Stellungnahme Nr. 5 / 02.06.2010 Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde zum „Memorandum der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) zur Anwendung von Antipsychotika“ Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) hat anlässlich ihrer Tagung „Richtig eingestellt? Gratwanderung Neuroleptika!“ am 24.9.2009 ein „Memorandum“ vorgestellt, in dem sie sich kritisch mit der Anwendung von Antipsychotika in Deutschland auseinandersetzt. Damit legt der Vorstand der Gesellschaft das Ergebnis einer „ca. zweijährigen intensiven Auseinandersetzung […] mit dem Thema der Anwendung von Antipsychotika bei der Behandlung psychisch erkrankter Menschen“ vor. Die Autoren stellen einleitend fest, dass „neue Forschungsergebnisse [nahelegten], dass das Nutzen-/Risikoprofil von Antipsychotika ungünstiger [sei] als bisher angenommen wurde, so dass ihre gegenwärtige Anwendungspraxis hinterfragt werden [müsse]. Der Umgang mit Antipsychotika in der psychiatrischen Therapie [stelle] quasi eine Gratwanderung zwischen Teil-Wirksamkeit und Patientenschädigung dar.“ Die Autoren kommen daher zu dem Schluss, dass „dringend Alternativen erforscht werden und zur Anwendung kommen [sollten]“. Die einseitige „Interpretation neurobiologischer Forschungsergebnisse und Rückführung psychischer Erkrankungen auf rein biologische Mechanismen“ habe zu einer „daraus abgeleiteten Dominanz biologischer Therapieverfahren“ geführt. Dem liege „ein verkürztes Verständnis psychischer Erkrankungen zu Grunde“. Die Konzepte „einer derart verkürzten psychiatrischen Wissenschaft, […] welche die Komplexität neurobiologischer Vorgänge in ihrer Interaktion mit der Umwelt nicht adäquat abbilden“, hätten „zu einer Verengung psychiatrischen Handelns auf Pharmakotherapie und auf an Medikamentencompliance orientierter Psychoedukation geführt.“ Die DGSP leitet aus ihrer Schlussfolgerung, dass das „Fundament einer guten Psychosenbehandlung […] ein komplexes psychosoziales Behandlungsmodell“ sei, ganz prinzipiell ab, dass „Antipsychotika […] in einem solchen Behandlungsansatz selektiv und in der Regel in niedrigen Dosierungen gegeben werden“ sollten. Ihre „10 Forderungen“ reichen von dem Anspruch, dass „der Schwerpunkt einer Behandlung auf psychotherapeutische und psychosoziale Intervention und Begleitung gelegt werden“ müsse, über die Forderung, dass „gemeindepsychiatrische Hilfen […] multidisziplinär zu erbringen“ seien, „unter Einbeziehung von „Psychotherapie, Soziotherapie, Krankenpflege, Ergotherapie, Kunsttherapie, Musiktherapie, Bewegungstherapie sowie nicht zuletzt Kompetenzen der Sozialarbeit“, bis schließlich hin zu der Behauptung, dass in Behandlungsmodellen wie der „Soteria“ „über 40 % der Menschen mit erster Episode einer Schizophrenie auch langfristig mit gleich guten oder besseren Ergebnissen ohne Antipsychotika behandelt werden“ könnten. Der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie ist dafür zu danken, dass sie auf vielfältige Defizite und Probleme bei der Versorgung psychisch Kranker in Deutschland hinweist. Es ist ebenso selbst- Präsident Prof. Dr. med. Dr. rer. soc. Frank Schneider, Aachen President Elect Prof. Dr. med. Peter Falkai, Göttingen Past President Prof. Dr. med. Wolfgang Gaebel, Düsseldorf Schriftführer Priv.-Doz. Dr. med. Michael Grözinger, Aachen Kassenführer Priv.-Doz. Dr. med. Felix M. Böcker, Naumburg Aus-, Fort- und Weiterbildung Prof. Dr. med. Fritz Hohagen, Lübeck Wissenschaftsförderung Prof. Dr. med. Wolfgang Maier, Bonn Biologische Therapien Prof. Dr. med. Heinrich Sauer, Jena Psychotherapie und Psychosomatik Prof. Dr. med. Sabine Herpertz, Heidelberg Universitäre Psychiatrie Prof. Dr. med. Andreas Heinz, Berlin Stationäre Versorgung, Rehabilitation Dr. med. Iris Hauth, Berlin-Weißensee Ambulante Versorgung Dr. med. Frank Bergmann, Aachen Sozialpsychiatrie Prof. Dr. med. Karl H. Beine, Hamm Beauftragte für die Gremien der ärztlichen Selbstverwaltung Dr. med. Christa Roth-Sackenheim, Andernach Gesundheitspolitischer Sprecher Prof. Dr. med. Jürgen Fritze, Pulheim Hauptgeschäftsführer Dr. phil. Thomas Nesseler, Berlin _______________________________________________ DGPPN-Hauptgeschäftsstelle Berlin Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Reinhardtstraße 14 10117 Berlin Tel.: 030/2404 772-0 Fax: 030/2404 772-29 E-Mail: [email protected] Internet: www.dgppn.de _______________________________________________ Hypovereinsbank München (BLZ 700202 70) Konto: 509 511 VR 26854B, Amtsgericht Berlin-Charlottenburg verständlich wie banal, dass die derzeitigen Behandlungsmöglichkeiten nicht die best denkbaren, sondern nur die best verfügbaren darstellen und großer Forschungsbedarf besteht. Nur durch sorgfältige Analyse der gegenwärtigen Situation mit der konsequenten Entwicklung von Lösungsstrategien wird die Lebensqualität der von psychischer Erkrankung betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen langfristig und nachhaltig gesteigert werden können. Jedoch ist das „Memorandum“ der DGSP in ihrer Betonung der psychosozialen Ursachen psychischer Störung genauso einseitig wie die vermeintliche Haltung einer auf „rein biologische Mechanismen […] verkürzten psychiatrischen Wissenschaft“, wie sie nach Auffassung der Autoren der DGSP gegenwärtig die klinische Psychiatrie in Deutschland beherrsche. Besonders problematisch erscheint das Memorandum dort, wo durch einseitige, selektive und teilweise grob falsche Zitierung der wissenschaftlichen Literatur weit verbreitete Vorurteile gegenüber Psychopharmaka - mit der Betonung von Nebenwirkungen und Risiken - formuliert werden. Einer solchen Falschdarstellung tritt die DGPPN entgegen. Die DGSP behauptet in ihrem Memorandum, dass „die Verschreibung von Psychopharmaka in den letzten Jahren stark zugenommen“ habe. „Die praktizierte Anwendung von atypischen Neuroleptika bei affektiven Störungen [stelle] […] eine solche Indikationsausweitung dar, […] [die] jedoch weitgehend nicht evidenzbasiert“ sei. Richtig ist, dass die Verordnung von Psychopharmaka, insbesondere auch von Antipsychotika (gemessen in Tagesdosen), im letzten Jahrzehnt lediglich um wenige Prozent zugenommen hat, soweit die Unsicherheiten bei der Festlegung einer definierten Tagesdosis durch die WHO überhaupt eine Beurteilung erlauben. Deutlich zugenommen haben die Ausgaben für diese Arzneimittelgruppe, da mehr nebenwirkungsärmere, patentgeschützte Medikamente verordnet wurden. Die Verordnung von Antipsychotika hat jedoch erheblich weniger zugenommen als die Verordnung von Medikamenten gegen Krebserkrankungen, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Tatsache, dass Antipsychotika heute nicht mehr nur bei Patienten mit Schizophrenien, sondern z.B. auch bei bipolaren Erkrankungen, verordnet werden, ist der Tatsache geschuldet, dass ihre Wirksamkeit bei diesen Störungen klar belegt ist. Sie wurden für diese neuen Indikationen von den Arzneimittelzulassungsbehörden explizit zugelassen. Sie sind auch vielfach deutlich besser verträglich als ältere Substanzen, mit denen diese Störungen behandelt werden, und sie erleichtern dank anderer Wirkungs- und Nebenwirkungsspektren eine nach den Bedürfnissen des Kranken individualisierte Therapie. Es ist auch falsch, dass die „off-label“-Verschreibung von Antipsychotika in bestimmten Altersgruppen zugenommen hat. Die „off-label“-Verschreibung bei z.B. Kindern und Jugendlichen ist ein über alle Indikationen hinweg bekanntes Problem, das auf der fehlenden Durchführung von Zulassungsstudien in dieser Altersklasse beruht. Es wurde gerade zuletzt mit der Zulassung von einigen neueren Antipsychotika zur Anwendung bei Kindern und Jugendlichen entschärft. Es ist nicht richtig, dass die Diskussion um den „Einfluss der pharmazeutischen Industrie auf Forschung, ärztliche Fortbildung und Verschreibungsverhalten […] bei uns gerade erst begonnen“ hat. Diese Diskussion wird auch in Deutschland bereits seit vielen Jahren geführt, und sie hat zu einer zunehmenden Transparenz der wechselseitigen Zusammenarbeit zwischen Industrie und Ärzteschaft geführt. Zudem wurden vielfältige Regularien von beiden Seiten entwickelt, um die Einflussnahme der Industrie zu begrenzen. Die DGPPN hat in mehreren Stellungnahmen seit 2005 über einen Zusammenhang zwischen der Gabe von Antipsychotika an ältere Patienten und einer erhöhten Inzidenz von zerebro- und kardiovaskulären Ereignissen und erhöhter Mortalität hingewiesen (Fritze et al., 2005). Seit dem ersten Bericht 2002 über solche Zusammenhänge (Wooltorton, 2002) wurden zahlreiche systematische Studien publiziert, die diese bestätigten (z.B. Ballard et al., 2009; Douglas et al., 2008; Ray et al., 2009). Die DGPPN hat dementsprechend noch kürzlich geraten, „dass bei der Gabe von Antipsychotika bei älteren Menschen Nutzen und Risiko besonders sorgfältig gegeneinander abgewogen werden müssen, insbesondere dann, wenn diese unter einer Demenz leiden. Die Indikation ist hier besonders streng zu stellen.“ (Gründer et al., 2009). Die Kompensation fehlender Betreuungsmöglichkeiten älterer, insbesondere dementer Menschen und eines Mangels an psychosozialen Behandlungsmaßnahmen durch eine Pharmakotherapie wird von der DGPPN ebenso abgelehnt wie der generelle Verzicht auf Antipsychotika, da von psychotischen Symptomen ein ganz erheblicher Leidensdruck ausgeht, der für die betroffenen Patienten wie auch für Angehörige und Betreuer eine schwerwiegende und oft nicht akzeptable Einschränkung der Lebensqualität bedeutet. 2/6 Die Auffassung der DGSP, der Nutzen einer medikamentösen antipsychotischen Behandlung von Patienten mit Psychosen werde generell über- und die Risiken unterbewertet, ignoriert die Ergebnisse jahrzehntelanger wissenschaftlicher Forschung. Die Evidenz für den Nutzen einer antipsychotischen Pharmakotherapie – kurz- wie langfristig – ist überwältigend. Mehr als 80% der Patienten mit einer ersten Episode einer Schizophrenie haben innerhalb von fünf Jahren einen Rückfall (Robinson et al., 1999). Das Absetzen der Medikation führt zu einer Verfünffachung des Rückfallrisikos. Davis und Chen (2005) fanden in ihrer Übersicht über ca. 50 Studien, die Antipsychotika der ersten Generation mit Placebo verglichen, dass eine antipsychotische Erhaltungstherapie das Rückfallrisiko um ca. zwei Drittel reduziert. Die Behauptung der DGSP, der „Verlauf behandelter schizophrener Patienten [habe] […] sich – wie Langzeitstudien zeigen – vor und nach Einführung der Antipsychotika nicht grundsätzlich verändert“, wird mit Studien belegt, die dies gerade nicht zeigen. So zeigt die Metaanalyse von Hegarty et al. (1994), dass die Behandlungsergebnisse nach 1955 (also nach Einführung der ersten Antipsychotika) signifikant besser waren als vor diesem Zeitpunkt, was die Autoren auf die Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten zurückführen. Ganz wesentlich für die unterschiedlichen Behandlungsergebnisse dürften aber vor allem die sich im Laufe der Zeit veränderten diagnostischen Kriterien für Schizophrenie sein. Ein engerer Schizophreniebegriff führt naturgemäß zu einem schlechteren Behandlungsergebnis als eine weite Definition der Störung. Dies führte nach 1970 – mit der Verengung des Schizophreniebegriffes – zu einer erneuten Verschlechterung der Behandlungsergebnisse (Hegarty et al., 1994). Die Feststellung, dass es „mit psychosozialen Interventionen auch schon vor der Einführung der Antipsychotika“ Behandlungserfolge gegeben habe, ist unzweifelhaft richtig. Sie wird aber mit einer Studie belegt, die völlig unselektiert 100 Patienten ganz unterschiedlicher diagnostischer Zuordnung (und nicht ausschließlich Patienten mit Schizophrenien, insbesondere nicht nach heutigen Kriterien) aus der Ära kurz vor Einführung der Neuroleptika mit jener 20 Jahre später vergleicht (Bockoven und Solomon, 1975). Eine solche Untersuchung ist völlig ungeeignet, wechselnde Behandlungsergebnisse bei Patienten mit Schizophrenien im Zeitverlauf zu dokumentieren. Untersuchungen, die prospektiv die Behandlungsergebnisse einer Pharmakotherapie mit einer alleinigen „psychosozialen Therapie“, wie die DGSP sie vorschlägt, vergleichen, fehlen aber vollständig. Sie wären auch unethisch, da der Nutzen einer antipsychotischen Pharmakotherapie über jeden Zweifel erhaben ist (s.o.). Die Vorstellung, psychosoziale Interventionen könnten ganz regelhaft alleinige therapeutische Alternativen zu einer Behandlung mit Antipsychotika sein, ist geradezu absurd. Moderne, evidenzbasierte Behandlungsleitlinien betonen vielmehr den komplementären Charakter von pharmakologischen und psychosozialen Interventionen (z.B. Kreyenbuhl et al., 2010). Die von der DGSP genannten sozio- und psychotherapeutischen Verfahren stellen keine Alternativen zur medikamentösen Therapie, sondern regelmäßige Bestandteile eines umfassenden Gesamtbehandlungskonzeptes, dar. Dieser Ansatz prägt auch die S3-Leitlinie „Schizophrenie“ der DGPPN (2006). Wenn auch unbestritten ist, dass gerade die Antipsychotika der zweiten Generation zum Teil erhebliche metabolische Nebenwirkungen haben (Newcomer, 2007), so ist doch die Vermutung der DGSP, dass „durch so genannte atypische Antipsychotika […] die somatische Morbidität und damit vermutlich auch die langfristige Mortalität dieser Patienten“ erhöht werde, durch keine Daten gedeckt. Gerade die beiden Substanzen, die die ausgeprägtesten metabolischen Veränderungen induzieren, Clozapin und Olanzapin, scheinen nicht zu einer Erhöhung der kardiovaskulären Mortalität zu führen (Tiihonen et al., 2009). Im Gegenteil ist die Behandlung mit Clozapin mit einer geringeren Mortalität assoziiert als die mit irgendeinem anderen Antipsychotikum. Noch wichtiger erscheint jedoch, dass die Behandlung mit Antipsychotika per se zu einer Reduktion der Mortalität – verglichen mit keiner medikamentösen Behandlung – führt (Tiihonen et al., 2009). Leider werden im Memorandum der DGSP auch keine Belege für die Behauptung, dass sich in „mehreren bildgebenden Verlaufsstudien seit 1998 […] eine mit der antipsychotischen Gesamtdosis korrelierende Verminderung der grauen Substanz vor allem des Frontalhirns“ zeigten, angeführt. Schizophrenien sind Erkrankungen, die mit einem progressiven Verlust an grauer Hirnsubstanz einhergehen, der stärker ausgeprägt ist als bei Gesunden. Dieses Phänomen findet sich auch bei nicht-erkrankten Zwillingsgeschwistern von Patienten mit Schizophrenien (Brans et al., 2008). Ob der Verlust an grauer Substanz durch Antipsychotika zusätzlich beschleunigt wird, ist derzeit völlig unklar. Es gibt jedoch Hinweise, dass Antipsychotika der zweiten Generation den Substanzverlust möglicherweise verlangsamen 3/6 (Lieberman et al., 2005). Eine von Frau Andreasen angekündigte Langzeitstudie, die den antipsychotika-assoziierten Verlust an Hirnsubstanz belegen soll, liegt bisher nicht vor. Die Ablehnung der Frühintervention mit Antipsychotika bei Menschen mit Prodromalsyndromen einer psychotischen Störung mit der Begründung, diese bringe „gegenwärtig die Gefahr mit sich, zu einer nicht begründeten Indikationsausweitung für Antipsychotika zu führen“, ist abwegig. Die Frühintervention mit Antipsychotika wird derzeit international – auch in Deutschland – mit großem Aufwand evaluiert. Dabei steht selbstverständlich die sorgfältige Abwägung von Nutzen und Risiken im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sollte sich der Konsens bilden, dass eine medikamentöse Frühintervention unter definierten Umständen gerechtfertigt ist, so ist eine Indikationsausweitung zum Nutzen der Betroffenen geboten. Im Übrigen existieren bereits Studien, die einen Nutzen sowohl medikamentöser wie auch psychosozialer Interventionen bei Menschen mit sehr hohem Psychoserisiko zeigen (Übersicht in McGorry et al., 2009). Auf die Bedeutung von Frühinterventionsmaßnahmen – und zwar sowohl psychotherapeutischer wie auch pharmakologischer – weist auch die im Memorandum der DGSP als vorbildlich bezeichnete britische NICE-Guideline (2010) hin. Es ist richtig, dass die NICE-Guideline (2010) die Durchführung von kognitiver Verhaltens- und Familientherapie für jeden an einer schizophrenen Störung erkrankten Patienten bzw. seine Familie empfiehlt. Mit Formulierungen wie der Forderung nach „Behandlung ohne Antipsychotika entsprechend der aktuellen Leitlinie von NICE“ suggeriert die DGSP jedoch, dass in Großbritannien eine einflussreiche Leitlinie existiert, die den Fokus der Therapie von Schizophrenien auf psycho- und soziotherapeutische Verfahren legt und sich von der Pharmakotherapie abwendet. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Auch weiterhin gilt: „Antipsychotic drugs have been the mainstay of treatment of schizophrenia since the 1950s.” (NICE, 2010, S. 97). Zur Rückfallprophylaxe von Schizophrenien heißt es weiter: „Given that there are no consistent reliable predictors of prognosis or drug response, the previous schizophrenia guideline, as well as other consensus statements and guidelines, generally recommend that pharmacological relapse prevention is considered for every patient diagnosed with schizophrenia.“ (NICE, 2010, S. 114f). Die NICE-Guideline ist eine moderne, auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft basierende Behandlungsleitlinie, in der, ähnlich wie in der S3-Leitlinie „Schizophrenie“ der DGPPN (2006), ein aus pharmakologischen und psychotherapeutischen Elementen bestehender Gesamtbehandlungsplan für die Therapie von Schizophrenien vorgeschlagen wird. Die allzu selektive Zitierung daraus stellt eine Irreführung des Lesers, dem die Primärliteratur nicht unmittelbar zugänglich ist, dar. Die NICE-Guideline erwähnt auch auf keiner von fast 500 Seiten mit einem einzigen Wort das „Soteria“-Konzept oder das finnische „bedürfnisangepasste“ Behandlungsmodell. Experimentelle Studien, die modernen methodischen Anforderungen genügen und die tatsächlich belegen, dass „über 40 Prozent der Menschen mit erster Episode einer Schizophrenie auch langfristig mit gleich guten oder besseren Ergebnissen ohne Antipsychotika behandelt werden“ können, wie die DGSP behauptet, existieren nicht (Kommentar zu einer der wenigen vorliegenden, im Memorandum zitierten Studien in Carpenter und Buchanan, 2002). Das Soteria-Konzept beinhaltet viele Elemente, die in der Therapie von Menschen mit Schizophrenien sinnvoll sein können. Als antipsychiatrische Ideologie, die medizinische Aspekte in der Verursachung und Behandlung von Psychosen leugnet, wäre es jedoch abzulehnen. Die einseitige, auf einer selektiven und teilweise grob falschen Zitierung der Literatur basierende Verdammung der antipsychotischen Pharmakotherapie behindert eine rationale Pharmakotherapie psychischer Störungen und fördert damit die Stigmatisierung psychisch Kranker. Keine Pharmakotherapie (und auch keine Psychotherapie) ist ohne Nebenwirkungen oder Risiken. „Ideale Medikamente“, wie sie nach der irrtümlichen Auffassung des Memorandums der DGSP „für die Therapie wichtiger internistischer Erkrankungen heute zur Verfügung stehen“, sind auch für letztere nicht verfügbar. Gerade die DGPPN hat immer wieder darauf hingewiesen, dass Nutzen und Risiken einer Pharmakotherapie im Einzelfall sorgfältig gegeneinander abgewogen werden müssen. Biologische und sozialpsychiatrische Erklärungsmodelle für psychische Störungen sind heute gerade kein Gegensatz mehr. Integrierte Behandlungsansätze, in denen multiprofessionelle Teams aus Ärztinnen und Ärzten, Krankenschwestern und -pflegern, Ergo- und Bewegungstherapeuten sowie Sozialarbeitern an der Rehabilitation und Reintegration ihrer Patientinnen und Patienten zusammenarbeiten, sind heute an den Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie in 4/6 Deutschland die Regel. Gerade in den hier meist schon umgesetzten modernen Therapiekonzepten, die regelmäßig und völlig selbstverständlich Patienten und Angehörige über Entstehungsbedingungen, Behandlungsmöglichkeiten und Präventionsmaßnahmen gut informiert und in Therapienentscheidungen mit einbezieht, kommt zum Ausdruck, dass moderne Erkenntnisse über die Bedingtheit von psychischer Störung durch die Interaktion von genetisch-biologischen einerseits und psychosozialen Faktoren andererseits längst Eingang in die tägliche klinische Praxis gefunden haben. Die moderne Therapie psychischer Störungen im Allgemeinen und schizophrener Störungen im Speziellen trägt diesen Erkenntnissen Rechnung, indem sie im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes, der immer individuelle Gegebenheiten berücksichtigt, biologische, psycho- und soziotherapeutische Behandlungsmaßnahmen miteinander kombiniert. Die DGPPN begrüßt den Dialog mit verwandten Fachgesellschaften außerordentlich. Dabei sieht sie sich jedoch eher als Vermittler denn als Opponent in einem letztlich überholten Disput zwischen einseitig biologischen oder sozialpsychiatrischen Erklärungsmodellen psychischer Erkrankung, denn die Betonung sozialpsychiatrischer Therapieansätze mit der starken Akzentuierung der Warnung vor den Risiken der antipsychotischen Pharmakotherapie bis hin zur Empfehlung, auf diese für viele Patienten außerordentlich segensreiche Substanzgruppe völlig zu verzichten, führt letztendlich zu einer Verschlechterung der Versorgungssituation psychisch kranker Menschen in Deutschland. Referenzen Ballard C, Hanney ML, Theodoulou M, Douglas S, McShane R, Kossakowski K, Gill R, Juszczak E, Yu LM, Jacoby R; DART-AD investigators. The dementia antipsychotic withdrawal trial (DART-AD): long-term follow-up of a randomised placebo-controlled trial. Lancet Neurol 2009; 8:151-7 Bockoven JS, Solomon HC. Comparison of two five-year follow-up studies: 1948 to 1952 and 1967 to 1972. Am J Psychiatry. 1975; 132:796-801 Brans RG, van Haren NE, van Baal GC, Schnack HG, Kahn RS, Hulshoff Pol HE. Heritability of changes in brain volume over time in twin pairs discordant for schizophrenia. Arch Gen Psychiatry 2008; 65:1259-1268 Carpenter WT Jr, Buchanan RW. Commentary on the Soteria project: misguided therapeutics. Schizophr Bull 2002; 28:577-581 Davis JM, Chen N. Old versus new: weighing the evidence between the first- and second-generation antipsychotics. Eur Psychiatry 2005; 20:7-14 DGPPN. S3-Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie. Band 1: Behandlungsleitlinie Schizophrenie. Steinkopff, Darmstadt 2006. Douglas IJ, Smeeth L. Exposure to antipsychotics and risk of stroke: self controlled case series study. BMJ 2008; 337:a1227 Fritze J, Aldenhoff J, Bergmann F, Maier W, Möller H-J. Antipsychotika bei Demenz. Psychoneuro 2005; 31:581583 Gründer G, Fritze J, Schneider F. Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) zum Gutachten „Koordination und Integration – Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren Lebens“ (Sondergutachten 2009) des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen vom 30.6.2009. Nervenarzt 2009; 80: 1400-1402 Hegarty JD, Baldessarini RJ, Tohen M, Waternaux C, Oepen G. One hundred years of schizophrenia: a metaanalysis of the outcome literature. Am J Psychiatry 1994; 151:1409-1416 Kreyenbuhl J, Buchanan RW, Dickerson FB, Dixon LB; Schizophrenia Patient Outcomes Research Team (PORT). The Schizophrenia Patient Outcomes Research Team (PORT): updated treatment recommendations 2009. Schizophr Bull 2010; 36:94-103 Lieberman JA, Tollefson GD, Charles C, Zipursky R, Sharma T, Kahn RS, Keefe RS, Green AI, Gur RE, McEvoy 5/6 J, Perkins D, Hamer RM, Gu H, Tohen M; HGDH Study Group. Antipsychotic drug effects on brain morphology in first-episode psychosis. Arch Gen Psychiatry 2005; 62:361-370 McGorry PD, Nelson B, Amminger GP, Bechdolf A, Francey SM, Berger G, Riecher-Rössler A, Klosterkötter J, Ruhrmann S, Schultze-Lutter F, Nordentoft M, Hickie I, McGuire P, Berk M, Chen EY, Keshavan MS, Yung AR. Intervention in individuals at ultra high risk for psychosis: a review and future directions. J Clin Psychiatry 2009; 70:1206-1212 Newcomer JW. Antipsychotic medications: metabolic and cardiovascular risk. J Clin Psychiatry 2007; 68 Suppl 4:8-13 National Institute for Health & Clinical Excellence (NICE). Schizophrenia – core interventions in the treatment and management of schizophrenia in adults in primary and secondary care (updated edition). The British Psychological Society and The Royal College of Psychiatrists, 2010. Ray WA, Chung CP, Murray KT, Hall K, Stein CM. Atypical antipsychotic drugs and the risk of sudden cardiac death. N Engl J Med 2009; 360:225-35 Robinson D, Woerner MG, Alvir JM, Bilder R, Goldman R, Geisler S, Koreen A, Sheitman B, Chakos M, Mayerhoff D, Lieberman JA. Predictors of relapse following response from a first episode of schizophrenia or schizoaffective disorder. Arch Gen Psychiatry 1999; 56:241-247 Tiihonen J, Lönnqvist J, Wahlbeck K, Klaukka T, Niskanen L, Tanskanen A, Haukka J. 11-year follow-up of mortality in patients with schizophrenia: a population-based cohort study (FIN11 study). Lancet 2009; 374:620627 Wooltorton E. Risperidone (Risperdal): increased rate of cerebrovascular events in dementia trials. CMAJ 2002; 167:1269-70 Autoren der DGPPN-Stellungnahme Gerd Gründer (Aachen), Jürgen Fritze (Pulheim), Frank Schneider (Aachen) Die Stellungnahme der DGPPN finden Sie auch zum Download unter: http://www.dgppn.de/de_stellungnahme-2010-06-02_291.html 6/6