Moderne Experimente der Kernphysik Wintersemester 2011/12 Vorlesung 03 – 31.10.2011 Moderne Experimente der Kernphysik | Prof. Thorsten Kröll | Vorlesung 3 31.10.2011 1 - Gammaspektroskopie Elektromagnetische Zerfälle angeregter Kernzustände Programm • Gammaübergänge zwischen Kernniveaus - Erhaltungsgrößen - Winkelverteilungen - Linearpolarisation • Übergangswahrscheinlichkeiten - reduzierte Matrixelemente - Weisskopf-Abschätzung • Wechselwirkungsprozesse mit Materie • Gammadetektoren - Szintillationsdetektoren - Germaniumdetektoren - 4π-Spektrometer - „Gamma-Ray Tracking“ z Elektromagnetische Übergänge zwischen zwei Kernzuständen | i 〉, | f 〉 z Erhaltungsgrößen: Energie : E f = Ei − hω r r r Drehimpuls : J f = J i + l M f = Mi + μ Parität : π f = π i ⋅π γ Ei Ji, Mi , πi |i〉 ℓ, μ, π Ef Jf, Mf, πf |f〉 Energie Angeregte Kernzustände - Gammazerfall 1 z Der Drehimpuls ℓ der Gammastrahlung (des Photons) wird auch die Multipolordnung der Strahlung genannt – Strahlungsfeld wird in Kugelflächenfunktionen entwickelt – z.B. erzeugt ein schwingender Dipol ein Dipolfeld (Hertzscher Dipol) z Man unterscheidet zwischen elektrischer und magnetischer Strahlung, was von der Natur des emittierenden Multipols abhängt: – Schwingende Ladungsverteilung → elektrische Strahlung (E) – Schwingende Stromverteilung → magnetische Strahlung (M) Klassischer Dipolstrahler Elektrischer Dipol Magnetischer Dipol Elektromagnetische Wellen - Hertzscher Dipol Poynting-Vektor ( r 1 r r S= E×B μ0 ) • Richtung des Energieflusses • Betrag der Leistungsdichte Strahlungsfeld eines Dipols Einheit: J/m2/s = W/m2 Bei hohen Frequenzen „lösen“ sich die Felder vom Dipol ab, elektromagnetische Wellen werden abgestrahlt. John Henry Poynting (1852-1914) 6 Strahlungscharakteristik eines Hertzschen Dipols E nach „oben“ (positive z-Achse) E nach unten (negative z-Achse) Farbintensität |E| Poynting-Vektor 7 Angeregte Kernzustände - Gammazerfall 2 z Auswahlregeln: – Aufgrund der Eigenschaften der Kugelflächenfunktionen ergeben sich für die Multipolstrahlung folgende Auswahlregeln: π i = ( −1)l π f für (Eℓ)-Strahlung π i = ( −1)l+1π f für (Mℓ)-Strahlung Angeregte Kernzustände - Gammazerfall 3 z Warum sind in der Tabelle nur die niedrigsten Multipole angegeben? Betrachte die Emission eines Photons (masseloses Teilchen, Spin=1) mit einer Einheit Drehimpuls (ħ): Emission im Abstand x h = x× p = x Eγ c ⇒x= hc =D Eγ hc 197 MeV ⋅ fm = ≈ 200 fm >> R Kern Für Kerne ist Eγ ~ 1 MeV D = Eγ 1 MeV Hieraus folgt: • Die Wahrscheinlichkeit für Emission von Photonen mit Drehimpuls ℓ nimmt rapide mit wachsendem Drehimpuls ab! • In Atomen (ähnliche Größenverhältnisse) führt dies dazu, dass es fast ausschließlich Dipolstrahlung bei Hüllenübergängen gibt. • Im Kern dominieren niedrige Multipole wobei auch ℓ = 2 meistens noch konkurrieren kann und auch ℓ =3,4 vorkommen können (jedoch selten) Winkelverteilung 1 Emittierte Intensität (Poynting-Vektor Z) als Funktion des Winkels zur Quantisierungsachse: 1 {1 − P2 (cosθ )} 4π 1 Z1±1 (θ ) = 1 + 12 P2 (cos θ ) 4π r r r 2 Z lμ (θ) = E × B ∝ Ylμ (θ, φ) Z10 (θ ) = { Ylm (Kugelflächenfunktionen): Eigenfunktionen zu Drehimpulsquantenzahlen (lm) Erwartungswert ein Photon (lm) bei Winkel (θ,φ) zu finden Dipol (ℓ=1) } Quadrupol (ℓ=2) 1 1 + 75 P2 (cos θ ) − 127 P4 (cos θ ) 4π 1 Z 2±1 (θ ) = 1 + 145 P2 (cos θ ) + 87 P4 (cos θ ) 4π 1 Z 2± 2 (θ ) = 1 − 75 P2 (cos θ ) − 72 P4 (cos θ ) 4π Z 20 (θ ) = { } { } { } Winkelverteilung hängt nicht vom Azimuthalwinkel ab! l Isotrope Winkelverteilung, wenn alle μ gleich häufig sind: ∑ Z lμ (θ ) = μ =− l 2l + 1 4π Winkelverteilung 2 Zusammenfassen der Terme Pk(cos θ): l = 1: W (θ ) = 1 + A2 P2 (cosθ ) l = 2 : W (θ ) = 1 + A2 P2 (cosθ ) + A4 P4 (cosθ ) ... Die experimentellen Werte für A2 und A4 hängen ab von: • Bevölkerung der magnetischen Unterzustände Mi des zerfallenden Niveaus Sind alle Mi mit gleicher Wahrscheinlichkeit besetzt, ist die Verteilung isotrop l,μ • Das Gewicht des Anteils J i , M i ⎯⎯→ J f ,M f ist gegeben durch den Clebsch-Gordan-Koeffizienten Ji M i l μ J f M f • Mögliche Multipolkomponenten im Übergang: Multipolmischung, z.B. E2 und M1 für einen Übergang ΔJ = ±1 oder 0 ohne Änderung der Parität Winkelverteilung 3 Die Messung der Winkelverteilung erlaubt die Bestimmung der Multipolarität ℓ: Beispiel für einen 6+ → 4+ (E2) Quadrupolübergang • Anpassung der Koeffizienten A2 und A4 an exp. Daten • Vergleich mit den theoretischen Werten A2 = 0,347(16) A4 = −0,166(23) Elektrischer oder magnetischer Charakter kann nicht durch Messung der Winkelverteilung bestimmt werden!!! → Messung der Linearpolarisation Q ua nt is ie ru ng s ac hs e z Linearpolarisation – Definition Die von Propagationsrichtung r (=Poynting-Vektor) und elektrischem Feld E aufgespannte Ebene heißt Polarisationsebene Grad der Polarisation ist definiert als: ( ( ) ) ( ( W θ , γ = 0o − W θ , γ = 90o P(θ ) = W θ , γ = 0o + W θ , γ = 90o Bei Emission unter Θ=90º steht der elektrische Feldvektor E entweder senkrecht (γ=90°) oder parallel (γ=0°) zur Quantisierungsachse z. ) ) Polarisation und Comptonstreuung Klein-Nishina-Formel: dσ r ⎛⎜ Eγ ' ⎞⎟ = dΩ 2 ⎜⎝ Eγ ⎟⎠ 2 e 2 ⎡ Eγ ' Eγ ⎤ 2 2 + − 2 sin ϑ cos γ ⎥ ⎢ ⎢⎣ Eγ Eγ ' ⎥⎦ γ Comptonstreuung bevorzugt Streuung in Ebene senkrecht zum E-Vektor! Aus der Messung einer bevorzugten Richtung bzw. einer Asymmetrie in der Comptonstreuung kann man auf die Polarisation zurückschließen Polarisation – Messung der Asymmetrie 1 ( ( ) ) ( ( W θ , γ = 0o − W θ , γ = 90o P(θ ) = W θ , γ = 0o + W θ , γ = 90 o ) ) A(θ ) = N ⊥ − N || N ⊥ + N|| = Q(Eγ )⋅ P(θ ) Q: Polarisations-Sensitivität N ⊥ = W (θ , γ = 0o )⋅ dσ dσ ( ( ϑ , ϕ = 90o ) + W (θ , γ = 90o ) ⋅ ϑ , ϕ = 0o ) dΩ dΩ Zählraten für Streuung senkrecht und parallel zur dσ dσ Emissionsebene ϑ , ϕ = 0o + W θ , γ = 90o ⋅ ϑ , ϕ = 90o N || = W θ , γ = 0o ⋅ dΩ dΩ ( ) ( ) ( ) ( ) Polarisation – Messung der Asymmetrie 2 Compton-Streuung bevorzugt Streuung in Ebene senkrecht zum E-Vektor! Magnetische Strahlung: E steht senkrecht zur Emissionsebene N|| > N ⊥ ⇒ A(θ ) = N ⊥ − N|| N ⊥ + N|| <0 Elektrische Strahlung: E steht parallel zur Emissionsebene N|| < N ⊥ ⇒ A(θ ) = N ⊥ − N|| N ⊥ + N|| >0 A(θ) Übergangswahrscheinlichkeiten 1 Abgestrahlte Leistung einer klassischen Multipolantenne: 8π (l + 1)c ⎛ ω ⎞ P (σl ) = ⎟ 2 ⎜ l[(2l + 1)!!] ⎝ c ⎠ 2 l+2 M σ2l Quantenmechanik: Übergangswahrscheinlichkeit Ti → f P(σl ) 8π (l + 1)c ⎛ hω ⎞ ≡ = ⎜ ⎟ 2 hω h c l[(2l + 1)!!] hc ⎝ ⎠ 8π (l + 1)c ⎛ Eγ ⎞ ⎜⎜ ⎟⎟ = 2 l[(2l + 1)!!] hc ⎝ hc ⎠ 2 l +1 2 l +1 i Mˆ (σl, μ ) f 2 i Mˆ (σl, μ ) f 2 Übergangswahrscheinlichkeit enthält wichtige Information über die Wellenfunktionen von Ausgangszustand |i> und Endzustand |f>!!! Übergangswahrscheinlichkeiten 2 Ti→ f 8π (l + 1) ⎛ Eγ ⎞ = ⎟⎟ 2 ⎜ ⎜ h c l[(2l + 1)!!] h ⎝ ⎠ 2 l+1 J i mi Mˆ (σl, μ ) J f m f 2 • Wir kennen üblicherweise weder den magnetischen Unterzustand des Anfangszustandes noch den des Endzustandes!! • Daher wird über alle magnetischen Unterzustände des Ausgangszustandes gemittelt und über die magnetischen Unterzustände des Endzustandes summiert: Wigner-Eckart-Theorem: Faktorisierung in Matrixelement, das von Orientierung unabhängig ist, und Clebsch-Gordan-Koeffizient, der die Drehimpulskopplung beinhaltet: ji mi Oˆ lμ j f m f = ji mi lμ j f m f 1442443 ji Oˆ l j f Clebsch −Gordan − Koeffizient Reduzierte Übergangsstärke oder -wahrscheinlichkeit B (σl, J i → J f ) ≡ = 1 ∑ 2 J i + 1 mi , m f , μ 1 2Ji +1 Reduziertes Matrixelement J i mi Mˆ (σl, μ ) J f m f J i Mˆ (σl ) J f 2 2 Übergangswahrscheinlichkeiten 3 Ti → f 8π (l + 1) ⎛ Eγ ⎞ ⎜ ⎟⎟ = 2 ⎜ l[(2l + 1)!!] h ⎝ hc ⎠ 2 l +1 B (σl, J i → J f ) Zusammenhang zwischen Übergangswahrscheinlichkeit und reduziertem Matrixelement bzw. reduzierter Übergangswahrscheinlichkeit: Ti → f (σl ) = Const ⋅ Eγ 2 l +1 ⋅ B (σl, J i → J f ) T(σℓ) in [s-1] Eγ in [MeV] B(Eℓ) in [e2fm2ℓ] B(Mℓ) in [μN2 fm2ℓ-2] Messung von Übergangswahrscheinlichkeiten Messgröße beim Zerfall von angeregten Zuständen: Lebensdauer τ ≡ Zerfallsgesetz: 1 λ = 1 Ti→ f dn = −λ ⋅ n (t ) dt bzw. Halbwertszeit T1/ 2 = ln 2 λ = τ ln 2 n (t ) = n0 ⋅ e − λt Aus der Messung der Halbwertszeit eines Zustandes erfährt man etwas über die Matrixelemente, die diesen Zustand mit anderen Zuständen verbindet. Diese Matrixelemente geben wiederum Aufschluss über die Wellenfunktion der beteiligten Zustände. Näheres zur experimentellen Methoden zur Bestimmung von Lebensdauern → Kapitel „Lebensdauermessung“ Alternativ lassen sich reduzierte Matrixelemente auch aus Anregungswahrscheinlichkeiten in Coulombanregung bestimmen Näheres dazu → Kapitel „ Coulombanregung“ Weisskopfabschätzung 1 Betrachte Anregung eines Nukleons in einen Schalenmodellzustand: J i Mˆ (σl ) J f = ℜl ⋅ ji er lYl j f { 142 4 43 4 Radial Integral Winkel − Integral Beispiel: elektrische Multipolstrahlung: Winkel −Integral 6444 4744448 2 e2 1 1 B (El, J i → J f ) = (2l + 1) J i 2 l0 J f 2 ⋅ ℜ2l 4π • Der Winkelanteil ist exakt berechenbar (unabhängig vom verwendeten Potential) • Radialanteil müsste für jeden Zustand / Potential genau berechnet werden Einfachste Alternative (Abschätzung nach Weisskopf) • Winkelanteil =1 • Annahme einer konstanten Radialwellenfunktion im Kern: ℜWl = l 3 3 ( R0l = 1,2 fm ⋅ A1 / 3 ) l+3 l+3 Weisskopfabschätzung 2 2 elektrische Multipolstrahlung: 1 ⎛ 3 ⎞ 2 2l ⋅⎜ BW (El, J i → J f ) = ⎟ e R0 4π ⎝ l + 3 ⎠ magnetische Multipolstrahlung: 10 ⎛ 3 ⎞ 2 2 l−2 B (Ml, J i → J f ) = ⋅ ⎜ ⎟ μ N R0 π ⎝l+2⎠ 2 W Man vergleicht oft gemessene Übergangsmatrixelemente mit der Weisskopfabschätzung. Das Resultat wird in sog. Weisskopf-Einheiten (Weisskopf-Units W.U.) angegeben. Weisskopfabschätzung 3 Halbwertszeiten nach der Weisskopfabschätzung inkl. Konversion Wechselwirkung von Gammaquanten mit Materie Messung von Gammastrahlung z Gammastrahlung wird in einem Detektor über eine Wechselwirkung mit dem Detektormaterial nachgewiesen z Wechselwirkungsarten von Gammastrahlung mit Materie – Photoeffekt – Compton-Streuung – Paarbildung Nachweis von Gammastrahlung – Photoeffekt • • • Direkte Absorption eines Photons durch ein atomares Elektron mit anschließender Emission des Elektrons Nicht möglich für freie Elektronen! Rückstossimpuls wird vom Atom aufgenommen E = hν − B.E . ... Röntgen-Quant wird auch gemessen → E = hν Wirkungsquerschnitt: σ Photo Z 4 −5 ≅ const. × 7 / 2 Eγ Absorptionskanten = Bindungsenergie der Hüllenelektronen Nachweis von Gammastrahlung – Compton-Streuung 1 Elastische Streuung des Gammaquants an einem (freien) Elektron Wellenlängendifferenz: λ '−λ = λC (1 − cosθ ) Compton-Wellenlänge des Elektrons: h 2πhc 6,28 ⋅197 MeV ⋅ fm λC = = = ≈ 2400 fm 2 me c me c 0,511 MeV E0 = me c 2 = 511 keV Nachweis von Gammastrahlung – Compton-Streuung 2 Restenergie des gestreuten Gamma-Photons: Eγ ' = Eγ ⋅ me c 2 me c + Eγ (1 − cos θ ) 2 Energiespektrum der Elektronen Maximale Energie des gestreuten Elektrons: ( ) T e− max = 2 Eγ2 me c 2 + 2 Eγ Prinzipielle Form des Spektrums Nachweis von Gammastrahlung – Compton-Streuung 3 Wirkungsquerschnitt der Comptonstreuung Klein-Nishina Formel: 2 2 ⎞ ⎛ ( ) Γ − 1 1 cos θ dσ re2 2 ⎜1 + cos θ + ⎟ = 2 ⎜ 1 + Γ(1 − cos θ ) ⎟⎠ dΩ 2 [1 + Γ(1 − cos θ )] ⎝ „klassischer Elektronenradius“ Γ= Eγ me c 2 e2 re = ≈ 2.818 fm 2 4πε 0 me c Die Klein-Nishina-Formel wird noch modifiziert, wenn die Linearpolarisation der Strahlung mit berücksichtigt wird. Nachweis von Gammastrahlung – Compton-Streuung 3 ⎧1 + Γ ⎡ 2(1 + Γ ) 1 1 + 3Γ ⎫ ⎤ 1 − ln (1 + 2Γ )⎥ + σ C = 2π r ⎨ 2 ⎢ ln(1 + 2Γ ) − 2⎬ Γ Γ + Γ Γ 1 2 2 ( ) + Γ 1 2 ⎣ ⎦ ⎩ ⎭ 2 e Γ= Winkelverteilung Eγ me c 2 Nachweis von Gammastrahlung – Paarbildung Umwandlung eines Photons in ein Elektron-Positron-Paar • Minimale Energie des Photons: 2mec2 = 1,022 MeV • Kern muss Rückstoss aufnehmen Wirkungsquerschnitt: σ paar ⎡ 7 ⎛ 2 Eγ ⎞ 109 ⎤ = 4 Z α r ⎢ ⎜⎜ ln − f ( Z ) ⎟⎟ − ⎥ 2 m c 54 9 e ⎠ ⎦ ⎣ ⎝ 2 2 e f(Z): Coulomb-Korrektur α=1/137 : Feinstrukturkonstante Nachweis von Gammastrahlung – Totaler Wirkungsquerschnitt 1 Grosses Z des Materials ⇔ grosser WQ für Photoeffekt Nachweis von Gammastrahlung – Totaler Wirkungsquerschnitt 2 Wesentlicher Energiebereich für viele Kernstrukturuntersuchungen Nachweis von Gammastrahlung – Form des Spektrums 1 Nachweis von Gammastrahlung – Form des Spektrums 2 Nachweis von Gammastrahlung – Form des Spektrums 3 Eγ = 766 keV Eγ = 1779 keV