Der Nervenarzt Organ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft Elektronischer Sonderdruck für G. Gründer Ein Service von Springer Medizin Nervenarzt 2013 · 84:1120–1122 · DOI 10.1007/s00115-013-3816-6 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 G. Gründer Kann eine Langzeitbehandlung mit Antipsychotika zu strukturellen Hirnschäden führen? Kontra Diese PDF-Datei darf ausschließlich für nichtkommerzielle Zwecke verwendet werden und ist nicht für die Einstellung in Repositorien vorgesehen – hierzu zählen auch soziale und wissenschaftliche Netzwerke und Austauschplattformen. www.DerNervenarzt.de Pro und Kontra Nervenarzt 2013 · 84:1120–1122 DOI 10.1007/s00115-013-3816-6 Online publiziert: 9. Juni 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 G. Gründer Als im Frühjahr 2011 Ho et al. aus der Gruppe um Nancy Andreasen in den renommierten Archives of General Psychiatry berichteten, dass zumindest ein Teil der strukturellen Hirnveränderungen, wie sie bei Patienten mit Schizophrenien im Längsschnitt beobachtet werden, mit der Einnahme von Antipsychotika assoziiert ist, rief dies ein erhebliches Medienecho auch in der Laienpresse hervor [4]. Unter der Überschrift „Hirnschwund durch Psychopillen?“ folgerte Der Spiegel in seiner Ausgabe vom 21.01.2013 gar, dass „Mittel gegen Schizophrenie […] das Leiden, das sie heilen sollen, sogar verschlimmern“ könnten. Die Gruppe um Nancy Andreasen an der Universität von Iowa hatte zwischen 1991 und 2009 211 Patienten mit einer schizophrenen Störung im Längsschnitt magnetresonanztomographisch untersucht. Im Mittel waren die Patienten 3-mal (Maximum: 5) über bis zu 14 Jahre (im Mittel 7,2 Jahre) untersucht worden. Die Autoren fanden, dass mit der Dauer des Beobachtungszeitraums das Hirnvolumen der Patienten ab- und die Ventrikelgröße zunahm. Mit der kumulierten applizierten Antipsychotikadosis korrelierten der Verlust an grauer Substanz und die Zunahme des Volumens des Putamens. Die Gesamtdosis der verabreichten Antipsychotika war nur mäßig mit der Schwere der Erkrankung (negativ) korreliert (Spearman r=−0,21). Die Volumenveränderungen korrelierten auch dann noch mit der kumulierten Antipsychotikadosis, wenn man für Dauer und Schwere der Erkrankung und das Ausmaß eines Substanzmissbrauchs korrigierte. Man weiß schon seit vielen Jahrzehnten, dass Patienten mit Schizophrenien reduzierte Hirnvolumina – insbesondere präfrontal kortikal und hippokampal – sowie vergrößerte Ventrikelvolumina aufweisen. Studien an ersterkrankten Patienten, die niemals zuvor mit einem Psychopharmakon behandelt wurden, belegen zweifelsfrei, dass diese strukturellen Veränderungen mit der Erkrankung selbst assoziiert und ganz sicher nicht auf irgendeine Form von Behandlung zurückzuführen sind. Allerdings gab es die ersten Berichte über mit der Einnahme von Antipsychotika assoziierte strukturelle Hirnveränderungen schon in den 1990er Jahren. So berichteten Chakos et al. 1994 über eine Zunahme des Volumens des Nucleus caudatus bei Patienten mit einer Schizophrenie [2]. Diese Zunahme führten sie auf die antipsychotische Behandlung zurück. Die Vermutung, dass Antipsychotika hier zu plastischen Veränderungen führen, liegt nahe, binden sie doch hier in besonderem Umfang. Später berichtete die gleiche Arbeitsgruppe, dass sich diese Volumenzunahme nach Umstellung auf Clozapin zurückbildete. Besonders aufschlussreich – weil sehr gut zu kontrollieren – waren Untersuchungen an Rhesusaffen, die David Lewis et al. an der Universität von Pittsburgh durchführten [5]. Sie behandelten die Tiere für 17 bis 27 Monate entweder mit Haloperidol oder mit Olanzapin in Dosierungen, die zu Plasmakonzentrationen führten, wie sie auch bei der Behandlung von Patienten mit Schizophrenien gemessen werden. Die medikamentöse Behandlung führte zu einer Reduktion von Gewicht und Volumen des Gehirns der behandelten Affen um 8–11%. Am deutlichsten ausgeprägt waren die Veränderungen in frontalen und parieta- 1120 | Der Nervenarzt 9 · 2013 Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Universitätsklinikum Aachen Kann eine Langzeitbehandlung mit Antipsychotika zu strukturellen Hirnschäden führen? Kontra len Kortizes. Zudem waren im parietalen Kortex der Affen die Zahlen von Astrozyten signifikant um ca. 20% und von Oligodendrozyten nichtsignifikant um ca. 12% reduziert. Haloperidol und Olanzapin führten zu gleichsinnigen Veränderungen [5]. Moncrieff u. Leo kamen in ihrer 2010 publizierten Metaanalyse von 26 volumetrischen MRT-Studien an Patienten, die antipsychotisch behandelt worden waren, zu dem vorsichtigen Schluss, dass „eine gewisse Evidenz die Möglichkeit andeutet, dass Antipsychotika zu einer Reduktion des Volumens von Hirnsubstanz und einer Zunahme des Ventrikelvolumens führen“ [8]. Die Datenlage ist jedoch keineswegs so eindeutig, dass man daraus klare klinische Schlussfolgerungen ziehen könnte. Die ersten Arbeiten der Arbeitsgruppe um René Kahn von der Universität Utrecht legten zunächst ebenfalls nahe, dass die bei Patienten mit einer schizophrenen Störung im Längsschnitt gemessene Abnahme mit der kumulativen Dosis der im Beobachtungszeitraum verabreichten Antipsychotika korreliert. Im 5-JahresFollow-up ihres Patientenkollektivs fanden diese Autoren dann jedoch, dass Patienten, bei denen die geringste Abnahme der grauen Substanz im frontalen Kortex zu beobachten war, die höchsten kumulativen Dosen von Clozapin oder Olanzapin erhalten hatten [9]. Auch Lieberman et al. fanden in der bisher einzigen randomisierten MR-Studie (die allerdings von Eli Lilly finanziert und in der Haloperidol zu hoch dosiert wurde) differenzielle Auswirkungen einer Therapie mit Haloperidol und Olanzapin [6]. Während die Behandlung mit Haloperidol mit einer signifikanten Reduktion der grauen Substanz assoziiert war, wurde dies bei Patien- ten, die mit Olanzapin behandelt worden waren, nicht beobachtet. Für diese Beobachtung gibt es zwei mögliche Erklärungen: Haloperidol wirkt neurotoxisch, Olanzapin jedoch nicht; oder: bei Patienten, die mit Haloperidol behandelt wurden, wurde der natürliche Verlauf beobachtet, der bei mit Olanzapin behandelten Patienten verzögert wurde. Für solche neuroprotektiven Wirkungen von Antipsychotika vor allem der zweiten Generation gibt es auch Hinweise aus verschiedenen Tiermodellen (Übersicht in [7]). DAlle bisher durchgeführten Studien haben methodische Schwächen. Das gilt auch für die eingangs erwähnte Studie von Ho et al. [4]. Zwar fanden diese Autoren einen Zusammenhang zwischen Hirnvolumenreduktion und kumulierter Antipsychotikadosis auch dann noch, wenn sie für den Schweregrad der Erkrankung korrigierten. Die Patienten, die die höchsten Antipsychotikadosierungen erhalten hatten, hatten jedoch bereits bei Studienbeginn signifikant kleinere Hirnvolumina als die Patienten, die niedrige bis mittlere Dosierungen erhalten hatten. Es kann also sein, dass die Patienten, bei denen der neurodegenerative Prozess das stärkste Ausmaß hatte (und die deshalb wahrscheinlich auch am schwersten krank waren), mit den höchsten Antipsychotikadosierungen behandelt worden waren. Dann hätten Ho et al. keine kausale Beziehung beschrieben, sondern eine reine Assoziation. So räumen sie denn auch ein: Assoziationen zwischen kleineren Hirnsubstanzvolumina und mehr antipsychotischer Behandlung mögen, obwohl wir den Schweregrad der Erkrankung als Kovariate berücksichtigt haben, durch diesen vermittelt sein. [4]. Zudem waren nur 31 der 211 in der Studie untersuchten Patienten Antipsychotika-naïv. Der größte Teil der Patienten hatte also zum Zeitpunkt der Behandlung schon eine medikamentöse Behandlung erfahren, im Mittel für die Dauer von 0,43 Jahren. Eine definitive Antwort auf die Frage, welchen Einfluss eine antipsychotische Pharmakotherapie auf die Hirnstruktur von Patienten mit Schizophrenien hat, wird man nur durch eine prospektive randomisierte Langzeitstudie an ersterkrankten, niemals zuvor antipsychotisch behandelten Patienten erhalten. Die eine Hälfte der Patienten müsste man der klinisch üblichen Dauermedikation unterziehen, die andere nach Möglichkeit – zumindest für die Dauer von einigen Wochen, besser Monaten – gar nicht medikamentös behandeln. Das wirft erhebliche ethische Probleme auf, da alle internationalen Leitlinien schon nach der ersten Episode einer schizophrenen Störung eine längerfristige antipsychotische Erhaltungstherapie empfehlen. Auch Ho et al. kommen zu dem Schluss: Die Aussagekraft der Studie hätte durch Kontrollgruppen gestärkt werden können, z. B. Patienten mit Schizophrenien, bei denen man verzögert oder gar nicht antipsychotisch behandeln würde […]. Ethische Standards verbieten jedoch solche Kontrollgruppen. [4] Der unsicheren Datenlage nicht angemessen sind Forderungen, nach Möglichkeit auf eine antipsychotische Behandlung ganz zu verzichten, oder Behauptungen, dass Antipsychotika „das Leiden, das sie heilen sollen, sogar verschlimmern“ (Der Spiegel vom 21.01.2013). Dutzende von Studien, die in den vergangenen 5 Jahrzehnten durchgeführt wurden, zeigen, dass Patienten, die keiner medikamentösen Rezidivprophylaxe unterzogen wer- den, erheblich häufiger psychotische Rezidive erleiden als Patienten, die medikamentös rezidivprophylaktisch behandelt werden. Das gilt auch für die sog. Intervalltherapie (oder intermittierende Therapie), bei der eine antipsychotische Pharmakotherapie nach Abklingen der akuten Episode abgesetzt und bei Wiederauftreten psychotischer Symptome wieder begonnen wird (z. B. [3]). Zudem legen zahlreiche Studien nahe, dass eine frühzeitige medikamentöse Behandlung einer schizophrenen Störung im Vergleich zu einer verzögert einsetzenden Behandlung das langfristige Behandlungsergebnis verbessert (z. B. [10]). Dies wird vollständig durch weitere Analysen der Daten gestützt, die Andreasen et al. leider erst jetzt, 2 Jahre nach ihrer ersten Aufsehen erregenden Publikation [4], veröffentlichten. Danach ist der Verlust an Hirnvolumen bei Patienten mit Schizophrenien nicht nur mit der Dosis der verabreichten Antipsychotika, wie ursprünglich beschrieben, sondern ebenso mit der Dauer der beobachteten psychotischen Rezidive assoziiert [1]. Der statistisch stärkste Zusammenhang findet sich nun nicht zwischen Volumenreduktion und Antipsychotikadosis, sondern zwischen Verlust an Substanz im frontalen Kortex und Rezidivdauer! Jedes länger dauernde Rezidiv hat somit einen neurotoxischen Einfluss auf eine im Rahmen schizophrener Störungen zentral involvierte Hirnregion. Was ist also aus den verfügbaren Daten zu folgern? Fachnachrichten FDie Indikation zu einer antipsychotischen Pharmakotherapie ist streng zu stellen und im Behandlungsverlauf immer wieder zu überprüfen. FEs ist die niedrigste wirksame Dosis zu wählen. FEs sind Studien mit intelligenten Designs anzustreben, in denen prospektiv und randomisiert verschiedene Behandlungsstrategien mit dem Ziel der Nutzen-Risiko-Evaluation miteinander verglichen werden, um jedem Patienten künftig ein individuelles Behandlungskonzept anbieten zu können. FDie pharmazeutische Industrie sollte sich die Entwicklung neuroprotektiver und -regenerativer Pharmaka zum Ziel setzen. Korrespondenzadresse Prof. Dr. G. Gründer Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen [email protected] Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor weist auf folgende Beziehungen hin: G. Gründer war in den letzten 2 Jahren bzw. ist aktuell als Berater der folgenden Firmen tätig: Bristol-Myers Squibb (New York, NY, USA), Cheplapharm (Greifswald, Deutschland), Eli Lilly (Indianapolis, Ind, USA), Forest Laboratories (New York, NY, USA), Lundbeck (Kopenhagen, Dänemark), Otsuka (Rockville, Md, USA), Roche (Basel, Schweiz) und Servier (Paris, Frankreich). Er war bzw. ist in Zukunft als Sprecher tätig für die folgenden Firmen: Bristol-Myers Squibb, Eli Lilly, Gedeon Richter, Otsuka, Roche und Servier. Er hat Mittel für die Durchführung von Forschungsprojekten von folgenden Firmen erhalten: Alkermes, Bristol-Myers Squibb, Eli Lilly und Roche. Er ist Mitbegründer der Firma Pharma-Image – Molecular Imaging Technologies GmbH, Düsseldorf. Literatur 1. Andreasen NC, Liu D, Ziebell S et al (2013) Relapse duration, treatment intensity, and brain tissue loss in schizophrenia: a prospective longitudinal mri study. Am J Psychiatry. DOI 10.1176/appi. ajp.2013.12050674 2. Chakos MH, Lieberman JA, Bilder RM et al (1994) Increase in caudate nuclei volumes of first-episode schizophrenic patients taking antipsychotic drugs. Am J Psychiatry 151:1430–1436 3. Gaebel W, Riesbeck M, Wölwer W et al (2011) German Study Group on First-Episode Schizophrenia. Relapse prevention in first-episode schizophrenia – maintenance vs intermittent drug treatment with prodrome-based early intervention: results of a randomized controlled trial within the German Research Network on Schizophrenia. J Clin Psychiatry 72:205–218 1122 | Der Nervenarzt 9 · 2013 4. Ho BC, Andreasen NC, Ziebell S et al (2011) Longterm antipsychotic treatment and brain volumes: a longitudinal study of first-episode schizophrenia. Arch Gen Psychiatry 68:128–137 5. Konopaske GT, Dorph-Petersen KA, Sweet RA et al (2008) Effect of chronic antipsychotic exposure on astrocyte and oligodendrocyte numbers in macaque monkeys. Biol Psychiatry 63:759–765 6. Lieberman JA, Tollefson GD, Charles C et al (2005) HGDH Study Group. Antipsychotic drug effects on brain morphology in first-episode psychosis. Arch Gen Psychiatry 62:361–370 7. Lieberman JA, Bymaster FP, Meltzer HY et al (2008) Antipsychotic drugs: comparison in animal models of efficacy, neurotransmitter regulation, and neuroprotection. Pharmacol Rev 60:358–403 8. Moncrieff J, Leo J (2010) A systematic review of the effects of antipsychotic drugs on brain volume. Psychol Med 40:1409–1422 9. Haren NE van, Hulshoff Pol HE, Schnack HG et al (2007) Focal gray matter changes in schizophrenia across the course of the illness: a 5-year follow-up study. Neuropsychopharmacology 32:2057–2066 10. Wyatt RJ, Green MF, Tuma AH (1997) Long-term morbidity associated with delayed treatment of first admission schizophrenic patients: a re-analysis of the Camarillo State Hospital data. Psychol Med 27:261–268 Ausstellungseröffnung Outsider-Art Im Psychiatrischen Zentrum Nordbaden wird schon immer gemalt. Beraten durch Mitarbeiter der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg wurden nun Arbeiten für die Ausstellung „Einblick – Anblick – Ausblick“ zusammengestellt. Die Bilder werden anlässlich des Internationalen Tages der Seelischen Gesundheit am 13. Oktober 2013 im Psychiatrischen Zentrum Nordbaden der Öffentlichkeit präsentiert. Verbunden damit ist die Herausgabe eines Kataloges mit einem Text von Dr. Thomas Röske „Kunst von PsychiatrieErfahrenen – ihre Bedeutung heute“ und einer Darstellung von Kunst-und Gestaltungstherapie im Gegensatz zum „Offenen Atelier“ von Klemens Bleier. Im Fokus der Ausstellung steht die faszinierende Kreativität der Künstler, die im Zusammenhang mit ihrem Aufenthalt im Psychiatrischen Zentrum Nordbaden außerordentliche Bilder geschaffen haben. Heute erfahren Werke, die in einer psychischen Ausnahmesituation entstanden sind, in der Kunstwelt Anerkennung, Bewunderung und Wertschätzung und es gibt einen eigenen Kunstmarkt dafür. International zeigen Museen, Sammler und Galerien sog. Außenseiter-Kunst. Viele Künstler haben sich mit der Kunst von Außenseitern, der Kunst psychisch Kranker und geistig Behinderter auseinandergesetzt. Sie haben sich begeistern lassen von der Ursprünglichkeit, der eigenen Ästhetik und sich durch die Formensprache und Komposition inspirieren lassen. Quelle: Psychiatrisches Zentrum Nordbaden, www.pzn-wiesloch.de