09.03.2010, Vortrag DGVT 2010 Neue Entwicklungen in der evidenzbasierten Pharmakotherapie schizophrener Psychosen Alkomiet Hasan, Thomas Wobrock GEORG-AUGUST-UNIVERSITÄT GÖTTINGEN Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Von-Siebold-Str.5, 37075 Göttingen Hinweis auf mögliche Interessenskonflikte Dr. Hasan Firmen Aufwendung Janssen Cilag, Pfizer, Lundbeck Reisekosten, Kongressunterstützung PD Dr. Wobrock Firmen Aufwendung AstraZeneca, Alpine Biomed, Bristol Myers Squibb, Janssen Cilag, Eli Lilly, Essex, Novartis, Organon, Pfizer, Sanofi-Aventis Honorare für Vorträge AstraZeneca, Bristol Myers Squibb, Eli Lilly, Janssen Cilag, Lundbeck, Sanofi- Aventis Reisekosten, Kongressunterstützung AstraZeneca Unterstützung von Forschungsaktivitäten (Grant) Warum Leitlinien? Leitlinien für alle ? Ein Ansatz zur besseren Versorgungsqualität sind evidenzbasierte Diagnose- und Therapieleitlinien... ... unsere Therapie entspricht doch dem Standard, oder? Aber warum wird ein Patient mit Schizophrenie in Berlin anders behandelt als in Göttingen? Ist die Psychose in Niedersachsen eine andere? Was sind Leitlinien? 1. Systematisch entwickelte Empfehlungen 2. Nicht bindend 3. Haben (noch) keine haftungsrechtliche Relevanz 4. Können nicht davon entbinden, die Entscheidung unter spezieller Berücksichtigung der individuellen Gegebenheiten und verfügbaren Ressourcen zu treffen 5. Bewertung und Entscheidung im Einzelfall Wobrock & Falkai 2003 Nationale Schizophrenie Leitlinien USA Lehman AF et al. Practice guideline for the treatment of patients with schizophrenia, second edition. Am J Psychiatry 2004 Australien Royal Australian and New Zealand College of Psychiatrists (RANZCP). Australian and New Zealand clinical practice guideline for the treatment of schizophrenia. Australasian Psychiatry 2003 Großbritannien National Institute for Clinical Excellence (NICE), Core Interventions in the Treatment of Schizophrenia. London, 2003 Internationale Schizophrenie - Leitlinie Stufen der Leitlinienentwicklung der AWMF S1 = informeller Konsens einer repräsentativ zusammengesetzten Expertengruppe S2 = formale Konsensusfindung, evidenzbasiertes Vorgehen (Literaturrecherche) S3 = Leitlinie mit allen Elementen systematischer Erstellung wie formale Konsensusfindung, evidenzbasierte Medizin, klinischer Algorithmus (logische Analyse), Entscheidungs- und Outcomeanalyse (Gesundheitsökonomie, Gesundheitsziele) Die überwiegende Mehrheit (76%) aller AWMF-Leitlinien sind S1Leitlinien Leitlinie Deutschland Erste Behandlungsleitlinie in der Psychiatrie auf S3Niveau (Stand 2006) Kurzversion und Methodenreport auf der Homepage der DGPPN unter Leitlinien abrufbar www.dgppn.de Überarbeitung bis: 11/2010 Evidenz- und Empfehlungsgrade Empfehlungsgrad Evidenz-Ebenen Ia Meta-Analyse von mindestens 3 RCTs Ib Mindestens 1 RCT oder Meta-Analyse von weniger als 3 RCTs IIa Mindestens 1 kontrollierte randomisierte Studie A nicht- IIb Mindestens 1 quasi-experimentelle Studie mit gutem Design III Mindestens 1 nicht-experimentelle deskriptive Studie (Vergleichsstudie, Korrelationsstudie, Fallserien) IV Berichte/ Empfehlungen von Experten B C Behandlungsziele I Behandlungsziel ist der von Krankheitssymptomen weitgehend freie, zu selbstbestimmter Lebensführung fähige, therapeutische Maßnahmen, in Kenntnis von Nutzen und Risiken, abwägende Patient. Behandlungsziele II 1. Erstellung eines Gesamtbehandlungsplanes 2. Partizipation der Betroffenen Behandlungsprozess Beteiligten und aller 3. Zusammenarbeit mit Angehörigen niederschwelligen Hilfssystemen am und 4. Alle Behandlungsschritte sollten individuell und phasenspezifisch im Rahmen einer multiprofessionellen und möglichst wohnortnahen Behandlung abgestimmt werden. Akuttherapie Welche antipsychotische Substanz? Empfehlungsgrad A Bei der Behandlung der akuten schizophrenen Episode stellen atypische Antipsychotika aufgrund der geringeren Rate an extrapyramidal-motorischen Störungen bei vergleichbarer Wirksamkeit gegenüber konventionellen Antipsychotika Medikamente der ersten Wahl dar, falls nicht der Patient selbst konventionelle Antipsychotika präferiert oder er darauf bereits ohne relevante Nebenwirkungen remittierte. Erstmanifestation I Zeitpunkt des Behandlungsbeginns Empfehlungsgrad C Bei einer Ersterkrankung sollte eine frühestmögliche antipsychotische Behandlung erfolgen, ein geringes Zuwarten bei notwendiger diagnostischer Klärung unter einer Bedarfsmedikation mit Benzodiazepinen ist jedoch gerechtfertigt. Erstmanifestation II Auswahl des Antipsychotikums (12) Empfehlungsgrad B Bei einer Ersterkrankung sollten aufgrund der gegenüber den typischen Antipsychotika zumindest vergleichbaren Wirkung auf die Positivsymptomatik, Hinweisen auf eine überlegene Wirksamkeit bezügliche der Negativsymptomatik und geringeren dosisabhängigen extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen in erster Linie Atypika eingesetzt werden. Allerdings müssen hierbei die substanzspezifischen Nebenwirkungen berücksichtigt werden. Erstmanifestation II Dosierung des Antipsychotikums Empfehlungsgrad C Bei schizophrenen Ersterkrankungen sollten Antipsychotika im Hinblick auf die Nebenwirkungen möglichst niedrig dosiert werden. Schwerpunkte in der Langzeittherapie • Symptomverbesserung (Negativsymptomatik, Kognition, Lebensqualität, psychosoziales Funktionsniveau) • Rezidivprophylaxe Wirkung auf Negativsymptome: Atypika > Typika Autoren Wirkung auf Negativsymptome - Kane et al. 2002 - Potkin et al. 2003 - Pigott et al. 2003 - Kasper et al. 2003 Aripiprazol > Haloperidol > Plazebo - Volarka et al. 2002 - Wahlbeck et al. 2000 - Chakos et al. 2001 Clozapin > Haloperidol > Plazebo - Beasley et al. 1996 - Beasley et al. 1997 - Tollefson et al. 1997 - Tran et al. 1997 Olanzapin > Haloperidol > Plazebo (Quetiapin, Risperidon, Ziprasidon und Zotepin) (26) Emfehlungsgrad B Bei vorherrschender Negativsymptomatik sollten als Medikamente der ersten Wahl atypische Antipsychotika mit erwiesener Wirkung auf Negativsymptome eingesetzt warden. S3-Leitline Schizophrenie - Langzeittherapie Empfehlungsgrad C. Wenn unter einem konventionellen Antipsychotikum eine gute Kontrolle der Symptome erreicht wurde und eine gute Verträglichkeit und Akzeptanz seitens des Patienten besteht, sollte nicht ohne Veranlassung auf ein atypisches Antipsychotikum umgestellt werden. In jedem Fall sollte der Betroffene jedoch auf das erhöhte Risiko von Spätdyskinesien hingewiesen werden. Empfehlungsgrad B. Bei vorherrschender Negativsymptomatik sollten als Medikamente der ersten Wahl atypische Antipsychotika mit erwiesener Wirkung auf Negativsymptome eingesetzt werden. Empfehlungsgrad A. Zur Behandlung kognitiver Beeinträchtigungen sollten atypische Antipsychotika bevorzugt eingesetzt werden. S3 – Dauer und Dosis der Langzeitmedikation Nach einer Erstmanifestation sollte eine medikamentöse antipsychotische Behandlung kontinuierlich über mindestens 12 Monate erfolgen (A/B). Nach einem ersten Rezidiv sollte eine medikamentöse antipsychotische Behandlung kontinuierlich für 2 bis 5 Jahre (nach multiplen Rezidiven gegebenenfalls lebenslang) erfolgen (C). Nach Symptomremission kann die Dosis über längere Zeiträume schrittweise reduziert und auf eine niedrigere Erhaltungsdosis eingestellt werden. Es wird die Monotherapie empfohlen (C) Falls Typika, dann nur welche mit hoher Evidenz : Haloperidol, Flupentixol, Fluphenazin oder Perazin (A) Rückfallrisiko nach einigen Tagen des Weglassens der oralen Medikation Survey on 4325 outpatients Rehospitalization Rate, % 25 22,5 20 16 15 12 10 6,5 5 0 0 Days 1-10 Days 11-30 Days >30 Days Maximum number of days without medication within 1 year Leucht and Heres, J Clin Psychiatry, 2006; 67(Supl. 5):3-8 „Real World“ Clinical Practice Antipsychotische Kombinationstherapie ist in der klinischen Praxis ausgesprochen häufig (mindestens 30 % der Patienten). In Studien mit ambulanten Patienten haben 10- 20 %, bei stationären Patienten bis zu 50 % gleichzeitig 2 oder mehr Antipsychotika. Die Kombination von Antipsychotika mit Substanzen anderer Wirkstoffklassen (z. B. Mood Stabilizer) im Sinne einer Augmentation ist ebenfalls sehr häufig, wobei die Frequenz substanzspezifisch ist und stark von der zusätzlichen Symptomatik und der Krankheitsphase abhängt (z. B. Benzodiazepine in der Akutphase). Stahl and Grady 2004, IMS Health National Disease and Therapeutic Index Psychotherapie Empfehlungsstärke A Der Einsatz einer kognitiven Verhaltenstherapie bei Menschen in der präpsychotischen Prodromalphase mit einem hohen Übergangsrisiko in eine Schizophrenie ist zu empfehlen. Kognitive Verhaltenstherapie sollte zur Rückfallrisikos zusätzlich zu einer adäquaten Therapie zur Anwendung kommen. Reduktion des medikamentösen Kognitive Verhaltenstherapie sollte bei medikamentös behandlungsresistenter Schizophrenie, insbesondere bei persistierenden psychotischen Symptomen, zur Anwendung kommen. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (Hrsg.). S3 Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie. Redaktion: Gaebel W, Falkai P. Band 1: Behandlungsleitlinie Schizophrenie. Steinkopff Verlag, Darmstadt 2006 Psychotherapie Empfehlungsstärke B,C und GCP Zur Optimierung der Rückfallverhütung sollten psychoedukative Interventionen mit geeigneten kognitiv-verhaltenstherapeutischen Elementen kombiniert werden Kognitive Verhaltenstherapie kann auch zur Verbesserung der Einsicht in die Irrealität psychotische Erlebens (Halluzination, Wahn) und zur Verbesserung der Therapiecompliance eingesetzt werden Psychoedukative Interventionen in Gruppen stellen eine gleichzeitig patientenorientierte und ökonomische Möglichkeit der Informationsvermittlung dar. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (Hrsg.). S3 Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie. Redaktion: Gaebel W, Falkai P. Band 1: Behandlungsleitlinie Schizophrenie. Steinkopff Verlag, Darmstadt 2006 CATIE-Studie Lieberman et al. 2005, NEJM: 1209-1223 CATIE-Studie Clinical Antipsychotic Trials of Intervention in Effectiveness Generelle Kritikpunkte an der Methodik: Anteil der Frauen nur 25 %, entspricht nicht dem Anteil in der Bevölkerung. Die meisten Patienten erhielten als Vormedikation OLA oder RIS, kein PER. Ausschluss von Patienten mit Dyskinesien für Randomisierung in PER. Dadurch Bias in der Atypika – Gruppe. OLA als einziges höher als Zulassung dosiert, Dosierung von PER willkürlich. PER ist mäßig potentes „typisches“ Neuroleptikum, nicht repräsentativ für Klinik. Keine Akutbehandlungsstudie, letzte psychotische Episode lag 3 Monate zurück. Weniger potente Medikamente können wirken. Sehr hohe Abbruchquote. EUFEST-Studie European First Episode Schizophrenia Trial Kahn et al. (2008). Effectiveness of antipsychotic drugs in first-episode schizophrenia and schizophreniform disorder: an open randomised clinical trial. Lancet 371(9618): 1085-1097 EUFEST-Studie European First Episode Schizophrenia Trial Offene, randomisierte Studie Therapieabbruch unter Typika (Haloperidol) signifikant am höchsten (aber Untersucher-Bias) Symptomverbesserung unterschied sich nicht zwischen den Gruppen Bei Typika mehr Extrapyramidale UAWs Vor allem metabolische UAWs unter Atypika Behandlungskontinuität unter Atypika höher Kahn et al. (2008). Effectiveness of antipsychotic drugs in first-episode schizophrenia and schizophreniform disorder: an open randomised clinical trial. Lancet 371(9618): 1085-1097 CATIE-Studie/ EUFEST-Studie Aktuelle Betrachtungen für die Leitlinien Postulierte Vorteile bestimmter Atypika gegenüber bestimmten Typika bilden sich nicht ab Ergebnis nicht ohne weiteres generalisierbar. Priorisierung der Atypika in allen Leitlinien bleibt bestehen. Das Neuroleptikum ist nach Verträglichkeit und Präferenzen des Patienten den individuellen Bedingungen angepasst auszuwählen Notwendig ist ein breites Spektrum an AP mit einem günstigen Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil. Einige SGAs besser als FGAs Metanalyse: 150 RCTS, 21 533 Patienten. 4 SGAs zeigen bessere Wirksamkeit, mit kleiner bis mittlerer Effektstärke. •Amisulprid •Clozapin •Olanzapin •Risperidon Leucht et al. 2009, Lancet Inzidenz travdiver Dyskinesien Das Risiko zur Entwicklung später Dyskinesien ist bei Typika im Vergleich zu Atypika erhöht (%) 60 50 40 30 Hochpotente konv. NL (~ 5% / Jahr) 20 10 Atyp. Antipsychotika (< 1% / Jahr) 5 8 0 0 1 2 3 4 6 7 9 10 Kumulative Neuroeleptikaexpodition (Jahre) Zusammengestellt aus Kane et al. 1988, Csernansky et al. 2002, Dolder und Jeste 2003, Correll et al. 2004 (Metaanalyse) 30 30 30 30 30 25 25 25 25 25 20 20 20 20 20 15 15 15 15 15 10 10 10 10 10 5 5 5 5 5 0 0 0 0 0 Pl az Pl az as id on Pl az Zi pr Ar Pl az eb O o la nz ap in 35 Pl az 35 eb Q o ue tia pi n 35 eb R isp o er id on 35 eb o 35 eb ip o ip ra zo l Inzidenz (%) Klinisch signifikante (>7%) Gewichtszunahme während der antipsychotischen Behandlung Daten für Aripiprazol, Ziprasidon, Risperidone, Quetiapin und Olanzapin von US labels. Kontrolluntersuchungen jährlich Bestimmungen Beginn erste 4 Wochen erste 3 Monate alle 3 Monate • Körpergewicht (BMI) x x x x • Hüftumfang x x x x • Blutdruck x x x x • Nüchternserumglukose x x x x • Nüchternblutfette x x x x Bestimmungen Beginn erste 4 Wochen erste 3 Monate alle 3 Monate • Blutbilda x x x x • Kreatinin x x x • Leberenzyme x x x x • Blutdruck/Puls x x x x • EKGb x x • EEG (nur bei Clozapin/Zotepin) x halbjährlich x x x x x S3 Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie. Band 1 – Behandlungsleitlinie Schizophrenie Leitlinientreue und Implementierung Bei stationärer Schizophreniebehandlung von 597 Patienten aus 7 psychiatrischen Kliniken: ungünstigeres Behandlungsergebnis im Klinikvergleich bei geringerer Leitlinienkonformität Janssen et al. 2005, Nervenarzt Vergleich von 77 Patienten vor und 74 Patienten nach Implementierung der S3-Leitlinie Ergebnis: • Rate der antipsychotischen Monotherapie von 39.5% auf 67.6% angestiegen. • Inzidenz von signifikanten neurologischen NW von 26.3% auf 7.0% (p = .038) reduziert. • Reduktion des PANSS Gesamt Score signifikant größer nach Implementierung (p = .048), obwohl diese Gruppe höhere PANSS Ausgangswerte hatte. Weinmann et al. 2008, J Clin Psychiatry Grenzen der Leitlinien Die Leitlinien finden ihre Grenzen dann, wenn Keine hinreichende bzw. nur eine niedrige Evidenz für die allgemeine Fragestellung oder die spezielle Population vorliegt. Die Verhältnisse im Einzelfall nicht abgebildet werden können. Die Empfehlungen im Konsens mit den Betroffenen nicht durchführbar sind. Kombinationstherapie. Art und Zeitpunkt der Behandlung der Prodromalphasen. Therapieresistenz: Was kommt nach Clozapin? Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Also ich glaube Herr Doktor, dass Ihre Behandlung nicht sehr leitlinienkonform gewesen ist, aber geholfen hat sie trotzdem ! Alkomiet Hasan, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Georg-August-Universität Göttingen