Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und

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Stellungnahme
Nr. 5 / 02.06.2010
Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie,
Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)
Deutsche Gesellschaft
für Psychiatrie,
Psychotherapie und
Nervenheilkunde
zum „Memorandum der Deutschen Gesellschaft für Soziale
Psychiatrie (DGSP) zur Anwendung von Antipsychotika“
Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) hat anlässlich ihrer Tagung „Richtig eingestellt? Gratwanderung Neuroleptika!“ am
24.9.2009 ein „Memorandum“ vorgestellt, in dem sie sich kritisch mit
der Anwendung von Antipsychotika in Deutschland auseinandersetzt.
Damit legt der Vorstand der Gesellschaft das Ergebnis einer „ca.
zweijährigen intensiven Auseinandersetzung […] mit dem Thema der
Anwendung von Antipsychotika bei der Behandlung psychisch erkrankter Menschen“ vor. Die Autoren stellen einleitend fest, dass „neue
Forschungsergebnisse [nahelegten], dass das Nutzen-/Risikoprofil von
Antipsychotika ungünstiger [sei] als bisher angenommen wurde, so
dass ihre gegenwärtige Anwendungspraxis hinterfragt werden [müsse].
Der Umgang mit Antipsychotika in der psychiatrischen Therapie [stelle]
quasi eine Gratwanderung zwischen Teil-Wirksamkeit und Patientenschädigung dar.“ Die Autoren kommen daher zu dem Schluss, dass
„dringend Alternativen erforscht werden und zur Anwendung kommen
[sollten]“. Die einseitige „Interpretation neurobiologischer Forschungsergebnisse und Rückführung psychischer Erkrankungen auf rein biologische Mechanismen“ habe zu einer „daraus abgeleiteten Dominanz
biologischer Therapieverfahren“ geführt. Dem liege „ein verkürztes
Verständnis psychischer Erkrankungen zu Grunde“. Die Konzepte
„einer derart verkürzten psychiatrischen Wissenschaft, […] welche die
Komplexität neurobiologischer Vorgänge in ihrer Interaktion mit der
Umwelt nicht adäquat abbilden“, hätten „zu einer Verengung psychiatrischen Handelns auf Pharmakotherapie und auf an Medikamentencompliance orientierter Psychoedukation geführt.“
Die DGSP leitet aus ihrer Schlussfolgerung, dass das „Fundament
einer guten Psychosenbehandlung […] ein komplexes psychosoziales
Behandlungsmodell“ sei, ganz prinzipiell ab, dass „Antipsychotika […]
in einem solchen Behandlungsansatz selektiv und in der Regel in
niedrigen Dosierungen gegeben werden“ sollten. Ihre „10 Forderungen“
reichen von dem Anspruch, dass „der Schwerpunkt einer Behandlung
auf psychotherapeutische und psychosoziale Intervention und
Begleitung gelegt werden“ müsse, über die Forderung, dass
„gemeindepsychiatrische Hilfen […] multidisziplinär zu erbringen“ seien,
„unter Einbeziehung von „Psychotherapie, Soziotherapie, Krankenpflege, Ergotherapie, Kunsttherapie, Musiktherapie, Bewegungstherapie sowie nicht zuletzt Kompetenzen der Sozialarbeit“, bis
schließlich hin zu der Behauptung, dass in Behandlungsmodellen wie
der „Soteria“ „über 40 % der Menschen mit erster Episode einer
Schizophrenie auch langfristig mit gleich guten oder besseren
Ergebnissen ohne Antipsychotika behandelt werden“ könnten.
Der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie ist dafür zu danken,
dass sie auf vielfältige Defizite und Probleme bei der Versorgung
psychisch Kranker in Deutschland hinweist. Es ist ebenso selbst-
Präsident
Prof. Dr. med. Dr. rer. soc. Frank Schneider, Aachen
President Elect
Prof. Dr. med. Peter Falkai, Göttingen
Past President
Prof. Dr. med. Wolfgang Gaebel, Düsseldorf
Schriftführer
Priv.-Doz. Dr. med. Michael Grözinger, Aachen
Kassenführer
Priv.-Doz. Dr. med. Felix M. Böcker, Naumburg
Aus-, Fort- und Weiterbildung
Prof. Dr. med. Fritz Hohagen, Lübeck
Wissenschaftsförderung
Prof. Dr. med. Wolfgang Maier, Bonn
Biologische Therapien
Prof. Dr. med. Heinrich Sauer, Jena
Psychotherapie und Psychosomatik
Prof. Dr. med. Sabine Herpertz, Heidelberg
Universitäre Psychiatrie
Prof. Dr. med. Andreas Heinz, Berlin
Stationäre Versorgung, Rehabilitation
Dr. med. Iris Hauth, Berlin-Weißensee
Ambulante Versorgung
Dr. med. Frank Bergmann, Aachen
Sozialpsychiatrie
Prof. Dr. med. Karl H. Beine, Hamm
Beauftragte für die Gremien der
ärztlichen Selbstverwaltung
Dr. med. Christa Roth-Sackenheim, Andernach
Gesundheitspolitischer Sprecher
Prof. Dr. med. Jürgen Fritze, Pulheim
Hauptgeschäftsführer
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verständlich wie banal, dass die derzeitigen Behandlungsmöglichkeiten nicht die best denkbaren,
sondern nur die best verfügbaren darstellen und großer Forschungsbedarf besteht. Nur durch
sorgfältige Analyse der gegenwärtigen Situation mit der konsequenten Entwicklung von
Lösungsstrategien wird die Lebensqualität der von psychischer Erkrankung betroffenen
Menschen und ihrer Angehörigen langfristig und nachhaltig gesteigert werden können. Jedoch ist
das „Memorandum“ der DGSP in ihrer Betonung der psychosozialen Ursachen psychischer
Störung genauso einseitig wie die vermeintliche Haltung einer auf „rein biologische Mechanismen
[…] verkürzten psychiatrischen Wissenschaft“, wie sie nach Auffassung der Autoren der DGSP
gegenwärtig die klinische Psychiatrie in Deutschland beherrsche. Besonders problematisch
erscheint das Memorandum dort, wo durch einseitige, selektive und teilweise grob falsche
Zitierung der wissenschaftlichen Literatur weit verbreitete Vorurteile gegenüber Psychopharmaka
- mit der Betonung von Nebenwirkungen und Risiken - formuliert werden. Einer solchen Falschdarstellung tritt die DGPPN entgegen.
Die DGSP behauptet in ihrem Memorandum, dass „die Verschreibung von Psychopharmaka in
den letzten Jahren stark zugenommen“ habe. „Die praktizierte Anwendung von atypischen
Neuroleptika bei affektiven Störungen [stelle] […] eine solche Indikationsausweitung dar, […] [die]
jedoch weitgehend nicht evidenzbasiert“ sei. Richtig ist, dass die Verordnung von
Psychopharmaka, insbesondere auch von Antipsychotika (gemessen in Tagesdosen), im letzten
Jahrzehnt lediglich um wenige Prozent zugenommen hat, soweit die Unsicherheiten bei der
Festlegung einer definierten Tagesdosis durch die WHO überhaupt eine Beurteilung erlauben.
Deutlich zugenommen haben die Ausgaben für diese Arzneimittelgruppe, da mehr nebenwirkungsärmere, patentgeschützte Medikamente verordnet wurden. Die Verordnung von Antipsychotika hat jedoch erheblich weniger zugenommen als die Verordnung von Medikamenten
gegen Krebserkrankungen, Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Tatsache, dass
Antipsychotika heute nicht mehr nur bei Patienten mit Schizophrenien, sondern z.B. auch bei
bipolaren Erkrankungen, verordnet werden, ist der Tatsache geschuldet, dass ihre Wirksamkeit
bei diesen Störungen klar belegt ist. Sie wurden für diese neuen Indikationen von den
Arzneimittelzulassungsbehörden explizit zugelassen. Sie sind auch vielfach deutlich besser
verträglich als ältere Substanzen, mit denen diese Störungen behandelt werden, und sie
erleichtern dank anderer Wirkungs- und Nebenwirkungsspektren eine nach den Bedürfnissen des
Kranken individualisierte Therapie. Es ist auch falsch, dass die „off-label“-Verschreibung von
Antipsychotika in bestimmten Altersgruppen zugenommen hat. Die „off-label“-Verschreibung bei
z.B. Kindern und Jugendlichen ist ein über alle Indikationen hinweg bekanntes Problem, das auf
der fehlenden Durchführung von Zulassungsstudien in dieser Altersklasse beruht. Es wurde
gerade zuletzt mit der Zulassung von einigen neueren Antipsychotika zur Anwendung bei Kindern
und Jugendlichen entschärft.
Es ist nicht richtig, dass die Diskussion um den „Einfluss der pharmazeutischen Industrie auf
Forschung, ärztliche Fortbildung und Verschreibungsverhalten […] bei uns gerade erst
begonnen“ hat. Diese Diskussion wird auch in Deutschland bereits seit vielen Jahren geführt, und
sie hat zu einer zunehmenden Transparenz der wechselseitigen Zusammenarbeit zwischen
Industrie und Ärzteschaft geführt. Zudem wurden vielfältige Regularien von beiden Seiten
entwickelt, um die Einflussnahme der Industrie zu begrenzen.
Die DGPPN hat in mehreren Stellungnahmen seit 2005 über einen Zusammenhang zwischen der
Gabe von Antipsychotika an ältere Patienten und einer erhöhten Inzidenz von zerebro- und
kardiovaskulären Ereignissen und erhöhter Mortalität hingewiesen (Fritze et al., 2005). Seit dem
ersten Bericht 2002 über solche Zusammenhänge (Wooltorton, 2002) wurden zahlreiche
systematische Studien publiziert, die diese bestätigten (z.B. Ballard et al., 2009; Douglas et al.,
2008; Ray et al., 2009). Die DGPPN hat dementsprechend noch kürzlich geraten, „dass bei der
Gabe von Antipsychotika bei älteren Menschen Nutzen und Risiko besonders sorgfältig
gegeneinander abgewogen werden müssen, insbesondere dann, wenn diese unter einer
Demenz leiden. Die Indikation ist hier besonders streng zu stellen.“ (Gründer et al., 2009). Die
Kompensation fehlender Betreuungsmöglichkeiten älterer, insbesondere dementer Menschen
und eines Mangels an psychosozialen Behandlungsmaßnahmen durch eine Pharmakotherapie
wird von der DGPPN ebenso abgelehnt wie der generelle Verzicht auf Antipsychotika, da von
psychotischen Symptomen ein ganz erheblicher Leidensdruck ausgeht, der für die betroffenen
Patienten wie auch für Angehörige und Betreuer eine schwerwiegende und oft nicht akzeptable
Einschränkung der Lebensqualität bedeutet.
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Die Auffassung der DGSP, der Nutzen einer medikamentösen antipsychotischen Behandlung
von Patienten mit Psychosen werde generell über- und die Risiken unterbewertet, ignoriert die
Ergebnisse jahrzehntelanger wissenschaftlicher Forschung. Die Evidenz für den Nutzen einer
antipsychotischen Pharmakotherapie – kurz- wie langfristig – ist überwältigend. Mehr als 80% der
Patienten mit einer ersten Episode einer Schizophrenie haben innerhalb von fünf Jahren einen
Rückfall (Robinson et al., 1999). Das Absetzen der Medikation führt zu einer Verfünffachung des
Rückfallrisikos. Davis und Chen (2005) fanden in ihrer Übersicht über ca. 50 Studien, die
Antipsychotika der ersten Generation mit Placebo verglichen, dass eine antipsychotische
Erhaltungstherapie das Rückfallrisiko um ca. zwei Drittel reduziert.
Die Behauptung der DGSP, der „Verlauf behandelter schizophrener Patienten [habe] […] sich
– wie Langzeitstudien zeigen – vor und nach Einführung der Antipsychotika nicht grundsätzlich
verändert“, wird mit Studien belegt, die dies gerade nicht zeigen. So zeigt die Metaanalyse von
Hegarty et al. (1994), dass die Behandlungsergebnisse nach 1955 (also nach Einführung der
ersten Antipsychotika) signifikant besser waren als vor diesem Zeitpunkt, was die Autoren auf die
Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten zurückführen. Ganz wesentlich für die unterschiedlichen Behandlungsergebnisse dürften aber vor allem die sich im Laufe der Zeit
veränderten diagnostischen Kriterien für Schizophrenie sein. Ein engerer Schizophreniebegriff
führt naturgemäß zu einem schlechteren Behandlungsergebnis als eine weite Definition der
Störung. Dies führte nach 1970 – mit der Verengung des Schizophreniebegriffes – zu einer
erneuten Verschlechterung der Behandlungsergebnisse (Hegarty et al., 1994). Die Feststellung,
dass es „mit psychosozialen Interventionen auch schon vor der Einführung der Antipsychotika“
Behandlungserfolge gegeben habe, ist unzweifelhaft richtig. Sie wird aber mit einer Studie belegt,
die völlig unselektiert 100 Patienten ganz unterschiedlicher diagnostischer Zuordnung (und nicht
ausschließlich Patienten mit Schizophrenien, insbesondere nicht nach heutigen Kriterien) aus der
Ära kurz vor Einführung der Neuroleptika mit jener 20 Jahre später vergleicht (Bockoven und
Solomon, 1975). Eine solche Untersuchung ist völlig ungeeignet, wechselnde Behandlungsergebnisse bei Patienten mit Schizophrenien im Zeitverlauf zu dokumentieren. Untersuchungen,
die prospektiv die Behandlungsergebnisse einer Pharmakotherapie mit einer alleinigen
„psychosozialen Therapie“, wie die DGSP sie vorschlägt, vergleichen, fehlen aber vollständig. Sie
wären auch unethisch, da der Nutzen einer antipsychotischen Pharmakotherapie über jeden
Zweifel erhaben ist (s.o.). Die Vorstellung, psychosoziale Interventionen könnten ganz regelhaft
alleinige therapeutische Alternativen zu einer Behandlung mit Antipsychotika sein, ist geradezu
absurd. Moderne, evidenzbasierte Behandlungsleitlinien betonen vielmehr den komplementären
Charakter von pharmakologischen und psychosozialen Interventionen (z.B. Kreyenbuhl et al.,
2010). Die von der DGSP genannten sozio- und psychotherapeutischen Verfahren stellen keine
Alternativen zur medikamentösen Therapie, sondern regelmäßige Bestandteile eines
umfassenden Gesamtbehandlungskonzeptes, dar. Dieser Ansatz prägt auch die S3-Leitlinie
„Schizophrenie“ der DGPPN (2006).
Wenn auch unbestritten ist, dass gerade die Antipsychotika der zweiten Generation zum Teil
erhebliche metabolische Nebenwirkungen haben (Newcomer, 2007), so ist doch die Vermutung
der DGSP, dass „durch so genannte atypische Antipsychotika […] die somatische Morbidität und
damit vermutlich auch die langfristige Mortalität dieser Patienten“ erhöht werde, durch keine
Daten gedeckt. Gerade die beiden Substanzen, die die ausgeprägtesten metabolischen
Veränderungen induzieren, Clozapin und Olanzapin, scheinen nicht zu einer Erhöhung der
kardiovaskulären Mortalität zu führen (Tiihonen et al., 2009). Im Gegenteil ist die Behandlung mit
Clozapin mit einer geringeren Mortalität assoziiert als die mit irgendeinem anderen Antipsychotikum. Noch wichtiger erscheint jedoch, dass die Behandlung mit Antipsychotika per se zu einer
Reduktion der Mortalität – verglichen mit keiner medikamentösen Behandlung – führt (Tiihonen et
al., 2009).
Leider werden im Memorandum der DGSP auch keine Belege für die Behauptung, dass sich in
„mehreren bildgebenden Verlaufsstudien seit 1998 […] eine mit der antipsychotischen
Gesamtdosis korrelierende Verminderung der grauen Substanz vor allem des Frontalhirns“
zeigten, angeführt. Schizophrenien sind Erkrankungen, die mit einem progressiven Verlust an
grauer Hirnsubstanz einhergehen, der stärker ausgeprägt ist als bei Gesunden. Dieses
Phänomen findet sich auch bei nicht-erkrankten Zwillingsgeschwistern von Patienten mit
Schizophrenien (Brans et al., 2008). Ob der Verlust an grauer Substanz durch Antipsychotika
zusätzlich beschleunigt wird, ist derzeit völlig unklar. Es gibt jedoch Hinweise, dass
Antipsychotika der zweiten Generation den Substanzverlust möglicherweise verlangsamen
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(Lieberman et al., 2005). Eine von Frau Andreasen angekündigte Langzeitstudie, die den
antipsychotika-assoziierten Verlust an Hirnsubstanz belegen soll, liegt bisher nicht vor.
Die Ablehnung der Frühintervention mit Antipsychotika bei Menschen mit Prodromalsyndromen
einer psychotischen Störung mit der Begründung, diese bringe „gegenwärtig die Gefahr mit sich,
zu einer nicht begründeten Indikationsausweitung für Antipsychotika zu führen“, ist abwegig. Die
Frühintervention mit Antipsychotika wird derzeit international – auch in Deutschland – mit großem
Aufwand evaluiert. Dabei steht selbstverständlich die sorgfältige Abwägung von Nutzen und
Risiken im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sollte sich der Konsens bilden, dass eine
medikamentöse Frühintervention unter definierten Umständen gerechtfertigt ist, so ist eine Indikationsausweitung zum Nutzen der Betroffenen geboten. Im Übrigen existieren bereits Studien, die
einen Nutzen sowohl medikamentöser wie auch psychosozialer Interventionen bei Menschen mit
sehr hohem Psychoserisiko zeigen (Übersicht in McGorry et al., 2009). Auf die Bedeutung von
Frühinterventionsmaßnahmen – und zwar sowohl psychotherapeutischer wie auch
pharmakologischer – weist auch die im Memorandum der DGSP als vorbildlich bezeichnete
britische NICE-Guideline (2010) hin.
Es ist richtig, dass die NICE-Guideline (2010) die Durchführung von kognitiver Verhaltens- und
Familientherapie für jeden an einer schizophrenen Störung erkrankten Patienten bzw. seine
Familie empfiehlt. Mit Formulierungen wie der Forderung nach „Behandlung ohne Antipsychotika
entsprechend der aktuellen Leitlinie von NICE“ suggeriert die DGSP jedoch, dass in
Großbritannien eine einflussreiche Leitlinie existiert, die den Fokus der Therapie von Schizophrenien auf psycho- und soziotherapeutische Verfahren legt und sich von der Pharmakotherapie
abwendet. Dies ist jedoch keineswegs der Fall. Auch weiterhin gilt: „Antipsychotic drugs have
been the mainstay of treatment of schizophrenia since the 1950s.” (NICE, 2010, S. 97). Zur
Rückfallprophylaxe von Schizophrenien heißt es weiter: „Given that there are no consistent
reliable predictors of prognosis or drug response, the previous schizophrenia guideline, as well as
other consensus statements and guidelines, generally recommend that pharmacological relapse
prevention is considered for every patient diagnosed with schizophrenia.“ (NICE, 2010, S. 114f).
Die NICE-Guideline ist eine moderne, auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft basierende
Behandlungsleitlinie, in der, ähnlich wie in der S3-Leitlinie „Schizophrenie“ der DGPPN (2006),
ein aus pharmakologischen und psychotherapeutischen Elementen bestehender Gesamtbehandlungsplan für die Therapie von Schizophrenien vorgeschlagen wird. Die allzu selektive
Zitierung daraus stellt eine Irreführung des Lesers, dem die Primärliteratur nicht unmittelbar
zugänglich ist, dar.
Die NICE-Guideline erwähnt auch auf keiner von fast 500 Seiten mit einem einzigen Wort das
„Soteria“-Konzept oder das finnische „bedürfnisangepasste“ Behandlungsmodell. Experimentelle
Studien, die modernen methodischen Anforderungen genügen und die tatsächlich belegen, dass
„über 40 Prozent der Menschen mit erster Episode einer Schizophrenie auch langfristig mit gleich
guten oder besseren Ergebnissen ohne Antipsychotika behandelt werden“ können, wie die DGSP
behauptet, existieren nicht (Kommentar zu einer der wenigen vorliegenden, im Memorandum
zitierten Studien in Carpenter und Buchanan, 2002). Das Soteria-Konzept beinhaltet viele
Elemente, die in der Therapie von Menschen mit Schizophrenien sinnvoll sein können. Als
antipsychiatrische Ideologie, die medizinische Aspekte in der Verursachung und Behandlung von
Psychosen leugnet, wäre es jedoch abzulehnen.
Die einseitige, auf einer selektiven und teilweise grob falschen Zitierung der Literatur basierende
Verdammung der antipsychotischen Pharmakotherapie behindert eine rationale Pharmakotherapie psychischer Störungen und fördert damit die Stigmatisierung psychisch Kranker. Keine
Pharmakotherapie (und auch keine Psychotherapie) ist ohne Nebenwirkungen oder Risiken.
„Ideale Medikamente“, wie sie nach der irrtümlichen Auffassung des Memorandums der DGSP
„für die Therapie wichtiger internistischer Erkrankungen heute zur Verfügung stehen“, sind auch
für letztere nicht verfügbar. Gerade die DGPPN hat immer wieder darauf hingewiesen, dass
Nutzen und Risiken einer Pharmakotherapie im Einzelfall sorgfältig gegeneinander abgewogen
werden müssen.
Biologische und sozialpsychiatrische Erklärungsmodelle für psychische Störungen sind heute
gerade kein Gegensatz mehr. Integrierte Behandlungsansätze, in denen multiprofessionelle
Teams aus Ärztinnen und Ärzten, Krankenschwestern und -pflegern, Ergo- und Bewegungstherapeuten sowie Sozialarbeitern an der Rehabilitation und Reintegration ihrer Patientinnen und
Patienten zusammenarbeiten, sind heute an den Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie in
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Deutschland die Regel. Gerade in den hier meist schon umgesetzten modernen Therapiekonzepten, die regelmäßig und völlig selbstverständlich Patienten und Angehörige über Entstehungsbedingungen, Behandlungsmöglichkeiten und Präventionsmaßnahmen gut informiert und in Therapienentscheidungen mit einbezieht, kommt zum Ausdruck, dass moderne Erkenntnisse über die
Bedingtheit von psychischer Störung durch die Interaktion von genetisch-biologischen einerseits
und psychosozialen Faktoren andererseits längst Eingang in die tägliche klinische Praxis
gefunden haben. Die moderne Therapie psychischer Störungen im Allgemeinen und schizophrener Störungen im Speziellen trägt diesen Erkenntnissen Rechnung, indem sie im Rahmen eines
Gesamtbehandlungsplanes, der immer individuelle Gegebenheiten berücksichtigt, biologische,
psycho- und soziotherapeutische Behandlungsmaßnahmen miteinander kombiniert.
Die DGPPN begrüßt den Dialog mit verwandten Fachgesellschaften außerordentlich. Dabei sieht
sie sich jedoch eher als Vermittler denn als Opponent in einem letztlich überholten Disput
zwischen einseitig biologischen oder sozialpsychiatrischen Erklärungsmodellen psychischer
Erkrankung, denn die Betonung sozialpsychiatrischer Therapieansätze mit der starken Akzentuierung der Warnung vor den Risiken der antipsychotischen Pharmakotherapie bis hin zur
Empfehlung, auf diese für viele Patienten außerordentlich segensreiche Substanzgruppe völlig zu
verzichten, führt letztendlich zu einer Verschlechterung der Versorgungssituation psychisch
kranker Menschen in Deutschland.
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Autoren der DGPPN-Stellungnahme
Gerd Gründer (Aachen), Jürgen Fritze (Pulheim), Frank Schneider (Aachen)
Die Stellungnahme der DGPPN finden Sie auch zum Download unter:
http://www.dgppn.de/de_stellungnahme-2010-06-02_291.html
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