Der Entwurf der islamischen Gesellschaft im Kontext des Heiligen Qur’an Die islamische Sicht von Wissenschaft und Gesellschaft M. Golschani* Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion war eines der aktuellen Themen der vergangenen 150 Jahre. Es ist eine wichtige Tatsache, dass der wissenschaftliche und technologische Fortschritt im Westen einen großen Einfluss auf die muslimischen Gesellschaften ausübte. Die islamische Welt hat versucht, die westliche Wissenschaft und ihre Begleiterscheinungen zu absorbieren, und damit hat sie zugleich auch einige der metaphysischen und sozialen Implikationen der zeitgenössischen westlichen Wissenschaft aufgenommen. Die Beziehung von Wissenschaft und Religion war im Westen jedoch ein kontroverses Thema, und diese Kontroversen wurden in die muslimischen akademischen Kreise übertragen. In seinem Buch „Issues in Islam and Science“ versucht Golschani auf die Fragen Licht zu werfen, die die Beziehung von Islam und Wissenschaft betreffen. Islam und Gesellschaft Das Programm von Prophet Mohammad (s.a.s.) war vom Anbeginn des Islam an die Bildung einer monotheistischen Gesellschaft, in der das Wort Gottes herrscht und sowohl Individuen wie auch islamische Gemeinschaft für die Verwirklichung der islamischen Ideale auf der individuellen wie auch der gesellschaftlichen Ebene einen Beitrag leisten können. Der islamische Gesellschaftsbegriff Dem Heiligen Qur’an zufolge sind Menschen ihrer Natur nach soziale Wesen: „O ihr Menschen, Wir haben euch aus Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, auf dass ihr einander erkennen möget…“ (Sure al-¼uºurÁt, Vers 13). Nun sollten gemäß der islamischen Sichtweise sowohl die Individuen innerhalb einer Gesellschaft wie auch die Gesellschaft als Ganzes konstruktiv interagieren, um zur Verbesserung und Vervollkommnung von beidem zu gelangen. Um dies zu erreichen, werden soziale Programme im Islam besonders betont, wie z. B.: ▪ Einige der gottesdienstlichen Rituale im Islam bringen eine soziale Dimension mit sich. So ist es z. B. sehr empfehlenswert, das tägliche Gebet in der Gemeinschaft zu verrichten. Gleichermaßen hat die Pilgerfahrt nach Mekka (¼aºº) eine sehr starke gesellschaftliche Dimen- sion. Alle diese Rituale sollen die Gläubigen zusammenbringen und können dazu beitragen, die Probleme der muslimischen Gemeinschaft zu lösen. ▪ In vielen Versen des Heiligen Qur’an können wir feststellen, dass immer dann, wenn die Anbetung Gottes erwähnt ist, auch die Verantwortungen des einzelnen gegenüber seiner Gemeinschaft thematisiert werden – beginnend bei der unmittelbaren Familie bis hin zum Rest der Gesellschaft: „Es ist keine Frömmigkeit, wenn ihr eure Angesichter in Richtung Osten oder Westen wendet; Frömmigkeit ist vielmehr, dass man an Gott glaubt, den Jüngsten Tag, die Engel, das Buch und die Propheten und vom Besitz – obwohl man ihn liebt – den Verwandten gibt, den Waisen, den Armen, dem Sohn des Weges, den Bettlern und für (den Freikauf von) Sklaven, dass man das Gebet verrichtet und die Zakat entrichtet…“ (Sure al-Baqara, Vers 177). ▪ Demnach ist in einer idealem islamischen Gesellschaft das göttliche Gesetz das letzte Wort in allen Lebensdingen, und die Glückseligkeit sowohl des Individuums wie auch der Gesellschaft ist gesichert. Eine solche Gesellschaft schafft die Grundlage dafür, dass die Individuen Al-Fadschr Nr. 128 43 ihre Fähigkeiten entwickeln können, um ihre Verantwortungen erfüllen zu können. Kollidieren die Interessen eines Individuums mit denen der Gesellschaft, wird der Gesellschaft natürlich Priorität beigemessen. Merkmale einer islamischen Gesellschaft Dem Heiligen Qur’an und der islamischen Tradition kann man die idealen Merkmale einer islamischen Gesellschaft entnehmen. Nachfolgend sollen einige der wichtigsten genannt werden. 2. Schaffung von sozialer Sicherheit und Wohlfahrt Gemäß der islamischen Anschauung ist eine islamische Gemeinschaft dafür verantwortlich, für die wirtschaftliche Sicherheit und das soziale Wohlergehen ihrer Mitglieder zu sorgen, und jedes Mitglied einer islamischen Gemeinschaft sollte sich um seine/ihre Familie, Verwandtschaft und Nachbarn sorgen. So drängt der Heilige Qur’an z. B. die Reichen, sich der Bedürftigen und der Armen anzunehmen: „und von ihrem ist ein Anteil für den Bittenden und den Unbemittelten bestimmt.“ (Sure aª-©ÁriyÁt, Vers 19). 4. Verpflichtung zu moralischen Werten Der Heilige Qur’an sieht die Lehre moralischer Werte als eines der wesentlichen Ziele der prophetischen Mission an: „Er ist es, Der unter den Analphabeten einen Gesandten aus ihrer Mitte erweckt hat, um ihnen Seine Verse zu verlesen und sie zu reinigen und sie die Schrift und die Weisheit zu lehren, obwohl sie sich zuvor in einem offenkundigen Irrtum befanden.“ (Sure al-¹umuþa, Vers 2). Und mit den Worten von Prophet Mohammad gesprochen: „Wahrlich, ich wurde entsandt, um die hohen moralischen Maßstäbe zu vervoll- „Und haltet allesamt an Gottes Seil fest und zerfallet nicht..“ (Sure Àl-þImrÁn, Vers 103) 1. Verwirklichung von Gerechtigkeit Dem Qur’an zufolge war die Ausrichtung der menschlichen Gesellschaften zur Verwirklichung von Gerechtigkeit eine der Hauptaufgaben der Propheten: „Wahrlich, Wir schickten Unsere Gesandten mit klaren Beweisen und sandten mit ihnen das Buch und die Waagewerte herab, auf dass die Menschen Gerechtigkeit üben mögen…“ (Sure al¼adÍd, Vers 25). Demnach soll die islamische Gesellschaft eine klassenlose Gesellschaft sein, d. h. frei von speziellen Privilegien für ein Individuum oder eine Gruppe. Die Schaffung einer gerechten Gesellschaftsstruktur ist ein wesentlicher Faktor für die Verhütung von Gewalt in dieser Gesellschaft. 44 Al-Fadschr Nr. 128 Eine ideale Gesellschaft ist eine, in der sowohl der Staat wie auch die Gemeinschaft die Wächter aller Bedürftigen sind. So werden beispielsweise junge Menschen unterstützt, damit sie heiraten können, oder Eltern wird in Erziehungsfragen geholfen. kommnen.“2 Der Islam erwartet von den Muslimen die uneingeschränkte Bindung an die moralischen Prinzipien, und das wird als ein Schlüsselfaktor angesehen für die Garantie der Sicherheit und des Wohlergehens der muslimischen Gemeinschaft. 3. Tiefes Gefühl sozialer Verantwortlichkeit Aus islamischer Sicht sind die Menschen Gottes Treuhänder auf Erden, und als solche sind sie verantwortlich sowohl für sich selbst wie auch für die anderen Mitglieder der Gesellschaft. Vom Propheten des Islam ist folgender Ausspruch überliefert: „Wahrlich, jeder von euch ist wie ein Hirte, und jeder Hirte ist verantwortlich für seine/ihre Herde.“1 5. Beachtung von Mäßigkeit In der qur’anischen Perspektive wird die muslimische Umma als eine moderate Gesellschaft angesehen: „Und so machten Wir euch zu einer Gemeinde von redlicher Gesinnung, auf dass ihr Zeugen seiet über die Menschen und auf dass der Gesandte Zeuge sei über euch…“ (Sure alBaqara, Vers 143). Das bedeutet, dass die Muslime in ihrem Leben einem moderaten Weg folgen und jedes Extrem und jeden Exzess vermeiden sollen, d. h. sie sollten eine modellhafte Nation schaffen, die zwischen Glaube und Verstand, Religiösem und Profanem und dieser Welt und dem Jenseits ein Gleichgewicht wahrt. 6. Brüderlichkeit Der Begriff der Brüderlichkeit unter den Mitgliedern einer islamischen Gemeinschaft ist eine der grundlegenden Ideen, die der Heilige Qur’an betont hat: „Die Gläubigen sind ja Brüder. So stiftet Frieden zwischen euren Brüdern und fürchtet Gott, auf dass euch Barmherzigkeit erwiesen werde.“ (Sure al-¼uºurÁt, Vers 10). Der Qur’an bezieht sich auf (eine ideale) muslimische Gemeinschaft als eine geeinte Gemeinschaft: „Diese eure Gemeinschaft ist eine einheitliche Gemeinschaft; und Ich bin euer Herr, darum dient Mir.“ (Sure alAmbiyÁ’, Vers 92) und fordert die Muslime auf, sich nicht untereinander aufzuspalten: „Und haltet insgesamt an Gottes Seil fest und zerfallet nicht…“ (Sure Àl-þImrÁn, Vers 103). Prophet Mohammad hat die Bedeutung der Einheit unter den Gläubigen wie folgt illustriert: „Das Beispiel der Gläubigen in ihrer gegenseitigen Zuneigung, Güte und ihrem Mitgefühl gleicht einem Körper; wenn eines seiner Teile erkrankt, wird der ganze Körper aufgrund von Schlaflosigkeit und Fieber geschwächt.“3 7. Gutes gebieten und Schlechtes verwehren Der Heilige Qur’Án spricht wiederholt von einigen Gesellschaften, die zerstört wurden wegen der Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber der Gegenwärtigkeit von Übel und Verwerflichkeit unter ihnen. Das qur’Ánische Heilmittel für dieses Problem besteht darin, wissende Menschen in der Gesellschaft zu haben, die zum Guten aufrufen und das Böse verwehren können: „Und aus euch soll eine Gemeinde werden, die zum Guten einlädt und das gebietet, was Rechtens ist, und das Unrecht verbietet; und diese sind die Erfolgreichen.“ (Sure Àl-þImrÁn, Vers 104). Die Sensitivität im Hin- blick auf das Gute und das Schlechte in der Gesellschaft ist eines der zentralen Themen im Islam, und eine angemessene Reaktion darauf ist notwendig, damit die Muslime eine gute Umma werden: „Ihr seid die beste Gemeinde, die für die Menschen entstand. Ihr gebietet das, was Rechtens ist, und ihr verbietet das Unrecht, und ihr glaubt an Gott…“ (Sure Àl-þImrÁn, Vers 110). 8. Respektierung der Menschenrechte Der Islam hat einige grundlegende Rechte für die Menschheit in ihrer Gesamtheit niedergelegt. Aus islamischer Sicht wurden diese Rechte von Gott gegeben, und alle Muslime sollen sie respektieren. Das bedeutet z. B., dass Leben, Würde und Besitz aller Bürger einer muslimischen Gemeinschaft respektiert werden müssen: „…wenn jemand einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen hätte, oder ohne dass ein Unheil im Lande geschehen wäre, so soll es sein, als hätte er die ganze Menschheit getötet…“ (Sure al-MÁ’ida, Vers 32). „Und wahrlich, Wir haben die Kinder Adams geehrt…“ (Sure al-IsrÁ’, Vers 70). „Und verschlingt nicht euren Besitz untereinander in ungerechter Weise…“ (Sure al-Baqara, Vers 188). Islam, schaft Wissenschaft und Gesell- Wir haben gesehen, dass der Islam die Aneignung von Wissen in seinem allgemeinen Sinne nachdrücklich betont. Die Erziehung von engagierten Gläubigen und die Schaffung gesunder islamischer Gesellschaften ist eines seiner primären Ziele. Das bedeutet, dass Wissen im Allgemeinen und die Naturwissenschaften und ihre praktischen Nebenprodukte (Technologie) im Besonderen so entwickelt werden sollten, dass: ▪ sie den spirituellen Bedürfnissen von Individuen und Gesellschaft genügen; ▪ sie die grundlegenden Bedürfnisse von Individuum und Gesellschaft erfüllen; ▪ sie die charakteristischen Elemente einer islamischen Gesellschaft nicht stören; ▪ sie die Gesellschaft vor üblen Kräften und Aggression von außen schützen. Das bedeutet, dass die Naturwissenschaften und ihre praktischen Nebenprodukte auf eine solche Weise entwickelt werden müssen, dass sie glückliche Menschen und gedeihende Gesellschaften hervorbringen. Bedauerlicherweise hat die Entwicklung von Wissenschaft und Technologie in den beiden letzten Jahrhunderten nicht zur Wohlfahrt der Menschheit geführt. Die wichtigsten Folgen dieses falschen Gebrauchs von Wissenschaft und Technologie waren: ▪ Maßlose Ausbeutung von Bodenschätzen; ▪ Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich: ▪ Umweltverschmutzung; ▪ Unterminierung der spirituellen Dimension der Menschheit. All diese Probleme sind aus der kurzsichtigen säkularistischen Weltsicht hervorgegangenen, die nahezu alle akademischen Kreise dominiert hat. Um diese Situation zu verändern, bedarf es dringend einer Veränderung in der allgemeinen Sichtweise von Wissenschaft und Technologie und deren Rolle in der menschlichen Gesellschaft. Wenn die Ausrichtung der Wissenschaft von einem reinen Werkzeug zur Ausbeutung der Natur und für Machtzuwachs verändert wird zu einem Verstehen der Natur und der Bereitstellung passender menschlicher Bedürfnisse, dann können Wissenschaft und Technologie dazu beitragen, tugendhafte und gedeihende Gesellschaften zu schaffen. * Mehdi Golschani ist Professor für Wissenschaftsphilosophie. Anmerkungen: 1 Muslim Ibn al-HaººÁº, Sa½Í½ Muslim, Beirut 1955, Bd. 3, S. 1459, ¼adÍÝ 1829. 2 Al-MuttaqÍ, Kanz al-UmmÁl, Beirut 1985, Bd. 3, S. 16, ¼adÍÝ 5217. 3 M. B. MaºlisÍ, BihÁr al-AnwÁr, Beirut 1403h.q., Bd. 61, S. 150. Al-Fadschr Nr. 128 45