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Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Dezember 2016
Das Paradies ist nicht verloren
Was uns Händels „Messiah“ bedeuten kann
Kurz vor Weihnachten erklingt im Großen Musikvereinssaal wieder Händels „Messiah“. GeorgAlbrecht Eckle ist der tieferen Botschaft dieses „Wunderwerks“ nachgegangen.
„Ein Stück vom Paradies“ – möchte man von Händels „Messiah“ sagen. Diese Musik ist bis
zur Provokation positiv auch dann, wenn sie die tragische Dimension öffnet. In
Schicksalsmomenten, in denen man nicht mehr bereit ist, an etwas zu glauben, treibt diese
Musik uns vor sich her mit Pauken und Trompeten, mit sprühenden Ideen, mit
Unerschütterlichkeit: sodass wir tränenden Auges und erschöpft das „Hallelujah“ mitjubeln.
Jeder Zeit ihren „Messiah“
Diese Positivität blieb zu allen Zeiten der Rezeption konstant, selbst wenn sich jede
geschichtliche Periode sozusagen „ihren“ Händel’schen „Messias“ eigens kreierte in der
jeweiligen aufführungspraktischen Zurüstung: weil man Händels Botschaft meinte, verstärken
zu müssen, um an die Menschen zu gelangen – etwa im Geiste des 19. Jahrhunderts; oder
meinte, man müsse ihn auf das relative musikalische Minimum der Mittel „historisch“
zurückführen – wie im vergangenen Jahrhundert und vornehmlich bis heute, um seine „wahre“
Gestalt zumindest ästhetisch zu offenbaren.
Beides hat sein Recht, Händel aber hat beides nicht nötig; denn die eine wie die andere
ästhetische Lesart ist nur bedingt bedeutend für die Botschaft dieses Wunderwerks, selbst
wenn es doch nicht einmal als „musica sacra“ gedacht und gemacht ist. Es ist eindeutig
zunächst als „Unterhaltung“ nur in Theatern realisiert worden, eher im Sinne eines
opernhaften Spektakels kategorisiert. Und erst durch die gewaltige Erhebung in der Reaktion
des Publikums, jene momentane Offenbarung des „Erhabenen“, die von sich reden machte,
ist es in die Kirchen gelangt. Neun Jahre nach der Uraufführung fand der „Messiah“ erstmals
in einer Kirche statt: 1750 in der Chapel des Foundling Hospital, eines Londoner
Waisenhauses, und zwar wieder im Konnex mit einem sozialen Engagement.
Werk der Hoffnung
Wieder? Weil es schon bei der Uraufführung des „Messiah“ so war, geschehen, denkwürdig
genug, in Dublin. Bezeichnend, dass dieser unerhörte heilsgeschichtliche Dreiteiler „Messiah“
– Geburt des Erlösers, Hingang und Erhöhung, Offenbarung der erwarteten Wiederkunft –
einen Anlass hatte: Benefiz für die irischen Armen, Leidenden, Verzweifelten, Gefangenen,
Geknechteten – zu dem sich Händel auf Einladung entschlossen hatte, ein Werk der Hoffnung
zu liefern.
Im November 1741 reiste er nach Dublin, um die Uraufführung am 13. April 1742 bis ins Letzte
vorzubereiten und mit dem „Messiah“ den gewaltigsten, bewegendsten Moment seines
Lebens zu erleben: den „Triumph“ der Heilsgewissheit, die er durch Musik Menschen aller Art
vermittelt hatte. Da wurden Hörer, wahrhaft Betroffene, vom Sitz gerissen – und nicht nur beim
„Hallelujah“, bei dem sich das Publikum wie von oben gerührt erhob; die wohl an der Grenze
zu theatralischer Eindringlichkeit gewagte Realisation der Altarie „He was despised and
rejected“ durch die deklamatorisch außergewöhnliche Schauspielerin und Sängerin Susanna
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Cibber muss Identifikationen in Hörern ausgelöst haben, die zu unerhörten Szenen der
Ergriffenheit führten – Händel hat die Altpartie der Sängerin sozusagen auf den Leib
geschrieben.
Einzigartige Synthese
Man kann diese Art der Bewegtheit kaum anders erklären als mit der Wirkung des
„Erhabenen“, das sich in diesem Händel’schen Monument eben als menschliche Nähe
offenbart haben muss: als etwas für alle, die sich im Weg des Erlösers selbst finden, gleich
welcher „couleur“ oder religiösen Provenienz sie nun gewesen sein mögen. Einer Musik war
es gelungen, gerecht und gut für alle zu sein durch dieses eine Moment, jene „simplicity“, die
für Händel spätestens seit dem „Messiah“ sprichwörtlich wurde.
Wie konnte Händel zu dieser überwältigenden „simplicity“ gelangen? Es ist die Gewalt einer
einzigartigen Synthese auf mehreren Ebenen. Die Positivität dieser Musik hat ihren
dialektischen Prozess in Händels Bewusstsein, Geschichte und Persönlichkeit bereits
dergestalt durchlebt, dass sie jede Art Ideologie natürlich von sich weist und stets offen ist für
die neue „Synthese“ auf höherer Ebene. Das Material dieses Prozesses ist vielschichtig und
sei hier ausgebreitet:
1
Der „Messiah“-Auftrag trifft Händel trotz seines gewaltigen Ruhms an einem
lebensgeschichtlichen Tiefpunkt: nicht nur, dass er körperlich bedroht ist nach einem
Schlaganfall und in Kuren Linderung suchen muss; sein Erfolg als Meister der italienischen
Oper in London versinkt und zerbricht an wirtschaftlichen Schwierigkeiten mit den Kompanien
– er zieht sich von der Oper zurück und sucht die dramatische Kraft in epischer Form, die ihm,
wie er sogleich spürt, mental weit mehr entgegenkommt. Ziel ist eine objektivere Form der
Stoffverarbeitung aus biblischem oder antikem Mythos als Synthese der Gattungen episch,
lyrisch, dramatisch.
2
Händels mitteldeutsch-pietistische Hallenser Herkunft, die sich einst in Passionsmusiken
niederschlug, kehrt nun als neue Innerlichkeit zurück. Nach des jungen Händel extensiver
Italien-Phase als spirituellster Inspirator der italienischen Operntradition, als Matador sodann
der italienischen Oper in Britannien und kosmopolitisch geöffneter Deutsch-Brite der
damaligen Zeit lässt er das anglikanische Verständnis des Christentums in sich ein und
orientiert sich musikalisch in „Odes“ und „Anthems“ an der englischen Bibel und einem
weltoffeneren Protestantismus. Die „theologia crucis“ ist hier nicht wie in deutschen Landen
die Glaubensmitte. Die Synthese aus Händels römisch-katholischer Erfahrung, aus
lutherischer Herkunft und anglikanischer Aufklärung macht das Monument „Messiah“ auf
diesem toleranten Niveau überhaupt erst möglich.
3
Händel nimmt die besondere Aufgabe des Angebots aus Dublin als Schickung des Himmels,
um das Reflektive in seiner Kunst bei höchster Einfachheit aus dem Geiste der Botschaft zu
entfalten. Mit „Messiah“ bringt er eine Lawine des messianischen Bewusstseins geradezu
europäisch ins Rollen – literarisch gesprochen zwischen Milton, der 1674 starb, und Klopstock,
der als deutscher „Messias“-Dichter gleichzeitig am Werk ist.
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Die Botschaft des Händel’schen „Messiah“ ist nämlich ebenso sakral wie säkular und damit
aus dem Geiste Miltons: Sie nimmt nur das große biblische Thema der Heilsgeschichte und
ihre Verheißungen zum Gegenstand, und zwar ganz neuartig auf ‚poetische‘ Weise, dadurch
nämlich, dass der ‚Librettist‘ Charles Jennens, eine wichtige aufklärerische Gestalt, die
englische Bibel selbst als Dichtung begreift und eine „Messiah“-Anthologie der
Verheißungsmomente, überwiegend aus dem Alten Testament, aufbaut; und die lässt er
Händel musikalisch transportieren.
Sein Bewusstsein ist geprägt von Miltons Poesie, namentlich von der allgegenwärtigen Macht
des „Paradise lost“, aber eben auch vom weniger ernsthaft rezipierten „Paradise regained“,
dem zweiten, späteren Teil der weltumspannenden Dichtung, der Jesus im Mittelpunkt hat,
weniger den Sündenfall und Teufel, was natürlich für die Rezipienten reizvoller ist.
4
Jennens Rechnung ging auf: Händel war den politisch-sozialen Anstößen Miltons gegenüber
offen, und der war ein ausgemachter Republikaner. Händels Musik setzt nichts voraus. Sie ist
religiös, durchaus christlich im Sinne des christlichen Abendlandes, aber in einem modernen
Sinn tolerant, um nicht zu sagen: Diese Musik ist bereits demokratisch. Und so wird Milton zum
Übervater auch des „Messiah“ – zudem hatte Händel mit Jennens just zuvor Milton-Gedichte
oratorisch umgesetzt („L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato“) und unmittelbar nach
„Messiah“ konsequent mit dem hochdramatischen Milton-Oratorium „Samson“ von 1743
weitergeführt, dessen Text wiederum Jennens aufgrund von Miltons „Samson Agonistes“
zubereitet hatte. Ohne Milton hätte es denn auch den deutschen „Messias“-Promotor
Klopstock nicht gegeben, der, von Milton erfasst, sein deutsches „Messias“-Versepos über
Jahrzehnte schrieb und den entscheidenden Entwicklungsschub im dichterischen Prozess
durch die Hamburger Aufführung des Händel’schen „Messiah“ von 1775 gewann; auch
übersetzte er Jennens-Text – gültig geblieben, bis Herder ihn 1780 noch besser in den Griff
bekam.
Der Himmelshelfer
Lässt man Nummer für Nummer dieses enormen Werkes in sich anklingen und die
musikdramaturgisch geniale Einheit, die erwiesen ist trotz vielerlei anderslautender
Spekulationen, auf sich wirken, bemerkt man an Händels Zugriff, dass er mit seiner Musik
ästhetisch Modelle schafft, mit denen, wie Laurenz Lütteken formuliert, „das komponierte Werk
selbst neue Maximen des Komponierens mitformuliert“. Seine Mission erkennt er jedoch darin,
dass er für Menschen mit natürlichem Gefühl eine gesunde Hoffnung konkretisiert: zur
sinnlichen Präfiguration des kommenden Heils. Damit wir er gleichsam, um es mit Hölderlin zu
sagen, zum „Himmelshelfer“.
Georg-Albrecht Eckle
Georg-Albrecht Eckle lebt in München und ist Autor und Regisseur - mit einem besonderen
Akzent auf dem Dialog zwischen Wort und Musik.
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