Jan P. Beckmann Ethik nach Maßgabe des Rechts? Eine kritische Herausforderung (Vortrag Erlangen 13.7.2003) Gliederung 1. Einführung 1.1 Ethik und Recht 1.2 Ethik versus Recht 2. Zu Terminologie und Sachhaltigkeit des Verhältnisses von Ethik und Recht 2.1 Deskriptivität und Normativität 2.2 Prozessualität und Invarianz 2.3 Freiheit und Zwang 3. Über Möglichkeiten und Grenzen des Verhältnisses von Ethik und Recht 3.1 Beispiel Stammzellforschung: Ethik nach Maßgabe des Rechts? 3.2 Beispiel Patientenverfügung: Ersetzung des ärztlichen durch richterlichen Paternalismus? 4. Schluß © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 2 Jan P. Beckmann Ethik nach Maßgabe des Rechts? Eine kritische Herausforderung 1. Einführung Das seiner Natur nach vielgestaltige Beziehungsgefüge zwischen Ethik und Recht erfährt seit kurzem Akzentuierungen, deren Tragweite noch nicht zur Gänze abzuschätzen ist. Was früher eher in Gelehrtenstuben und Hörsälen geschah und sich seit geraumer Zeit zunehmend auch öffentlich vollzieht, beginnt nun Eingang in Gesetzesvorbereitungen und Gesetzesbeschlüsse zu finden: die Diskussion darüber, welche ethischen Wertvorstellungen ein hinreichendes Maß an Konsens in der Öffentlichkeit gefunden haben, so dass sie als Bestandteil der geltenden Moral angesehen werden und – sofern rechtliche, vor allem grundrechtliche Fragen berührt sind – in positives Recht umgesetzt werden können. Es ist sicher kein Zufall, dass die zunehmende Veröffentlichung dieses Diskurses und die Zusammenarbeit zwischen Ethik und Recht zeitlich mit der schwer bestimmbaren Folgelast neuester Entwicklungen in Wissenschaft und Technik, insbesondere in den Bio-Wissenschaften, einhergeht. Dies aus einem doppelten Grunde: Manche der von den Bio-Wissenschaften etablierten Handlungsoptionen entwickeln sich mit einer Schnelligkeit, die den Dialog über Können und Dürfen in der Öffentlichkeit zu überholen droht. Andere Handlungsoptionen resultieren aus Entwicklungen, die seit längerem bekannt und auch von der Öffentlichkeit mehrheitlich akzeptiert sind (wie IVF zur Behandlung ungewollter Kinderlosigkeit), deren Übertragbarkeit auf andere Handlungsfelder jedoch nicht vorausgesehen wurde und hinsichtlich ihrer ethischen Zulässigkeit nunmehr kontrovers diskutiert wird. Nun wird das Verhältnis von Ethik und Recht unterschiedlich begriffen: Manche sehen darin den Zusammenhang zwischen Werten und Gesetzen, andere wiederum den Zusammenhang zwischen Moral und Gesetzgebung und schließlich wieder andere den Zusammenhang zwischen Geltungsanalysen und Bindungszwang. Derartige Annahmen © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 3 setzten immer schon Klarheit über die Begriffe „Ethik“ und „Recht“ voraus. Erst eine vorgängige begriffliche Klärung macht die beiden Fragen behandelbar, mit denen ich mich im Folgenden beschäftigen möchte, die Frage nämlich nach dem Verhältnis zwischen Ethik und Recht, und sodann die Frage, wie sich dieses Verhältnis an zwei ganz unterschiedlichen Beispielen darstellt. Hinsichtlich der ersten Frage wird es im Wesentlichen um die Logik des „und“ gehen, im Hinblick auf die zweite Frage um die Beispiele der Stammzellforschung auf der einen und des Umgangs mit dem Patientenwillen bei aktueller Nicht-mehr-Ansprechbarkeit auf der anderen Seite. Die beiden Beispiele sind bewusst so unterschiedlich gewählt, um die Spannweite der Anwendung des Verhältnisses von Ethik und Recht deutlich zu machen. 1.1 Ethik und Recht Der Gedanke eines engen Miteinanders von Ethik und Recht ist schon alt. In „antiken und mittelalterlichen Naturrechtslehren, die Recht und Sittlichkeit als einheitliche Vernunftordnung für das menschliche Handeln verstehen“1, nimmt die Verbindung zwischen beiden nahezu Identitätsform an: Das Recht ist „sittliche Pflicht“ (Schreiber). Es ist aber nicht deswegen sittliche Pflicht, weil es Recht ist, sondern es ist Recht, weil es sittliche Pflicht ist. Das Recht gilt als Kodifizierung des von Natur aus Gesollten. Erst in der Neuzeit faltet sich dieser Zusammenhang auseinander: Das Recht bezieht sich auf Handlungen, die sittliche Pflicht hingegen auf innere Haltungen. Der naturrechtlich orientierte Hintergrund tritt zurück zugunsten einer Auffassung vom Recht als des positiv Gesetzten. Im Recht tritt eine vom Individuum verschiedene Autorität auf den Plan, sei es in Form eines Herrschers, sei es in Form des Staates. Der Bürger erfährt das Recht im Modus des Zwanges: dem Recht muss Folge geleistet werden. Dem steht auf der anderen Seite die sittliche Pflicht gegenüber, welche nicht äußerem Zwang, sondern innerer Überzeugung entspricht. Um diese Überzeugung vor der Beliebigkeit individueller Variabilität zu schützen, unterscheidet Kant zwischen einer Rechtspflicht und einer Tugendpflicht: erstere ist durch das Merkmal der Legalität und Erzwingbarkeit, letztere durch das Merkmal der Moralität und Freiheit gekennzeichnet. Kant: „Alle Gesetzgebung…kann doch in Ansehung der Triebfedern unterschieden sein. Diejenige, welche eine Handlung zur Pflicht und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht, ist ethisch. Diejenige aber, welche das Letztere nicht im © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 4 Gesetz mit einschließt, mithin auch eine andere Triebfeder als die Idee der Pflicht zulässt, ist juridisch“2. Doch versucht Kant, rechtliche und sittliche Pflichten wieder aufeinander zu beziehen: Beide sind durch den Kategorischen Imperativ festgelegt, wonach man stets nur nach solchen Maximen handeln soll, „die jederzeit als allgemeines Gesetz gedacht werden können“. Das Recht schafft nicht sittliche Subjekte, es setzt sittliche Subjekte voraus. So einleuchtend Letzteres auf den ersten Blick sein mag, so problematisch zeigt es sich auf den zweiten Blick. Denn das vom Recht vorausgesetzte sittliche Subjekt ist von Natur aus geneigt, sich nach seinen eigenen moralischen Intuitionen zu bestimmen – in traditioneller Sprache: seinem eigenen Gewissen zu folgen –; dies jedoch kann von Individuum zu Individuum sehr unterschiedlich ausfallen. Eine derartige Individualisierung böte mithin für die Fundierung der Geltung des Rechts kaum eine geeignete Grundlage. Die vom Recht vorausgesetzten sittlichen Subjekte müssen nämlich bereits einen das Recht fundierenden Konsens gefunden haben. Aber auch dann bleibt das Problem bestehen, wie man die von der überwiegenden Mehrheit der Subjekte konsentierte, das Recht begründende Sittlichkeit auch für diejenigen Subjekte als verbindlich ansehen kann, die sich nicht zu dieser überwiegenden Mehrheit zählen. 1.2 Ethik versus Recht So bleibt es bei einer folgenreichen Asymmetrie: Während es in ethischer Sicht infolge des Wertepluralismus nur sehr schwer Konsense und in aller Regel eher Dissense gibt, gelten die rechtlichen Reglungen ausnahmslos für alle und jeden. Mit Hilfe des Rechts lässt sich ein möglicher ethischer Dissens in der Gesellschaft zwar nicht lösen, in seinen Auswirkungen aber in eng begrenzte Bahnen lenken. Es ist insoweit nicht verwunderlich, dass angesichts der neuen von den Wissenschaften etablierten Handlungsoptionen immer wieder nach rechtlichen Regelungen gerufen wird. Der Preis hierfür ist freilich nicht unerheblich: - Da ist zum ersten die natürliche Schwerfälligkeit der Legislative: Das Recht „hinkt“ stets hinter der Entwicklung her. Kaum ist eine von den Wissenschaften H. L. Schreiber, Artikel „Rechtspflicht“, in: J. Ritter et al. (Hg): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 174ff, Band 8, Spalte 310 1 2 I. Kant: Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797); Akademie Ausg. 6, 218 f © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 5 etablierte neue Handlungsoption rechtlich geregelt, schon zeigt sich infolge des Fortschreitens der Forschung erneuter rechtlicher Regelungsbedarf. - Sodann: Das Recht regelt – ethisch gesehen – stets nur den moralischen Minimalkonsens, das heißt, die Allgemeinverbindlichkeit rechtlicher Regelungen ist nur um den Preis moralischer Minimalität zu haben. - Drittens und vor allem: Das Recht ist seiner Natur nach regelungsorientiert, während Ethik und Moral kulturorientiert sind. Das Recht bezieht sich im Wesentlichen auf Handlungen bzw. deren Unterlassung, Ethik und Moral hingegen auf Haltungen und Einstellungen. Regelungen gehen den Handlungen voraus, sie normieren, aber sie antizipieren nicht; Haltungen hingegen gehen einerseits Handlungen voraus, andererseits unterliegen sie dem Einfluss von Handlungen; sie besitzen ein hohes Flexibilitätspotential. Angesichts moralischer Konflikte und mehr noch in Anbetracht des Wertepluralismus der modernen, weitgehend säkularisierten Industriegesellschaft erwarten viele Bürger eine Konflikt-„Lösung“ von der Judikative bzw. ggf. von der Legislative. Als Beispiele hierfür seien die Transplantationsmedizin und jüngst die Stammzellforschung genannt. Nicht selten ist es auch die Rechtsprechung selbst bzw. der Gesetzgeber, die von sich aus die Initiative ergreifen und de lege lata bzw. de lege ferenda moralische Konflikte zu vermeiden oder zumindest zu steuern suchen. Beispiele hierfür sind Fragen der Zulässigkeit von Gentests im Versicherungswesen und – besonders komplex – Fragen der Beachtung des Patientenwillens bei nicht (mehr) einwilligungsfähigen chronisch Schwerstkranken sowie Patienten in der Terminalphase. Die Erwartung von Bevölkerung, Justiz und Parlament, dass mit Hilfe von Gesetzen – bestehenden wie zu beschließenden – schwerwiegende moralische Konflikte „gelöst“ oder gar vermieden werden können, erfüllt sich jedoch nur selten. So herrscht z. B. trotz der vom Gesetzgeber geschaffenen Rechtssicherheit in der Frage der postmortalen Organspende und Transplantation bei Bürgern und Ärzten weiterhin große Unsicherheit: Mancher Bürger mißtraut dem Hirntodkriterium als sicherem materialen Todeskriterium, obwohl dasselbe medizinisch-wissenschaftlich zweifelsfrei etabliert ist, und manche Klinik und mancher Arzt scheut eine postmortale Organentnahme trotz fehlenden Widerspruchs des Verstorbenen, weil man entweder den Angehörigen die entsprechende Anfrage ersparen möchte oder weil man den Konflikt mit Angehörigen, die die ausdrückliche Spendeverfügung ihres verstorbenen Angehörigen nicht akzeptieren, vermeiden will. © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 6 Künftige Verunsicherung ist zu erwarten, wenn der Gesetzgeber im Rahmen eines Gentestgesetzes den Versicherungsmarkt Bürger und vor Benachteiligungen zugleich die Arbeitgeber auf und dem Arbeits- und Versicherungen vor Auskunftsbetrug und Antiselektion zu schützen sucht. Die genannten unrealistischen Erwartungen an das moralische Konflikt- “Lösungspotential“ des Rechts beruhen möglicherweise auf einer inadäquaten Wahrnehmung der unterschiedlichen Natur und der je eigenen Aufgabenstellung von Ethik und Recht. 2. Zu Terminologie und Sachhaltigkeit des Verhältnisses von Ethik und Recht 2.1 Deskriptivität und Normativität Im gängigen Sprachgebrauch haben die beiden Termini „Ethik“ und „Recht“ einen unterschiedlichen Status; unter „Recht“ wird gemeinhin die Gesamtheit von Gesetzen und Verordnungen verstanden, einschließlich deren Auslegung, Anwendung und Fortentwicklung durch die Rechtssprechung. Der Terminus „Recht“ ist insoweit ein Beschreibungsbegriff: Er betrifft Vorhandenes. Anders der Terminus „Ethik“: Hiermit sind die Analyse und Reflexion von Normen und Argumenten gemeint, mit deren Hilfe bestimmte Handlungen in einer gegebenen Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit als „moralisch“ qualifiziert gelten. „Ethik“ ist mithin ein Reflexionsbegriff. Er beschreibt nicht etwas Vorhandenes, sondern er benennt eine bestimmte Art und Weise, wie wir mit Vorhandenem (hier: mit Moral) umgehen. Ethik ist Rede über Moral, sie ist Metamoral. Dem skizzierten Alltagsverständnis von „Recht“ entsprechend können Recht und Ethik mithin nicht, zumindest nicht so ohne weiteres als auf ein und derselben Ebene stehend bezeichnet werden. Hierzu bedarf es der Angabe der Vergleichbarkeit resp. eines gemeinsamen Fokus. Als etwas Vorhandenes steht das Recht nicht der Ethik, sondern der Moral gegenüber: Beide Begriffe stellen jeweils die Gesamtheit von Vorschriften Schlechtes vermeidender und Gutes zu bewerkstelligender Handlungen bzw. Unterlassungen dar, die von den Mitgliedern einer gegebenen Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit zu befolgen sind. Dessen ungeachtet lässt sich der Terminus „Recht“ mit demjenigen der „Ethik“ auf eine gemeinsame Stufe stellen, wenn man den Charakter der Relationalität (nicht Relativität) beider in Rechnung stellt. In beiden Fällen werden nämlich Handlungen in Beziehung gesetzt zu Maßstäben bzw. Normen. Rechtens bzw. rechtsförmig ist, was den Gesetzen entspricht; ethisch legitim oder zulässig ist, was sich © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 7 durch argumentative Analyse als mit der bestehenden Moral vereinbar erweist. Es ist dieser relationale Charakter, der die notwendige Voraussetzung für eine Nebeneinanderstellung von Ethik und Recht schafft; noch nicht aber die hinreichende Voraussetzung. 2.2 Prozessualität und Invarianz Ethik und Recht teilen nicht nur die Gemeinsamkeit, dass sie sich beide auf etwas Vorgegebenes beziehen – das Recht auf Gesetze, die Ethik auf Normen - , sondern sie besitzen darüber hinaus die weitere Gemeinsamkeit, dass ihr jeweiliger Bezugspunkt nichts Statisches, Unveränderliches, sondern etwas Prozesshaftes darstellt: Der Terminus „Recht“ bezeichnet nicht nur das vorhandene Recht, sondern darüber hinaus auch das zu entwickelnde Recht (vgl. die unter Juristen übliche Unterscheidung zwischen de lege lata und de lege ferenda). Das Recht muss immer wieder den Gegebenheiten in einer Gesellschaft angepasst werden; diese Gegebenheiten können sowohl Ergebnis erstmals etablierter wissenschaftlicher Handlungsoptionen als auch Resultat veränderter Einstellungen der Gesellschaft sein. Ähnlich steht es mit der Ethik: Auch sie kennt nicht nur etablierte und bewährte Normen, sondern entwickelt auch neue (jüngstes Beispiel: Recht auf Nichtwissen). Ethik und Recht teilen schließlich noch eine dritte Gemeinsamkeit: die Überzeugung ihrer Vertreter nämlich, dass es bei aller Prozessualität und Veränderung so etwas wie Höchstprinzipien gibt, die zwar nicht zeitlos, doch von hoher Zeitinvarianz sind. In diesem Sinne spricht man im Recht von unverzichtbaren Menschenrechten, und auch unser Grundgesetz spricht von Grundrechten, die von der Verfassung nicht zur Disposition gestellt werden können (vgl. die sog. „Ewigkeitsgarantie“ nach Art. 27 GG). Ähnlich verhält es sich mit der Ethik, in der die Unantastbarkeit der Würde des Menschen und der Schutz menschlichen Lebens sowie die Achtung vor der Unverletzlichkeit der Person einen über die Zeiten hinweggehenden Rang besitzen. Die entsprechende Gemeinsamkeit von Ethik und Recht besteht darin, rechtliche Festsetzungen wie moralische Normierungen an unverrückbaren Grundrechten resp. ethischen Höchstprinzipien zu orientieren; Ethik und Recht stellen insoweit gleichermaßen Kulturleistungen dar. © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 8 2.3 Freiheit und Zwang Hinsichtlich der Leistungsfähigkeit von Ethik und Recht in Bezug auf die BioWissenschaften ist festzustellen, dass diese Disziplinen – und dies mit großer Rasanz – neue Handlungsoptionen etablieren, die die ständige Gefahr eines Zurückbleibens sowohl rechtlicher Regelungen als auch ethischer Reflexionen heraufbeschwören (jüngstes Beispiel: die Frage der Erlaubtheit der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen). In Bezug auf die von den Wissenschaften in großer Schnelligkeit und mit immer größerer Tragweite etablierten Handlungsoptionen hat das Recht die Aufgabe, Regelungen zu treffen, die den Einzelnen und auch die Gesellschaft als ganze vor Fehlentwicklungen schützen, und die Ethik hat die Aufgabe, sowohl einen Beitrag zur Begründung neuer rechtlicher Regelungen zu leisten als auch Begründungen dafür anzugeben, warum über die Befolgung des Rechts hinaus die Kultur einer Gesellschaft darin besteht, aus Freiheit heraus moralische Grenzen einzuhalten. Im Hinblick speziell auf die Medizin besteht die Aufgabe von Ethik und Recht darin, gemeinsam sicherzustellen, dass bisherige wie vor allem neue Handlungsoptionen in der Medizin weder rechtlich überreguliert noch moralisch unterbestimmt bleiben, getreu dem Prinzip: soviel rechtliche Regelung wie notwendig, soviel Freiheit wie möglich. Das Recht nämlich untersteht dem Prinzip der Legalität, wonach alles Handeln gesetzeskonform sein muss. Damit ist ein Zwang verbunden, bestimmte Handlungen vorzunehmen und bestimmte Handlungsmöglichkeiten nicht wahrzunehmen. Damit ist aber ein Großteil der Handlungen, die im medizinisch-ärztlichen Bereich vorkommen, noch nicht geregelt. Viele medizinisch-ärztliche Handlungen sind rechtlich weder geboten noch verboten; sie bewegen sich vielmehr im Bereich des vom Recht nicht Geregelten und auch nicht Regelbaren. Dies zu thematisieren ist die Aufgabe der Ethik, für welche das Prinzip der Legitimität gilt, wonach legitim alles das ist, was sich argumentativ auf Prinzipien und Normen gründet, die jedermann zugänglich und allgemein anerkannt sind. Während das Recht mit dem Zwang arbeitet, arbeitet Ethik mit dem Prinzip Freiheit. © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 9 3. Über Möglichkeiten und Grenzen des Verhältnisses von Ethik und Recht 3.1 Beispiel Stammzellforschung: Ethik nach Maßgabe des Rechts?3 Nach Maßgabe des vom Deutschen Bundestag am 30.01.2002 beschlossenen und am 28.06.2002 verkündeten Stammzellgesetzes4 setzt die Genehmigung eines Antrags auf Einfuhr und Verwendung humaner embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken die Stellungnahme der interdisziplinär zusammengesetzten unabhängigen „Zentralen Ethikkommission für Stammzellenforschung“ (ZES) voraus (§ 9 i. V. m. § 6 Abs. 4 Nr. 3 StZG). Damit ist die Ethikkommission bzw. ihre jeweilige Stellungnahme zu den einzelnen Anträgen fester Bestandteil des vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Genehmigungsverfahrens. Die Kriterien, nach denen die ZES die ethische Vertretbarkeit eines Antrags zu prüfen und zu bewerten hat, hat der Gesetzgeber ebenfalls festgelegt: Es muss wissenschaftlich begründet sein, dass das beantragte Forschungsvorhaben „hochrangigen Forschungszielen für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn im Rahmen der Grundlagenforschung oder für die Erweiterung medizinischer Kenntnisse bei der Entwicklung diagnostischer, präventiver oder therapeutischer Verfahren zur Anwendung beim Menschen“ dient (§ 5, Abs. 1), und dass die Forschungsfragestellungen „soweit wie möglich bereits in In-Vitro-Modellen mit tierischen Zellen oder in Tierversuchen vorgeklärt worden sind“ (§ 5, Abs. 2a) und der „angestrebte wissenschaftliche Erkenntnisgewinn sich voraussichtlich nur mit embryonalen Stammzellen erreichen lässt“ (§ 5, Abs. 2b). Das Gesetz gibt nicht nur die Kriterien der ethischen Bewertung vor: Hochrangigkeit und Alternativlosigkeit des Forschungsvorhabens, es läßt darüber hinaus zu, dass die zuständige Genehmigungsbehörde5 vom Votum der Ethikkommission begründet abweichen kann (§ 6 Abs. 5 StZG). Ethik aufgrund von Vorgaben des Gesetzes? Ist der 3 Das Folgende entstammt Passagen aus meinen Beitrag zur Festschrift für H.L. Schreiber: J.P. Beckmann: Ethik nach Vorgaben des Gesetzes? Überlegungen zur Aufgabe der Ethik gem. §§ 5 und 6 Stammzellgesetz (StZG), in: K. Amelung et al. (Hg): Strafrecht, Biorecht, Rechtsphilosophie. Heidelberg 2003, 593-602.- Vgl. auch Beckmann, J.P. (2002): Der Schutz von Embryonen in der Forschung mit Bezug auf Art. 18, Abs. 1 und 2 des Menschenrechtsübereinkommens zur Biomedizin des Europarats, in: Taupitz, J. (Hg.): Das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarats – taugliches Vorbild für eine weltweit geltende Regelung? / The Convention on Human Rights and Biomedicine of the Council of Europe – a Suitable Model for World-Wide Regulation? Berlin 2002, 155-181 4 Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz – StZG). Veröffentlicht im Bundesgesetzblatt Jg. 2002, Teil I, Nr. 42, 2277-2280, am 29.06.2002. Wiederabgedr. in: Honnefelder, L. / Streffer, C. (Hg.): Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 7 (2002), 413 - 418 © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 10 „Preis“ dafür, dass die Ethik als gewichtige Stimme neuerdings in den Prozeß der Exekutive einbezogen wird, der, dass sie ihr Amt nur unter den Vorgaben und in den Grenzen des Gesetzes ausüben darf? Konkret stellen sich die beiden folgenden Fragen: 1. Impliziert die Nennung der beiden Bewertungskriterien der Hochrangigkeit und der Alternativlosigkeit, dass nur diese beiden normativen Kriterien für die ethische Stellungnahme maßgeblich sein dürfen und damit andere in der ethischen Diskussion um die Frage der Legitimität der Einfuhr und der Verwendung humaner embryonaler Stammzellen von der ZES nicht ebenfalls berücksichtigt werden dürfen? 2. Stellt die Erlaubtheit des Abweichens der Genehmigungsbehörde vom Votum der ZES eine mit der Aufgabenstellung der Ethik vereinbare Regelung dar?6 3.1.1 Vom Stammzellgesetz vorgeschriebene ethische Bewertungskriterien 1. Das Kriterium der Hochrangigkeit In der Ethik ist das Kriterium der Hochrangigkeit nur als Norm „mittlerer Reichweite“ geläufig, im Recht ist dieser Terminus kaum bekannt. In einer ersten Annäherung empfiehlt sich, zwischen formalen und inhaltlichen Aspekten zu unterscheiden. Formal stellt der Ausdruck „hochrangig“ einen dreistelligen Prädikator dar: „hochrangig“ heißt (1.) die Qualität eines Gegenstandes oder Sachverhalts (2.) in Bezug auf etwas anderes auf der Basis (3.) eines Bewertungsgrundes. Das Prädikat „...ist hochrangig“ verlangt mithin erstens einen Träger der betreffenden Qualität, zweitens einen Bezug und drittens einen Bewertungsgrund. Voraussetzung ist, wie bei allen Aussagen, das Gegebensein eines oder mehrerer Subjekte, welche die Qualität „hochrangig“ einem Gegenstand oder Sachverhalt zusprechen, wobei sie zuvor den Bezugspunkt genannt und den Bewertungsgrund angegeben haben. Das Stammzellgesetz nennt in § 5 Abs. 1 als möglichen Träger der Qualität „hochrangig“ „Forschungsziele“, als festen Bezug „Grundlagenforschung oder die 5 Aufgrund der Rechtsverordnung gem. § 7 Abs.1 Satz 1 StZG ist seitens des Bundesministeriums für Gesundheit das Robert Koch-Institut in Berlin zur zuständigen Genehmigungsbehörde bestellt worden. 6 Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass die beiden Fragen nicht nur generell in Anbetracht des Selbstverständnisses der Ethik einer Klärung bedürfen, sondern auch speziell im Hinblick auf das StZG unabweisbar sind, weil der Gesetzgeber – unter Betonung des grundsätzlichen Verbots der Einfuhr und Verwendung humaner embryonaler Stammzellen (§ 1 Abs.1 StZG) – bei Vorliegen bestimmter, eng gefasster Voraussetzungen eine Ausnahme hiervon gestattet (§ 1 Abs.3 StZG) und damit Antragstellern, deren Forschungsvorhaben den gesetzlichen Bestimmungen genügen, aus Gründen der Gewährleistung der Freiheit der Forschung das Recht zu einer solchen Inanspruchnahme humaner embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken einräumt. © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 11 Erweiterung medizinischer Kenntnisse bei der Entwicklung diagnostischer, präventiver oder therapeutischer Verfahren zur Anwendung beim Menschen“ und als ausschließlichen Bezugsgrund „wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn“. Nun verlangt die Logik des Terminus „hochrangig“, wie dargelegt, dass bei seiner Verwendung als Prädikat Qualität, Bezugspunkt und Bewertungsgrund gemeinsam gegeben sein müssen und nicht voneinander getrennt werden können, so sehr sie voneinander zu unterscheiden sind. Der möglichen Annahme, dass nur die Forschungsziele die Qualität der Hochrangigkeit besitzen müssen und nicht etwa auch der Forschungsgegenstand sowie die verwendeten Methoden, beugt das Gesetz dadurch vor, dass die vom Antragsteller behauptete Hochrangigkeit der Forschungsziele „wissenschaftlich begründet“ (§ 5 StZG Satz 1) sein muss. Dies entspricht dem ethischen Grundsatz, dass der Nachweis der Legitimität von Handlungszielen nicht schon jeden Weg zur Erreichung des betreffenden Ziels ethisch vertretbar macht, sondern dass die Methodenwahl im Einzelnen ethisch zu legitimieren ist. (1) Bei der Beurteilung der Frage, ob dem Forschungsziel eines Antrags auf Genehmigung der Einfuhr und Verwendung von humanen embryonalen Stammzellen aus ethischer Sicht die Qualität der Hochrangigkeit zugesprochen werden kann, ist mithin ein kritischer Blick auf den Zielführungscharakter der im Antrag genannten Methoden vonnöten. Nun versteht es sich von selbst, dass die Verfolgung wissenschaftlicher Zielsetzungen nicht nur Klarheit über die anzuwendenden Methoden, sondern auch begründete Wahrscheinlichkeitsannahmen über deren Zielführung voraussetzt. Was der ZES in diesem Punkte eine besondere Verantwortung auferlegt, ist über die Vergewisserung des Zielführungscharakters der in einem gegebenen Forschungsprojekt angegebenen Methodik hinaus vor allem die Prüfung, ob die angestrebten Ziele nach gegenwärtigem Wissensstand ausschließlich mit den genannten Methoden erreicht werden können. (2) Was den Nachweis des erforderlichen Bezuges angeht, so gilt nach dem Wortlaut des Gesetzes ein Beitrag zur Grundlagenforschung oder ein Beitrag im Hinblick auf die Entwicklung von Verfahren mit präventiver, diagnostischer und therapeutischer Anwendung bei Menschen als zwingend vorgeschrieben. Unabhängig von der Frage, ob die Unterscheidung zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung in Bezug auf die Stammzellforschung zum gegenwärtigen Zeitpunkt und auch auf absehbare Zeit eine solche grundsätzlicher oder lediglich pragmatischer Natur ist, ist aus ethischer Sicht festzuhalten, dass sich beide – und damit nicht nur die Anwendungs-, sondern auch die © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 12 Grundlagenforschung – ausschließlich auf solche Zielsetzungen beziehen müssen, die der Erhaltung und Verbesserung menschlicher Gesundheit dienen. Damit sind Einfuhr und Verwendung humaner embryonaler Stammzellen für Zielsetzungen außerhalb des Bereiches des menschlichen Wohls, aber auch Zielsetzungen innerhalb dieses Bereiches, die nicht speziell Gesundheitszwecken dienen, ethisch nicht legitimierbar. Der vom jeweiligen Antragsteller zu führende Nachweis betrifft vor allem den Aspekt, dass das Forschungsvorhaben, für welches um eine Ausnahmegenehmigung vom Einfuhr- und Verwendungsverbot nachgesucht wird, nicht irgendwelchen unspezifischen Zielen der Grundlagenforschung dient, sondern solchen, die einem zumindest möglichen Beitrag zur Verbesserung der Erhaltungsmöglichkeiten menschlichen Lebens dienen. So hat auch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Recht und Ethik der modernen Medizin" festgestellt: „Als hochrangig kommen in Betracht der Gewinn von unmittelbar therapeutisch nutzbarem Wissen, der Gewinn von mittelbar therapeutisch nutzbarem Wissen sowie der Gewinn von Grundlagenwissen, vor allem zur menschlichen Individualentwicklung, insbesondere auf molekularer Ebene, und zum Verständnis der Programmierungs-, Reprogrammierungs- und Transdifferenzierungsvorgänge bei embryonalen und adulten Stammzellen“.7 Die Nennung der – unmittelbaren oder mittelbaren – therapeutischen Nutzbarkeit vor dem Gewinn von Grundlagenwissen betont die ethische Notwendigkeit einer besonders engen Bindung der Grundlagenforschung mit humanen embryonalen Stammzellen an therapeutische Nutzbarkeit. (3) Was schließlich den Bewertungsgrund angeht, so ist derselbe insoweit vorgegeben, als alle Forschung an humanen embryonalen Stammzellen aus ethischer Sicht nur durch den schon genannten unmittelbaren, zumindest aber mittelbaren Bezug zur menschlichen Gesundheit und ihrer Erhaltung legitimiert werden kann. Hinweise darauf, dass der derzeitige Forschungsstand die Aktualität des beantragten Forschungsvorhabens belege, und/oder dass im Blick auf die international abzusehende Forschungsentwicklung eine Beteiligung deutscher Wissenschaftler, genauer: von Wissenschaftlern in Deutschland, wissenschaftspolitisch unumgänglich erscheine, können aus ethischer Sicht für die Bewertung der Hochrangigkeit nur als zusätzliche Gründe gelten, nicht aber den genannten zentralen Bewertungsgrund ersetzen. 7 Deutscher Bundestag (2002): Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“. © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 13 2. Das Kriterium der Alternativlosigkeit Das andere der beiden lt. § 5 StZG für die ethische Beurteilung maßgeblichen Kriterien betrifft die Frage der Alternativlosigkeit. Dieses Kriterium enthält einen deutlichen Zeitbezug; es ist auf eine doppelte Weise anzuwenden: zum einen im Hinblick auf die bisherige, zum anderen im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung der Forschung. Was ersteres angeht, so fordert § 5 Abs. 2a StZG, dass „nach dem anerkannten Stand von Wissenschaft und Technik die im Forschungsvorhaben vorgesehenen Fragestellungen so weit wie möglich bereits in In-Vitro-Modellen mit tierischen Zellen oder in Tierversuchen vorgeklärt worden sind“. In Bezug auf die künftige Forschung bedeutet das Kriterium der Alternativlosigkeit, dass „der mit dem Forschungsvorhaben angestrebte wissenschaftliche Erkenntnisgewinn sich voraussichtlich nur mit embryonalen Stammzellen erreichen lässt“ (§ 5 Abs. 2b StZG). Was die bisherige Forschung angeht, so bedeutet Alternativlosigkeit, dass alle sinnvollen Alternativen im Tiermodell ausgeschöpft worden sind, und zwar in vitro wie ggf. in vivo. Alternativen im humanen Bereich, wie die Forschung an fötalen und adulten humanen Stammzellen, werden nicht eigens genannt, sind jedoch unter der Voraussetzung, dass sie sinnvolle Möglichkeiten der Erreichung der Zielsetzungen eines Forschungsantrages darstellen, aus ethischer Sicht zu den zuvor auszuschöpfenden Alternativen hinzuzuzählen. Dies ergibt sich im übrigen auch aus der gesetzlichen Verpflichtung zur wissenschaftlichen Begründung, dass die betreffende Forschung voraussichtlich nur unter Verwendung von humanen embryonalen Stammzellen zu verwirklichen ist. Die Erfüllung des Kriteriums der Alternativlosigkeit ist mithin in Form eines Kaskadenmodells bei jedem Forschungsprojekt und im Hinblick auf jeden Projektteil vom Antragsteller nachzuweisen, sei es, dass die jeweilige Stufe vorab geklärt ist, sei es, dass für das betreffende Forschungsvorhaben bestimmte Stufen aus wissenschaftlichen Gründen nicht in Frage kommen. 3.1.2 Vorrang des Rechts vor der Ethik? Bedeutet die gesetzliche Regelung, wonach die Genehmigungsbehörde vom (formfehlerfreien und begründeten) ethischen Votum der ZES abweichen kann, die Möglichkeit einer Ersetzung der Ethik durch einen Verwaltungsakt? Dies wäre mit Sicherheit dann der Fall, wenn die Begründung, die das Gesetz bei Abweichen der Schlussbericht, 16 © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 14 Genehmigungsbehörde fordert, zur Gänze oder überwiegend außerhalb ethischer Bewertung läge. Das vom Gesetzgeber der Genehmigungsbehörde zugestandene Recht der Abweichung vom (formfehlerfreien und begründeten) Votum der ZES kann im Sinne der vom Gesetz ausdrücklich betonten Beteiligung der Ethik nicht als Recht des Übergangs von ethischer Bewertung zu administrativer Entscheidung gedeutet, sondern muss als Verbleiben im ethischen Bewertungsvorgang verstanden werden. Maßgeblicher Grund hierfür ist die rechtliche Nichtersetzbarkeit des ethischen Votums im Genehmigungsverfahren. Sieht sich die Genehmigungsbehörde veranlasst, bei ihrer Entscheidung nach § 6 Abs. 5 StZG von der Stellungnahme der ZES abzuweichen, so muss die vom Gesetzgeber in diesem Fall geforderte schriftliche Begründung mithin ethischer Natur sein. So und nur so kann die Gefahr einer Ersetzung der materiellen Aufgabe der Ethik durch das Recht vermieden werden. Die Eingebundenheit in das Gesetz macht die Aufgabe der ZES, über die ethische Akzeptabilität vorgelegter Forschungsanträge zu entscheiden, auch dann nicht ersetzbar, wenn die Genehmigungsbehörde begründet vom Votum der ZES abweicht; von einer ethischen Bewertung kann begründet nur durch eine andere ethische Bewertung abgewichen werden. Obgleich Ethik und Recht auf ein gemeinsames Wertekonzept rekurrieren, tun sie dies unter je eigenen Bedingungen. Recht und Gesetz ist der Handelnde durch Zwang unterworfen, Ethik und Moral ist er durch Freiheit verpflichtet. Wenn Ethik in Form der Beauftragung einer nach ihr benannten Kommission Teil eines gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrens wird, wie es beim StZG der Fall ist, kann dies weder bedeuten, dass der Unterschied zwischen Ethik und Recht aufgehoben noch dass er relativiert wird. Beide können ihrer Aufgabe nur dann gerecht werden, wenn es ihnen gelingt, die Freiheit menschlichen Handelns – hier: der Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen – an die Notwendigkeit des Respekts vor menschlichem Leben zu binden. Über die Ausgestaltung des Rechts zur Einfuhr und Verwendung humaner embryonaler Stammzellen hat die Mehrheit des Parlaments entschieden, nicht aber über die Ethik. Über Ethik als Analyse der Argumente Pro und Contra der Legitimität von Handlungsoptionen kann man nicht mit Mehrheit entscheiden, wohl hingegen über die Bewertung einer derartigen Analyse und ihres Resultats. Letzteres hat das Parlament mit Mehrheit getan. Damit hat der Gesetzgeber jedoch die Zentrale Ethikkommission nicht © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 15 zur „juristischen Schiedsstelle“8 gemacht, die sie der Natur ihrer Aufgabe nach nicht sein kann, sondern zur normativen Kontrollinstanz, deren Aufgabe darin besteht, in einem transparenten Verfahren zu prüfen und zu bewerten, ob eingereichte Forschungsvorhaben den Vorschriften und zugleich den Freiheitsangeboten der Verfassung in verantwortbarer Weise entsprechen und den wissenschaftlich fundierten Nachweis enthalten, dass ihre Forschungsziele hochrangig sind und die Verwendung humaner embryonaler Stammzellen zur Erreichung dieser Ziele derzeit alternativlos ist. Zwischenergebnis Schaut am sich das Verhältnis von Ethik und Recht am konkreten Beispiel des Stammzellgesetzes an, so zeigt sich, dass Rechtssicherheit in moralisch umstrittenen Fragen um den Preis einer Einbindung ethischer Analyse in rechtliche Vorgaben erreicht wird. Eine derartige rechtliche Einbindung steht in einer natürlichen Spannung zur Eigenart ethischer Analyse. In vorliegendem Beispiel ist zu fragen: Impliziert die gesetzliche Vorgabe der beiden Bewertungskriterien der Hochrangigkeit und der Alternativlosigkeit, dass damit andere Kriterien in der ethischen Diskussion um die Frage der Legitimität von Einfuhr und Verwendung humaner embryonaler Stammzellen von der ZES nicht ebenfalls berücksichtigt werden dürfen? Dies wäre zweifellos dann der Fall, wenn es aus ethischer Sicht möglich wäre, die beiden genannten Kriterien losgelöst von ihrer ethischen Fundierung in Ansatz zu bringen. Dies ist jedoch nicht der Fall: Hochrangigkeit ist als ethisches Kriterium an die Norm der Hilfe für den Menschen, Alternativlosigkeit an die Norm der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel zur Heilung schwerkranker Menschen rückgebunden. Damit muss die ethische Bewertung auch von Forschungsvorhaben, für die eine Ausnahmegenehmigung vom grundsätzlichen Verbot der Einfuhr und Verwendung humaner embryonaler Stammzellen beantragt wird, auf das im Rawls’schen Sinne eines „übergreifenden Konsenses“ („overlapping consensus“)9 gemeinsame Wertesystem von Ethik und Recht zurückgreifen. Ethik nach Vorgabe des Gesetzes ist immer schon Ethik unter den F. Böckle nennt eine Ethikkommission „keine juristische Schiedsstelle, sondern eine Art Problematisierungsinstanz“. Böckle, F. (2001): Wissenschaft und Ethos, in: Industrie-Club Düsseldorf e.V. (Hg.): Offenheit und Öffentlichkeit. Reden vor den Mitgliedern des Industrie-Clubs Düsseldorf e.V., Düsseldorf, 326-342, hier: 339 8 9 Rawls, J. (1992): Der Gedanke eines übergreifenden Konsensus (The Idea of an Overlapping Consensus), in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978-1989, hg. v. Hinsch, W. Frankfurt/M., 293-332 © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 16 normativen Voraussetzungen eines gerechten und verantwortlichen Zusammenlebens der Menschen. 3.2 Beispiel Patientenwille: Ablösung des ärztlichen durch richterlichen Paternalismus? Lt. Beschluß des BGH’s vom 17. März dieses Jahres10 sind Patientenverfügungen, mit denen der Verfügende lebenserhaltende Maßnahmen ablehnt, im Grundsatz zu respektieren, doch muß vor Umsetzung des verfügten Patientenwillens die Zustimmung des Gerichts eingeholt werden. Ohne richterliche Zustimmung kann der Patient seine Ablehnung lebenserhaltender Maßnahmen danach nicht durchsetzen. Dasselbe gilt auch für den Betreuer, dessen Aufgabe es ist, dem Willen des Patienten Geltung zu verschaffen: im Falle lebenserhaltender bzw. –verlängernder Maßnahmen bedarf die vom Patienten verfügte und vom Betreuer für ihn geltend gemachte Verweigerung der Zustimmung des Vormundschaftsgerichts. Damit wird einerseits Rechtssicherheit hergestellt: Die Verfügung eines Menschen gilt und kann nicht von Ärzteschaft oder Pflegepersonal übergangen werden. Der Preis hierfür ist freilich hoch: Die Respektierung der autonomiebasierten Selbstbestimmung des Verfügenden wird einer richterlichen Prüfung und Entscheidung unterworfen. Ethik nach Maßgabe des Rechts? Tritt damit an die Stelle des ärztlichen und pflegerischen Paternalismus ein solcher richterlicher Form? Zumindest aus ethischer Sicht ist hier unklar, ob das Selbstbestimmungsrecht nun über oder unter der Lebensschutzverpflichtung steht. Ärztliches wie pflegerisches Handeln ist zweifellos auf menschliches Leben und seine Erhaltung hin ausgerichtet11. Im Hinblick auf diese Zielsetzung stehen den Ärzten infolge wissenschaftlicher Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, vor allem im Bereich der Intensivmedizin, Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, die in nicht seltenen Fällen Fragen der Sinnfälligkeit ihrer Anwendung aufwerfen. Zwar besteht generell kein Dissens darüber, daß eine direkte und vorsätzliche Herbeiführung des Todes auf den ausdrücklichen Wunsch des Patienten rechtlich (§ 216 StGB) wie ethisch 10 Bundesgerichtshof. Beschluss vom 17.3.2003 (XII ZB 2/03). Mitteilung der Pressestelle Nr. 52/2003 Das Folgende enthält Passagen aus meinem Aufsatz: Jan P. Beckmann: Die „Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“ vom 29.9.1998 aus philosophischer Sicht, in: L. Honnefelder/C. Streffer (Hg): Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 4 (1999), 419-434 11 © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 17 unzulässig ist12 und daß andererseits eine Fortsetzung der Lebenserhaltung gegen den ausdrücklichen Wunsch des Patienten unärztlich, weil unethisch wäre. Doch wo exakt der richtige Weg verläuft und wo genau Grenzen zu ziehen sind, ist nicht nur im Einzelfall häufig unklar, sondern ist in seiner prinzipiellen Begründungsstruktur umstritten. Dabei bewegt sich die Diskussion irgendwo unterhalb der Forderung nach der Zulassung einer vom Patienten gewünschten, rechtlich und ethisch aber unzulässigen aktiven Sterbehilfe (Euthanasie) einerseits und oberhalb der These, Leben müsse selbst gegen den Willen des Patienten unter allen Umständen erhalten werden. Nach den „Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung“ der BÄK (im Folgenden ‚Grundsätze’)13, geht es um die Abwägung zwischen ärztlicher Verpflichtung für das Leben des anvertrauten Patienten auf der einen und dem Respekt vor dem Willen ihrer Patienten auf der anderen Seite. 3.2.1 Lebensschutz Das ethische Prinzip des Lebensschutzes mit seinen speziell ärztlichen Ausformungen der Verpflichtung auf das Wohl des Patienten („bonum facere“) und – implizit – der Schadensvermeidung („nil nocere“) gilt nicht isoliert, sondern nur im Zusammenhang mit dem „Selbstbestimmungsrecht des Patienten“14. Zu Art und Weise der Verbindung dieser beiden Grundsätze heißt es in der Präambel der Grundsätze der BÄK, die lebenserhaltende Aufgabe des Arztes gelte „unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten“. Zwar hat der Arzt „Art und Ausmaß einer Behandlung ... zu verantworten“, er muß dabei aber „den Willen des Patienten beachten“. Der Schutz des Lebens ist (ärztliche) Aufgabe, die Selbstbestimmung (des Patienten) ein Recht. Bei der Durchführung der Aufgabe ist das betreffende Recht zu respektieren. Wie sieht die Logik dieser Beziehung näherhin aus? Zuvor sei hervorgehoben, daß die Präambel noch einen dritten Grundsatz enthält: den der absoluten Unzulässigkeit aktiver Sterbehilfe. Zu töten – und sei es auf wiederholtes 12 Vgl. neuestens Aulbert, E./Klaschik, E./Pichlmaier, H. (Hg.): Palliativmedizin - Die Alternative zur aktiven Sterbehilfe. Zur Euthanasie-Diskussion in Deutschland. Stuttgart/New York 1998 (Beiträge zur Palliativmedizin, Bd. 2). - Illhardt, F.J./Heiss, H.W./Dornberg, M. (Hg.): Sterbehilfe - Handeln oder Unterlassen? Stuttgart/New York 1998 - Anders dagegen Hoerster, N.: Sterbehilfe im säkularen Staat. Frankfurt/M. 1998. 13 14 Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 39 vom 29.9.1998, B 1852/3. In den Richtlinien war vom Selbstbestimmungsrecht erst im Abschnitt über die (faktische) Behandlung die Rede. Vgl. Richtlinien II Abs.1. © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 18 und nachdrückliches Verlangen des Patienten – „widerspricht dem ärztlichen Ethos und kann strafbar sein“ (Grundsätze, Präambel Abs.5). Aus ethischer Sicht entscheidend ist, daß das Verlangen eines Sterbenden nach Tötung zwangsläufig den Helfenden, hier den Arzt, zu instrumentalisieren droht, indem ihm die unbedingte Tatherrschaft angetragen wird. Der scheinbare Akt der Selbstbestimmung des Sterbenden wird so zu einem tatsächlichen Akt der Fremdbestimmung des Arztes – ein innerer Widerspruch, weil die Autonomie des Patienten unter der Bedingung der Mißachtung der Autonomie des Arztes eingefordert wird; eine überdies die Würde des Helfenden mißachtende Konsequenz, auch wenn der Tötende der Bitte völlig freiwillig folgte: es bliebe ein Akt der Selbstinstrumentalisierung. Auch der „Umweg“ über die These vom Recht auf den eigenen Tod ist nicht gangbar: Es gibt keinen legitimen Anspruch darauf, sich Dritter zum Zwecke der Selbsttötung zu bedienen oder gar von ihnen Fremdtötung zu verlangen15. Die Autonomie des Individuums hat ihre Grenzen an der Autonomie des Mitmenschen. Dies gilt auch für den Fall einer vom Patienten gewünschten ärztlichen Suizidassistenz16. 3.2.2 Therapiebegrenzung Des ungeachtet gilt der Grundsatz der Lebenserhaltung nicht absolut. Dies aus einem doppelten Grunde, einem medizinischen und einem ethischen: „Es gibt“, so die Grundsätze der BÄK, „Situationen, in denen sonst angemessene Diagnostik und Therapieverfahren nicht mehr indiziert sind, sondern Begrenzung geboten sein kann“ (Grundsätze, Präambel Abs.2). Die hier angesprochene Begrenzung ist freilich keine solche des Behandelns, sondern der Art und Weise derselben. Grundlage für das Gebot der Begrenzung ist, wie gesagt, das Nicht(-mehr-)Indiziertsein bestimmter diagnostischer und therapeutischer Verfahren. Nun könnte man einwenden, dass das Ende therapeutischer Verpflichtungen nicht zugleich dasjenige der pflegerischen ist. Dieser Einwand gilt jedoch nur und solange beachtet wird, dass beide – ärztlichtherapeutische wie grundversorgungs-pflegerische Verpflichtungen – der Bedingung des Einverständnisses des Patienten unterliegen. 15 Anders M. Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Zeitalter. Frankfurt/M. 1998. © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 19 3.2.3 Selbstbestimmungsrecht Dem zuletzt Gesagten sind die Grundsätze der BÄK durch die wohl auffallendste und zweifellos folgenreichste Neuerung der Grundsätze von 1998 gegenüber den Richtlinien von 1993 nachgekommen, durch die Placierung nämlich des Hinweises auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten bereits in der Präambel. Im Text von 1993 war davon erst im späteren Abschnitt über die Behandlung die Rede. Mit der Voranstellung des Selbstbestimmungsrechts wird dem Umstand Rechnung getragen, daß dieses Recht nicht erst im akuten Behandlungsfall, sondern grundsätzlich und immer gilt. Philosophisch beruht das Recht auf Selbstbestimmung auf der Autonomie des Menschen, d.h. seiner prinzipiellen Selbstzweckhaftigkeit und Unverfügbarkeit durch Dritte. Der Mensch ist ein Wesen, das niemals ohne oder gar gegen seinen Willen in toto einem fremden Zweck unterworfen werden darf. Verlängerung wie Verkürzung des Lebens ohne oder gar gegen den Willen des Menschen wären gleichermaßen Verstöße gegen den nötigen Respekt vor der Autonomie des Patienten. Autonomie ist nämlich nicht Fähigkeit oder Leistung, sondern Grundmerkmal oder Verfaßtheit des Menschen; auch der komatöse, altersdemente oder sonstwie in seiner Urteilsfähigkeit eingeschränkte Mensch ist autonom, mithin unverfügbar. Handlungen oder Unterlassungen an ihm bedürfen der Feststellung seines mutmaßlichen Willens. Was das Verhältnis der beiden Prinzipien des Lebensschutzes und der Selbstbestimmung untereinander angeht, so räumen die Grundsätze der BÄK dem Selbstbestimmungsrecht und damit der Autonomie des Patienten auch insofern einen hohen Rang ein, als sie nicht nur den Zustimmungsvorbehalt, der für den ärztlichen Heileingriff gilt, auch für die ärztliche Behandlung geltend machen, sondern diese Geltung ausdrücklich auch für den nichteinwilligungsfähigen Patienten betonen. Der Arzt muß sich, um seiner Verpflichtung zur Hilfe nicht nur nachkommen zu können, sondern ihr allererst nachkommen zu dürfen, in jedem Fall um den - erklärten oder mutmaßlichen - Willen seines Patienten bemühen. Die Respektierung des Selbstbestimmungsrechts ist insoweit Bedingung der Hilfsverpflichtung. Wenn gleichwohl der Arzt nicht alles tun bzw. unterlassen muß bzw. darf, was der Patient fordert (aktive Sterbehilfe etwa oder Tötung auf Verlangen oder Suizidassistenz), so liegt das nicht daran, daß der Grundsatz der Hilfsverpflichtung im Ausnahmefall dem der 16 Patientenautonomie übergeordnet wäre, sondern daran, daß das vgl. J.P. Beckmann, Suizidassistenz in philosophisch-ethischer Sicht. In: G. Ritzel (Hg.), Beihilfe zum © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 20 Selbsbestimmungsrecht des Individuums am Selbsbestimmungsrecht der Mitmenschen und damit auch des Arztes seine prinzipielle Grenze hat. Der Grundsatz des Verbots der aktiven Sterbehilfe ist mithin, ähnlich demjenigen der Hilfsverpflichtung, eng mit dem des Respekts vor der Autonomie und Selbstbestimmung verbunden. 3.3.4 Anwendung Es geht um das Recht, „in Würde“17 zu sterben. Ärztliche und pflegerische Maßnahmen dürfen nicht nur, sie müssen „in Übereinstimmung mit dem Willen des Patienten unterlassen oder nicht weitergeführt werden“ (Grundsätze I Abs.2). Wünscht der Patient keine Erhaltung seines Lebens oder fehlt begründeter Zweifel an seinem diesbezüglichen mutmaßlichen Willen, so dürfen lebensverlängernde ärztliche wie pflegerische Maßnahmen nicht nur unterlassen, sie müssen unterlassen werden. Ob es aus ethischer Sicht eine Selbstverpflichtung des Menschen zur Erhaltung des eigenen Lebens gibt, sei dahingesetllt; jedenfalls existiert eine entsprechende Pflicht oder gar ein Recht des Arztes oder der Pflegekräfte, das Leben eines Menschen ohne dessen erklärten oder mutmaßlichen Willen zu verlängern, nicht. Eine ohne erklärte oder mutmaßliche Zustimmung des Patienten ärztlicherseits oder seitens der Pflege erfolgende zwangsweise Fortsetzung des Lebens eines Menschen ist ethisch ähnlich zu beurteilen wie die aktive Verkürzung desselben: in beiden Fällen liegt Fremdverfügung vor, mithin ein die menschliche Würde im Kern verletzender Akt. Das Hilfsgebot steht legitimatorisch ausnahmslos unter der Bedingung des (erklärten bzw. mutmaßlichen) Patientenwillens. 3.3.4.1 Ermittlung des Patientenwillens 1. Einwilligungsfähige Patienten. Der Wille des Patienten ist grundsätzlich und immer zu beachten. Ist der Patient einwilligungsfähig18, so gilt sein aktuell geäußerter Wille nach vorangegangener angemessener Aufklärung. Aus ethischer Sicht angemessen ist ärztliche Aufklärung dann, wenn sie durch Angabe von Art, Umfang, Ziel und Methode sowie der erwartbaren Vorteile und der möglichen Risiken und Alternativen der Maßnahme den Patienten in den Stand versetzt, sich ein eigenes Urteil über das weitere Suizid - Ein Weg im Streit um Sterbehilfe?. Regensburg 1998, 16-29. 17 Entwurf I,1: „bis zu seinem Tod in Würde zu leben“. Richtlinie und Entwurf: „urteilsfähig“; ebenso die Schweizerischen Richtlinien. Mit der Ersetzung von „urteilsfähig“ durch „einwilligungsfähig“ hat sich juristische Begrifflichkeit durchgesetzt. 18 © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie Vorgehen zu bilden 21 und zu einer Entscheidung zu gelangen. Daß der Wille des Patienten letztlich dem ärztlichen Urteil überlegen ist, zeigt der Zusatz, der seit 1979 in den Verlautbarungen der BÄK zur Sterbebegleitung unverändert zu finden ist: Der Patientenwille ist selbst dann zu beachten, wenn er sich „nicht mit den aus ärztlicher Sicht gebotenen Diagnose- und Therapiemaßnahmen deckt“. Und: „Das gilt auch für die Beendigung schon eingeleiteter lebenserhaltender Maßnahmen“19. Die salus aegroti ist der voluntas aegroti letztlich untergeordnet. 2. Einwilligungsunfähige Patienten. Der Respekt vor dem menschlichen Selbstbestimmungsrecht verpflichtet ausdrücklich, bei Einwilligungsunfähigkeit den mutmaßlichen Willen eines Patienten in Erfahrung zu bringen. Ein mutmaßlicher Wille ist kein gemutmaßter Wille: Nicht die Vorstellung Dritter (der Ärzte, Pfleger, Verwandten oder der Gesellschaft als ganzer) und schon gar nicht „allgemeine Wertvorstellungen“ (BGH) sind für ihn maßgeblich, sondern Hinweise aufgrund von Äußerungen, Einstellungen, Wünschen etc. des Patienten aus der Zeit vor dem Eintritt seiner Einwilligungsunfähigkeit. Der Mensch kann zwar sein Bewußtsein, nicht aber das Recht auf einen eigenen Willen verlieren; was temporär oder dauerhaft verloren gehen kann, ist die Äußerungsfähigkeit seines Willens. Aus philosophischer, speziell aus anthropologischer und ethischer Sicht ist der Wille nicht identisch mit seiner Äußerung. Denn: Der Wille ist nicht Zeichen freien Handelns, sondern dessen Voraussetzung. Die Grundsätze nennen zunächst drei Wege des Umgangs mit Einwilligungsunfähigen: Erklärung (a) des gesetzlichen Vertreters, (b) eines Betreuers und (c) eines Bevollmächtigten. Liegen Erklärungen des gesetzlichen Vertreters (z.B. der Eltern) oder eines rechtsförmig bestellten Betreuers oder Bevollmächtigten vor, so ist zunächst zu prüfen, ob ein Zweifel an mißbräuchlicher oder objektiv irriger Anwendung der Erklärungen ausgeschlossen werden kann. Ist dies der Fall, tritt die betreffende Erklärung an die Stelle des Patientenwillens. Gibt es hingegen weder Erklärungen eines gesetzlichen Vertreters noch eines Betreuers oder Bevollmächtigten „oder können diese nicht rechtzeitig eingeholt werden“, so muß der Arzt so handeln, „wie es dem Grundsätze IV Abs. 1. In den Richtlinien und im Entwurf war anstelle „lebenserhaltender Maßnahmen“ von „technischen Maßnahmen“ die Rede. Zur Frage der ethischen Legitimität des Behandlungsverzichts bzw. -abbruchs vgl. den gleichnamigen Artikel des Vf.s im Lexikon der Bioethik (hg. von W. Korff et al.) Bd.I, 316-32o. Gütersloh 1998 19 © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 22 mutmaßlichen Willen des Patienten in der konkreten Situation entspricht“. Dies ist zumeist nicht leicht zu ermitteln. „Eine besondere Bedeutung“, so heißt es in diesem Zusammenhang, „kommt hierbei einer früheren Erklärung des Patienten zu“. Anhaltspunkte können ansonsten „seine Lebenseinstellung, seine religiöse Überzeugung, seine Haltung zu Schmerzen und zu schweren Schäden in der ihm verbleibenden Lebenszeit sein“(Grundsätze IV Abs.3). Ist schließlich der mutmaßliche Wille des Patienten nicht zu ermitteln, so handelt der Arzt „im Interesse des Patienten, wenn er die ärztlich indizierten Maßnahmen trifft“ (Grundsätze IV Abs. 4). 3.3.4.2 Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung Erstmals in den Grundsätzen ist von verschiedenen Möglichkeiten von Vorabverfügungen die Rede. Zwar war schon in den Richtlinien von „früheren schriftlichen Äußerungen oder Erklärungen“ die Rede, doch galten dieselben lediglich als „Anhaltspunkte“. Auch gab es die Erwähnung einer vom Patienten legitimierten dritten Person, die vom Arzt „zur Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens heranzuziehen“ sei20. Nunmehr aber wird diesem Institut ein eigenes Kapitel gewidmet und damit unterstrichen, daß derartigen Vorabverfügungen wachsende Bedeutung zukommt. Von den Patientenverfügungen, missverständlich auch Patiententestamente genannt, sowie von den Versorgevollmachten und Betreuungsverfügungen heißt es, sie seien „eine wesentliche Hilfe für das Handeln des Arztes“ (Grundsätze V Abs.1). Allerdings fehlt im Unterschied zum Entwurf der Hinweis auf die Autonomie sowie darauf, daß es „zu begrüßen“ sei, daß Patienten „immer öfter im Vorfeld verfaßte Patiententestamente, (Alters-)Vorsorge-Vollmachten o.ä.“ vorlegten (Entwurf IV). Dafür aber geht der Text über die These, eine Vorabverfügung sei lediglich „Indiz“, hinaus, wenn es nunmehr heißt, Patientenverfügungen seien „verbindlich, sofern sie sich auf die konkrete Behandlungssituation beziehen und keine Umstände erkennbar sind, daß der Patient sie nicht mehr gelten lassen würde“ (Grundsätze V Abs.2). Damit sind die beiden Bedingungen für die Verbindlichkeit genannt: Klarheit des Situationsbezuges und Fehlen von Anhaltspunkten für Zweifel an der aktuellen Geltung des Patientenwillens. Hinsichtlich der Möglichkeit, einen Betreuer oder Bevollmächtigten auch in die Entscheidung über die Unterlassung oder Beendigung 20 Richtlinien III, Abs.3 © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 23 lebenserhaltender Maßnahmen miteinzubeziehen, wird ausdrücklich auf die neueste Rechtsprechung21 verwiesen. Nach dem Dargelegten kann es aus ethischer Sicht nicht Aufgabe des Gerichts sein, die Verfügung eines Menschen auf Abbruch oder Unterlassung ärztlicher wie pflegerischer Maßnahmen aufzuheben. Die Aufgabe des Richters kann aus ethischer Sicht nur darin bestehen zu überprüfen, ob (1.) die in der Verfügung genannte Situation derjenigen entspricht, in der sich der Verfügende befindet und ob es (2.) irgendwelche Hinweise gibt, die Zweifel zulassen, dass der Verfügende zum gegenwärtigen Zeitpunkt an seiner früheren Verfügung nicht mehr festhält. Wie aber, wenn sich Ärzte und/oder Pflegekräfte durch die Verfügung eines Patienten auf Unterlassung oder Abbruch therapeutischer und/oder pflegerischer Maßnahmen in ihrer Selbstbestimmung tangiert sehen? Liegt hier ein Autonomie vs AutonomieKonflikt vor wie im Falle des Wunsches eines Patienten an seine Ärzte nach aktiver Sterbehilfe? Daß hier kein Autonomie-Konflikt vorliegt, wird unmittelbar einsichtig, wenn man sich den Begriff der Autonomie näher ansieht. Er meint nämlich nicht Selbstbestimmung zu Lasten Dritter, sondern Selbstbestimmung unter gleichzeitigem Respekt Dritter. Wer Behandlung und Pflege eines Menschen übernommen hat, unterliegt aus ethischer Sicht der unbedingten Verpflichtung zum Respekt vor dem Willen des Patienten bzw. zu Pflegendem. Alles andere wäre nicht Autonomie, sondern Heteronomie. Daß Ärzte und/oder Pflegende sich den vom Patienten gewünschten Abbruch oder die Unterlassung therapeutischer und/oder pflegerischer Maßnahmen nicht zumuten lassen wollen, berechtigt nicht dazu, dem Patienten deren unerwünschte Fortsetzung zuzumuten. 3. Schluß Ethik und Recht setzen gleichermaßen freie Subjekte voraus, die sich ihre Handlungen und Unterlassungen zurechnen lassen können müssen. Der Unterschied zwischen Ethik und Recht wird freilich darin offenkundig, dass das Recht unter Zwang zur Schadensvermeidung anhält, während Ethik in Freiheit zur Mehrung des für den Menschen Guten verpflichtet. Die Herausforderung an beide besteht darin, dass beide sich demselben Prinzip verpflichtet wissen: So viel Zwang, wie nötig, so viel Freiheit 21 OLG Frankfurt/M. vom 15.7.98 - AZ: 20W 224/98. © Jan P. Beckmann, FernUniversität in Hagen, Institut für Philosophie 24 wie möglich. Auf die Frage nach dem Umgang mit Patientenverfügungen angewandt, heißt dies: Das Recht hat die Aufgabe sicherzustellen, dass die autonomiebasierte Selbstbestimmung des Menschen nicht durch Heteronomie seitens Dritter verunmöglicht wird, während die Ethik die Aufgabe hat, die autonomiebasierte Selbstbestimmung des Menschen als Selbstbegrenzung in Freiheit zu fördern. „Ethik nach Maßgabe des Rechts“ kann – richtig verstanden – nur Ethik auf der Grundlage des auch für das Recht geltenden Prinzips der Freiheit des Individuums und seiner Verantwortung für den Schutz seinesgleichen sein. Der Autor ist emeritierter Professor der Philosophie am Institut für Philosophie der FernUniversität in Hagen und unter folgender e-mail Adresse erreichbar: Jan. [email protected]