Berlin, 10. Oktober 2007 Bedeutung von Leitlinien für die Me-Too-Diskussion in der Schizophrenie-Therapie Peter Falkai + Thomas Wobrock GEORG-AUGUST-UNIVERSITÄT GÖTTINGEN Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Von-Siebold-Str.5, 37075 Göttingen Gliederung • Grundidee und Entstehung von Leitlinen • Empfehlungen der S3S3-Leitlinie Schizophrenie - Akuttherapie: Ersterkrankung und MehrfachMehrfacherkrankung - Langzeittherapie • Diskussion und Fazit 1 Was sind Leitlinien ? Leitlinien sind systematisch entwickelte Darstellungen und Empfehlungen mit dem Zweck, Ärzte, Patienten und Angehö Angehörige bei der Entscheidung über angemessene Maß Maßnahmen der Krankenversorgung (Prä (Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge) unter spezifischen medizinischen Umstä Umständen zu unterstü unterstützen... Leitlinien geben den Stand des Wissens (Ergebnisse von klinischen Studien und Wissen von Experten) über effektive und angemessene Krankenversorgung zum Zeitpunkt der "Drucklegung" wieder. Was sind Leitlinien nicht ? Leitlinien sind fü für Ärzte nicht bindend und aus ihnen begrü begründet sich keine haftungsrechtliche Relevanz. Im Gegenteil kö können Leitlinien den Arzt nicht davon entbinden, seine Entscheidung in der Diagnostik und Behandlung unter spezieller Berü Berücksichtigung der beim individuellen Patienten vorliegenden Gegebenheiten und der verfü verfügbaren Ressourcen zu treffen. Wobrock & Falkai 2003 2 Schritte der Leitlinienentwicklung (0. Entwurf für Statements: Struktur. Konsensusprozess) 1. Definition klinisch relevanter Fragestellungen 2. Entwicklung von Kriterien für die Evidenzsuche 3. Entwicklung von Kriterien für die Evidenzbewertung: validierte Methoden systematischer Analysen / Reviews 4. Zusammenfassung/ Synthese der Review- und StudienErgebnisse und Bewertung der klinischen Relevanz 5. Beantwortung der klinischen Fragestellungen: Formulierung Evidenz-basierter Empfehlungen Beispiel: Medikamentöse Rezidivprophylaxe 1. Acht verschiedene Statements zu: Indikation für Langzeittherapie, Wahl des Antipsychotikums, Dosierung, Therapiedauer, Strategien, Applikation, Erfolg 2. Erarbeitung klinischer Fragestellungen (Bsp: „Ist eine Depotmedikation bei geringer Compliance wirksamer in der Rückfallvermeidung als orale Medikation?“) 3. Recherche zur Langzeitmedikation/ Rückfallprophylaxe in Cochrane Library, MEDLINE und EMBASE: 488 Studien identifiziert, davon Auswahl von 83 Publikationen, davon nach Durchsicht Auswahl und Bewertung von 7 systematischen Reviews und 57 RCTs 4. Zusammenstellung der Evidenz in Evidenztabellen 5. Formulierung der Empfehlung (Bsp. „Eine Depotmedikation mit intramuskulärer Gabe eines atypischen oder typischen Antipsychotikums im Abstand von 2-4 Wochen sollte bei unzureichender Compliance oder auf Wunsch des Patienten erwogen werden. Bei belastenden Nebenwirkungen ... kann eine niedrigdosierte Depotmedikation und die zusätzliche Gabe oraler Medikation bei Auftreten von Prodromalsymptomen sinnvoll sein.“ - Empfehlungsgrad A) 6. Diskussion der Empfehlung und der zugrundeliegenden Evidenz 3 Evidenz-Ebenen Ia Meta-Analyse von mindestens 3 randomisierten kontrollierten Studien (Randomised Controlled Trials, RCTs) Ib Mindestens 1 RCT oder Meta-Analyse von weniger als 3 RCTs IIa Mindestens 1 kontrollierte nicht-randomisierte Studie mit methodisch hochwertigem Design IIb Mindestens 1 quasi-experimentelle Studie mit gutem Design III Mindestens 1 nicht-experimentelle deskriptive Studie (Vergleichsstudie, Korrelationsstudie, Fallserien) IV Berichte/ Empfehlungen von Expertenkomitees, klinische Erfahrung respektierter Autoritäten Grade der Empfehlung A Evidenz-Ebene Ia und Ib B IIa, IIb, III oder Evidenz aus Ebene I, die jedoch für die spezifische Fragestellung extrapoliert und abgeleitet werden muss C Evidenz-Ebene IV oder Ableitungen aus IIa, IIb oder III GCP „Good Clinical Practice“ 4 Gliederung • Grundidee und Entstehung von Leitlinen • Empfehlungen der S3S3-Leitlinie Schizophrenie - Akuttherapie: Ersterkrankung und MehrfachMehrfacherkrankung - Langzeittherapie • Diskussion und Fazit Was empfiehlt die S3-Leitline Schizophrenie der DGPPN 2006 ? Akuttherapie (12) Empfehlungsgrad B. Bei schizophrenen Ersterkrankungen sollten aufgrund der gegenüber den typischen Antipsychotika zumindest vergleichbaren Wirkung auf die Positivsymptomatik, Hinweisen auf eine überlegene Wirksamkeit bezüglich der Negativsymptomatik und geringerer dosisabhängiger extrapyramidalmotorischer Nebenwirkungen in erster Linie Atypika eingesetzt werden. Allerdings müssen hierbei die substanzspezifischen Nebenwirkungen berücksichtigt werden. (16) Empfehlungsgrad A. Bei der Behandlung der akuten schizophrenen Episode stellen atypische Antipsychotika aufgrund der geringeren Rate an extrapyramidal-motorischen Störungen bei vergleichbarer Wirksamkeit gegenüber konventionellen Antipsychotika Medikamente der ersten Wahl dar, falls nicht der Patient selbst konventionelle Antipsychotika präferiert oder er darauf bereits ohne relevante Nebenwirkungen remittierte. 5 Wirkung auf Positivsymptome: Typika = Atypika (z.B. Risperidon) Autoren Patienten (n) Wirksamkeit EPS Marder u. Meibach, Meibach, 1994 388 Risperidon = Haloperidol > Plazebo Haloperidol > Risperidon = Placebo Klieser et al., 1995 51 Risperidon = Clozapin Risperidon < Clozapin Ceskova u. Svestka, Svestka, 1993 62 Risperidon = Haloperidol Risperidon < Haloperidol Min et al., 1993 35 Risperidon = Haloperidol Risperidon < Haloperidol Peuskens, Peuskens, 1995 1362 Risperidon = Haloperidol Risperidon < Haloperidol Blin et al., 1996 62 Risperidon > Haloperidol = Levomepromazin Haloperidol > Risperidon = Levomepromazin Hoyberg et al., 1993 107 Risperidon = Perphenazin Risperidon = Perphenazin Huttunen et al., 1995 98 Risperidon = Zuclopenthixol Risperidon < Zuclopenthixol Möller HJ (2000): Aktuelle Bewertung neuer/atypischer Neuroleptika. Nervenarzt 71: 329-344 Späte Hyperkinesen unter Typika und Atypika Correll et al. 2004, AJP 6 Inzidenz travdiver Dyskinesien Das Risiko zur Entwicklung später Hyperinesen ist bei Typika im Vergleich zu Atypika erhöht (%) 60 50 40 30 Hochpotente konv. NL (~ 5% / Jahr) 20 10 Atyp. Antipsychotika (< 1% / Jahr) 5 8 0 0 1 2 3 4 6 7 9 10 Kumulative Neuroeleptikaexpodition (Jahre) Zusammengestellt aus Kane et al. 1988, Csernansky et al. 2002, Dolder und Jeste 2003, Correll et al. 2004 (Metaanalyse) Was empfiehlt die S3-Leitline Schizophrenie der DGPPN 2006 ? Beibehalten konventioneller Antipsychotika (20) Empfehlungsgrad C. Wenn unter einem konventionellen Antipsychotikum eine gute Kontrolle der Symptome erreicht wurde und eine gute Verträglichkeit und Akzeptanz seitens des Patienten besteht, sollte nicht ohne Veranlassung auf ein atypisches Antipsychotikum umgestellt werden. In jedem Fall sollte der Betroffene jedoch auf das erhöhte Risiko von Spätdyskinesien hingewiesen werden. Differentielle Wahl und Dosierung des Antipsychotikums (26) Empfehlungsgrad B. Bei vorherrschender Negativsymptomatik sollten als Medikamente der ersten Wahl atypische Antipsychotika mit erwiesener Wirkung auf Negativsymptome eingesetzt werden. (27) Empfehlungsgrad A. Zur Behandlung kognitiver Beeinträchtigungen sollten atypische Antipsychotika bevorzugt eingesetzt werden. 7 Wirkung auf Negativsymptome: Atypika > Typika Autoren Wirkung auf Negativsymptome - Kane et al. 2002 - Potkin et al. 2003 - Pigott et al. 2003 - Kasper et al. 2003 Aripiprazol > Haloperidol > Plazebo - Volarka et al. 2002 - Wahlbeck et al. 2000 - Chakos et al. 2001 Clozapin > Haloperidol > Plazebo - Beasley et al. 1996 - Beasley et al. 1997 - Tollefson et al. 1997 - Tran et al. 1997 Olanzapin > Haloperidol > Plazebo (Quetiapin, Risperidon, Ziprasidon und Zotepin) (26) Emfehlungsgrad B Bei vorherrschender Negativsymptomatik sollten als Medikamente der ersten Wahl atypische Antipsychotika mit erwiesener Wirkung auf Negativsymptome eingesetzt warden. Überlegenheit der Atypika auf Kognition: Bei Mehrfacherkrankung deutlich n Compliance > 52 Wochen, o Verbesserung von mehr kognitiven Domä Domänen nach Keefe et al. (2006), Schizophr Res 81(1): 1-15 8 Krankheitsverlauf und Outcome der Schizophrenie: 20% längerfristige Arbeit und 30% lä längerfristige Partnerschaft Gaebel W (2003). Langzeittherapie der Schizophrenie. In Falkai P, Pajonk FG. Psychotische Störungen. 47-63 Arbeitsfähigkeit korreliert mit kognitivem Defizit in der Schizophrenie WCST-CAT (Wisconsin Card Sorting Test: Categories Correct) Mittelwerte im WCST-CAT p < 0,0003 5 p < 0,0001 4 30 Pat. in einem beruflichen Rehabilitationsprogramm seit mind. 1 Jahr voll- oder teilzeitbeschäftigt oder arbeitslos Weitere sig. Unterschiede im • Räumlichen Gedächtnis • Daueraufmerksamkeit 3 p < 0,05 2 1 0 Patienten Patienten Vollzeitarbeit Teilzeitarbeit Patienten ohne Arbeit McGurk SR & Melcher HY; Schizophr Res 2000; 45(3): 175-184 9 Gliederung • Grundidee und Entstehung von Leitlinen • Empfehlungen der S3S3-Leitlinie Schizophrenie - Akuttherapie: Ersterkrankung und MehrfachMehrfacherkrankung - Langzeittherapie • Diskussion und Fazit Empfehlungen der S3S3-Leitline Schizophrenie Langzeittherapie/Rezidivprophylaxe (33) Empfehlungsstärke C. Zur Langzeittherapie sollte dasjenige typische oder atypische Antipsychotikum beigehalten werden, unter dem eine Remission in der Akuttherapie bei guter Verträglichkeit erzielt werden konnte. (34) Empfehlungsstärke A. Bei der Auswahl des Antipsychotikums ist die überlegene rezidiv-prophylaktische Wirksamkeit der atypischen Antipsychotika als Gruppe gegenüber typischen Antipsychotika in der Langzeittherapie zu berücksichtigen. (35) Good Clinical Practice. Bei der Auswahl zwischen verschiedenen Antipsychotika in der Langzeittherapie ist in jedem Fall das unterschiedliche Nebenwirkungsrisiko im Hinblick auf Spätdyskinesien, Sedierung, kardiale, metabolische und endokrine Effekte zu beachten. (39) Empfehlungsstärke C. Bei der Entscheidung für ein antipsychotisches Depotpräparat ist das erwartungsgemäß als günstiger einzustufende Nebenwirkungsprofil des verfügbaren atypischen Depot-Antipsychotikums Risperidon (insbesondere im Hinblick auf das geringere Risiko von Spätdyskinesien) zu berücksichtigen. 10 Rückfallprophylaxe unter typischen und atypischen Neuroleptika nach Leucht et al., Am J Psychiatry 2003 Therapieabbruch ('Effectiveness'; CATIE*-Studie) (Mehrfacherkrankte; Langzeitbehandlung über 18 Monate) N Abbruch (%)1 Zeit in Studie2 Olanzapin 330 64% 9,2 (6,9 - 12,1) Quetiapin 329 82% 4,6 (3,9 - 5,5) Risperidon 333 74% 4,8 (4,0 - 6,1) Perphenazin 257 75% 5,6 (4,5 - 6,3) Ziprasidon3 183 79% 3,5 (3,1 - 5,4) Antipsychotikum 1 n.s. Monate (Median; Konfidenzintervall); p=0.004 (Ol > Quet; Ris) 3 Ziprasidon wurde 1 Jahr nach Studienbeginn als Therapiebedingung eingeführt 2 Probleme: - Gehäufte Vorbehandlung mit Olanzapin - Patienten mit Tardiver Dyskinesie wurden bei Randomisierung zu Perphenazin nicht entsprechend behandelt und ausgeschlossen * Clinical Antipsychotic Trials of Intervention Effectiveness Liebermann et al. 2005; NEJM (353) 11 Niedrige Rate der kontinuierlichen Einnahme von typischen und atypischen Neuroleptika “Patients “Patients do do not not even even stay stay 10 10 months months on on the the treatment” treatment” s nth mo 2 , ,5-9 ∅3 9,2 Mean time to discontinuation (months) 9 8 7 After 1st switch 5,6 6 4,8 4,6 5 3,5 4 3 2 1 0 OLZ QUE RIS PER ZIP Discontinuation of oral medication due to any reason 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 Mean time to discontinuation (months) 10 7 6,3 ∅ hs ont ,0 m 7 2,8 4 2,8 Risperidone Olanzapine Quetiapine Ziprazidone Discontinuation of oral medication mainly for tolerability Lieberman JA, et al. N Eng J Med 2005;353:1209-1223 CATIE I Stroup, et al. Am J Psychiatry 2006;163: 611-622 CATIE II, Trial 1 Gliederung • Grundidee und Entstehung von Leitlinen • Empfehlungen der S3S3-Leitlinie Schizophrenie - Akuttherapie: Ersterkrankung und MehrfachMehrfacherkrankung - Langzeittherapie • Diskussion und Fazit 12 FAZIT (I) • Die unterschiedliche Wirksamkeit zwischen Atypika und konkonventionellen Antipsychotika auf verschiedene SymptomSymptomkonstellationen ist nicht nur „Dosierungsartefakt“ Dosierungsartefakt“. • Die Empfehlungen der S3S3-Leitlinie halten auch einer kritischen wissenschaftlichen Überprü berprüfung stand, wobei sicher zu etlichen Fragestellungen noch keine hochwertige Evidenz vorliegt Empfehlungen für Ersterkrankte (I) „It is recommended that the oral atypical antipsychotic drugs amisulpride, olanzapine, quetiapine, risperidone and zotepine are considered in the choice of first-line treatments for individuals with newly diagnosed schizophrenia. Atypical antipsychotics at the lower end of the standard dose range are the preferred treatments for a person experiencing a first episode of schizophrenia (C).“ NICE 2002 13 Empfehlungen für Mehrfacherkrankte (II) „The second-generation antipsychotics should be considered as first-line medications for patients in the acute phase of schizophrenia, mainly because of the decreased risk of extrapyramidal side effects and tardive dyskinesia, with the understanding that there continues to be debate over the relative advantages, disadvantages, and cost-effectiveness of first- and second-generation agents.“ APA 2004 FAZIT (II) • Keines der verfü verfügbaren Atypika ist als sogenanntes „MeMe-Too“ Too“-Prä Präparat einzuordnen. • Die verfü verfügbare Palette der Atypika erweitert die individuellen Therapiemö Therapiemöglichkeiten und ermö ermöglicht eine Optimierung der Behandlung im Einzelfall. 14 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit ! ... also wenn alle Medikamente gleich sind, verstehe ich nicht warum es mir nach der Umstellung besser geht und ich weniger Nebenwirkungen habe... P. Falkai und T. Wobrock MeeMee-To und S3S3-Leitlinie 15