser Verhaltenstherapie belegen (Blanz et al. 2006). Fazit Pharmakotherapie und Psychotherapie bei Trennungsangst 5 Die zentralen Therapiekomponenten bei Trennungsangst sind Psychoedukation und Verhaltenstherapie. Falls diese Maßnahmen nicht ausreichend sind, empfiehlt sich eine medikamentöse Behandlung mit einem SSRI. 33.3 Enuresis Die Enuresis kommt häufig im Kindesalter vor und weist eine hohe spontane Remissionsrate auf. Sie wird als unwillkürlicher Harnabgang ab einem Alter von 5 Jahren und einem geistigen Intelligenzalter von 4 Jahren definiert. Organische Grunderkrankungen müssen ausgeschlossen werden. Für das Stellen der Diagnose muss das Einnässen mindestens 3 Monate bestehen und die monatliche Häufigkeit des Einnässens muss 1-mal (<7 Jahre) bzw. 2-mal pro Monat betragen. Es wird nach tageszeitlichem Auftreten des Einnässens zwischen Enuresis nocturna, Enuresis diurna und Enuresis nocturna et diurna unterschieden. Die meisten Kinder, die tagsüber einnässen, 33 haben allerdings eine funktionelle Harninkontinenz, d. h. es liegt eine organisch bedingte Blasendysfunktion vor. Unter einer primären Enuresis versteht man ein Einnässen ohne längere trockene Periode, während die sekundäre Enuresis durch Wiedereinnässen nach einer längeren trockenen Periode (>6 Monate) definiert ist. An Komorbiditäten treten expansive, externalisierende Störungen, wie z. B. Störungen des Sozialverhaltens und ADHS, häufiger als emotionale, introversive Störungen auf. Neurobiologie. Es besteht eine genetisch bedingte Reifungsstörung des Zentralennervensystems. Neurophysiologische Untersuchungen weisen auf eine Störung der Hirnstammfunktionen hin. Bei vielen Kindern findet man eine vermehrte Urinproduktion, Veränderungen des zirkadianen Rhythmus des antidiuretischen Hormons (ADH) und eine erschwerte Erweckbarkeit. 33.3.1 Therapie Psychoedukation und Verhaltenstherapie Zunächst sollten unspezifische Maßnahmen wie Beratung und Beruhigung der Eltern, positive Verstärkung und Motivationsaufbau erfolgen. Es sollte auch dokumentiert werden, wie oft und in welchen Situationen das Kind einnässt. Falls diese Maßnahmen alleine nicht ausreichen, ist die apparative Verhaltenstherapie mittels »Klingelhose« oder »Klingelmatte« das Mittel der Wahl. Das Kind sollte darüber gut aufgeklärt und in die Planung miteinbezogen werden. Bei dieser Therapiemethode ist es wichtig, dass das Gerät jede Nacht eingesetzt wird, das Kind komplett nach dem Einnässen wach wird und die Therapie lange genug fortgesetzt wird. Ein weiteres effektives, aber aufwändigeres verhaltenstherapeutisches Programm stellt das »dry bed training« dar. Psychopharmakotherapie Eine medikamentöse Therapie ist indiziert, wenn andere Maßnahmen nicht gegriffen haben oder nicht durchgeführt werden können oder eine spezifische Indikation, wie z. B. das Nichteinnässen auf einer Klassenfahrt, besteht. Das Mittel der Wahl ist dann das synthetische Analog des ADH Desmopressin (Minirin®). Bei ca. 70% der Patienten kommt es zu einer Reduktion des nächtlichen Einnässens. Das Medikament sollte nicht länger als 12 Wochen verordnet werden. Besonders wirksam ist die Kombination von Desmopressin und apparativer Verhaltenstherapie, vor allem bei hoher Einnässfrequenz und 270 21 22 23 24 25 26 Kapitel 33 · Spezielle Störungen im Kindes- und Jugendalter begleitenden Verhaltensauffälligkeiten (von Gontard 2005). Zugelassen sind auch Clonipramin und Imipramin; sie werden aber in der Regel nicht mehr verordnet. Fazit Psychopharmakotherapie Pharmakotherapie und Psychotherapie bei Enuresis 5 Für die Behandlung einer Enuresis ist zunächst eine Psychoedukation essentiell, an die sich verhaltenstherapeutische Maßnahmen anschließen sollten. Falls diese Maßnahmen nicht erfolgreich sind, kann eine vorübergehende Gabe von Desmopressin wirksam sein. 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Kind aus der Familie herausgenommen werden muss. Da zumeist umschriebene Entwicklungsrückstände vorliegen, sind unter besonderer Berücksichtigung des Beziehungsaspektes Krankengymnastik, Ergotherapie und Logopädie erforderlich. Psychotherapeutische Verfahren können erst eingesetzt werden, wenn ein entsprechendes Entwicklungsalter erreicht ist. Bei Kindern, die sehr unruhig und aggressiv sind bzw. unter ausgeprägten Schlafstörungen leiden, kommt eine Behandlung mit Antipsychotika (z. B. Risperidon) in Betracht (Pfeiffer u. Lehmkuhl 2005). Fazit Pharmakotherapie und Psychotherapie bei Bindungsstörungen 33.4 Bindungsstörungen Die Definitionskriterien der Bindungsstörungen (ICD-10: Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters (F94.1) und Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F94.2)) beziehen sowohl intrapersonales Verhalten als auch interpersonelles Beziehungsverhalten mit ein. Das Krankheitsbild wird durch unzureichende oder traumatisierende Beziehungen in den ersten Lebensjahren verursacht und die Symptomatik ist an das Kleinkind- und Vorschulalter gebunden. Es können 2 Subtypen unterschieden werden: 5 eine gehemmte Form mit Vermeidung, Rückzug und Hypervigilanz, 5 eine ungehemmte Form mit vorwiegend nichtselektivem, distanzlos-diffusem Kontaktverhalten. Neurobiologie. Da frühe traumatisierende Beziehungserfahrungen in einer vulnerablen Phase, in der eine erhöhte neuronale und synaptische Plastizität besteht, auf das Gehirn einwirken, kommt es zu Veränderungen der synaptischen Verbindungen und des neuronalen Netzes. Vorwiegend treten Veränderungen im limbischen System auf, welches eine wichtige Funktion beim Steuern von Emotionen und beim Lernen hat. 33.4.1 Therapie Ziel der Behandlung ist die Herstellung und Sicherung eines entwicklungsfördernden, bindungsstabilen Milieus. Häufig ist eine Zusammenarbeit mit dem Jugendamt notwendig; manchmal ist es auch nötig, dass ein 5 Für die Behandlung von Bindungsstörungen ist ein entwicklungsförderndes und bindungsstabiles Milieus wichtig. Die Patienten profitieren von Krankengymnastik, Ergotherapie, Logopädie und verhaltenstherapeutischen Maßnahmen. Bei ausgeprägter Symptomatik ist eine medikamentöse Behandlung mit Antipsychotika vorübergehend sinnvoll. 33.5 Checkliste ? 1. 2. 3. 4. 5. Was versteht man unter den Kernsymptomen tief greifender Entwicklungsstörungen und welche medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten kennen Sie? Welche Therapiekomponenten können bei tief greifenden Entwicklungsstörungen zusätzlich zur Pharmakotherapie sinnvoll sein? Was versteht man unter Trennungsangst und wie wird sie behandelt? Wie wird Enuresis definiert und therapiert? Welche verschiedenen Bindungsstörungen gibt es und wie ist die medikamentöse Therapieempfehlung? 271 34.1 · 34 IV Spezielle Aspekte der Psychopharmakotherapie 34 Notfallpsychiatrie – 273 35 Psychopharmaka in Schwangerschaft und Stillzeit 36 Psychopharmaka und Fahrtüchtigkeit – 287 – 281 273 34.1 · Notfallpsychiatrie 34.1 Psychomotorische Erregungszustände – 275 34.2 Delirante Syndrome – 276 34.3 Stuporöse Zustände – 276 34.4 Suizidalität 34.5 Psychopharmaka als Ursache psychiatrischer Notfallsituationen – 278 34.6 Notfallsituationen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie – 279 34.7 Checkliste – 277 – 279 34 274 21 22 23 24 25 26 27 Kapitel 34 · Notfallpsychiatrie Psychiatrische Notfallsituationen kommen als krisenhafte Zuspitzungen im Rahmen psychiatrischer Grundkrankheiten und bei Gesunden (z. B. Agitiertheit, Stupor bei akuter Belastungsreaktion oder Suizidalität bei Anpassungsstörungen) vor. Die medikamentöse Behandlung erfolgt syndromgerichtet. Folgende Syndrome stehen im Mittelpunkt: 5 psychomotorische Erregungszustände, auch im Rahmen einer Psychose, 5 delirante Syndrome, 5 stuporöse Zustände, 5 Suizidalität. Auch die Störungen des Bewusstseins gehören zu dieser Gruppe; sie sind aber in der Regel keine Indikation für Psychopharmaka. Eine Ausnahme sind delirante Syndrome (s. oben). Auswahl der Notfallmedikation 28 29 Für die Pharmakotherapie psychiatrischer Notfallsituationen haben sich einige Antipsychotika und Benzodiazepine besonders bewährt (. Tab. 34.1): 30 > Die Kombination Haloperidol mit dem Benzodiazepin Lorazepam ist gut untersucht. Beide Dosen können dann geringer gewählt werden, dadurch wird das Risiko von Nebenwirkungen verringert. Auch können Benzodiazepine die Akathisie durch Antipsychotika dämpfen. Olanzapin sollte nicht mit Lorazepam kombiniert werden. Verhalten in der psychiatrischen Notfallsituation Die folgenden Maßnahmen sollten der medikamentösen Behandlung des psychiatrischen Notfalls unmittelbar vorausgehen (. Abb. 34.1): 5 Abschätzung einer akuten Gefahr für Patient, Untersucher, Personal und/oder sich selbst. 5 Ausschluss einer unmittelbaren vitalen Bedrohung durch eine internistische oder chirurgische (Grund)erkrankung. 5 Vorläufige diagnostische Einordnung von Notfallsyndrom und vermuteter zugrunde liegender psychiatrischer Störung (psychotisch, affektiv, Intoxikation, reaktiv, Persönlichkeitsstö- . Tab. 34.1. Auswahl der wichtigsten Psychopharmaka für die psychiatrische Notfallsituation 31 32 Präparat Indikation Dosierung Bemerkungen CAVE Haloperidol HaldolJanssen® Psychotische und delirante Zustandsbilder; psychomotorische Erregung auch schwerster Ausprägung i.m./p.o.: 5–10 mg, bei älteren Patienten niedriger (zunächst 1– 1,5 mg); ggf. Wiederholung alle 30 min Bewährtes Antipsychotikum; hohes Wirkpotenzial; hohes EPS-Risiko v. a. im hohen Dosisbereich In hohen Dosen kardiotoxisches Risiko. Cave: nicht i.v. Bei Frühdyskinesien, Biperiden (Akineton®) Olanzapin Zyprexa® Psychotische Zustandsbilder; psychomotorische Erregung bei Schizophrenie und Manie i.m.a: initial 5–10 mg; p.o.: initial 10–20 mg; Wiederholung alle 30 min möglich Bewährtes AAP; geringeres EPS-Risiko QTc-Verlängerung (7 Abschn. 7.6) möglich; Nicht i.v.a Melperon Eunerpan® Leicht- bis mittelgradige psychomotorische Erregung bei geriatrischen und internistisch erkrankten Patienten i.m.: initial 50–100 mg, maximal 200 mg/24 h Gute sedierende Eigenschaften bei mäßiger antipsychotischer Wirkung: keine anticholinergen Eigenschaften Hypotonie Lorazepam Tavor® Psychomotorische Erregung leichteren Grades; Angstzustände i.v./i.m.a: initial 0,5– 1 mg p.o.: initial 1–2,5 mg Ggf. Wiederholung alle 60 min, maximal 7,5 mg/24 h Kurze Halbwertszeit, keine aktiven Metaboliten; gut steuerbar Hypotonie und Atemdepression möglich, insbesondere in hohen Dosen und bei i.v.Gabe; i.v.-Applikation sehr langsam! 33 34 35 36 37 38 39 40 a Lorazepam nicht mit Clozapin oder Olanzapin kombinieren. 275 34.1 · Psychomotorische Erregungszustände 34 . Abb. 34.1. Handlungsablauf bei psychomotorischen Erregungszuständen. (Aus Benkert u. Hippius 2007) Agitierter Patient 5 ruhig und sicher auftreten 5 Patienten ernst nehmen 5 klare, eindeutige Anweisungen geben 5 aktiv und empatisch zuhören 5 Patienten nicht in die Enge treiben 5 Gefährdung evaluieren Kooperativ? Gesprächsbereit? ja Krisenintervention: nein 5 Gespräch Spannungsreduktion durch Angebote: 5 gemeinsame Konfliktlösung suchen 5 geplante Maßnahmen erklären 5 ggf. Essen, Trinken, Zigarette anbieten 5 Angehörigen nach Wunsch des Patienten einbeziehen oder ausschließen 5 ggf. Medikation Erfolg 5 Absprachefähigkeit beurteilen 5 Aufnahmeindikation klären kein Erfolg 5 Gefährdung reevaluieren 5 Stärke und Präsenz (Personal) signalisieren 5 Befugnis ggf. zu Maßnahmen gegen den Willen des Patienten erklären Erfolg 5 Entschlossenheit zeigen kein Erfolg Nach Regelung der Rechtsgrundlage: 5 Medikation auch ohne Einwilligung des Patienten 5 ggf. kurzfristige Fixierung rung) durch Fremdanamnese (Polizei, Personal, Angehörige) und Verhaltensbeobachtung. Eine genauere Diagnosestellung ist initial häufig nicht möglich und hat auch keine Priorität. 5 Festlegung der Behandlungsstrategie und -modalität (freiwillig – unfreiwillig, sofort – nach Aufnahme/Übernahme). Besteht Selbst- oder Fremdgefährdung, muss sofort gehandelt werden; für eine Rechtsgrundlage (Unterbringungsbeschluss, Betreuung) ist ggf. unmittelbar nach Bewältigung der akuten Krise zu sorgen. 34.1 Psychomotorische Erregungszustände Psychomotorische Erregungszustände sind durch ausgeprägte Antriebssteigerung sowie motorische Hyperaktivität, z. T. mit Gereiztheit, Aggressivität und Kontrollverlust gekennzeichnet. Oft besteht eine ängstliche Grundstimmung (v. a. bei psychotischen Erregungszuständen und Angststörungen). Erste Anzeichen sind mangelnde Kooperation, motorische Unruhe, Auf- und Abschreiten, intensives Gestikulieren, laute Sprache mit Drohgebärden, »Starren«, Reizbarkeit und Impulsivität. Eigen- und/oder Fremdgefährdung sind möglich. 276 21 22 Kapitel 34 · Notfallpsychiatrie > Notfalltherapie 5 Die Basistherapie besteht aus einer antipsychotischen Therapie: Haloperidol oder Olanzapin (. Tab. 34.1). 5 Als Zusatzmedikation kann (nur bei Haloperidol) Lorazepam gegeben werden. 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 > Notfalltherapie beim deliranten Syndrom 5 Beim Alkoholentzugsdelir wird Clomethiazol gegeben (7 Abschn. 11.2.3, Cave: Risiken). 5 Eine Alternative sind Benzodiazepine, v.a. Lorazepam (. Tab. 34.1). 34.3 34.2 Stuporöse Zustände Delirante Syndrome Ein Delir ist eine akute organische Psychose mit unterschiedlicher, häufig multifaktorieller Genese. Leitsymptome sind Bewusstseins- , Aufmerksamkeitsund kognitive Störungen (z. B. mnestische Störungen, Verwirrtheit) sowie Desorientiertheit. Zusätzlich können vorkommen: Wahrnehmungsstörungen mit – v. a. optischen – Halluzinationen und illusionären Verkennungen, erhöhte Suggestibilität, psychomotorische Unruhe und Erregung, z. T. mit Bewegungsstereotypien; außerdem fokal-neurologische Symptome wie Ataxie, Dysarthrie, Tremor und vegetative Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Diarrhöe, Hyperhidrosis, Hyperthermie und Tachykardie, Blutdruckanstieg. 5 Charakteristisch sind die Entwicklung der Symptomatik bis zum Vollbild innerhalb kürzester Zeit (Stunden bis wenige Tage) und ein Fluktuieren der Ausprägung. 5 Delirante Syndrome sind potenziell lebensbedrohliche Zustände; kontinuierliche Überwachung der Vitalparameter ist dringend geboten. 5 Ätiologisch liegen v. a. Entzugssyndrome (hauptsächlich Alkohol), Intoxikationen sowie Komplikationen bei internistischen und neurologischen Erkrankungen zugrunde. Diagnostik bei Verdachtsdiagnose Delir: 5 körperliche Untersuchung, 5 Vitalparameter, EKG, Körpertemperatur, 5 laborchemische und hämatologische Parameter (v. a. Alkoholspiegel, Glukose, Elektrolyte, Leberund Nierenparameter, Entzündungszeichen, Blutbild), 5 Urinstatus mit Drogenscreening, 5 Thoraxröntgen, 5 zerebrale Bildgebung, wenn möglich MRT, 5 evtl. EEG zum Ausschluss epileptischer Aktivität, 5 evtl. Lumbalpunktion. Unter einem Stupor wird ein abnormer Zustand psychomotorischer Hemmung mit eingeschränkter bzw. aufgehobener Reaktivität auf Umweltreize verstanden. Das Wachbewusstsein ist voll erhalten, eine Amnesie entsteht in der Regel nicht. Die Ätiologie ist vielfältig, das Syndrom kann bei verschiedenen psychiatrischen und internistischen Grunderkrankungen auftreten. Stupor bei katatoner Schizophrenie Die katatone Schizophrenie (7 Abschn. 30.2.5) zeigt sich mit psychomotorischer Hemmung, zumeist mit Mutismus und Stupor. Beobachtet werden kann dabei auch das Phänomen der »wächsernen Biegsamkeit« (Flexibilitas cerea): hierbei wird die passiv bewegte Extremität in z. T. grotesken Stellungen beibehalten. Wichtig Ein abruptes Umschlagen von katatonem Stupor in einen katatonen psychomotorischen Erregungszustand ohne offensichtlichen äußeren Anlass ist möglich. Sehr selten handelt es sich hierbei um einen Zustand mit lebensbedrohlicher perniziöse Katatonie mit Fieber (febrile Katatonie), autonomer Entgleisung, Akrozyanose, Petechien, Bewusstseinstrübung. Differenzialdiagnose: malignes neuroleptisches Syndrom (7 Abschn. 34.5). > Notfalltherapie beim Stupor bei katatoner Schizophrenie 5 Indiziert ist ein differenzialtherapeutischer Versuch mit Lorazepam, z. B. 1–2,5 mg p.o. (z. B. Expidet-Formulierung) oder 0,5–1 mg i.v. (maximal 7,5 mg/24 h). 5 Bei ausbleibendem Erfolg wird das Antipsychotikum Haloperidol dann verordnet, wenn ein malignes neuroleptisches Syndrom ausgeschlossen ist (7 Abschn. 34.5). Wichtig Depressiver Stupor 40 Es ist zu beachten, dass sich die Behandlung des Alkoholentzugsdelirs (7 Abschn. 28.1.1) von den übrigen Delirformen unterscheidet. Bei Vorliegen der diagnostischen Kriterien für eine depressive Episode steht eine ausgeprägte Antriebsminderung mit psychomotorischer und kognitiver 277 34.4 · Suizidalität Hemmung (»Pseudodemenz«) im Vordergrund. Die affektive Resonanzfähigkeit kann bis zur Affektstarre eingeschränkt sein, häufig besteht Negativismus. Blickkontakt ist vorhanden, das Verhalten bei Exploration wirkt passiv-duldend, weniger autistisch und bizarr als bei der katatonen Schizophrenie. > Notfalltherapie beim depressiven Stupor 5 Sie besteht ebenfalls aus einer Lorazepam-Medikation (s. oben). Stupor bei organischer katatoner Störung Phänomenologisch besteht Ähnlichkeit mit dem Stupor bei katatoner Schizophrenie. Differenzialdiagnostisch wegweisend sind pathologische Befunde bei der internistischen bzw. neurologischen Diagnostik. Es kann ggf. Haloperidol verordnet werden. Dissoziativer Stupor (psychogener Stupor) Bei bestehender psychomotorischer Hemmung mit Mutismus sowie fehlender oder stark eingeschränkter Reagibilität auf äußere Reize finden sich unauffällige organische Befunde, anamnestisch sind meistens keine psychiatrischen Achse-I-Störungen festzustellen. Diagnostisch wegweisend sind unmittelbar bzw. kurz zuvor vorausgegangene belastende Erlebnisse (Fremdanamnese). Häufig liegt eine auffällige Persönlichkeitsstruktur zugrunde. > Notfalltherapie beim psychogenen Stupor 5 Reizabschirmung, Distanz vom belastenden Ereignis bzw. belastenden Faktoren schaffen; Gespräch in ruhiger, neutraler Umgebung suchen; Zeit nehmen. 5 Lorazepam-Medikation (s. oben). 34.4 Suizidalität Suizidalität kommt als Symptom bei allen psychiatrischen Erkrankungen vor. Besonders häufig treten sie im Rahmen unipolarer oder bipolaren Störungen, schizophrenen Psychosen, alkoholbezogenen und Persönlichkeitsstörungen (besonders Borderline-Persönlichkeitsstörung) auf. Auch unabhängig von psychiatrischen Krankheitsbildern, z. B. im Terminalstadium schwerer somatischer Erkrankungen, als »Bilanzsuizid«, in Lebenskrisen, bei Verlusten und Trennungen, drastischen von außen kommenden Änderungen der Lebensweise, schweren Kränkungen kann Suizidalität auftreten. 34 Bei 90% aller Suizide liegt eine psychiatrische Erkrankung zugrunde (bei ca. 60% eine affektive Störung; Hauptrisikofaktor für einen Suizid ist die Diagnose einer Major Depression). Weitere Risikofaktoren sind: schwere Schlafstörungen, konkrete frühere Suizidversuche, fehlende soziale Einbindung oder Verlust von Bezugspersonen und handlungsweisender Charakter der Suizidideationen. Ein generell höheres Suizidrisiko haben Männer, ältere und allein lebende Menschen, psychiatrisch ersterkrankte Patienten sowie alters- und diagnoseunabhängig Patienten mit schlechtem Behandlungserfolg. Besonders gefährdet sind weiterhin Personen mit Suizidversuchen in der Anamnese und diagnoseübergreifend Patienten mit aktuell depressiver oder dysphorisch-agitierter Symptomatik. Gute familiäre, soziale und berufliche Bindungen sind protektive Faktoren. Umgang mit suizidalen Patienten Jede Suizidäußerung eines Patienten ist ernst zu nehmen, eine ausführliche Exploration ist dann zwingend nötig. 5 Zur Einschätzung der akuten Gefährdung ist die ausführliche Anamnese wichtig. Bei Verdacht auf Suizidalität muss diese offen thematisiert werden, die Absprachefähigkeit des Patienten ist zu beurteilen. Wichtig 5 Akut suizidale Patienten sind unverzüglich in Begleitung in eine psychiatrische Klinik einzuweisen, bei fehlender Krankheitseinsicht oder Behandlungsbereitschaft kann eine Einweisung nach dem Betreuungsrecht (BGB) bzw. dem Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) notwendig werden. > Wichtige Fragen: 5 Bestehen schon konkrete Vorstellungen oder sind schon Vorbereitungen getroffen? 5 Drängen sich Suizidgedanken passiv auf? 5 Wurden Suizidabsichten bereits angekündigt? 5 Haben sich zwischenmenschliche Kontakte in der letzten Zeit reduziert? > Notfalltherapie bei Suizidalität 5 Die Therapie ist stets abhängig von der Grunderkrankung, grundsätzlich sollte kombiniert pharmako- und psychotherapeutisch vorgegangen werden. 278 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 Kapitel 34 · Notfallpsychiatrie 5 Immer ist für einen ausreichenden Nachtschlaf (v. a. Durchschlafen) zu sorgen. Empfehlenswert ist ggf. eine Dosisverteilung des sedierenden Antipsychotikums bzw. Antidepressivums eher am späten Abend. Auch kann die zusätzliche Verordnung eines Schlafmittels notwendig sein. 5 Bei Suizidalität bei psychotischen Angst- und Erregungszuständen ist eine konsequente antipsychotische Behandlung (ggf. zusätzlich passagere Gabe von Lorazepam 2–4 mg/Tag) indiziert. Benzodiazepine haben einen sehr schnellen Effekt und können die Hoffnungslosigkeit, die oft Anlass der Suizidalität ist, vorübergehend lindern. 5 Bei Suizidalität im Rahmen depressiver Störungen werden ebenfalls zunächst Benzodiazepine (z. B. Lorazepam) gegeben. Die konsequente antidepressive Pharmakotherapie ist in der Akut- und Notfallsituation wegen der langen Wirklatenz zweitrangig. Bei hochsuizidal depressiven Patienten kann die EKB (7 Abschn. 15.6) lebensrettend sein. 5 Bei suizidalen Krisen bei Persönlichkeitsstörungen sind auch primär Benzodiazepine (z. B. Lorazepam) indiziert. 5 Bei Suizidalität im Rahmen von Suchterkrankungen steht zunächst die stationäre Entgiftung im Vordergrund (7 Kap. 28). 34.5 Psychopharmaka als Ursache psychiatrischer Notfallsituationen Psychopharmaka können selbst, über die bekannten Nebenwirkungen wie Unruhe, Umtriebigkeit, Erregtheit hinaus (besprochen in den jeweiligen Kapiteln), Notfallsituationen induzieren; die drei typischen werden im Folgenden besprochen. Die Therapie erfolgt in der Regel in der Notfallmedizin. Malignes neuroleptisches Syndrom Beim malignen neuroleptischen Syndrom handelt es sich um eine sehr seltene Nebenwirkung einer Antipsychotikatherapie, vorwiegend bei hohen Dosen hochpotenter Antipsychotika, in Einzelfällen auch unter AAP, jedoch auch bei normaler Dosierung. In der Regel tritt es innerhalb von 2 Wochen nach Beginn der Antipsychotikatherapie auf; dabei besteht vitale Gefährdung. Die Symptome entwickeln sich innerhalb von 24–72 h. Die Symptome sind: extrapyramidale Störungen mit Rigor, Akinesie, z. T. auch Dys- und Hyperkinesien, Stupor, fluktuierende Bewusstseinsstörungen bis zum Koma sowie autonome Funktionsstörungen mit Tachykardie, (labiler) Hypertonus, Tachy- bzw. Dyspnoe, Hautblässe oder -rötung, Hypersalivation, Hyperhidrose und Harninkontinenz. Im Labor ist besonders die Kreatinkinase (CK) erhöht. 32 Suizidprävention Zentrales Serotoninsyndrom 33 Wichtigste Maßnahme zur längerfristigen Suizidprävention bei psychiatrischen Erkrankungen ist die Beim zentralen Serotoninsyndrom (7 Abschn. 5.6) kommt es zu seltenen Neben- bzw. Wechselwirkungen von Pharmaka mit serotonerger Wirkkomponente, v. a. bei SSRI, Venlafaxin, Mirtazapin (additiv), TZA, MAO-Hemmer, 5-HT-Agonisten, Tryptophan, Kokain, Amphetamine, aber auch Lithium (vorwiegend in der Kombinationstherapie als pharmakodynamische Interaktion auf Ebene der serotonergen Neurotransmission im Sinne einer serotonergen Überaktivität). Es ist potenziell lebensbedrohlich und tritt überwiegend innerhalb der ersten 24 h nach Applikation auf. Die Symptome sind: Trias aus Fieber (»Schüttelfrost«), neuromuskulären Symptomen (Hyperrigidität, Hyperreflexie, Myoklonie, Tremor) und psychopathologischen Auffälligkeiten (delirante Symptome wie Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsstörungen, Desorientiertheit, Verwirrtheit, z. T. Erregungszustände). Weiterhin gastrointestinale Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö; vital bedrohliche Komplikationen durch epileptische Anfälle; Herzrhythmusstörungen; Koma; Multiorganversagen; Verbrauchskoagulopathie. 34 35 36 37 38 39 40 Durchführung einer Erhaltungstherapie bzw. Rezidivprophylaxe (je nach Diagnose antipsychotisch, antide- pressiv bzw. phasenprophylaktisch oder kombiniert). Wichtig Je akuter und ausgeprägter die Suizidalität ist, desto mehr muss zunächst die sedierende Komponente der medikamentösen Therapie betont werden. Eine kontinuierliche Überwachung und Betreuung des Patienten ist selbstverständlich. Der Patient sollte möglichst frühzeitig mit dem auch langfristig weiterbehandelnden Arzt in Kontakt gebracht werden, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. 279 34.7 · Checkliste Zentrales anticholinerges Syndrom Das zentrale anticholinerge Syndrom tritt auf bei Überdosierung bzw. Intoxikation mit anticholinerg wirksamen Pharmaka (z. B. Clozapin, TZA) sowie additiv bei deren Kombination, aber auch bereits in normalen Dosisbereichen. Es ist potenziell lebensbedrohlich. Die Symptome sind: anticholinerge Symptome wie trockene Haut und Schleimhäute, Hyperthermie, Mydriasis, Harnverhalt, Obstipation (bis zum paralytischen Ileus), Tachykardie und Herzrhythmusstörungen. Bei der agitierten Verlaufsform kann sich eine delirante Symptomatik, Desorientiertheit, Verwirrung, Sinnestäuschungen, motorische Unruhe und Agitation, Dysarthrie und zerebrale Krampfanfälle entwickeln, bei der sedativen Verlaufsform kommt es zu Somnolenz bzw. Koma. 34.6 Notfallsituationen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Alle Notfälle des Erwachsenenalters können auch bei Kindern und Jugendlichen vorkommen und sollten dann ebenso wie bei Erwachsenen behandelt werden. Notfälle bzw. Krisen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden durch schwerwiegende psychopathologische Symptome, Eigen- und Fremdgefährdung und gravierende Mängel im Betreuungs- und Bezugssystem definiert. Bei Mängeln im Betreuungs- und Bezugssystem wie Deprivation mit Misshandlung, sexuellem Missbrauch oder Gedeihstörungen sollte man sich an staatliche Institutionen, wie z. B. Jugendamt, Gesundheitsamt, Polizei oder Familiengericht, wenden. Häufige Notfälle in der Kinder- und Jugendpsychiatrie stellen Intoxikationen dar. Im Kindesalter sind es noch vorwiegend akzidenzielle Vergiftungen, während in der Adoleszenz hauptsächlich Intoxikationen mit Alkohol, Drogen und Medikamenten vorkommen. Durch Intoxikationen mit chemischen oder pflanzlichen Drogen können Psychosen ausgelöst werden. Dann ist häufig eine medikamentöse Therapie mit Antipsychotika und Benzodiazepinen nötig. Einige Drogen induzieren extrem psychotisches Erleben (z. B. LSD) und einige verursachen starke vegetative Nebenwirkungen (z. B. Stechapfel). Wann immer der Verdacht auf eine unklare oder starke Intoxikation besteht, empfiehlt es sich, sofort eine Notfallambulanz aufzusuchen oder den Notarzt zu rufen und Rücksprache mit einer Vergiftungszentrale zu halten. 34 Im Rahmen von Intoxikationen, aber auch von anderen Krisen, kann oft eine Eigen- und Fremdgefährdung mit Suizidalität, selbstschädigendem Verhalten, Aggressionen und Delinquenz bestehen. Dann sollte sofort gehandelt werden und der Notarzt und/ oder die Polizei verständigt werden. Die medikamentöse Akuttherapie besteht dann häufig aus Antipsychotika und/oder Benzodiazepinen. 34.7 Checkliste ? 1. 2. 3. Welches Antipsychotikum hat sich bei der Behandlung von schweren psychomotorischen Erregungszuständen bewährt? Welche Rolle spielt die Behandlung mit Benzodiazepinen, insbesondere mit Alprazolam, in Notfallsituationen? Welche Medikation ist bei suizidalen Krisen indiziert? 281 35.1 · 35 Psychopharmaka in Schwangerschaft und Stillzeit 35.1 Antidepressiva – 282 35.2 Lithium 35.3 Antikonvulsiva – 283 35.4 Antipsychotika – 283 35.5 Benzodiazepine und Non-Benzodiazepinhypnotika 35.6 Checkliste – 283 – 285 – 284 282 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 Kapitel 35 · Psychopharmaka in Schwangerschaft und Stillzeit Die Pharmakotherapie während der Schwangerschaft ist nicht geregelt, weil kein Psychopharmakon für diese Indikation speziell zugelassen ist. Durch den häufigeren Gebrauch gerade der neueren Antidepressiva und Antipsychotika werden auch mehr unerwünschte Wirkungen und Risiken in der Schwangerschaft und Stillzeit erkannt. Eine Beeinflussung für das Kind oder den Säugling durch Psychopharmaka ist zu keiner Zeit auszuschließen, denn nahezu alle Psychopharmaka sind plazentagängig und gehen in die Muttermilch über. So wird die Gabe psychotroper Medikamente während der Schwangerschaft und Stillzeit stets ein sorgfältiges Abwägen zwischen der Exposition des Kindes auf der einen und dem Risiko des Rezidivs der psychischen Erkrankung der Mutter nach dem Absetzen der Medikation auf der anderen Seite beinhalten. Auch gibt es schwere psychische Krankheiten, die ein Neuansetzen eines Antidepressivums, Antipsychotikums oder Benzodiazepins erforderlich machen. Eine Behandlung mit Psychopharmaka insbesondere im 1. Trimenon sollte nur dann durchgeführt werden, wenn das mit der psychischen Störung assoziierte Risiko für Mutter und Fetus das mit einer medikamentösen Behandlung verbundene Risiko übersteigt. Für Antidepressiva gilt diese Einschränkung nach neueren Beobachtungen auch für die Zeit nach der 20. Schwangerschaftswoche. Wichtig 5 Aufgrund der bekannten Risiken von Psychopharmaka in der Schwangerschaft und Stillzeit nimmt die Bedeutung engmaschiger Psychotherapie bei leichten und mittelschweren psychischen Erkrankungen zu. 5 Wenn ein Psychopharmakon bei schweren Erkrankungen dennoch verordnet werden muss, ist die niedrigste effektive Dosis über die kürzeste Behandlungszeit zu wählen. 5 Die Indikation zur Behandlung mit Psychopharmaka muss in der Schwangerschaft besonders eng gestellt werden. Die Eltern sind ausführlich über die möglichen Risiken aufzuklären. 38 39 40 Bei Beschreibung der Risiken wird die Wirkung des Psychopharmakons auf 5 Teratogenität, 5 Perinatalsyndrome (Perinataltoxizität) und 5 postnatale Entwicklungs- und Verhaltensstörungen (Verhaltenstoxizität) unterschieden. Es werden hier nur Beobachtungen erwähnt, die auch Konsequenzen in der Verordnung haben. 35.1 Antidepressiva Während man bisher davon ausging, dass SSRI ohne Risiko in der Schwangerschaft gegeben werden könnten, ist kürzlich eine Assoziation zwischen SSRIBehandlung nach der 20. Schwangerschaftswoche und pulmonaler Hypertension beim Neugeborenen deutlich geworden. Eine solche Assoziation fand sich nicht nach Einnahme von Amitriptylin, Imipramin, Nortriptylin, Venlafaxin oder Bupropion in der Schwangerschaft. Für Escitalopram und Fluvoxamin liegen noch nicht genügend Daten vor, um eine Risikoabschätzung zu treffen. Darüber hinaus fand sich eine Assoziation zwischen SSRI-Behandlung in der Schwangerschaft und einer verkürzten Schwangerschaftsdauer, einem geringeren Geburtsgewicht sowie einem schlechteren Apgar-Wert. Der Zusammenhang mit dem ApgarWert fand sich jedoch nur bei Einnahme des SSRI im 3. Trimenon der Schwangerschaft. Auch zeigte sich eine erhöhte intensivmedizinische Behandlungsnotwendigkeit für Neugeborene, deren Mütter im 3. Trimenon SSRI eingenommen hatten. Es gibt aber auch Untersuchungen, die einen solchenZusammenhang nicht finden. Fazit Pharmakotherapie mit Antidepressiva in der Schwangerschaft und Stillzeit – Bewertung 5 Durch die Ergebnisse der oben genannten Studie zur Assoziation von SSRI-Behandlung von Schwangeren nach der 20. Schwangerschaftswoche und pulmonaler Hypertension bei Neugeborenen muss die Empfehlung zur Verordnung von Antidepressiva in der Schwangerschaft weiter eingeengt werden. 5 Bei leichten und mittelschweren Depressionen sollte auf die kognitive Verhaltenstherapie oder die interpersonelle Psychotherapie zurückgegriffen werden. 5 Bei der Auswahl des Antidepressivums sollte berücksichtigt werden, dass SSRI mit erhöhter Perinataltoxizität und einem erhöhten Risiko für eine pulmonale Hypertension einhergehen können. Paroxetin sollte in der Schwangerschaft nicht gegeben werden. 5 Werden die Risiken der Depression für die Mutter höher als die Risiken für das Kind eingestuft und ist somit eine Indikation für Antidepressiva gegeben, 283 35.4 · Antipsychotika scheinen heute TZA unproblematischer als SSRI hinsichtlich erhöhter Perinataltoxizität und der Gefahr der Entstehung einer pulmonalen Hypertension zu sein. Da unter TZA bisher schon Nortriptylin wegen der geringsten Nebenwirkungen innerhalb dieser Gruppe der Vorzug gegeben wurde, könnte dieses Präparat zzt. das Mittel der Wahl sein. 5 Diese vorsichtigen Empfehlungen sollten aber in keinem Fall dazu führen, dass depressiven Schwangeren eine notwendige Therapie vorenthalten wird. 35.2 Lithium 5 Durch Einnahme von Lithium (7 Abschn. 6.4.1) während der Schwangerschaft können kardiovaskuläre Fehlbildungen ausgelöst werden, selten kann es auch zur Ausbildung einer Ebstein-Anomalie (Kombination aus Trikuspidalinsuffizienz, offenem Ductus arteriosus und Hypoplasie des rechten Ventrikels) kommen. 5 Auch das Frühgeburtsrisiko ist bei Schwangeren unter Lithium erhöht. 5 Bei Behandlung der Mutter mit Lithium in den letzten Schwangerschaftswochen zeigt das Neugeborene u. U. ein Floppy-infant-Syndrom: Lethargie, muskuläre Hypotonie, Hypothermie, Ateminsuffizienz, abgeschwächte Saugreflexe mit Ernährungsstörungen. Eine Rückbildung ist meist innerhalb von 1–2 Wochen zu erwarten. Gelegentlich bei Neugeborenen beobachtete Strumen sind innerhalb einiger Monate reversibel. 5 Bei Einnahme von Lithium während der Stillzeit werden beim Säugling Werte zwischen 10 und 50% der bei der Mutter erhobenen Spiegel gemessen. Folgen dieser Lithiumserumspiegel für das Kind sind unbekannt. Fazit Pharmakotherapie mit Lithium in der Schwangerschaft und Stillzeit – Bewertung 5 Frauen, die Lithium einnehmen, sollten aufgrund des potenziell teratogenen Risikos grundsätzlich kontrazeptive Maßnahmen einleiten. 5 Bei geplanter Schwangerschaft ist eine Latenz von 2 Wochen zwischen Absetzen von Lithium und Konzeption notwendig. 5 Es sollte grundsätzlich versucht werden, im 1. Trimenon auf eine Behandlung mit Lithium zu verzichten. 5 Vom Stillen unter Lithium ist abzuraten. 35 5 Es ist daran zu denken, dass rasches Absetzen von Lithium das Rezidivrisiko erhöht und möglicherweise bei Wiederansetzen von Lithium keine Response mehr zu erreichen ist. 35.3 Antikonvulsiva 5 Carbamazepin, Lamotrigin und Valproinsäure müssen bei Einnahme im 1. Trimenon als teratogen betrachtet werden. 5 Das Risiko für Fehlbildungen bei Kindern epilepsiekranker Frauen, die während der Schwangerschaft Antikonvulsiva einnahmen, ist 2- bis 3fach gegenüber der Normalbevölkerung erhöht. Carbamazepin- und Valproinsäureeinnahme während des 1. Trimenons erhöht das Risiko für Neuralrohrverschlussstörungen (Spina bifida) und für Verschlussstörungen im Urogenitaltrakt (Hypospadie). Eine Folsäuresubstitution ist indiziert. Fazit Pharmakotherapie mit Antikonvulsiva in der Schwangerschaft und Stillzeit – Bewertung 5 Auf Carbamazepin, Lamotrigin und Valproinsäure sollte während der Schwangerschaft bei psychischen Erkrankungen verzichtet werden. 5 Vom Stillen ist unter diesen Präparaten abzuraten. 5 Falls Antikonvulsiva dennoch verordnet werden müssen, ist Folsäure zu geben. 35.4 Antipsychotika 5 Bisher gibt es keinen eindeutigen Nachweis teratogenen Potenzials und einer damit verbundenen Zunahme von Fehlbildungen nach Antipsychotikaexposition. Aber nach pränataler Exposition gegenüber Phenothiazinen (z. B. Chlorpromazin) gibt es Berichte über das Auftreten von Fehlbildungen im Bereich der kardiovaskulären Organe, des ZNS und des Skeletts. 5 Die Erfahrungen mit atypischen Antipsychotika (AAP) in der Schwangerschaft sind begrenzt. Die umfangreichsten Daten sind für Olanzapin publiziert; obwohl diese nicht auf erhöhte Fehlbildungsraten hinweisen, kann aufgrund der niedrigen Fallzahlen auch diese Substanz nicht als 284 21 22 23 24 25 26 27 Kapitel 35 · Psychopharmaka in Schwangerschaft und Stillzeit unbedenklich gelten. In einer kleinen prospektiven Studie mit Olanzapin, Quetiapin und Risperidon in der Schwangerschaft fanden sich keine Hinweise auf erhöhte Fehlbildungsraten. Für die anderen AAP liegen nur Einzelfallberichte vor. 5 Auf eine ausreichende Zufuhr an Folsäure ist besonders bei Patienten, die unter AAP an Gewicht zunehmen, zu achten. 5 Bei Neugeborenen, deren Mütter während der Schwangerschaft konventionelle Antipsychotika eingenommen haben, muss mit EPS gerechnet werden, die sich nach einigen Tagen zurück bilden. Perinatalsyndrome wurden jedoch auch bei Gabe von Olanzapin berichtet. Clozapin ist kontraindiziert. 5 Antipsychotika können in unterschiedlichem Umfang in die Muttermilch übergehen. Daher ist bei Behandlung mit Antipsychotika vom Stillen abzuraten. 30 31 32 33 34 35 36 37 Fazit Pharmakotherapie mit Antipsychotika in der Schwangerschaft und Stillzeit – Bewertung 5 Auf Antipsychotika im 1. Trimenon sollte verzichtet werden. 5 Muss eine Behandlung während der Schwangerschaft durchgeführt werden, sollte ca. 14 Tage vor dem erwarteten Geburtstermin ein Absetzversuch bzw. zumindest eine Dosisreduktion angestrebt werden, um das Risiko für EPS beim Neugeborenen zu verringern. Bei zwingender Notwendigkeit ist am ehesten eine niedrig dosierte Therapie mit Haloperidol durchzuführen, da hier die größten klinischen Erfahrungen vorliegen. Wenn ein AAP verordnet werden soll, erscheint Olanzapin zzt. am wenigsten risikoreich. 5 Vom Stillen unter Antipsychotika ist abzuraten. 5 Auf die Gabe des Antiparkinsonmittels Biperiden sollte in der Schwangerschaft verzichtet werden, da die Substanz als zumindest gering teratogen einzuschätzen ist. 38 35.5 39 40 5 5 5 28 29 5 Benzodiazepine und NonBenzodiazepinhypnotika 5 Eine definitive Aussage zur Teratogenität von Benzodiazepinen, besonders bei Gabe im 1. Trimenon, kann zzt. nicht gemacht werden. Vor allem in älteren Untersuchungen gibt es Hinweise auf das gehäufte Auftreten von Gesichtsspalten. Clonazepam wird hinsichtlich des teratogenen Risikos gegenwärtig als am wenigsten bedenklich eingeschätzt. Bei Neugeborenen kann es zum Floppy-infantSyndrom (7 Abschn. 35.2) kommen. Auch Entzugssyndrome kommen beim Neugeborenen nach längerer Benzodiazepineinnahme durch die Mutter vor. Diese Symptome halten meist nur wenige Stunden oder Tage an, sie können jedoch bis zu mehreren Wochen persistieren. Langwirksame Benzodiazepine mit aktiven Metaboliten sind als besonders bedenklich einzuschätzen, da sie im Fetus wegen des unzureichenden Stoffwechsels kumulieren können. Benzodiazepine gehen in die Muttermilch über; die beschriebenen Spiegel sind in der Regel allerdings sehr niedrig. Klinische Untersuchungen zeigen unterschiedliche Ergebnisse hinsichtlich Entwicklungsverzögerungen. Häufig findet sich bei retardierter Entwicklung der Kinder bei den Müttern neben der Einnahme von Benzodiazepinen ein Missbrauch von Alkohol oder Drogen. Fazit Pharmakotherapie mit Benzodiazepinen und Non-Benzodiazepinen in der Schwangerschaft und Stillzeit – Bewertung 5 Benzodiazepe im 1. Trimenon sollten aufgrund des nicht auszuschließenden teratogenen Risikos vermieden werden. Im 2. Trimenon scheinen geringe Gaben von Benzodiazepinen keine Komplikationen hervorzurufen. 5 Da die Metabolisierungskapazitäten beim Säugling nicht ausgereift sind, muss mit ausgeprägten Benzodiazepinwirkungen (Sedierung, Lethargie, Trinkschwierigkeiten) gerechnet werden. Da Benzodiazepine jedoch nur in geringem Maße in die Muttermilch übergehen, raten einige Autoren dennoch nicht prinzipiell vom Stillen ab. 5 Für die Non-Benzodiazepinhypnotika liegen nur wenige Daten vor; sie sollten in Schwangerschaft und Stillzeit nicht gegeben werden. 35.6 · Checkliste 35.6 Checkliste ? 1. 2. 3. 4. Was ist bei der Behandlung einer Depression in der Schwangerschaft zu bedenken? Welche Antipsychotika haben in der Schwangerschaft nach dem derzeitigen Wissensstand das geringste Risiko? Was ist bei einer Behandlung mit Lithium in der Schwangerschaft und in der Stillzeit zu beachten? Welche Risiken beinhaltet die Gabe von Benzodiazepinen in der Schwangerschaft und in der Stillzeit? 285 35 287 36.1 · 36 Psychopharmaka und Fahrtüchtigkeit 36.1 Checkliste – 290 288 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 Kapitel 36 · Psychopharmaka und Fahrtüchtigkeit Fahrtüchtigkeit, Alltagsicherheit und Reaktionsfähigkeit können durch psychische Krankheiten und durch Psychopharmaka beeinträchtigt werden. Deshalb müssen mögliche Änderungen dieser Eigenschaften stets abgeschätzt werden, um Einschränkungen durch eine eingeleitete Psychopharmakotherapie frühzeitig zu erkennen. Im Vordergrund dieser Ausführungen steht die Fahrtüchtigkeit. Diese, die Reaktionsfähigkeit und die Alltagssicherheit werden von Psychopharmaka im gleichen Sinne beeinflusst. Es gibt deshalb im Umgang mit Psychopharmaka einige Regeln: 5 In der Ein- oder Umstellungsphase mit sedierenden Psychopharmaka muss in der Regel die Fahrtüchtigkeit für mindestens ca. 14 Tage verneint werden. Diese Zeitspanne kann im Einzelfall erheblich länger sein. 5 Eine stabile Erhaltungstherapie wird in der Regel die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht beeinflussen. Die Einnahme von Benzodiazepinen, sedierenden Antidepressiva oder Antipsychotika hingegen kann die Fahrtüchtigkeit auch langfristig beinträchtigen. Bei einigen Erkrankungen, die von sich aus die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausschließen können, kann erst durch die Arzneimittelbehandlung die Voraussetzung zum Führen von Kraftfahrzeugen wieder erreicht werden. Entscheidend bleibt jedoch auch hier, ob eine Arzneimitteltherapie zu einer wesentlichen Beeinträchtigung der psychophysischen Leistungsfähigkeit führt. Bei Unsicherheit in dieser Frage kann ggf. eine verkehrsmedizinische Untersuchung unter Einbeziehung objektiver Leistungstests erfolgen. Wichtig 35 36 37 38 39 40 5 Über eine mögliche Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit durch Psychopharmaka sowie über mögliche Interaktionen mit anderen Arzneimitteln, besonders mit Alkohol, muss der Patient vor Teilnahme am Straßenverkehr stets aufgeklärt werden. Die Inhalte der Aufklärung sollten im Krankenblatt dokumentiert werden. 5 Dem Patienten muss eine Mitverantwortung und Entscheidungskompetenz zugewiesen werden. Das Gutachten »Krankheit und Kraftverkehr« (zuletzt 2000 vom Gemeinsamen Beirat für Verkehrsmedizin von den Bundesministerien für Verkehr und Gesundheit unter dem neuen Titel »Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrteignung« herausgegeben), beinhaltet Grundlagen zur medizinischen Beurteilung der Fahreignung. Es ist eine Stellungnahme, die im Einzelfall, aber nicht für jeden Patienten Gültigkeit haben kann. Sinngemäß enthalten die »Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrteignung« u. a. folgende Leitsätze zu psychiatrischen Grunderkrankungen: 5 Bei jeder schweren Depression, die z. B. mit Wahn, stuporösen Symptomen oder akuter Suizidalität einhergeht, und bei allen manischen Phasen sind die Voraussetzungen zum sicheren Führen von Kraftfahrzeugen nicht gegeben, ebenso wenig wie in akuten Stadien schizophrener Episoden, bei Demenz oder bei organischen Psychosen wie einem Delir oder einem Korsakow-Syndrom. 5 Grundsätzlich werden nach Abklingen der Akutsymptomatik Überprüfungen der Fahrtauglichkeit empfohlen. Die Eignung zur aktiven Wiederteilnahme am Straßenverkehr setzt allerdings symptomfreie Intervalle voraus. Diese differieren je nach Grunderkrankung erheblich, z. B. kann in der Regel nach einer ersten schweren psychotischen Episode nach 6-monatiger Symptomfreiheit die Fahrerlaubnis wiedererlangt werden. Besonders günstige Krankheitsverläufe rechtfertigen eine Verkürzung dieser Zeit. . Tabelle 36.1 gibt einen Überblick über die Beeinträchtigungen der Fahrtüchtigkeit. Psychopharmaka und Fahrtüchtigkeit 289 36 . Tab. 36.1. Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit unter Psychopharmaka Psychopharmaka Eigenschaften Einfluss auf Fahrtüchtigkeit Antidepressiva Sedierend (z. B. Amitriptylin, Doxepin, Mirtazapin) Fahrtüchtigkeit während Aufdosierung und in den ersten 2 Wochen nach Erreichen der Zieldosis eingeschränkt; Beeinträchtigung auch während Erhaltungstherapie möglich Nichtsedierend (z. B. Desipramin, Duloxetin, MAO-Hemmer, Nortriptylin, Reboxetin, SSRI, Venlafaxin) Fahrtüchtigkeit oft nicht eingeschränkt; Beeinträchtigung kann im Einzelfall jedoch auch längerfristig fortbestehen Zu Beginn der Behandlung Sedierung und Einschränkung der Konzentrationsfähigkeit, orthostatische Dysregulation (besonders Phenothiazine mit aliphatischer Seitenkette, z. B. Levopromazin) Fahrtüchtigkeit während Aufdosierung und in den ersten 2 Wochen nach Erreichen der Zieldosis eingeschränkt; Beeinträchtigung auch während Erhaltungstherapie möglich Sedierender Effekt bei Clozapin, Olanzapin und Quetiapin kann länger anhaltend sein Bei Clozapin, Olanzapin und Quetiapin muss mit längerer Einschränkungszeit gerechnet werden Benzodiazepine (auch Non-Benzodiazepinhypnotika) Sedierend, Konzentrationsstörung und Funktionsstörungen der Muskulatur bekannt, Amnesie möglich Fahrtüchtigkeit in Einstellungsphase und Erhaltungstherapie dosisabhängig eingeschränkt; bei längerer Halbwertszeit Hang-over möglich Dopamin-Agonisten (Levodopa, Pramipexol, Ropinirol) Übermäßiger Schläfrigkeit; gelegentlich plötzliches Einschlafen, auch ohne vorherige Warnzeichen Es muss mit längeren Einschränkungen gerechnet werden Opioid-Agonisten (Buprenorphin, Methadon) Müdigkeit, Benommenheit, Schwindel Fahrtüchtigkeit während Aufdosierung und in den ersten Wochen nach Dosisstabilisierung eingeschränkt; Beeinträchtigung auch während stabiler Dosis möglich Antipsychotikaa Stimmungsstabilisierer a 5 Carbamazepin Bei Therapiebeginn Benommenheit, Schwindel, ataktische Störungen und Müdigkeit bekannt 5 Lamotrigin Oft verschwommenes Sehen, Schwindel und Müdigkeit, auch Reizbarkeit; Tremor und Ataxie 5 Lithium Als initiale Nebenwirkungen leichte Müdigkeit und feinschlägiger Tremor bekannt 5 Valproinsäure Bei Therapiebeginn Sedierung, Tremor und ataktische Störungen bekannt Fahrtüchtigkeit während Aufdosierung eingeschränkt; Beeinträchtigung auch während Erhaltungstherapie möglich Konventionelle Antipsychotika beeinträchtigen die Fahrtüchtigkeit i.d.R. stärker als atypische Antipsychotika. 290 Kapitel 36 · Psychopharmaka und Fahrtüchtigkeit 36.1 Checkliste 21 ? 22 1. 23 2. 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 3. Welchen Effekt haben Antidepressiva auf die Fahrtüchtigkeit? Was ist bei der Gabe von Antipsychotika in Bezug auf die Fahrtüchtigkeit zu beachten? Welche Auswirkung hat die Gabe von Benzodiazepinen auf die Fahrtüchtigkeit? Übersicht über die erwähnten Wirkstoffe und die entsprechenden Präparate Anhang A1 Übersicht über die erwähnten Wirkstoffe und die entsprechenden Präparate – 292 A2 Antworten zu den Checkfragen – 295 Literatur – 311 Diagnoseverzeichnis – 321 Pharmakaverzeichnis – 323 Sachverzeichnis – 325 291 A1 292 A1 22 A1 · Übersicht über die erwähnten Wirkstoffe und die entsprechenden Präparate Übersicht über die erwähnten Wirkstoffe und die entsprechenden Präparate 23 Chemische Kurzbezeichnung Handelsname Chemische Kurzbezeichnung Handelsname 24 Acamprosat Campral® Haloperidol Haldol Alprazolam Tafil® Hydroxyzin Atarax® Amisulprid Solian® Hyperikumextrakt (diverse Präparate) Amitriptylin Saroten® Imipramin Tofranil® Aripiprazol Abilify® Lamotrigin Elmendos®, Lamictal® Atomoxetin Strattera® Levomethadon L-Polamidon® Buprenorphin Subutex® Lithiumsalze Bupropion Elontril®1, Zyban®2 Quilonum retard® (Lithiumcarbonat) Lorazepam Tavor® Buspiron Bespar® Lormetazepam Carbamazemin Tegretal®, Timonil® Noctamid®; Ergocalm Tabs® Chloralhydrat Chloraldurat 500® Lorprazolam Sonin® Chlordiazepoxid Librium® Melperon Eunerpan® Citalopram Cipramil®, Sepram® Memantin Axura®, Ebixa® Clomethiazol Distraneurin® Methadon Methaddict® Clomipramin Anafranil® Methylphenidat Clonazepam Rivotril® Equasym®, Medikinet®, Medikinet retard®, Ritalin®, Concerta®, Clozapin Leponex® Milnacipran Dalcipran® Cyproteronacetat Androcur® Mirtazapin Remergil® Diazepam Valium® Moclobemid Aurorix® Diphenhydramin Dolestan® Modafinil Vigil® Donepezil Aricept® Naltrexon Nemexin® Duloxetin Cymbalta® Natriumoxybat Xyrem® Escitalopram Cipralex® Nortriptylin Nortrilen® Fluoxetin Fluctin® Olanzapin Zyprexa® Flupentixol Fluanxol® Opipramol Insidon® Flurazepam Dalmadorm® Orlistat Xenical® Fluvoxamin Fevarin® Oxazepam Adumbran® Galantamin Reminyl® Paliperidon Invega® 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 1 als Antidepressivum; 2 als Mittel zur Raucherentwöhnung Übersicht über die erwähnten Wirkstoffe und die entsprechenden Präparate Chemische Kurzbezeichnung Handelsname Paroxetin Seroxat®, Tagonis® Pipamperon Dipiperon® Pregabalin Lyrica® Propranolol Dociton® Quetiapin Seroquel® Reboxitin Edronax® Rimonabant Acomplia® Risperidon Risperdal® Rivastigmin Exelon® Sertralin Gladem®, Zoloft® Sibutramin Reductil® Sildenafil Viagra® Tadalafil Cialis® Temazepam Remestan® Triazolam Halcion® Trimipramin Stangyl® Valproinsäure Ergenyl chrono®, Orfiril long® Vardenafil Levitra® Vareniclin Champix® Venlafaxin Trevilor® retard Zaleplon Sonata® Ziprasidon Zeldox® Zolpidem Stilnox® Zopiclon Ximovan® 293 A1 295 A2 Antworten zu den Checkfragen Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 1 Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 2 1. Pharmakon mit therapeutisch nützlicher Wirkung. 2. Ein Fertigarzneimittel ist ein Arzneimittel aus industrieller Fertigung. 3. Therapeutische Breite bezeichnet den Quotienten LD50/ED50, d. h. das Verhältnis der Dosis, bei der 50% der Versuchstiere sterben, zur Dosis, bei der 50% des therapeutischen Effektes erzielt werden. 4. Phase III einer klinischen Prüfung umfasst kontrollierte Studien (randomisiert, verblindet) zum Nachweis der Wirksamkeit und Überprüfung der Sicherheit an vielen Patienten mit gut definierten Einschluss- und Ausschlusskriterien. 5. Bei pharmakokinetischer Toleranz findet eine Induktion arzneimittelmetabolisierender Enzyme statt. Dadurch wird der Abbau der Wirksubstanz beschleunigt. Es muss eine höhere Dosis gewählt werden. 6. Kein Risiko der Entwicklung einer pharmakodynamischen Toleranz besteht bei den meisten im therapeutischen Einsatz befindlichen Psychopharmaka, z. B. Antidepressiva, Antipsychotika, Antidementiva. Ausnahme sind Benzodiazepine, Opioide, Amphetamine. 7. Diagnosestellung, Schweregrad der Erkrankung, Dauer der Erkrankung, medikamentöse Vorbehandlungen, Besonderheiten, die sich auf die Pharmakokinetik auswirken, Besonderheiten, die sich auf die Pharmakodynamik auswirken, Suchtanamnese, Wirkprofil des Psychopharmakons, Nebenwirkungen und Kontraindikationen des Psychopharmakons, mögliche Wechselwirkungen des Psychopharmakons mit anderen Medikamenten, Aufklärung des Patienten über Dosis, Wirkung und mögliche Nebenwirkungen. 8. Eine Erhaltungstherapie ist oft notwendig zur Verhinderung eines Rückfalls, insbesondere wenn in der Vorgeschichte mehrere Episoden vorkamen. 9. Neuere Studien haben gezeigt, dass die Besserung in einer frühen Phase das spätere Ansprechen oder Nichtansprechen vorhersagt. 1. Absorption, Distribution, Metabolisierung, Exkretion 2. Zusammenfassung von Metabolisierung und Exkretion 3. Verteilungsvolumen Quotient der Pharmakonkonzentration im Körper zur Konzentration im Plasma 4. Die CYP-Isoenzyme 1A2, 2C9, 2C19, und 3A4 5. CYP1A2 6. Paroxetin, Fluoxetin 7. Metabotrope und ionotrope Rezeptoren 8. Tranylcypromin ist ein irreversibler Hemmstoff von Monoaminoxidase 9. Medikamente wirken über einen Rezeptor 10. Vermeidung von Intoxikationen (z. B. Lithium), Verdacht auf Nichteinnahme der verordneten Medikamente, kein oder ungenügendes Ansprechen bei klinisch üblicher Dosis, ausgeprägte Nebenwirkungen bei klinisch üblicher Dosis, Verdacht auf Arzneimittelinteraktionen, Kombinationsbehandlung mit einem Medikament mit bekanntem pharmakokinetischem Interaktionspotenzial, Rezidiv unter Erhaltungsdosis, bekannte pharmakogenetische Besonderheiten, Kinder und Jugendliche, Alterspatienten über 65 Jahre Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 3 1. Die Aufklärung des Patienten beinhaltet Information über Dosis, zu erwartende therapeutische Effekte und unerwünschte Wirkungen. Der Patient soll verstehen, dass eine medikamentöse Behandlung notwendig ist. 2. Die Therapieentscheidung und die Aufklärung des Patienten sollen auf wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen beruhen. 3. Primärliteratur umfasst die Veröffentlichungen von Forschungsergebnissen in Journalen in Form der Originalarbeiten. 4. Zu bevorzugen sind immer Publikationen in Journalen mit Gutachtersystem. 5. SPC bedeutet »Summary of Product Characteristics«. Den SPC entsprechen in Deutschland die Fachinformationen. Sie müssen für jedes Arzneimittel nach gesetzlicher Auflage vom Hersteller 296 21 A2 6. 23 24 7. 25 26 27 8. 28 9. 29 30 31 32 33 34 A2 · Antworten zu den Checkfragen des Arzneimittels verfasst werden. Sie beschreiben die wesentlichen präklinischen und klinischen Eigenschaften des Arzneimittels. Die Cochrane-Datenbank liefert für den Therapeuten Information auf der Grundlage der evidenzbasierten Medizin. Über sie wird der aktuelle Stand des Wissens der klinischen Forschung in kurzer Zeit verfügbar gemacht. Damit sollen Entscheidungen im Gesundheitssystem verbessert werden. Über den PubMed-Service, ein weltweit frei zugänglicher Service der National Library of Medicine in den USA, kommt man über das Internet zu Zusammenfassungen (Abstracts) von Originalarbeiten oder Übersichtsartikeln (Reviews). Bei der Angabe »gelegentlich« ist in mindestens 0,1% der Verordnungen mit der entsprechenden Nebenwirkung zu rechnen. Es handelt sich um eine unerwünschte schwerwiegende Wirkung. Sie ist an die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AKdÄ) zu melden, auch im Verdachtsfall. 3. 4. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 4 1. Bei schweren Depressionen, psychotischen Symptomen oder schweren Zwangsstörungen ist oft erst nach dem Wirkeintritt einer Pharmakotherapie ein psychotherapeutischer Zugang zu den Patienten möglich. 2. Bei psychotischen Symptomen, Schizophrenien, schweren Depressionen, Manien und akuter Suizidalität besteht eine klare Indikation für eine Psychopharmakotherapie. 5. 35 36 37 38 39 40 Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 5 1. Auf der Basis der Serotonin-Noradrenalinhypothese erfolgte eine intensive Forschung in der biologischen Psychiatrie mit dem Ziel Medikamente zu entwickeln, die gezielt die Neurotransmitterkonzentration im synaptischen Spalt beeinflussen und dadurch antidepressiv wirken. Die Blockade der Inaktivierungsmechanismen für die Neurotransmitter Serotonin und Noradrenalin stellt einen wichtigen Angriffspunkt für viele Antidepressiva dar. 2. Die selektiven Serotoninrückaufnahmehemmer sind nebenwirkungsärmer als die MAO-Hemmer und TZA, außerdem sind sie weniger toxisch im 6. Falle einer versehentlichen Überdosierung oder bei Einnahme in suizidaler Absicht. Bei den neuen dualen Antidepressiva wird versucht neben der möglichst selektiven Aktivierung des Serotoninsystems ein zweites Neurotransmittersystem – meist das noradrenerge System – selektiv zu aktivieren und dadurch eine verbesserte antidepressive Wirkung zu erreichen bei gleichzeitig möglichst guter Verträglichkeit. Der Neurotransmitter oder meist seine Vorstufe wird ins Neuron aufgenommen. Der Neurotransmitter wird an die Nervenendigungen transportiert und in Vesikeln gespeichert. Bei einem Aktionspotenzial erfolgt ein Ca2+-Einstrom, der Neurotransmitter wird in den synaptischen Spalt freigesetzt. Die Syntheserate und die Menge des freigesetzten Neurotransmitters kann durch präsynaptische Auto- bzw. Heterorezeptoren reguliert werden. Nach Diffusion reagiert der Neurotransmitter mit Rezeptoren auf der postsynaptischen Seite. Verschiede Mechanismen führen zur Inaktivierung des Transmitters: Aufnahme in das präsynaptische Neuron; Aufnahme in das postsynaptische Neuron und in synapsenbegleitende Gilazellen und Abbau des Transmitters. Die Blockade dieser Inaktivierungsmechanismen ist ein wichtiger Angriffspunkt für Antidepressiva. Viele Antidepressiva blockieren die neuronale Wiederaufnahme der Transmitter NA und Serotonin. Inhibitoren des in den Mitochondrien lokalisierten Enzyms Monoaminoxidase (MAO) hemmen den Abbau aminger Transmitter. Auf der postsynaptischen Seite besetzen die freigesetzten Neurotransmitter Rezeptoren, dadurch werden Signale ausgelöst und in das rezeptive Neuron weitergeleitet. Antidepressiva entfalten ihre volle Wirkung erst nach einer Latenz von Tagen bis Wochen. Dies ist der Fall obwohl die Veränderung der chemischen Neurotransmission und -transduktion im ZNS unter der Gabe von Antidepressiva sehr schnell erfolgt. Deshalb ist die Vorstellung entstanden, dass die akuten pharmakologischen Effekte nicht den eigentlichen Wirkungsmechanismus der Antidepressiva darstellen, sondern dass adaptive Veränderungen an den Rezeptoren (Veränderungen der Rezeptorendichte und der Funktionalität) auf der postsynaptischen Seite angestoßen werden, die schließlich zu der antidepressiven Wirkung führen. Mit einer antidepressiven Wirkung ist nach einer Wirklatenz von ca. 2 Wochen zu rechnen; nach 4−8 Wochen sollte ein voller Wirkungseintritt 297 Antworten zu den Checkfragen 7. 8. 9. 10. feststellbar sein. Ziel ist die vollständige Remission. Typischerweise treten aber mögliche Nebenwirkungen besonders am Anfang einer Behandlung mit Antidepressiva auf und bessern sich später häufig. Für die Behandlung von depressiven Patienten, insbesondere bei Suizidalität, bedeutet dies, dass zu Beginn einer antidepressiven Therapie oft vorübergehend auch Benzodiazepine (Anxiolytika) verabreicht werden um die Phase der Wirklatenz zu überbrücken. Bei akuter Suizidalität sollte zusätzlich zu der antidepressiven Behandlung und stützenden Gesprächen sowie engmaschiger Beobachtung auch die Gabe eines Benzodiazepins zur akuten Entlastung und Anxiolyse erwogen werden. Das Suizidrisiko ist besonders bei Patienten erhöht, bei denen der Antrieb gesteigert, aber die Stimmungsaufhellung noch nicht eingetreten ist. Die meisten der modernen Antidepressiva haben keine sedierenden Eigenschaften mehr und können damit Gefühle der inneren Unruhe und Getriebenheit, die von den Patienten als sehr quälend erlebt werden, nicht ausreichend abfangen. Bei den TZA kommen häufig Mundtrockenheit, Akkomodationsstörungen, orthostatische Dysregulation, Sedierung und Gewichtszunahme vor. Bei den SSRI klagen Patienten besonders in der Anfangsphase öfter über Übelkeit, Erbrechen und Diarrhö, Schwitzen, Kopfschmerzen sowie Agitation und Schlafstörungen. Bei den dualen Antidepressiva Duloxetin und Venlafaxin stehen gastorintestinale Beschwerden im Vordergrund und bei Mirtazapin tritt Gewichtszunahme auf. Oft wird unter einer Behandlung mit Antidepressiva über sexuelle Funktionsstörungen berichtet. Es ist wichtig mit Patienten über mögliche Nebenwirkungen zu sprechen, im Verlauf der Behandlung wiederholt danach zu fragen und ggf. Verhaltensänderungen zu initiieren, z. B. beim Essverhalten, und ggf. nach Behandlungsalternativen zu suchen um die Compliance nicht zu gefährden. Antidepressiva werden auch zur Behandlung von Angststörungen wie sozialer Phobie, generalisierter Angst, PTSD und Panikstörung mit und ohne Agoraphobie eingesetzt sowie bei Zwangsstörungen, Bulimie und zur Behandlung von Schmerzsyndromen. Beim plötzlichen Absetzen von Antidepressiva können Symptome wie Schwindel, Gangunsicherheit, Übelkeit, Erbrechen, grippeähnliche Symptome, sensible Störungen, Schlafstörungen, Irritabilität, gedrückte Stimmung, Unruhe sowie 11. 12. 13. 14. A2 Konzentrations- und Gedächtnisstörungen bis hin zur Verwirrtheit auftreten. Antidepressiva sollten deswegen allmählich abgesetzt werden. SSRI sind deutlich besser verträglich als TZA. TZA haben das höchste Risiko für kardiale Nebenwirkungen (arrhythmogen) und cholinerge zentralnervöse Nebenwirkungen, die bis zum Delir führen können. Bei der häufig bestehenden internistischen Begleitmedikation sind die Präparate zu wählen, die ein niedriges Interaktionspotenzial haben. Auch die dualen Antidepressiva Mirtazapin und Venlafaxin sind im höheren Alter gut verträglich. Bei Depressionen mit Schlafstörungen ist Mirtazapin das Mittel der Wahl, es lässt sich zur Augmentation gut mit SSRI oder SNRI kombinieren. In niedriger Dosierung ist es auch geeignet zur Schlafinduktion bei Schlafstörungen ohne depressive Symptomatik. In einzelnen Studien waren Johanniskrautpräparate Placebos bei leichter und mittelschwerer Depression überlegen. Derzeit gibt es noch viele Unsicherheiten bez. der Wirksamkeit im Vergleich mit Standardantidepressiva. Johanniskrautpräparate haben ein beträchtliches Interaktionspotenzial mit anderen Medikamenten, das oft unterschätzt wird. Kinder und Jugendliche mit depressiven Syndromen sollten mit einem SSRI behandelt werden, allerdings besteht nur für Fluoxetin ein Wirksamkeitsnachweis. Fluoxetin ist ab dem Alter von 8 Jahren bei mittelgradigen bis schweren Episoden einer Major Depression zugelassen, wenn im Vorfeld durch 4–6 psychotherapeutische Sitzungen keine Verbesserung der Symptomatik erzielt werden konnte. Eine engmaschige therapeutische Betreuung ist wegen der möglichen Suizidalität unter SSRI unbedingt nötig (7 Abschn. 5.6 u. 5.12). Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 6 1. Stimmungsstabilisierer sind nach den neuesten Therapiekonzepten die Basis der Behandlung der bipolaren affektiven Störung. Durch sie soll die Stimmung langfristig ausgeglichen werden und es sollen sowohl depressive als auch manische Symptome behandelt werden. Sie werden in der Akutbehandlung und zur Phasenprophylaxe eingesetzt. 2. Als Stimmungsstabilisierer sind Lithium, Antikonvulsiva (Valproinäure, Carbamazepin, Lamo- 298 21 3. A2 23 24 25 4. 26 27 28 5. 29 30 31 32 33 34 6. A2 · Antworten zu den Checkfragen trigin) und atypische Antipsychotika (Olanzapin, Quetiapin) indiziert. Adjuvant können in depressiven Phasen – falls die depressive Symptomatik mit Stimmungsstabilisieren alleine nicht zu behandeln ist – Antidepressiva (keine TZA) eingesetzt werden. Allerdings wird diskutiert, ob Antidepressiva, insbesondere TZA manische Phasen induzieren und/ oder die Phasenfrequenz erhöhen können. In manischen Phasen können adjuvant Antipsychotika und Benzodiazipine verabreicht werden. Eine Therapie der bipolaren affektiven Störung mit Stimmungsstabilisieren stellt ein langfristiges Behandlungskonzept dar. Stimmungsstabilisierer sollen unabhängig von der akuten Symptomatik kontinuierlich eingenommen werden, also auch in symptomfreien Phasen. Dies verlangt eine gute Compliance. Insbesondere bei Absetzen von Lithium ist das Rückfallrisiko wahrscheinlich höher als im naturalistischen Verlauf. Wichtigste Indikationen für Stimmungsstabilisierer sind: – Manische Episode – Manische, depressive oder gemischte Episode bei bipolarer affektiver Störung sowie die Phasenprophylaxe – Akutbehandlung und Phasenprophylaxe des Rapid Cyclings – Phasenprophylaxe bei der schizoaffektiven Störung – Phasenprophylaxe bei der rezidivierenden unipolaren Depression Die Lithiumdosierung bei Kindern und Jugendlichen muss teilweise höher sein als bei Erwachsenen, da Lithium bei Kindern und Jugendlichen aufgrund der besseren Nierenfunktion schneller ausgeschieden wird. 35 36 37 38 39 40 Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 7 1. Unter AAP werden Antipsychotika zusammengefasst, die im Vergleich mit den konventionellen Antipsychpotika folgende Charkteristika aufweisen sollen: – gute antipsychotische Wirksamkeit – weniger extrapyramidale Symptomatik (EPS) – Wirksamkeit bei Negativsymptomatik – Wirksamkeit bei Therapieresistenz – geringere Prolaktinerhöhungen 2. Die Wirksamkeit von Antipsychotika ist gesichert bei – schizophrenen und schizoaffektiven Störungen, – bipolaren affektiven Störungen (Akutbehandlung der Manie, Phasenprophylaxe), – psychotische Depression (in Kombination mit Antidepressiva), – Schmerzsyndromen, – Neurologische Erkrankungen (z. B. Tic-Störungen) Als Begleittherapie werden sie eingesetzt bei – Persönlichkeitsstörungen – Zwangsstörungen – Angststörungen – anderen organischen Psychosen (z. B. Alkoholpsychose) – nichtpsychotischer Depression Außerdem werden sie in Notfallsituationen bei psychomotorischen Erregungszuständen eingesetzt. 3. Neben den oralen Antipsychotika gibt es Depotpräparate mit Injektionsintervallen von 1‒ 4 Wochen. Sie gewährleisten eine ausreichende Behandlung bei Patienten, die nicht in der Lage sind, orale Medikation regelmäßig und kompliant einzunehmen und verringern dadurch das Rückfallrisiko. 4. Bei den konventionellen Antipsychotika spielen EPS wie Frühdyskinesien und das Parkinsonoid mit Hypomimie, kleinschrittigem Gang und Rigor eine wichtige Rolle. Außerdem können Akathisie (Sitz-und Stehunruhe), Spätdyskinesien sowie selten ein malignes neuroleptisches Syndrom auftreten. 5. Auch bei den AAP treten zahlreiche Nebenwirkungen auf, besonders wichtig ist das metabolische Syndrom mit Gewichtszunahme, pathologische Glukosetoleranz, Diabetes mellitus und Hyperlipidämie. Es ist ein bedeutsamer Risikofaktor für die Entstehung von Herz-KreislaufErkrankungen. 6. Als wirksamstes Antipsychotikum bei therapieresistenten schizophrenen Störungen im Kindesund Jugendalter hat sich Clozapin erwiesen. In kontrollierten Studien war Clozapin gegenüber Haloperdiol sowie Olanzapin überlegen. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 8 1. Benzodiazepine sind in der Akuttherapie psychiatrischer Erkrankungen, z. B. bei akuten Antworten zu den Checkfragen 2. 3. 4. 5. 6. 7. Angstzuständen oder Suizidalität, unverzichtbar. Bei längerfristiger Verordnung sind sie in einen Gesamtbehandlungsplan einzubinden. Bei Abhängigkeitserkrankungen sollte – außer in Notfallsituationen – auf Benzodiazepine verzichtet werden. Das Abhängigkeitsrisiko steigt mit zunehmender Dosis und der Dauer der Einnahme. Die Behandlungsdauer sollte auf 4‒6 Wochen beschränkt bleiben. Um Entzugssymptome zu vermeiden ist ein langsames Absetzen von Benzodiazepinen notwendig. Benzodiazepine sind hochwirksam, sie wirken schnell und zuverlässig und haben eine große therapeutische Breite. Benzodiazepine werden nosologieübergreifend eingesetzt. Die Zielsymptome sind Angst, innere Unruhe, muskuläre Spannung, Hypervigilanz, Schlafstörungen, katatone, mutistische oder stuporöse Zustände sowie unerwünschte Wirkungen von Antipsychotika wie Akathisie und Spätdyskinesien. Sie werden in vielen Notfallsituationen eingesetzt, bei psychiatrischen Erkrankungen, aber auch bei internistischen Erkrankungen wie z. B. beim akuten Herzinfarkt. Benzodiazepine haben ein Abhängigkeitsrisiko; bei der anxiolytischen Wirkung tritt aber – im Gegensatz zu der sedierenden Komponente ‒ kaum eine Toleranzentwicklung ein. Sie treten in Wechselwirkung mit Alkohol. Sie können zu Müdigkeit bis zur Sedation führen sowie zu Koordinationsstörungen und Störungen des Kurzzeitgedächtnisses. Wenn somatische Symptome im Vordergrund stehen (Zittern, Schwitzen), z. B. bei spezifischen Phobien wie Prüfungsangst oder Flugangst, können auch β-Rezeptorenblocker als Anxiolytika eingesetzt werden. Die wichtigste Medikamentengruppe zur längerfristigen Behandlung von Angststörungen sind Antidepressiva, ihr Vorteil gegenüber den Benzodiazepinen liegt im fehlenden Abhängigkeitspotenzial, ihr Nachteil in der Wirklatenz. Bei älteren Menschen sind oft geringerer Dosen von Benzodiazepinen notwendig als bei jüngeren Menschen. Bei langwirksamen Benzodiazepinen besteht die Gefahr der Kumulation mit Schwindel, Koordinationsstörungen, Ataxie und sich daraus ergebener Sturzgefahr. Es können paradoxe Reaktionen auf die Gabe von Benzodiazepien auftreten mit Erregungsphänomenen wie Agitiertheit, Euphorisierung, Erregungszuständen, Schlaflosigkeit und Aggressivität. 299 A2 8. Bei der Gabe von Benzodiazepinen muss über die Gefahr der Entstehung einer Abhängigkeit informiert werden, insbesondere dann, wenn eine Behandlung in hoher Dosierung und über einen längeren Zeitraum notwendig ist. Unter Benzodiazepinen ist die Reaktionsgeschwindigkeit verlängert, die Fahrtüchtigkeit eingeschränkt sowie die Fähigkeit an Maschinen zu arbeiten. 9. Beim abrupten Absetzen von Benzodiazepinen treten 3 Typen von Absetzsymptomen auf: Reboundsymptome, Rückfallsymptome und Entzugssymptome. Entzugssymptome treten 2‒ 10 Tage nach dem Absetzen der Benzodiazepine auf. Sie sind gekennzeichnet durch vermehrte Angst und Unruhe, Schlaflosigkeit, Irritabilität, Übelkeit und Erbrechen, Schwitzen, Zittern, Kopfschmerzen und Muskelverspannungen und können bis zu Verwirrtheitszuständen, Depersonalisation und Derealisation, psychoseartigen Zuständen und zum Delir reichen. 10. Die SSRI haben eine gute Wirksamkeit bei der GAD, Trennungsangst und sozialer Phobie im Kindes- und Jugendalter gezeigt. Allerdings muss am Anfang einer Therapie mit SSRI eine engmaschige ärztliche Kontrolle erfolgern, da es zu Suizidideen und suizidalen Handlungen kommen kann. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 9 1. Die beiden wichtigsten Gruppen der Hypnotika sind die Non-Benzodiazepine und die Benzodiazepinhypnotika, andere Hypnotika wie Antihistaminika und Chloralhydrat haben eine deutlich geringere Bedeutung. 2. Sie haben eine viel größere therapeutische Breite, auch Überdosierungen führen nicht zu schweren Intoxikationen, dies ist besonders im Zusammenhang mit Suizidalität wichtig. Sie sind nebenwirkungsärmer als die früheren Hypnotika. 3. Die Patienten müssen über das Risiko einer Abhängigkeit bei langfristigem Gebrauch aufgeklärt werden sowie über Wechselwirkungen mit Alkohol und Medikamenten wie z. B. Schmerzmitteln. Insbesondere bei länger wirksamen Benzodiazepinhypnotika ist auf Hang-over-Effekte mit Tagesmüdigkeit, reduzierter Konzentration und Reaktionsgeschwindigkeit hinzuweisen. 4. Bei Benzodiazepinhypnotika besteht – insbesondere wenn sie längerfristig eingenommen werden – ein Abhängigkeitsrisiko. Die Dosis wird dabei meist nicht gesteigert, man spricht dann 300 21 A2 5. 23 24 25 6. 26 7. 27 28 29 8. A2 · Antworten zu den Checkfragen von einer »low-dose-dependence«. Beim Absetzen muss mit protrahiert zunehmenden Entzugserscheinungen über Wochen gerechnet werden. Das Absetzen muss deswegen langsam erfolgen. Bei Schlafstörungen im Rahmen einer Depression ist es sinnvoll den schlafinduzierenden Effekt sedierender Antidepressiva synergistisch zu nutzen. Im Gegensatz zur depressionslösenden Wirkung reichen zur Schlafinduktion oft niedrige Dosierungen aus und der schlafverbessernde Effekt tritt schnell ein. Hypnotika sollten in möglichst niedriger Dosierung, wenn möglich nur intermittierend (2- bis 4-mal pro Woche, verabreicht werden. Sie sollten nur für max. 4 Wochen verschrieben werden. Bei längerem Gebrauch müssen sie sehr langsam abgesetzt werden. Die Möglichkeit paradoxer Reaktionen (Erregungszustände mit Agitiertheit, Schlaflosigkeit und Aggressivität) nimmt mit dem Alter zu, insbesondere bei dementen, verwirrten Patienten und organischen Grunderkrankungen. Bei langwirksamen Benzodiazepinen besteht die Gefahr der Kumulation. 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Antwort zu den Checkfragen 7 Kap. 10 1. Bei der Behandlung der Alzheimer-Demenz liegen für AChE-I (Donepezil, Galantamin, Rivastigmin) und den NMDA-Antagonisten Memantin Wirksamkeitsnachweise vor im Sinne einer leichten Verbesserung des Störungsbildes sowie einer Verlangsamung des Fortschreitens der Erkrankung werden; es findet gute Akzeptanz durch die Patienten. 4. Durch die relativ neuen retardierten Psychostimulanzienpräparate, die nur einmalig morgens eingenommen werden und über mindestens 8 Stunden wirken, lässt sich der Schwarzmarkt für Psychostimulanzien vermindern, da die Patienten ihre Medikamente nicht mehr z. B. mit in die Schule nehmen und diese dort verkaufen können. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 12 1. Bei der pharmakologischen Behandlung erektiler Dysfunktion stehen die PDE-5-Hemmer an erster Stelle. Sie sind wirksam, nebenwirkungsarm und zugelassen. Der kardiovaskuläre Status muss vor der Gabe abgeklärt werden, bei schweren HerzKreislauf-Erkrankungen dürfen sie nicht eingesetzt werden. 2. Unter SSRI kommt es häufig zu einer verzögerten Ejakulation bei Männern, auch Frauen berichten über Anorgasmie. Diese Nebenwirkungen werden häufig nicht spontan angegeben, sondern erst bei gezielter Nachfrage berichtet. Sie sind aber ein wichtiger Grund für Non-Compliance. 3. Die Pharmakotherapie pathologisch gesteigerter Libido bei Männern kann insbesondere bei Störungen der sexuellen Orientierung (Paraphilie) eingesetzt werden, um Straftaten zu verhindern. Zugelassen ist das Antiandrogen Cyproteronacetat. Es dämpft den gesteigerten sexuellen Drang und kann damit auch eine Verhaltensänderung bewirken, aber die abweichende sexuelle Orientierung nicht heilen. Ein begleitende Sozio- und Psychotherapie ist unabdingbar. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 11 1. Clomethiazol ist das Mittel der ersten Wahl zur stationären Alkoholentgiftung, es behandelt Entzugssymptome (Puls- und Blutdruckanstieg, Ängstlichkeit, Unruhe), es hat außerdem eine delirverhütende und krampfanfallhemmende Wirkung. 2. Positive Effekte (Verringerung des Suchtdrucks, Craving) sind für Acamprosat und Naltrexon belegt. Acamprosat ist zugelassen. 3. Buprenorphin hat durch sein besonderes Wirkprofil am Opiatrezeptor eine große Sicherheitsspanne. Aufgrund der langen Halbwertszeit kann eine höhere Einmaldosis alle 2‒3 Tage verabreicht Antwort zu den Checkfragen 7 Kap. 13 1. Orlistat ist ein Lipasehemmer, der nur lokal im Darm wirksam ist und dort die Aufnahme von Lipiden um etwa 30% reduziert. Sibutramin ist ein zentral wirksamer kombinierter Serotonin-Noradrenalinrückaufnahmehemmer, der wahrscheinlich über eine Appetitreduktion und eine Zunahme der Theramogenese wirkt. 301 Antworten zu den Checkfragen Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 14 1. Bei der Behandlung der ADHS im Erwachsenenalter können noradrenerg wirkende Antidepressiva wie Nortriptylin, Desipramin und Reboxetein sowie Venlafaxin mit einem kombiniert noradrenergen/serotonergen Wirkmechanismus eingesetzt werden. 2. Methylphenidat ist auf Grund seiner erwiesenen Wirksamkeit das Medikament der ersten Wahl bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS. Bei Unverträglichkeit oder Unwirksamkeit kann auf das andere gängige Psychostimulanz Amphetaminsaft gewechselt werden. Als Medikament der zweiten Wahl wird Atomoxetin angesehen, bei zusätzlicher begleitender emotionalen Auffälligkeiten gehört es auch zur ersten Wahl. TZA, Clonidin und Antipsychotika sind Medikamente der dritten Wahl. 3. Zur Behandlung der Narkolepsie wird Modafinil eingesetzt, es hat ein Abhängigkeitspotenzial und ist BtM-pflichtig. 3. 4. 5. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 15 6. 1. Wichtig ist die Vermittlung eines akzeptablen und verstehbaren Krankheitsmodells durch den Arzt oder Psychologen und die Entwicklung eines Gesamtbehandlungsplans, in den psychotherapeutische, psychoedukative und medikamentöse Behandlungsstrategien integriert sind. In Bezug auf die medikamentöse Behandlung bietet es sich dabei an, die biochemischen Veränderungen bei einer Depression als »Stoffwechselstörung« darzustellen, z. B. in Analogie zu einem Diabetes oder einer essenziellen Hypertonie, wo ebenfalls eine zwar symptomatische, aber sehr effektive Therapie vorgenommen wird. Bei einer schweren Depression kann eine Behandlung mit einem Antidepressivum einen psychotherapeutischen Zugang erst möglich machen. Eine symptomatische medikamentöse Behandlung führt oft zu einer Verbesserung der Möglichkeiten mit Problemen und Stressoren umzugehen und adäquate Problemlösestrategien zu entwickeln. 2. Für die Akuttherapie der schweren Depression ist von einem synergistischen Effekt von KVT und einer Behandlung mit Antidepressiva auszugehen. ‒ Der Effekt der medikamentösen Therapie ist in der Regel nur so lange gegeben wie die Pharmakotherapie fortgeführt wird, für psychotherapeutische Verfahren gibt es Hinweise, dass 7. 8. A2 eine erfolgreiche Psychotherapie auch nach ihrer Beendigung einen rezidivprophylaktischen Effekt hat. Bei einer leichten bis mittelschweren Depression sind SSRI indiziert. Bei einer schweren Depression ist zu empfehlen gleich die neuen dualen Antidepressiva einzusetzen. Für Venlafaxin und Mirtazapin wurde in kontrollierten Studien in den ersten beiden Behandlungswochen ein schneller Wirkungseintritt (frühe Response von 20%) beschrieben. Nach 4 Wochen Behandlungszeit gab es dagegen keinen Unterschied mehr zwischen den verschiedenen Antidepressiva. Die frühe Response von mindestens 20% Verbesserung des Depressionssummenscores in den ersten beiden Behandlungswochen ist bei allen Antidepressiva ein hochsensitiver Prädiktor für den späteren Behandlungserfolg. Tritt sie nicht ein, so ist auch ein späterer durchschlagender Therapieeffekt eher unwahrscheinlich. Unter Mirtazapin verbessern sich wegen der sedierenden Komponente Schlafstörungen, Agitiertheit und somatische Beschwerden schneller als unter SSRI. Patienten mit einer depressiven Störung entwickeln in mehr als 50% im Verlauf weitere depressive Episoden. Patienten sollten deswegen über die Möglichkeit eines Rezidivs informiert werden und Frühsymptome einer Depression kennen. Die pharmakologische Therapie sollte mit einer Erhaltungs- und ggf. Langzeittherapie fortgeführt werden, zu frühes Absetzen von Antidepressiva birgt ein hohes Rückfallrisiko. In der Psychotherapie sollte das Thema eines möglichen Rückfalls angesprochen werden. KVT und IPT habe sich auch im Sinne einer Rückfallprophylaxe bewährt. Wegen der Gefahr einer erneuten Depression sollte auch bei einer ersten depressiven Episode nach Remission eine Weiterbehandlung über mindestens 6 Monate erfolgen. Diese Erhaltungstherapie sollte mit der Dosis fortgeführt werden, die zum Behandlungserfolg geführt hat. Bei mehr als 20% der Patienten klingt die depressive Symptomatik nicht völlig ab, dann darf die Erhaltungstherapie nicht beendet werden. Die Indikation für eine medikamentöse Rezidivprophylaxe ist gegeben: – bei einer dritten depressiven Episode, – oder wenn zwei depressive Episoden innerhalb der letzten 5 Jahre aufgetreten sind – oder eine weitere schwere depressive Episode innerhalb der letzten 3 Jahre aufgetreten ist 302 A2 · Antworten zu den Checkfragen – 21 A2 9. 23 24 25 26 10. 27 28 29 30 11. 31 32 33 34 35 36 37 38 12. 39 40 oder eine weitere depressive Episode und die positive Familienanamnese einer bipolaren oder einer rezidivierenden Depression vorliegt. Zur Rezidivprophylaxe bei der unipolaren Depression gibt es verschiedene Möglichkeiten: – Weiterführung der Pharmakotherapie mit Antidepressiva, – Lithium ist der Behandlung mit Antidepressiva ebenbürtig. Der Plasmaspiegel sollte dabei zwischen 0,6 und 0,8 mmol/l liegen – KVT erwies sich der medikamentösen Therapie als gleichwertig – Additive Effekte sind anzunehmen Wenn das erste Antidepressivum trotz ausreichender Dosierung keinen ausreichenden Behandlungserfolg bringt, die Besserung nach einem Behandlungszeitraum von 4‒8 Wochen nur 25 bis 50% beträgt, ist ein Wechsel des Antidepressivums auf ein Antidepressivum mit einem anderen Angriffspunkt im ZNS angezeigt. Führt auch dieses nicht zu einer ausreichenden Wirkung, ist eine Kombinationstherapie aus zwei Antidepressiva mit komplementärem pharmakologischem Wirkmechanismus indiziert. Außerdem gibt es Augmentationstrategien mit Substanzen, die für sich alleine keine antidepressive Wirkung entfalten. Am besten belegt ist die Augmentation mit Lithium, es wird dabei ein synergistischer Effekt mit Lithium angenommen. Schilddrüsenhormone können hilfreich sein, insbesondere bei subklinischem Hypoparathyreoidismus. Atypische Antipsychotika werden zusammen mit Antidepressiva eingesetzt. Der Einsatz von Hormonen kann bei Frauen in den Wechseljahren und bei postpartaler Depression sinnvoll sein, eine individuelle Risikoabwägung ist dabei zu treffen. Die positive Wirkung der Elektrokrampftherapie (EKT) bei Therapieresistenz ist belegt. Die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) ist derzeit nicht zugelassen, eine Indikation ist allenfalls bei leichten bis mittelschweren Depressionen gegeben. Die Vagusnervstimulation ist ebenfalls noch nicht zur routinemäßigen klinischen Anwendung ausgereift. Benzodiazepine werden häufig in der ersten Behandlungsphase einer Depression gemeinsam mit dem Antidepressivum verabreicht, um die Phase der Wirklatenz des Antidepressivums zu überbrücken. Insbesondere bei Suizidalität werden Benzodiazepine zur akuten Entlastung eingesetzt. 13. Antidepressiva haben im Gegensatz zu Benzodiazepinen auch bei langer Behandlungsdauer kein Abhängigkeitspotenzial. Allerdings können bei abruptem Absetzen Absetzeffekt auftreten; Antidepressiva sollten deswegen allmählich abgesetzt werden. 14. Schlafentzug, Bewegungstherapie, Lichttherapie, EKT. 15. Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen Depression und körperlichen Folgeerkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ2-Diabetes und Osteoporose. Auch körperliche Erkrankungen (z. B. Herzinfarkt, Schlaganfall) gehen oft mit einer Depression einher, die die Prognose einer Rehabilitationsbehandlung verschlechtert und die Mortalität erhöht. Auch bei Morbus Parkinson und Demenz sind Depressionen häufig. 16. Durch Dauerstress kommt es zur CRH-Hyperaktivität und vermehrter Kortisolausschüttung. Bei fehlregulierter HPA-Achse wird das noradrenerge/adrenerge System konstant aktiviert, dies führt zu Arousal- und Vigilanzsteigerung mit gesteigertem Angstverhalten. Schließlich kommt es zu einer Erschöpfung der Noradrenalinsystems, die mit motorischer Verlangsamung, kognitiver Hemmung und emotionaler Verarmung einhergeht. Erhöhte Kortisolspiegel senken die Serotoninsynthese. Die Regulationsmechanismen sind komplex. Der Serotoninrezeptor spielt dabei eine wichtige Rolle. Eine Kurzform des Promotors des 5-HT-TransporteGens (s/s) geht mit einer erhöhten Stresssensitivität einher. Menschen mit dieser Konstellation entwickeln signifikant häufiger depressive Symptome bei stressinduzierenden Lebensereignissen als Menschen mit dem Genotyp l/l, der Langform des 5-HT-Transporte-Gens. 17. Die Therapie der Wahl bei mittelgradigen und schweren depressiven Syndromen im Kindesund Jugendalter besteht aus der Kombination eines SSRI (am ehesten Fluoxetin) mit KVT. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 16 1. Die wichtigste Intervention bei einer akuten Panikattacke ist nach Ausschluss einer organischen Erkrankung das beruhigende Gespräch und die Information über die Entstehung von Panikattacken. Medikamentös kann eine akute Panikattacke schnell und wirkungsvoll mit einem Antworten zu den Checkfragen 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. Benzodiazepin (z. B. Lorazepam oder Alprazolam) koupiert werden. Zur längerfristigen Behandlung einer Panikstörung bieten sich neben der Psychotherapie, insbesondere der KVT, Antidepressiva an. Bei schwerer oder chronischer Panikstörung und, insbesondere wenn eine komorbide Depression vorliegt, ist eine Kombinationstherapie aus KVT und einem Antidepressivum indiziert. Da beide Verfahren Zeit brauchen bis ein Therapieeffekt eintritt, können anfänglich vorübergehend auch Benzodiazepine zur akuten Entlastung indiziert sein. Das erste Antidepressivum, das bei der Panikstörung gute Therapieeffekte erbrachte, war Imipramin. Mittlerweile werden wegen der deutlich besseren Verträglichkeit SSRI oder das duale Antidepressivum Venlafaxin eingesetzt. Ist eine Panikstörung von einer Agoraphobie begleitet kommt der KVT mit Expositionsbehandlung eine besondere Bedeutung zu. Diese kann mit Antidepressiva kombiniert werden. Die Behandlung mit Antidepressiva sollte – anders als bei der Depression – langsam einschleichend erfolgen, da Patienten mit Panikstörung Nebenwirkungen von Antidepressiva sehr schlecht tolerieren und die Angstsymptomatik sich vorübergehend sogar verstärken kann. Mit einem deutlichen Therapieeffekt ist bei einer Behandlung mit Antidepressiva erst nach einer Zeit von 2‒4 Wochen zu rechnen. Vorübergehend können zusätzlich Benzodiazepine verordnet werden. Benzodiazepine sind hochwirksame Anxiolytka. Sie können Panikattacken koupieren. Sie wirken schnell und sicher. Sie haben kaum Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten und geringe vegetative Nebenwirkungen. Allerdings besteht die Gefahr der Abhängigkeit und von Entzugserscheinungen. Sie können zu Sedierung, Koordinationsstörungen und Störungen des Kurzzeitgedächtnisses führen. Sie beeinträchtigen das Reaktionsvermögen (Autofahren, Arbeit an Maschinen). Sie verstärken die Wirkung von Alkohol. Die Gabe von Antidepressiva wird über einen Zeitraum von 1‒2 Jahren empfohlen, um einem Rückfall vorzubeugen. Dieser lange Behandlungszeitraum bietet für die Patienten die Chance unter dem Schutz der antidepressiven Medikation neue Verhaltensweisen zu etablieren und sich bei begleitender Agoraphobie mit bisher vermiedenen Situationen zu konfrontieren. 303 A2 10. Die Antidepressiva sollten langsam abgesetzt werden. Bei der Reduktion der Dosis sollte wiederholt geprüft werden, ob erneut Symptome der Panikstörung auftreten. Ist dies der Fall, so sollte die Medikation erneut erhöht und fortgeführt werden. Eine sinnvolle Alternative stellt eine zusätzliche KVT in der Ausschleichphase dar, da für die KVT ein guter Therapieeffekt über den Behandlungszeitraum hinaus belegt ist. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 17 1. Antidepressiva sind Mittel der ersten Wahl zur längerfristigen Behandlung der GAD. Bewährt haben sich die SSRI, z. B. Escitalopram; sie haben vergleichsweise wenige Nebenwirkungen. Sie werden in der gleichen Dosierung verabreicht wie bei der Depressionsbehandlung. Außerdem zeigt das duale Antidepressivum Venlafaxin eine gute Wirkung bereits bei einer Dosierung von 75 mg (bei der Depressionsbehandlung werden üblicherweise 150 mg verabreicht). 2. Bei den SSRI und Venlafaxin muss mit einem langsamen Wirkungseintritt über einen Zeitraum von 2‒4 Wochen gerechnet werden. Sie können deswegen vorübergehend mit Benzodiazepinen kombiniert werden, um diese Zeitspanne zu überbrücken. 3. In akuten Notfallsituationen, die sich durch ein Gespräch alleine nicht entspannen lassen, ist die vorübergehende Gabe von Benzodiazepinen indiziert. 4. Bei Buspiron, das bei der GAD eine gute Wirksamkeit zeigt, ist wie bei den Antidepressiva von einem langsamen Wirkungseintritt über 2 Wochen auszugehen. 5. Sowohl Antidepressiva als auch Buspiron haben kein Anhängigkeitspotenzial, dies ist insbesondere bei Patienten mit einer Suchtanamnese wichtig. 6. Eine medikamentöse Behandlung der GAD mit Antidepressiva oder Buspiron sollte sich mindestens über 6 Monate erstrecken. Es ist zu empfehlen die Medikation als Erhaltungstherapie über 2 Jahre fortzuführen und langsam auszuschleichen. Frühes schnelles Absetzen birgt ein hohes Rezidivrisiko. 7. Bei mittelschwerer oder schwerer GAD, besonders wenn sie durch eine Chronifizierung kompliziert ist, ist eine Kombinationstherapie angezeigt. 304 21 A2 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 A2 · Antworten zu den Checkfragen Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 18 1. SSRI und das duale Antidepressivum sind Mittel der ersten Wahl bei der Behandlung phobischer Störungen. Dabei ist der SSRI Paroxetin besonders gut geprüft, hat aber Nachteile gegenüber Escitalopram. 2. Die antiphobische Wirkung dieser Antidepressiva tritt oft zeitlich verzögert und später als die antidepressiven Effekte ein, also etwa nach 2– 4 Wochen. 3. Wenn die soziale Phobie stark generalisiert und chronifiziert ist und insbesondere wenn es aufgrund der immer stärker werdenden Einengung zur sozialen Isolation zusätzlich zu einer komorbiden (sekundären) Depression gekommen ist. 4. Antidepressiva sollen bei phobischen Störungen über mindestens 12 Wochen gegeben werden. Frühes Absetzen führt häufig zu Rezidiven. Deswegen ist ein längerer Behandlungszeitraum von 6–12 Monaten und sehr langsames Absetzen über Wochen zu empfehlen. 5. Wegen des relativ hohen Nebenwirkungsrisikos sollten bei phobischen Störungen kein Antipsychotika gegeben werden. 6. Soziale Phobien im Kindes- und Jugendalter sollten frühzeitig behandelt werden, da die Patienten durch diese Störungsbild in ihrer emotionalen, sozialen und schulischen Entwicklung stark beeinträchtigt sein können und sich Komorbiditäten, wie andere Angststörungen und affektive Störungen, entwickeln können. Bei schweren und chronischen Verläufen ist therapeutisch eine Kombination aus KVT mit SSRI anzustreben. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 19 1. Der erste überzeugende Wirkungsnachweis bei Zwangsstörungen gelang für das trizyklische Antidepressivum Clomipramin, ein Antidepressivum mit einer starken serotonergen Komponente. Da die anderen TZA nicht wirksam waren, entwickelte sich daraus die Hypothese, dass der Serotoninstoffwechsel bei den Zwangsstörungen eine wesentliche Rolle spielt. Dies bestätigt sich durch die Wirksamkeit der SSRI. 2. Bei der Behandlung von Zwangsstörungen werden in erster Linie Serotoninwiederaufnahmehemmer eingesetzt. 3. Bei der Behandlung von Zwangsstörungen sind höhere Dosen als bei der Behandlung der 4. 5. 6. 7. 8. Depression notwendig. Dies macht eine langsame Aufdosierung notwendig. Es kann recht lange dauern bis sich bei der Behandlung der Zwangsstörungen mit SSRI ein durchgreifender Erfolg einstellt. Oft ist dies erst nach 2‒3 Monaten der Fall. Meist wird durch eine Behandlung mit SSRI nur eine graduelle Besserung mit einer Verminderung der Symptomatik von 40‒50% erreicht. Es soll über einen Zeitraum von 12‒24 Monaten behandelt werden. Beim Absetzen der SSRI besteht ein hohes Rezidivrisiko (80%). Die Medikation sollte sehr langsam herunterdosiert werden. Oft ist es sinnvoll parallel eine KVT durchzuführen, um das Rezidivrisiko zu reduzieren. Falls SSRI nicht erfolgreich sind, kann ein Behandlungsversuch mit Clomipramin gemacht werden, dies ist allerdings mit mehr Nebenwirkungen verbunden. Clomipramin kann auch in Kombination mit einem SSRI eingesetzt werden. Es gibt auch Belege für einen verbesserten Therapieeffekt bei einer Kombination mit atypischen Antipsychotika (Risperidon und auch erste Belege für Quetiapin). Positive Berichte gibt es weiter für eine Kombination eines SSRI mit Lithium, dem Benzodiazepin Clonazepam und dem Anxiolytikum Buspiron. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 20 1. Bei der PTSD besteht eine hohe Komorbidität mit Angststörungen, Depressionen und somatoformen Störungen. 2. Der Schwerpunkt der Behandlung liegt auf der Psychotherapie, etabliert haben sich KVT und EMDR (»eye movement desensitization and reprocessing«). 3. Bei schweren Formen der PTSD, bei begleitenden schweren Angststörungen und Depressionen sind SSRI indiziert, ebenso bei fehlender Response oder Partialresponse unter KVT oder EMDR. Zugelassen ist Paroxetin; für Sertralin gibt es positive Befunde. 4. Die Responserate liegt bei 40–50%. 5. Es wird eine Behandlungsdauer von 1‒2 Jahren empfohlen. Die Antidepressiva sollen langsam abgesetzt werden. Antworten zu den Checkfragen Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 21 1. Zur kurzfristigen Entlastung können Benzodiazepine eingesetzt werden. 2. Zur längerfristigen Behandlung von Anpassungsstörungen (insbesondere mit depressiver Reaktion und Ängsten) können Antidepressiva eingesetzt werden. Obgleich bisher systematische empirische Untersuchungen fehlen, bieten sich wie bei der Behandlung der Depression und der Angststörungen SSRI und das duale Antidepressivum Venlafaxin an. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 22 1. Selektive Serotonin-Noradrenalinrückaufnahmehemmer (duale Antidepressiva) sind bei der Behandlung von Depressionen mit somatischem Syndrom den Serotoninwiederaufnahmehemmern überlegen. 2. Wenn Ängste und Anspannung einen starken Leidensdruck verursachen ist der vorübergehende Einsatz von Benzodiazepinen zu rechtfertigen. Sie werden insbesondere eingesetzt, um die Wirklatenz bei der Behandlung mit Antidepressiva zu überbrücken. 3. Beim langfristigen Einsatz von Depotantipsychotika besteht das Risiko von Spätdyskinesien. 4. Bei der Behandlung der somatoformen Schmerzstörung haben sich besonders Antidepressiva mit dualer Komponente bewährt, die sowohl auf der noradrenerge als auf das serotonerge System einwirken. Es mehren sich Studien, die auf einen stärkeren antinocizeptiven Effekt hinweisen als bei den selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern. 5. Antidepressiva werden mit Erfolg bei der Behandlung chronischer Schmerzen bei organischen Erkrankungen wie Krebs, rheumatischen Erkrankungen, neuralgiformen Schmerzen u. a. eingesetzt, dadurch kann die Gabe von Analgetika oft reduziert werden. Es kommt nicht zu einer Toleranzentwicklung. 6. Eine Behandlung mit Antidepressiva führt beim chronischen Müdigkeitssyndrom leider nur zu geringen, nicht überzeugenden Besserungen. 7. Duale Antidepressiva (z. B. Venlafaxin, Duloxetin) sind den SSRI – wie auch bei anderen Schmerzsyndromen – überlegen. 8. Beim prämenstruellen Syndrom ist die Wirksamkeit von SSRI belegt, auch unter dualen Anti- 305 A2 depressiva und unter Clomipramin waren hohe Responseraten zu verzeichnen. 9. Der therapeutische Effekt von Antidepressiva bei somatoformen Störungen ist geringer als bei der Behandlung von Angststörungen und Depressionen. Psychotherapeutischen Interventionen kommt der größte Stellenwert zu. Synergieeffekte durch eine Kombination von Antidepressiva und Psychotherapie sind bisher nicht untersucht. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 23 1. Bisher zeigten sich keine klaren Erfolge bei der Behandlung der Anorexia nervosa mit Antidepressiva oder anderen Psychopharmaka. 2. Patientinnen mit einer Anorexia nervosa leiden häufig an komorbiden Störungen wie Ängsten, Zwängen oder einer Depression. Liegt diese Konstellation vor, dann ist eine Behandlung mit Antidepressiva sinnvoll. 3. Die Behandlung mit einem Antipsychotikum, z. B. Olanzapin, kann bei schweren und chronischen Ausprägungen der Anorexia nervosa zur leichten Sedierung bei starkem Bewegungsdrang zur Verbesserung inhaltlicher Denkstörungen sowie der Körperschemastörung und zur Appetitsteigerung sinnvoll sein. 4. Bei der Bulimia nervosa habe trizyklische Antidepressiva und SSRI positive Ergebnisse erbracht. 5. SSRI sind nebenwirkungsärmer als die älteren trizyklische Antidepressiva, sie sollten deswegen die erste Präferenz haben. Zugelassen ist nur Fluoxetin. 6. Zugelassen sind Sibutramin, ein Serotonin-Noradrenalinrückaufnahmehemmer (SNRI), der auch bei »binge eating« wirksam ist und Orlistat, ein Lipasehemmer, der nur im Darm wirksam ist und die Fettresorption vermindert. Die neueste Zulassung ist der Cannabinoid-1-Rezeptorantagonist Rimonabant. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 24 1. Schlafstörungen sind bei den affektiven Störungen besonders häufig, 90% der Patienten leiden unter einer Insomnie, 10% unter einer Hypersomnie. 2. Hypnotika: Non-Benzodiazepin und Benzodiazepinhypnotika, sedierende Antidepressiva und sedierende Antipsychotika. 306 21 A2 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 A2 · Antworten zu den Checkfragen 3. Für die medikamentöse Kurzzeittherapie – z. B. in einer akuten Belastungssituation – sind NonBenzodiazepinhypnotika Mittel der Wahl. 4. Zuerst sollten die nichtmedikamentösen Verfahren ausgeschöpft werden. Wenn Schlafmittel zum Einsatz kommen, sollten sie – in der niedrigst möglichen Dosis verordnet werden, – möglichst nur intermittierend 2- bis 4-mal/ Woche gegeben werden, – nur für kurze Zeiträume verschrieben werden, – langsam abgesetzt werden. 5. Antidepressiva mit sedierenden Eigenschaften (Amitriptylin, Doxepin, Trimpramin, Mirtazapin) wirken schlaffördernd. Bei der primären Insomnie werden niedrige Dosierungen verwendet. Ihre Wirkung setzt sofort ein. 6. Bei abhängigkeitsgefährdeten Patienten sind sedierende Antidepressiva und Antipsychotika Benzodiazepinen und Non-Benzodiazepinhypnotika vorzuziehen. 7. Sedierende Antidepressiva und Antipsychotika können wegen ausgeprägter anticholinerger Eigenschaften besonders bei älteren Patienten zu einem Delir führen. 8. Neben einem regelmäßigen Schlaf-Wach-Rhythmus und einem stabilen Lebensumfeld führt Modafinil zu einer deutlichen Verbesserung der Narkolepsie, Mittel der zweiten Wahl ist Methylphenidat. 9. Das Restless-legs-Syndrom wird mit L-DOPADerivaten und Dopaminagonisten behandelt. 10. Die primäre Insomnie im Kindes- und Jugendalter sollten immer verhaltenstherapeutisch mit z. B. Entspanunngsverfahren und Verbesserung der Schlafhygiene behandelt werden. Bei längeranhaltender Insomnie können vorübergehend Hypnotika, Antidepressiva oder ggf. auch Antipsychotika eingesetzt werden. Im Gegensatz zu Erwachsenen ist auch die Behandlung mit Melatonin erfolgversprechend. 37 38 39 40 Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 25 1. Bei Persönlichkeitsstörungen ist insbesondere auf depressive Episoden sowie Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit zu achten. 2. Komorbide depressive Episoden können gut mit Antidepressiva behandelt werden, dabei bieten sich wegen der guten Verträglichkeit SSRI an. 3. Viele Patienten mit Persönlichkeitsstörungen stehen Medikamenten skeptisch gegen über; es ist oft schwierig, »compliantes« Verhalten zu erreichen; insbesondere bei Patienten mit BPS ist selbstschädigendes Verhalten und Suizidalität zu berücksichtigen. 4. Die medikamentöse Behandlung erfolgt syndromorientiert; dabei sind die wichtigsten Zielsyndrome: – depressive und andere affektive Zielsyndrome, – unkontrollierbare Impulsivität und Aggressivität, – Dissoziation und psychotische Symptome. 5. Bei der BPS haben sich drei medikamentöse Optionen bewährt: – SSRI bei vorherrschender Depressivität, Angst oder Ärger, – AAP bei psychotischen Symptomen, – Stimmungsstabilisierer bei vorherrschenden impulsiven Störungen. 6. Die verschiedenen Störungen des Sozialverhaltens sind durch dissoziales, aggressives oder aufsässiges Verhalten mit Verletzungen altersentsprechender sozialer Erwartungen gekennzeichnet. Die Symptomatik muss mindestens 6 Monate vorhanden sein. Bei extremen Ausprägungen wird medikamentös am häufigsten mit Risperidon, für das auch eine Zulassung für diese Indikationen vorliegt, behandelt. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 26 1. Bei sexuellen Funktionsstörungen ist eine umfassende Diagnostik notwendig, die psychobiosoziale Faktoren in einem integrativen Konzept zusammenfasst (z. B. Medikamentenanamnese, körperliche und psychiatrischen Erkrankungen, Sexualanamnese, Partnerschaftskonflikte), aus dem sich die entsprechenden therapeutischen Optionen und ggf. ihre Kombinationen ableiten lassen. 2. Die häufigste sexuelle Funktionsstörung unter Psychopharmaka und Drogen ist die erektile Dysfunktion. Besonders häufig wird sie hervorgerufen durch Psychopharmaka (Antipsychotika, Benzodiazepine, Stimmungsstabilisierer und Antidepressiva, insbesondere TZA) und Alkohol, Nikotin sowie Opiate/Opioide. Ejakulationsverzögerungen können unter SSRI auftreten. Antworten zu den Checkfragen 3. Für sexuelle Störungen bei Frauen steht bisher keine etablierte Pharmakotherapie zur Verfügung. 307 A2 4. Patienten mit ADHS, die nicht mit Psychostimulanzien behandelt werden, neigen eher zur Selbstmedikation mit Drogen (z. B. Cannabis, Kokain, Speed, Alkohol) um die Symptome zu mindern. Antwort zu den Checkfragen 7 Kap. 27 Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 29 1. Es gibt auch im Erwachsenenalter positive Befunde zur Behandlung des ADHS mit Psychostimulanzien wie Methylphenidat und für den selektiven Noradrenalinrückaufnahmehemmer Atomoxetin, aber beide Medikamente sind nicht zugelassen. Zurzeit werden die meisten Patienten im Erwachsenenalter mit Antidepressiva behandelt. 2. Kinder und Jugendliche mit ausgeprägter ADHSSymptomatik sollten mit Psychostimulanzien und Verhaltenstherapie behandelt werden. Bei Unverträglichkeit der Psychostimulanzien und/oder zusätzlichen emotionalen Auffälligkeiten kann Atomoxetin verordnet werden. Der Vorteil dieser Kombinationstherapie liegt darin, dass nicht nur die Kernsymptome der ADHS (Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität) reduziert werden, sondern es auch möglich ist, die sozialen Fertigkeiten, die Symptomatik komorbider Störungen, die Eltern-Kind-Beziehung und die Schulleistungsprobleme zu verbessern. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 28 1. Die Einnahme von Clomethiazol kann zu einer Abhängigkeitsentwicklung führen, deswegen bedarf der Einsatz dieses Medikamentes der strikten ärztlichen Kontrolle. 2. Zur Substitutionsbehandlung werden langwirksame Opiatagonisten wie Methadon und Levomethadon eingesetzt sowie Buprenorphin, das sowohl agonistische als auch antagonistische Eigenschaften am Opiatrezeptor hat. 3. Die häufigsten Indikationen für Entgiftungen und Entwöhnungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie stellen Alkohol- und Cannabisabhängigkeiten dar. Zu den wichtigsten Behandlungsstrategien gehören psychosoziale und psychotherapeutische Interventionen. Als wirksam haben sich dabei KVT-Gruppenprogramme, Selbsthilfegruppen und Familientherapien erwiesen. Bei Überdosierungen und starken Entzugssymptomen ist eine medikamentöse Therapie notwendig. 1. Bei der bipolaren affektiven Störung kommen 5 verschiedene Syndrome vor: Manische Episode, Hypomanie, Depression, gemischte Episode und Rapid Cycling. 2. Rapid Cycling ist durch mindestens 4 Episoden in 12 Monaten charakterisiert. 3. Bei der Verabreichung von Antidepressiva, insbesondere von TZA, zur Behandlung einer Depression im Rahmen einer bipolaren affektiven Störung besteht das Risiko eine Hypomanie, eine Manie oder ein Rapid Cycling zu induzieren. Auch bei Venlafaxin ist das Risiko erhöht. 4. Bei einer Depression im Rahmen einer bipolaren affektiven Störung kann auf die Gabe eines Antidepressivums nicht verzichtet werden, wenn eine schwere depressive Episode vorliegt, insbesondere wenn sie mit Suizidalität einhergeht. 5. Wenn bei einer depressiven Episode im Rahmen einer bipolaren affektiven Störung die Behandlung mit einem Antidepressivum unverzichtbar ist, sollten SSRI gewählt werden, da bei ihnen das geringste Risiko besteht, einen »switch« in eine Hypomanie oder Manie hervorzurufen oder ein Rapid Cycling zu induzieren. Zusätzlich sollte ein Stimmungsstabilisierer gegeben werden. 6. Kinder- und Jugendliche mit bipolaren Störungen profitieren zusätzlich zur Therapie mit Stimmungsstabilisieren von einer ausführlichen Psychoedukation und kognitiv-behavioralen Interventionen, wie z. B. Übungen zur Verbesserung der Kommunikation und zum Erlernen von Problemlösungsstrategien in Bezug auf das Umgehen mit den Symptomen der Krankheit sowie Übungen zur Emotionsregulierung und Impulskontrolle. Weiterhin hat sich eine ausführliche Psychoedukation der Bezugspersonen als wirksam gezeigt. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 30 1. In der Akutphase der Erkrankung liegt der Schwerpunkt auf der antipsychotischen medikamentösen Behandlung. Die Wahrscheinlichkeit des Ansprechens auf Antipsychotika nimmt 308 21 A2 23 24 2. 25 26 27 28 29 3. 30 31 32 4. 33 5. 34 35 36 6. 37 38 39 40 7. A2 · Antworten zu den Checkfragen ab und die Prognose wird ungünstiger, wenn eine akute schizophrene Psychose längerfristig unbehandelt bleibt. Die möglichst frühzeitige Behandlung mit AAP wird empfohlen. In der Stabilisierungsphase und in der Phase der Rezidivprophylaxe bzw. Symptomsuppression (Langzeittherapie) gewinnen psychosoziale Maßnahmen und die Vermittlung eines Gesamttherapiekonzepts zunehmend an Bedeutung. Zunehmend wird KVT additiv zur Medikation eingesetzt. Negativsymptomatik ist gekennzeichnet durch Denk- und Konzentrationsprobleme, Mangel an Selbstvertrauen, Energieverlust, mangelnde Leistungsfähigkeit, affektive Verflachung und sozialen Rückzug mit Reduktion der psychosozialen Funktionsfähigkeit. Die Therapie ist schwierig und oft langwierig. AAP sind gegenüber den konventionellen Antipsychotika zu bevorzugen. Bei fortbestehender Negativsymptomatik ist eine Kombination eines AAP mit einem SSRI oder mit Mirtazapin sinnvoll. Depressive Symptome und Suizidalität kommen im Rahmen einer Schizophrenie häufig vor, insbesondere in der ersten depressiven Episode. Bei noch florider Positivsymptomatik sollte die Gabe eines Antidepressivums vermieden werden. Besteht nach weitgehender Remission der Positivsymptomatik ein depressives Syndrom, so ist die zusätzliche Gabe eines Antidepressivums (insbesondere eines SSRI) zu empfehlen. Bei Mutismus und Katatonie ist die Gabe von Lorazepam (zunächst 2–2,5 mg) indiziert. Bei der Behandlung der schizoaffektiven Störung sind AAP bei manischer, depressiver und gemischter Symptomatik wirksam. Bei akuter schizomanischer Symptomatik ist die zusätzliche Gabe von Lithium indiziert. Überwiegt die schizodepressive Symptomatik, so kann die Kombination eines Antipsychotikums mit einem Antidepressivum versucht werden. Die erste Option bei der Behandlung einer wahnhaften Depression ist die Therapie mit einem Antidepressivum. Remittiert die psychotische (wahnhafte) Symptomatik nicht, so wird im zweiten Schritt zusätzlich ein AAP hinzugefügt. Die zweite Option, ist die sofortige Kombination eines Antidepressivums mit einem AAP. Von Therapieresistenz spricht man, wenn zwei ausreichend hoch dosierte Antipsychotika über einen Behandlungszeitraum von jeweils 4– 8 Wochen nicht zu einem ausreichenden Therapieeffekt geführt haben. Die erste Option ist – nach Abwägung des individuellen Therapierisi- kos – die Umsetzung auf Clozapin, das unter den AAP immer noch eine Ausnahmestellung inne hat und auch bei primären Non-Respondern oft zu Erfolg führt. Allerdings hat es ein erhöhtes Nebenwirkungsrisiko und bedarf der kontinuierlichen psychiatrischen Kontrolle. Eine weitere Option ist die Kombination von Antipsychotika. Dabei sind mögliche Nebenwirkungen und Wechselwirkungen besonders sorgfältig zu prüfen und zu überwachen. 8. Kinder und Jugendliche mit schizophrenen Störungen sind aufgrund des frühen Krankheitsbeginns in ihrer emotionalen, sozialen, schulischen und körperlichen Entwicklung beeinträchtigt. Zusätzlich zur psychopharmakologischen Behandlung der Akutsymptomatik und zur Rezidivprophylaxe, sind psychotherapeutische und familienbezogene Maßnahmen sowie spezifische Rehabilitationsmaßnahmen indiziert. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 31 1. Positive Effekte bei der Behandlung der Alzheimer-Demenz sind für AChE-I wie Donepezil, Galantamin und Rivastigmin belegt sowie für den NMDA-Antagonisten Memantin. 2. Bei der Behandlung der vaskulären und der gemischten Demenzen sind ebenfalls AChE-I und der NMDA-Antagonist Memantin zu empfehlen. Allerdings handelt es sich hierbei um eine »Off-label«-Behandlung, da (noch) nicht genügend empirische Belege für eine Zulassung vorliegen. 3. Bei der Behandlung von demenzassoziierten Verhaltensstörungen werden neben AChE-I und dem NMDA-Antagonisten Memantin atypische Antipsychotika eingesetzt. Risperidon und Olanzapin zeigen die besten Wirkungen, zugelassen ist derzeit nur Risperidon. 4. Patienten mit einem demenziellen Syndrom sind oft multimorbid und haben ein höheres Alter, sie reagieren deswegen oft empfindlich auf Medikamente, z. B. mit orthostatischen Beschwerden und anticholinergen Nebenwirkungen. Antwort zu den Checkfragen 7 Kap. 32 1. Beim Restless-legs-Syndrom sind L-DOPA und Dopaminantagonisten Mittel der Wahl Antworten zu den Checkfragen Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 33 1. Zu den Kernsymptomen der tief greifenden Entwicklungsstörungen gehören qualitative Beeinträchtigungen der gegenseitigen Interaktion und Kommunikation sowie ein eingeschränktes, stereotypes, repetitives Repertoire an Interessen und Aktivitäten. Das am besten untersuchte Medikament bei tief greifenden Entwicklungsstörungen ist Risperidon. Durch Risperidon konnten in den meisten Studien eine signifikante Verbesserung von restriktiven, repetitiven und stereotypen Verhaltensmustern, Interessen und Aktivitäten sowie eine Reduktion von aggressiven und selbstverletzenden Verhaltensweisen erzielt werden. 2. Am Anfang der Behandlung steht eine ausführliche Psychoedukation. Therapeutisch profitieren die Patienten von einer Frühförderung, welche die Interaktionsfähigkeit, die Anpassung an die Anforderungen des Alltags und die Selbständigkeit verbessern kann. Verhaltenstherapeutische Interventionen zielen darauf ab, die Entwicklung der sozialen Wahrnehmung, der Kommunikation und der Sprachförderung anzubahnen bzw. zu verbessern. Eine stationäre Therapie bzw. eine Aufnahme in eine spezialisierte Institution ist bei erheblichen Selbst- und Fremdaggressionen, Stereotypien und Ritualen oder bei Überforderung der Familie indiziert. 3. Die emotionale Störung des Kindesalters mit Trennungsangst, die auch als Schulphobie bezeichnet wird, liegt vor, wenn das Kind die Angst vor der Trennung von der Bezugsperson als überwältigend erlebt, die Angst über die entwicklungsphysiologische Alterstufe hinaus andauert und die psychosoziale Entwicklung längerfristig erheblich beeinträchtigt ist. Leichtere Trennungsängste sind durch eine ambulante Psychoedukation und Vermittlung verhaltenstherapeutischer Übungen der Bezugspersonen behebbar. Schwere Trennungsängste müssen häufig stationär behandelt werden. Falls eine Begleitmedikation befristet indiziert ist, empfiehlt sich eine Behandlung mit einem SSRI. 4. Die Enuresis wird als unwillkürlicher Harnabgang ab einem Alter von 5 Jahren definiert. Je nach tageszeitlichem Auftreten des Einnässens wird zwischen Enuresis nocturna, Enuresis diurna und Enuresis nocturna et diurna unterschieden. Unter einer primären Enuresis versteht man ein Einnässen ohne längere trockene Periode, während die sekundäre Enuresis durch Wiedereinnässen nach einer längeren trockenen Periode 309 A2 (>6 Monate) definiert ist. Therapeutisch sollten anfänglich die Beratung der Eltern sowie eine Dokumentation des Einnässens erfolgen. Falls diese Maßnahmen nicht ausreichen, ist die apparative Verhaltenstherapie mittels »Klingelhose« angezeigt. Eine medikamentöse Therapie mit Desmopressin ist indiziert, wenn andere Maßnahmen nicht erfolgreich waren. 5. Bindungsstörungen beziehen sowohl das intrapersonale Verhalten als auch das interpersonelle Beziehungsverhalten mit ein. Es werden zwei Subtypen unterschieden. Der erste Typus ist gekennzeichnet durch ein gehemmtes Verhalten mit Vermeidung, Rückzug und Hypervigilanz, während der zweite Typus durch ein ungehemmtes Verhalten mit vorwiegend unselektivem, distanzlosem Kontaktverhalten geprägt ist. Das wichtigste Behandlungsziel ist ein entwicklungsförderndes und bindungsstabiles Milieu herzustellen. Da zumeist umschriebene Entwicklungsrückstände vorliegen, sind häufig Krankengymnastik, Ergotherapie und Logopädie erforderlich. Psychotherapeutische Verfahren können erst eingesetzt werden, wenn ein entsprechendes Entwicklungsalter erreicht ist. Bei ausgeprägter Symptomatik kommt eine vorübergehende Behandlung mit Antipsychotika (z. B. Risperidon) in Betracht. Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 34 1. Bei schweren psychomotorischen Erregungszuständen hat sich die Gabe von Haloperidol bewährt. 2. Das Benzodiazepin Alprazolam wirkt schnell und zuverlässig anxiolytisch, es hat eine kurze Halbwertzeit und ist damit gut steuerbar. Es kann in höherer Dosierung depressiven Stupor lösen und ist in Kombination mit Haloperidol gut zur Behandlung psychomotorischer Erregungszustände geeignet. 3. Bei suizidalen Krisen hat sich – neben intensiven Gesprächen und ggf. auch einer Unterbringung auf einer beschützten psychiatrischen Station – die vorübergehende Gabe von Benzodiazepinen bewährt. Sie sind schnell und gut wirksam und können die Hoffnungslosigkeit lindern, die oft mit Suizidalität verknüpft ist. 310 21 A2 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 A2 · Antworten zu den Checkfragen Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 35 1. Bei leichten und mittelschweren Depressionen ist psychotherapeutischen Interventionen der Vorzug zu geben. Ist bei einer schweren Depression eine medikamentöse Behandlung notwendig, so ist die Gabe des TZA Nortriptylin zu empfehlen. 2. Bei zwingend notwendiger Behandlung mit Antipsychotika in der Schwangerschaft sollte, wegen der großen klinischen Erfahrung mit diesem Präparat, Haloperidol in möglichst niedriger Dosis gewählt werden. Unter den atypischen Antipsychotika ist nach derzeitigem Stand Olanzapin am wenigsten risikoreich. 3. Lithium hat ein teratogenes Risiko (kardiovaskuläre Fehlbildung). Es sollte im 1 Trimenon deswegen nicht gegeben werden. Bei einer geplanten Schwangerschaft sollte eine Latenz von mindestens 2 Wochen zwischen dem langsamen Absetzten von Lithium und der Konzeption bestehen. Auf das Stillen sollte bei einer Lithiumbehandlung verzichtet werden. 4. Benzodiazepine sollten im 1 Trimenon möglichst nicht gegeben werden, ältere Studien ergaben Hinweise für das vermehrte Auftreten von Gesichtsspalten. Geringe Dosen scheinen sich im 2 Trimenon nicht negativ auszuwirken. Bei Gabe in der Zeit vor der Geburt kann es zum Floppyinfant-Syndrom führen und auch zu Entzugssymptomen beim Neugeborenen. 33 Antworten zu den Checkfragen 7 Kap. 36 34 1. Unter den nichtsedierenden Antidepressiva (z. B. SSRI) ist die Fahrtüchtigkeit oft nicht eingeschränkt. Unter sedierenden Antidepressiva ist sie während der Aufdosierungsphase und in den ersten beiden Wochen nach Erreichen der der Zieldosis eingeschränkt. 2. Unter der Behandlung mit Antipsychotika ist die Fahrtüchtigkeit während der Aufdosierung und in den ersten beiden Wochen nach erreichen der Zieldosis eingeschränkt, dies kann auch während der Erhaltungstherapie der Fall sein, insbesondere bei Antipsychotika mit sedierendem Effekt. 3. Unter der Gabe von Benzodiazepinen ist die Fahrtüchtigkeit generell eingeschränkt. 35 36 37 38 39 40 311 Literatur Agosti V, Quitkin FM, Stewart JW, McGrath PJ (2002) Somatization as a predictor of medication discontinuation due to adverse events. Int Clin Psychopharmacol 17: 311 Akiskal HS (1983) Dysthymic disorder: Psychopathology of proposed chronic depressive subtypes. Am J Psychiatry 140: 11 Aktories K, Förstermann U, Hofmann F, Starke K (2004) Allgemeine und Spezielle Pharmakologie und Toxikologie; 9. Aufl. Urban & Fischer, München Jena Althof SE, Wieder M (2004) Psychotherapy for erectile dysfunction: now more relevant than ever. 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Eine fettgedruckte Seitenzahl verweist auf die tabellarische Beschreibung im jeweiligen Teil »Präparategruppen«. A AADC-Inhibitorpräparate 130 Abilify 79 Acamprosat 111, 229 Acomplia 114, 125 Adumbran 92 Agomelatin 39 Akineton 274 Alprazolam 92, 93, 158 Amisulprid 73, 79 Amitriptylin 57 Anafranil 57 Androcur 120 Aricept 108 Aripiprazol 73, 79 Atarax 93 Atomoxetin 128, 129, 131, 223 Aurorix 58 Axura 108 B Baldrianpräparate 102 Bespar 93 Biperiden 274 Buprenorphin 111, 112, 230 Bupropion 39, 56, 114, 218 Buspiron 85, 88, 91, 93, 94, 163 C Campral 111 Carbamazepin 62, 69, 210, 211, 227, 283 Champix 111, 114 Chloraldurat 500 102 Chloralhydrat 96, 97, 99, 102 Chlordiazepoxid 84 Chlorprothixen 81 Cialis 121 Cipralex 54 Cipramil 54 Citalopram 54, 157 Clomethiazol 110, 111, 227 Clomipramin 57, 173 Clonazepam 92, 263, 284 Clonidin 111, 113, 131, 230, 232 Clozapin 73, 74, 77, 78, 79, 80, 81, 258 Concerta 129 Cymbalta 55 Cyproteronacetat 119, 120, 217 D Dalcipran 55 Dalmadorm 101 Desipramin 111 Desmopressin 269 DHEA 146, 217 Diazepam 92, 94, 247, Diphenhydramin 97, 102 Dipiperon 80 Distraneurin 111 Disulfiram 111, 112, 229 Dociton 93 Dolestan 102 Donepezil 108, 258 Duloxetin 54, 55, 187, 189, 190 E Ebixa 108 Edronax 56 elmendos 69 Elontril 56 Equasym 129 Ergenyl chrono 69 Ergocalm Tabs 101 Escitalopram 54, 157, 162, 173 Eunerpan 80, 274 Exelon 108 F Fevarin 54 Fluanxol 80 Fluctin 54 Flumazenil 85, 111 Fluoxetin 53, 54, 59, 120, 152, 173, 196, 197 Flupentixol 80 Fluphenazin 81 Flurazepam 101 Fluvoxamin 54, 59, 173, 175, 269 G Galantamin 108, 258 Gladem 54 H Halcion 101 Haldol 80 Haldol-Janssen 274 Haloperidol 80, 81, 110, 111, 274 Hydroxyzin 86, 88, 91, 93 Hyperikumextrakt 58 I Imipramin 57, 111, 142, 156, 162 Insidon 93 Invega 78 J Johanniskrautextrakt 58, 188 L Lamotrigin 62, 69, 239, 283 Leponex 79 Levitra 121 Levodopa 289 Levomethadon 111, 112, 230 Levomopromazin 81 Librium 84 Lithium 143, 210, 239, 283 Lithiumcarbonat 69 Liviella 217 Lorazepam 92, 158, 247, 274 Lormetazepam 101 Lorprazolam 101 L-Polamidon 111 Lyrica 93 M Medikinet retard 129 Melatonin 96, 102, 259 324 21 22 L D P 26 27 28 29 30 31 32 Pharmakaverzeichnis Melperon 80, 81, 102, 203, 274 Memantin 107, 108, 258 Methadon 111, 112, 230 Methylphenidat 128, 129, 204, 223 Milnacipran 55, 187, 190 Minirin 269 Mirtazapin 55, 56, 101, 140, 142, 218, 246 Moclobemid 57, 58 Modafinil 128, 129, 131, 204, 205, 223 N Naloxon 111, 230 Naltrexon 111, 113, 210, 211, 229, 231, 232 Narcanti 230 Natriumoxybat 129, 204 Nikotinpflaster 111 Noctamid 101 Nortrilen 57 Nortriptylin 57 O Olanzapin 69, 73, 79, 203, 239, 245, 248, 249, 274 Opipramol 86, 88, 91, 9393, 188 Orfiril long 69 Orlistat 124, 125 Oxazepam 92 R Reboxetin 55, 56 Reductil 125 Remergil 56 Remestan 101 Reminyl 108 Restex 130 Rimonabant 114, 124, 125, 232 Risperdal 79 Risperidon 79, 81, 210–212, 245, 248, 249, 259, 262, 268 Ritalin 129 Rivastigmin 108, 258 Rivotril 92 Ropinirol 289 S Saroten 57 Sepram 54 Seroquel 69, 79 Seroxat 54 Sertralin 54, 120, 178 Sibutramin 124, 125, 197 Sildenafil 120, 121, 216, 218 Solian 79 Sonata 101 Sonin 101 Stangyl 57 Stilnox 101 Strattera 129 P 33 34 35 36 37 38 39 40 Paliperidon 78 Paroxetin 54, 178, 282 Perazin 81 Pimozid 81 Pindolol 94 Pipamperon 80, 81, 203 Pramipexol 289 Pregabalin 86, 88, 93, 163 Propranolol 93, 94 Prozac 53 Q Quetiapin 69, 79, 203, 210, 239, 245, 258 Quilonum retard 69 T Tadalafil 121 Tafil 92 Tagonis 54 Tavor 92, 274 Tegretal 69 Temazepam 101 Testosteron 217 Theophyllin 205 Tiaprid 227, 262 Tibolon 217 Timonil 69 Tofranil 57 Tranylcypramin 57 Trevilor retard 55 Triazolam 101 Trimipramin 57, 102 Tryptophan 96, 102 V Valium 92 Valproinsäure 62, 69, 210, 211, 239, 283 Vardenafil 121 Variniclin 111, 114 Venlafaxin 54, 55, 140, 142, 158, 162, 187, 190 Viagra 121 Vigil 129 X Xenical 125 Ximovan 101 Xyrem 129 Y Yohimbin 118 Z Zaleplon 97, 101 Zeldox 79 Ziprasidon 73, 79 Zoloft 54 Zolpidem 97, 101 Zopiclon 97, 101 Zyban 111 Zyprexa 69, 79, 274 325 Sachverzeichnis A Abhängigkeitsstörungen 226 Absetzsyndrome – Antidepressiva 48 Absorption 12, 15 Acetylcholinesterasehemmer 106 ADHS – multimodale Therapie 130 Agonist 17 Agoraphobie 168 Agranulozytose – Antipsychotika 77 Akathisie 76 Akkumulation 12 Alkoholabhängigkeit – Rückfallprophylaxe 228 Alkoholentzugsdelir 228 Alkoholentzugssyndrom 227 Alkoholfolgekrankheiten 228 Alkoholhalluzinose 228 Alkoholoabhängigkeit – Rückfallprophylaxe 111 Allianz, therapeutische 251 Alpträume 262 Amphetamin 231 Amyloidhypothese 257 Androgene 119 Angst – Neurobiologie 151 Anorexia nervosa 195 Anpassungsstörung 182 Antagonist 17 Antiadiposita 124 Antiandrogene 119 Antidepressiva 289 – ADHS 129 – Akuttherapie 140 – Angsterkrankungen 89 – chemische Struktur 39 – Definition 38 – Dosierung 45 – Drug-Monitoring 45 – duale Antidepressiva 38, 187 – – Schmerzen 187 – generalisierte Angststörung 162 – Gewichtszunahme 47 – hämatopoetisches System 47 – historische Entwicklung 38 – im höheren Lebensalter 52 – Indikationen 43 – kardiale Nebenwirkungen 45 – Kombinationsstrategien 144 – – – – – Manieinduktion 237 Non-Compliance 43 Panikstörungen 156 Persönlichkeitsstörungen 210 pharmakologische Angriffspunkte 42 – Plasmakonzentration – Plasmaspiegel 45 – primäre Insomnie 203 – Psychotherapie 137 – Rezidivprophylaxe 142 – Routineuntersuchungen – Schwangerschaft und Stillzeit 280 – Suizidalität 49 – trizyklische Antidepressiva – – Entwicklung 38 – – Therapieempfehlung 57 – Wechselwirkungen 51 – Wirkungseintritt 140 – Wirkungsmechanismus 40 – Zwangsstörung 173 Antidepressivastudien – Methodik 39 Antiepileptika 84 – Alkoholkrankheit 111 Antihistaminika 84, 97, 99 Antiinsomnika 96 Anticraving-Substanzen 111 Antikonvulsiva 62 – Schwangerschaft und Stillzeit 283 Antipsychotika 76, 289 – Absetzversuch 75 – Alkoholkrankheit 110 – als Anxiolytika 86, 89 – atypische Antipsychotika – – Definition 72 – – Stimmungsstabilisierer 62 – Begleittherapie 74 – Behandlungsdauer 74 – gesicherte Wirksamkeit 73 – Insomnie 203 – kardiale Nebenwirkungen 77 – Kombination 250 – konventionelle Antipsychotika 72 – – Definition 72 – Langzeiteffekt 73 – Lebensqualität 73 – Persönlichkeitsstörungen 210 – psychosoziale Integration 73 – Routineuntersuchungen 78 – Schwangerschaft und Stillzeit 283 – vegetative Nebenwirkungen 77 – Wechsel 250 – Wirkungsmechanismus 72 Arzneimittel – Definition 4 Asperger-Syndrom 267 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen – Neurobiologie 222 Augmentationsstrategien 145 Autismus – Neurobiologie 266 Azapirone 84 B Barbiturate 84, 85, 96 Beipackzettel 23, 24 Belastungsstörung 181 – posttraumatische 177 Benzodiazepine 289 – Abhängigkeit 90 – Alkoholkrankheit 110 – generalisierte Angststörung 163 – Indikationen 87 – Panikstörungen 158 – paradoxe Reaktionen 99 – Schlaf-EEG 97 – Schwangerschaft und Stillzeit 284 – Wirkungsmechanismus 84 Benzodiazepinhypnotika 96 Benzodiazepinrezeptorantagonisten 85 Beta-(β-)Rezeptorenblocker 84, 86 – Angststörungen 158 Bewegungsstörungen 130, 261 Bewegungstherapie 147 Bilanzsuizid 277 Bindungsstörungen 270 Binge-eating-Störung 197 Bioverfügbarkeit 13 bipolare affektive Störung 236, 239 – Phasenprophylaxe 236, 239 BLIPS – Schizophrenie 244 – Depression 141 Blutungen, gastrointestinale – SSRI 47 Bromide 96 Bruxismus 262 BPSD (Verhaltensstörung, demenzassoziierte) 258 Bulimia nervosa 196 Burnout-Syndrom 151 Buspiron 168 – Wirkmechanismus 85 326 21 22 23 24 25 S 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Sachverzeichnis C Cannabis 232 Cannabisabhängigkeit 113 Carbamazepin 67 Chloralhydrat 97 Chlordiazepoxid 84 cholinerge Hypothese – Demenz 106 Clearance 13, 14 Cochrane-Datenbank 26 Colon irritabile 190 Craving 229 cycling acceleration 238 Cytochrom P450 15 D D2-artige Rezeptoren 73 Degenerationshypothese – Schizophrenie 244 Delirium tremens 228 Demenz – bei Alzheimer-Krankheit 256 -- cholinerge Hypothese 106 -- Neurobiologie 257 – Prävention 258 demenzielles Syndrom 256 Depotpräparate 75 Depression – atypische 149 – bipolare 236 – blips 141 – Erhaltungstherapie 142 – Genetik 136 – hirnmorphologische Veränderungen 136 – Hormone 146 – bei körperlichen Erkrankungen 150 – Krankheitsmodell 137 – Neurobiologie 136 – Noradrenalin- und Serotoninhypothesen 38 – mit psychotischen Merkmalen 236 – Relapserate 39 – Remission 143 – rezidivierende – – Therapie 148 – rezidivierende kurze 149 – Therapie 148 – wahnhafte -- EKB 249 depressive Episode, s. Depression Designerdrogen 231 Desorientiertheit 276 DHEA-Therapie 120 Dispositionsgene – Schizophrenie 244 Distribution 12, 15 Dopaminagonisten 130, 289 Dopaminrezeptor 72 Dosis-Wirkung-Beziehung 6 Double Depression 149 Drug-Monitoring 19 Dysthymie 149 E Ebstein-Anomalie 283 EC50 7 Ecstasy 231 Ecstasy-Abhängigkeit 113 ED50 7 Effekt – antinozizeptiver – – Antidepressiva 189 Eifersuchtswahn 228 Ejaculatio praecox 217 Ejakulationen, schmerzhafte 218 Ejakulationsverzögerungen 218 Elektrokrampfbehandlung (EKB) 147 – Kindes- und Jugendalter 253 Eliminationshalbwertszeit 13, 14 Entgiftung 228 – qualifizierte 226 Entspannungsverfahren – Insomnie 202 Entwicklungsstörungen, tief greifende 266 Entwöhnung – Definition 227 Entwöhnungstherapie 228 Entzugssymptome – Benzodiazepine 90 Enuresis 269 EPS-Nebenwirkungen 76 Erektionsstörungen 216 Erhaltungstherapie – Bedingungen 9 Erregungszustände, psychomotorische 275 Essstörungen 193 – Neurobiologie 194 Eve 231 Eve-Abhängigkeit 113 evidenzbasierte Medizin 26 Exkretion 12, 16 eye movement desensitization and reprocessing (EMDR) 179 F Fachinformation 24 Fibromyalgiesyndrom 190 first generation antipsychotics 72 Flashback-Psychosen 232 Flexibilitas cerea 276 Floppy-infant-Syndrom 283 Folsäuresubstitution 283 Frühdyskinesie 76 G GABA 84 GABAA-Rezeptoren 85 GABA-Benzodiazepinkomplex 85 Gammaaminobuttersäure (GABA) 84 generalisierte Angststörung – Antidepressiva 162 Generikum 5 Gestagene 119 Gewichtszunahme – Antidepressiva 47 – Antipsychotika 76 Gleichgewichtszustand (Steady State) 14 H Hang-over-Effekte 99 Haschisch 232 Heroinvergabe, ärztlich kontrollierte 231 Herzinfarkt – Antidepressiva 52 Herz-Kreislauf-Erkrankungen 46 high expressed emotions 251 Hormonersatztherapie 120 Horrortrip 232 5-HT-Transporter-Gen 30 hyperkinetische Störungen 222 Hypersomnie 204 Hypnotika – Abhängigkeit 98 – pflanzliche Präparate 96 Hypomanie 236 hypothalamisch-hypophysär-adrenales System (HPA) 39, 156 Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-System 136 327 Sachverzeichnis I IC50 7 Imipramin – Entdeckung 38 inadäquate ADH-Sekretion (SIADH) Insomnie – Alkohol 201 – Antipsychotika 203 – Neurobiologie 201 – primäre 200 -- Antidepressiva 203 – Ursachen 200 intrinsische Aktivität 17 Isoenzyme 15 49 J Johanniskrautextrakte – Therapieempfehlung 58 K kardiale Nebenwirkungen 77 – Antidepressiva 45 – Antipsychotika 77 Kataplexie 204 Katatonie – febrile 276 – perniziöse 276 kognitive Störung, leichte 256 Kokain 231 Kombinationsbehandlung – Psycho- und Pharmakotherapie 31 Krampfanfälle 76 Kumulationsphänomene 99 L Lampenfieber 159 Langzeittherapie – Bedingungen 9 LD50 7 Leuprorelinacetat 121 LHRH-Antagonisten 121 Libidosteigerungen 218 Lichttherapie 147 Lipasehemmer 124 Lithium – Plasmakonzentration 65 – Routineuntersuchungen 67 – Schwangerschaft und Stillzeit – Wirkungsmechanismus 62 – zirkadiane Ryhthmen 63 M Magnetstimulation, repetitive transkranielle 147 malignes neuroleptisches Syndrom 76, 278 Manie – Neurobiologie 236 MAO-Hemmer – Entdeckung 38 – Therapieempfehlung 57 Marihuana 232 Marker, biologischer 136 Mebrobamat 84 Medikamentencompliance – Psychotherapie 31 Medikamentenentwicklung – Phasen 6 Medroxyprogesteron 121 Meskalin 232 metabolisches Syndrom 76 Metabolisierung 12, 15 Methylphenidat – ADHS 128 Migräne 189 Minor Depression 149 Missbrauch – Definition 226 Mitralklappenprolaps 159 mnestische Störung 276 mood stabilizer 62 Müdigkeitssyndrom, chronisches N 283 Nikotinabhängigkeit 114 Nikotinersatzstoffe 114 NMDA-Antagonist 106 NMDA-Rezeptoren 106 Non-Benzodiazepinhypnotika 97 – Schwangerschaft und Stillzeit 284 Non-Compliance – Antipsychotika 75 Non-REM-Schlafepisoden 201 Noradrenalin-Dopaminrückaufnahmehemmer 56 Lithiumaugmentation – im höheren Lebensalter 66 Lithiumprophylaxe – Absetzen 64 Locus coeruleus 151 low-dose dependence 90, 98 LSD 232 Nachahmungspräparate 5 Nap 202 Narkolepsie 204 Negativsymptomatik – und Prodromalstadium 246 – Schizophrenie 246 neuroleptische Potenz 72 Neuron 17 Neuropils 244 Neurotransmission – serotonerge 62 – – Lithium 62 Nikotin 232 O off-label 22 Opiatabhängigkeit – Entwöhnungsbehandlung 231 – Substitutionsbehandlung 230 Opiatentzugssyndrom 113, 230 Opiatintoxikation 230 Opioid-Agonisten 289 Orexinsystem 201, 204 Östrogenmangel 119 P 189 Panikstörungen – Antidepressiva 45 Paraphilie 217 Parasomnien 262 Parkinson-Erkrankung – Depression 52 Parkinsonoid 76 Patienteninformation 22 Pavor nocturnus 262 PDE-5-Hemmer 118, 217 periodic limb movements in sleep (PLMS) 130, 262 Persönlichkeitsstörungen 207 – Neurobiologie 208 Pharmakodynamik 12, 16 Pharmakokinetik 12, 13 Pharmakon – Definition 4 phase advance 63 Phasenfrequenz 238 Phasenprophylaxe – bipolare affektive Störung 236, 239 Phobie – Agoraphobie 168 – soziale 168 – spezifische 168 phobische Störung – Antidepressiva 168 Phosphodiesterase-Typ-5Hemmer 118 328 21 22 23 24 25 S 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Sachverzeichnis Placebo 39 Polymorphismus 16 Polytoxikomanie – Definition 226 post-stroke depression 150 posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) 177, 181 – Neurobiologie 178 Priapismus 218 Prodromalstadium – Schizophrenie 246 Pseudodemenz 277 – depressive 150 Psilocybin 232 Psycho- und Pharmakotherapie – Kombinationsbehandlung 31 Psychoanaleptikum 128 Psychomimetika 232 – Abhängigkeit 113 Psychopharmaka – Fahrtüchtigkeit 288 – Schwangerschaft 282 Psychostimulanzien 222 Psychotherapie – Medikamentencompliance 31 PTSD, s. posttraumatische Belastungsstörung R Rapid Cycling 236, 239 rapid-eye-movement 201 Rauchen 78 Reboundsymptome 90 recurrent brief depression 149 Redner- und Prüfungsangst 159 Reizdarm 190 REM-Schlaf 201 Restless-legs-Syndrom 130, 262 Rett-Syndrom 267 reuptake 40 Rezeptorbindung 16 Rezeptoren, glutamaterge 106 Rezeptor-Signal-Transduktion 17 Rezidivprophylaxe – Bedingungen 9 Rhabdomyolyse 77 riskanter Konsum – Definition 226 Rote Liste 23 Rückfallsymptome – Benzodiazepine 90 S SAD 149 Schilddrüsenhormone 146 schizoaffektive Störung 240 – Phasenprophylaxe 240 Schizophrenie 244 – katatone 276 – – Stupor 276 – Neurobiologie 244 – Prodromalstadium 244 – Therapieresistenz 249 – unspezifisches Vorstadium 244 Schlaf, nichterholsamer 200 Schlafanalyse 200 Schlafapnoesyndrom 205 Schlaf-EEG – Benzodiazepine 97 Schlafentzug 146 Schlafhygiene 202 Schlafmittel 96 Schlafstörungen 199 – nichtorganische 200 – organische 200 Schlaf-Wach-Regulation 201 Schlafwandeln 262 Schlaganfall – Antidepressiva 52 Schmerzen – duale Antidepressiva 187 Schmerzstörung 189 Schmerzsyndrome 187 seasonal affective disorder 147 second generation antipsychotics 72 Sedierung – Antidepressiva 47 Selbsthilfegruppen 229 Serotonin (5-HT)-Transporter 42 Serotoninregulation – Essstörungen 194 Serotoninsyndrom, zentrales 50, 278, 279 Sexualhormone 119 sexuelle Funktionsstörungen 215 – Antidepressiva 47 – Antipsychotika 76 – Neurobiologie 216 SIADH 49 Sleep-Onset-REM-Episoden 204 SNRI – Therapieempfehlung 53, 55, 56 somatoforme Störung 185 Somnambulismus 262 Sozialrhythmus-Therapie 240 Spannungskopfschmerz 189 Spätdyskinesien 76 SSRI 53 – Angst – Bulimia nervosa 196 – depressive Störungen 140 – Ejaculatio praecox 120 – Entwicklung 38 – generalisierte Angststörung 162 – Insomnie 202 – Manieinduktion 237 – Panikstörung 157 – Persönlichkeitsstörungen 210 – phobische Störung 168 – Plasmakonzentration 45 – posttraumatische Belastungsstörung 178 – prämenstruelles Syndrom 190 – somatoforme Störung 187 – und Suizidalität 59 – – Kindes- und Jugendalter 59 – Therapieempfehlung 53 – Wechselwirkung 18 – Zwangsstörung 172 Steady State 14 Stimmungsstabilisierer 289 – Definition 62 – Indikationen 64 – – Übersicht 64 Störungen – hyperkinetische 222 – leichte kognitive 256 – mnestische 276 – phobische 168 – – Antidepressiva 168 – schizoaffektive 240 – – Phasenprophylaxe 240 – somatoforme 185 Stress 151 Stresshormonachse, PTSD 178 Stupor – depressiver 276 – dissoziativer 277 – psychogener 277 Suchtmittel 227 Suizidalität 277 – unter Antidepressiva 49 switch 238 Syndrom 190 – delirantes 276 – demenzielles 256 – der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH) 49 – malignes neuroleptisches 76, 278 – metabolisches 76 – prämenstruelles 190 – – SSRI 190 – somatisches 196 – – depressive Störung 196 – zentrales anticholinerges 278 329 Sachverzeichnis T Testosteron – Stimmungsregulation 146 Testosteronsubstitution 217 Testosterontherapie 120 therapeutic-dose dependence 90, 98 therapeutische Breite 7 therapeutisches Fenster 52 – Plasmakonzentration 45 Therapieresistenz – Depression 143 – – Algorithmus 145 – Schizophrenie 249 Ticstörungen 262 Tiefenhirnstimulation 173 Toleranz – pharmakodynamische 8 – pharmakokinetische 7 Toleranzbildung 7 Trennungsangst 268 TZA (trizyklische Antidepressiva) – Manieinduktion 237 V Z Vagusnervstimulation 147 Venlafaxin 168 Verhaltensstörung, demenzassoziierte (BPSD) 258 Verteilungsvolumen 13 Verwirrtheit 276 Vulnerabilitätsstressmodell 251 W Wechselwirkung 18 Wernicke-Korsakow-Syndrom Winterdepression 149 Wirkstoffentwicklung 5 Zähneknirschen 262 228 Zwangsgedanken 172 Zwangshandlungen 172 Zwangsstörung – Antidepressiva 173 – – Dosierung 45 – Neurobiologie 172