Verführungs Das MusikalischErotische in der Musik Mozarts – auf den Spuren von Sören Kierkegaard Lars Oberhaus 22 „Unsterblicher Mozart! Du, dem ich alles verdanke, daß ich den Verstand verlor, daß meine Seele erstaunte, daß ich in meinem innersten Wesen mich entsetzte, du, dem ich verdanke, daß ich nicht durchs Leben gegangen bin, ohne daß etwas imstande gewesen wäre, mich zu erschüttern, du dem ich es danke, daß ich nicht gestorben bin, ohne geliebt zu haben, mag meine Liebe auch unglücklich gewesen sein.“1 Mit diesen Zeilen drückt der dänische Philosoph und Schriftsteller Sören Kierkegaard (1813-1855) unmissverständlich seine Leidenschaft für Mozarts Musik aus. Im letzten Satz werden auch Bezüge zu persönlichen unerfüllten Liebeserlebnissen deutlich. In seinen Schriften verarbeitet er diese Erfahrungen, indem er durch Pseudonyme verschiedene Rollen annimmt und aus deren Perspektive sein eigenes moralisches Handeln deutet. Kierkegaard macht keinen Hehl daraus, dass er „nicht zu dem auserwählten Volk der Musikverständigen“2 gehört, bezeichnet sich aber dennoch als „Musikliebhaber“, der Musik kritisch „von außen“ betrachtet. In seiner Schrift Entweder – Oder untersucht Kierkegaard verschiedene Opernarien Mozarts (Cherubino, Papageno, Don Giovanni) und stellt da- musik & bildung Thema rin aus seiner Sicht verschiedene musikalisch-erotische Stadien fest, die er in Form eines dreistufigen Modells verarbeitet.3 Im Unterricht Im Unterricht wird aus musikanalytischer Perspektive überprüft, ob die erotische Mozartinterpretation von Kierkegaard haltbar ist oder ob er die Musik „missbraucht“, um persönliche Erlebnisse zu verarbeiten. Der besondere Reiz dieser Unterrichtsthematik liegt zum einen in der Auseinandersetzung mit Erotik als menschlicher Grunderfahrung und zum anderen in der musikanalytischen Überprüfung der Thesen Kierkegaards. Die SchülerInnen begeben sich auf eine Art „Spurensuche“, indem sie zunächst Kierkegaards erotische Mozartdeutung kennen lernen, diese anhand der Partitur überprüfen und abschließend mit dessen Biografie in Bezug setzen. Die Erarbeitung der erotisch-musikalischen Stadien ist an keine spezifischen Voraussetzungen seitens der Lerngruppe künste gebunden. Der hier dargestellte Unterrichtsbaustein zum Thema „Verführung“ lässt sich in eine größere Einheit über die Bühnenwerke Mozarts oder dem Topos „Liebe und Erotik in der Musik“ integrieren (zur Vertiefung bietet sich Material zu folgenden Themen an: „Zur Gestalt des Don Juan/Don Giovanni“ – steht zum Download auf musikpaedagogikonline.de bereit –, „Zum Rezeptionswandel der Don Juan-Thematik“, „Die musikalischen Wurzeln des Don Giovanni“ und „Die musikalischen Wirkungen Don Giovannis nach Mozarts Tod“).4 Musikalisch-literarischer Appetizer Um den SchülerInnen Sören Kierkegaards Bewunderung für Mozarts Schaffen „schmackhaft“ zu machen, wird die Ouvertüre zu Don Giovanni gehört (HB 5). Parallel zur Musik liest der Lehrer eine Passage vor, in der Kierkegaard seine Mozartverehrung zum Ausdruck bringt und die gerade erklingende Musik beschreibt (M 1). Die SchülerInnen vergleichen die Stimmung des Textes mit der Wirkung der Musik. Unter Hinzunahme von Partiturauszügen überprüfen die SchülerInnen nun, ob sich die symbolischen Andeutungen im Notentext wieder finden.5 Während die langsame Einleitung bereits durch Dynamikwechsel sowie durch das auftretende gis'' als Tritonus der Grundtonart d-Moll auf Don Giovannis dämonisches Wesen verweist (a und b, Takte 11 ff.) und die wellenförmig ansteigenden Sechzehntelläufe seinen Lebensbeginn ankündigen (c, Takte 23 ff.), verdeutlicht das schnelle Tempo des folgenden Allegros (D-Dur) seine Rastlosigkeit. Die Orgelpunkte der Bässe verkörpern „Standhaftigkeit“ und „Siegesgewissheit“ (d, Takte 31 ff.). Auch die von Kierkegaard angeführten „leicht tanzenden Geigentöne“, die Don Giovannis Freude, Jubel, Lust und Begierde ausdrücken, finden sich in den Seufzern und Staccati der Streicher wieder (e und f, z. B. Takte 36 und 46). Mit der Biografie vergleichen Diese musikalisch-literarische Annäherung macht die SchülerInnen erfahrungsgemäß neugierig für Kierkegaards Biografie. Anhand eines Textes werden zentrale Aspekte der Biografie erarbeitet und dem Plenum präsentiert (M 2). Der Schwerpunkt der Darstellung liegt dabei auf Kierkegaards religiösem Fatalismus sowie auf den gescheiterten Beziehung zum Vater und zu seiner Verlobten Regine Olsen. In Bezug auf seine schriftstellerischen Tätigkeiten wird das Spiel mit Pseudonymen und Verstellungen hervorgehoben, das die „Verschleierung“ seiner persönlichen Einstellungen verdeutlicht und die SchülerInnen dazu motiviert, eine eigene Form von Wahrheit zwischen den Zeilen zu finden. Drei erotisch-musikalische Stadien Standbilder modellieren Um sich dem Aspekt der „erotisch-musikalischen Stadienlehre“ Kierkegaards anzunähern, modellieren die SchülerInnen zunächst verschiedene Standbilder, die eine verführerische Haltung ausdrücken (mit Mitteln der „szenischen Interpretation“). Um persönliche Bezugnahmen zur Rolle auszuschließen und etwaige Hemmungen in der Darstellung zu umgehen, ist es ratsam, die SchülerInnen vorher in eine andere Rolle „einzufühlen“, wie z. B. „Stellt euch vor, ihr seid auf einem Schloss und verkörpert eine Person, der die Frauen/Männer zu Füßen liegen.“ Dann finden sich die SchülerInnen zu Paaren zusammen: Ein Schüler übernimmt die Rolle des Standbilds, der andere versucht dessen Körperhaltung möglichst „verführerisch“ zu modellieren. Die SchülerInnen modellieren den ganzen Körper. Auch die Mimik sollte mit einbezogen werden. Die Modellierung erfolgt ohne Worte. Anschließend kommentieren sie ihr Ergebnis, indem sie eine Hand auf die Schulter des Standbilds legen und einen Satz aus der Ich-Perspektive formulieren, wie z. B. „Ich bin so unwiderstehlich!“ Das Ziel der Methode liegt darin, sich in eine fremde Rolle einzufühlen, verschiedene Ausdrucksformen kennen zu lernen und sich auf der Metaebene mit dem Aspekt der Erotisierung von Haltungen auseinander zu setzen. Zur Musik anpassen Die Standbilder werden mit den drei Arien von Cherubino (Hochzeit des Figaro), Papageno (Zauberflöte) und Don Giovanni (Don Giovanni) unterlegt, die für Kierkegaard jeweils ein erotisch-musikalisches Stadium repräsentieren (HB 6-8). Parallel zu den Hörbeispielen überprüfen die SchülerInnen ihre Haltungen und nehmen Veränderungen der Posen vor, um sie mit dem Ausdruck der Musik zu synchronisieren. Auch hier werden die neu entstandenen Bilder mit einem kurzen Satz aus der Ich-Perspektive kommentiert. Eine anschließende Diskussion bietet eine erste Gelegenheit, um über die unterschiedlichen Standbilder und den damit verbundenen musikalischen Eindrücken in einem erfahrungsbezogenen Feedback zu reflektieren. In Form kurzer Referate werden je nach Leistungsstand der Klasse weitere Informationen zu den Arien im Hinblick auf ihre Stellung in der Opernhandlung gegeben (zu finden auf M 3). 23 Cherubino – Stadium 1 In der Canzone „Euch holde Frauen, die Lieb ihr kennt“ („Voi, che sapete che cosa è amor“) spielt Cherubino der Gräfin und Susanna ein Ständchen. Die Pizzicato-Begleitung der Streicher spiegelt die fließende Gitarrenbegleitung wider, mit der der Page seine „sanft gewiegte“ Bewunderung preisgibt. Die Stimmung wirkt durch das langsame Tempo und die Gesangskantilenen sowie durch die aufsteigend-sequenzierten Seufzermotive sehnsuchtsvoll. Der Text unterstreicht den melancholischen Charakter Cherubinos, der seine noch unbestimmte Begierde in „weiten Fernen“ sucht. Plakatpräsentationen Als Vertiefung bieten sich die Interpretationen Kierkegaards zu den drei Opernarien an, die für ihn jeweils ein spezifisches Verführungsstadium symbolisieren. Dazu wird die Lerngruppe in Gruppen eingeteilt, die arbeitsteilig drei Texte von Kierkegaard bearbeiten (M 4-6 links). Die SchülerInnen gestalten Plakate, auf denen sie die zentralen Thesen des Textes zusammenfassen und diese erläutern. Alle Plakate werden im Klassenraum aufgehängt, sodass zu jeder Zeit auf die zentralen Aspekte der jeweiligen Stadien zurückgegriffen werden kann. Während der „androgyne“ Cherubino die unbestimmte „liebestrunkene Begierde“ verkörpert, in der das Sinnliche sehnsuchtsvoll erwacht, verdeutlicht die Entdeckerlust Papagenos bereits eine „suchende Begierde“, die „zwitschernd“ das Weibliche immer aufs Neue erforscht. Erst Don Giovanni repräsentiert in der Interpretation Kierkegaards den Verführer in seiner „sinnlichen Genialität“, da er rastlos im Moment lebt und dämonisch als „Inkarnation des Fleisches“ alle Frauen begehrt. Unter die Lupe nehmen Um die Thesen Kierkegaards zu überprüfen, erhalten die SchülerInnen Partiturauszüge und Hörbeispiele, mit denen sie innerhalb ihrer Gruppe analysieren, ob sich die auf ihrem Plakat aufgelisteten erotischen Zuschreibungen im Notentext wieder finden (M 4-6 rechts). 24 Papageno – Stadium 2 Papagenos Arie „Der Vogelfänger bin ich ja“ erinnert durch ihre einfach gehaltene rhythmisch-melodische Struktur an ein Volkslied und verkörpert die Unbeschwertheit seines Charakters. Das prägnante Pfeifenmotiv, mit dem er den Mädchen nachpfeift, symbolisiert seine Entdeckerlust. Die drei Strophen erwecken den Eindruck, als ob Papageno nach „Dutzenden von Weibchen“ sucht und sein Lied immer wieder von Neuem beginnt. Don Giovanni – Stadium 3 Don Giovannis Champagner-Arie „Auf zu dem Feste, froh soll es werden“ („Fin chàl dal vino, calda la testa“) drückt exemplarisch die Rastlosigkeit seines Lebens aus. Das rasante Tempo im Presto lässt ihm kaum Zeit zum Verschnaufen. Die kurzen rhythmischen Motive und zweitaktigen Phrasen erinnern an einen Marsch und verkörpern die elementare Kraft und Siegesgewissheit des Verführers. Im Anschluss an die Analyse lässt sich kritisch hinterfragen, inwieweit Kierkegaards erotische Interpretation der Musik Mozarts zutreffend erscheint. Festgehalten werden kann zunächst, dass sich in der musikalischen Analyse der drei Arien deutliche Parallelen zu den Stadien Kierkegaards ergeben. Allerdings muss auch hervorgehoben werden, dass Mozart nicht darum bemüht ist, ein erotisches Stufenmodell zu entwickeln. Es liegt eher im Interesse Kierkegaards, die ästhetische Lebensweise Don Giovannis zu verurteilen, um den Leser und Hörer zum Sprung in das ethische Stadium aufzufordern. In diesem Zusammenhang erscheint es also durchaus plausibel, dass Kierkegaard die Musik Mozarts „missbraucht“, verfremdet und für eigene Interessen ausnutzt. Don Giovannis Widertönen Kierkegaard behauptet in Bezug auf das dritte und höchste erotische Stadium, dass alle Rollen in Don Giovanni durch Don Giovanni „widertönen“, denn sie stehen „in einer Art erotischen Beziehung zu Don Juan“.6 Die Oper trägt einen „Grundton“, eine „Einheit der Stimmung“, die durch die unreflektierte Leidenschaft des Verführers gekennzeichnet ist und sich in allen anderen Personen spiegelt. Don Giovanni ist „wesentlich Leben“ und alle anderen Personen verkörpern „Leidenschaften, die durch Don Juan gesetzt sind und insofern wiederum musikalisch werden“.7 Kierkegaard verdeutlicht diese These anhand der ersten Arie der Donna Elvira „Ach, werd’ ich ihn wohl finden“ („Ah chi mi dice mai“), in der sie ihren ehemaligen Geliebten Don Giovanni sucht, um sich an ihm zu rächen. Dieser versteckt sich mit Leporello im Hintergrund. Kierkegaard behauptet nun, dass anhand einer Pause in der Musik hörbar wird, wie Don Giovanni in Elvira „widerklingt“. Die SchülerInnen erhalten zunächst Kierkegaards Deutung der Arie und bestimmen anschließend die von ihm erwähnte Pause anhand des Partiturauszugs und des Hörbeispiels (M 7 und HB 9). Sie ist auf den ersten Blick nicht eindeutig zu erkennen. Sind es die kurzen Orchestereinwürfe, die symbolisch das „Schleudern des Spottes“ verdeutlichen, oder eher die bissig-ironischen Kommentare Don Giovannis, mit denen er aus dem Hintergrund den Gesang Elviras unterbricht? Gerade im letzten Falle ließe sich Kierkegaards These zustimmen, da Don Giovanni den Verlauf der Arie beeinflusst und den Gesang unterbricht. Fraglich bleibt allerdings, ob die Widertönen-These Kierkegaards der sensiblen musikalischen Darstellung der Seelenzustände Donna Elviras gerecht wird. Mozarts Musik charakterisiert ein individuelles, verletzliches, aber stolzes Individuum. Hierauf verweisen der große Ambitus, die Sprünge in der Gesangsstimme, die dynamischen Schwankungen sowie die Synkopen in der Begleitung.8 Wie das erotische Stufenmodell ist die Widertönen-These zwar originell, aber im Hinblick auf Mozarts musikalischer Darstellung der Charaktere nicht haltbar. Vielmehr ließen sich auch hier Querverweise zu Kierkegaards Biografie ziehen. Kierkegaard projiziert die Rolle der Donna Elvira auf Regine Olsen, die beide auf der Suche nach ihrem ehemaligen Geliebten (Don Giovanni/Kierkegaard) sind. Dieses Wunschdenken wird zwar durch die Abweisungen Don Giovannis abgeschwächt, verdeutlicht aber die Untrennbarkeit der beiden Personen. Ausblick: Sex-Images in der Popmusik Kierkegaards erotische Stadienlehre ist keineswegs antiquiert, sondern bietet Potenzial, die musikalische Lebenswelt der SchülerInnen in Bezug auf Sex-Images der Popmusikstars näher zu beleuchten. Ausgehend von der begrifflichen Unterscheidung zwischen Erotik als verborgenem Spiel mit den Sinnen und Sex als offener Zurschaustellung sinnlicher Reize, lassen sich kommerzielle Vermarktungsstrategien aufzeigen. Christina Aguilera Die Sängerin Christina Aguilera verkörpert z. B. ein solches Sex-Image. Anhand von Musikvideos, Fotos ihres (fast nicht mehr vorhandenen) Outfits und Songtexten lässt sich eine Glorifizierung des SexImages und eine Banalisierung des Erotischen festmachen (HB 10).9 Im Unterricht wird kritisch hinterfragt, ob der Unterhaltungsmusik an der Erotisierung gelegen ist und ob sie in der Lage ist, das verborgene und indirekte Spiel mit der Sinnlichkeit zu transportieren. Enigma Um diese Fragestellung weiter zu verfolgen, wird der Song Mea Culpa von Enigma gehört (HB 11). Hierbei handelt es sich um ein Solo-Projekt des deutschen Komponisten und Produzenten Michael Cretu, der atmosphärische Keyboardsounds und elektronische Beats mit Gregorianischen Chorälen verbindet. Der mittelalterliche Mönchsgesang besitzt zunächst eine meditative Wirkung und suggeriert dem Hörer unterschwellig, in eine fremde Welt hineinzutauchen. Das Spiel mit dem Unbekannten, Heimlichen und Verborgenen ist aber auch eine sexuelle Vermarktungsstrategie, da über die Gegenüberstellung von Gregorianik und hauchender Frauenstimme die verborgenen Wünsche des Käufers angesprochen werden. Gerade der Text verdeutlicht das geplante Spiel zwischen Vulgarität („Prends moi“) und Keuschheit („Mea culpa“). Im Vergleich zwischen Christina Aguilera und Enigma wird deutlich, dass die Popsängerin auf die Vermarktung ihres eigenen Körpers abzielt, während Michael Cretu auf einer nicht leicht zu durchschauenden psychologischen Ebene die Tiefendimensionen der Hörer anspricht. dreht sich der Außenkreis um eine Person nach rechts, sodass neue Paarbildungen entstehen und der Austausch erneut beginnt. Der Reiz dieser Methode liegt darin, dass die SchülerInnen ihren Vortrag präzisieren lernen und ihn mit neuen Erkenntnissen ergänzen. Materialien zur Arie finden sich auf musikpaedagogik-online.de zum Download; vgl. auch Heinz Klippert: Methodentraining. Übungsbausteine für den Unterricht, Weinheim und Basel 1994. 7 Kierkegaard, a. a. O., S. 122; S. 144. 8 Um zu überprüfen, ob Donna Elvira eine eigene Persönlichkeit oder nur die Marionette Don Giovannis ist, bietet sich die Hinzunahme einer Verfilmung der Oper an, wie z. B. die von Joseph Losey, der sich auf das psychologische Verhältnis des Verführers zu seinen Opfern konzentriert. Vgl. J. Losey: Wolfgang Amadeus Mozart – Don Giovanni, Artificial Eye, Frankreich/Italien/Deutschland 1979. 9 Der „wahre Charakter“ von Christina Aguilera scheint allerdings ein anderer zu sein. So wird sie aufgrund ihrer strengen und religiösen Erziehung oft als „schüchtern“ und „prüde“ beschrieben. Ein ähnliches Phänomen findet sich bei Madonna. Grundlegender Zweifel ist aber auch bei solchen Informationen angebracht, da sie als Kontrastfolie das Sex-Image umso interessanter machen. 1 Sören Kierkegaard: Entweder – Oder. Teil I und II, hg. von Herrmann Diem und Walter Rest, München 2003, S. 59. 2 Kierkegaard, a. a. O., S. 79. 3 Theodor W. Adorno kritisierte Kierkegaards „Konstruktion des Ästhetischen“ und forderte Philosophie und Dichtung streng zu unterscheiden. Vgl. Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, Darmstadt 1998 (= Gesammelte Werke Bd. 2). 4 Je nach Leistungsstand der Klasse und Unterrichtsthematik ließen sich Referate zum historischen Wandel des Don Juan-Stoffs, zur Entstehung von Don Giovanni sowie zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte hinzuziehen. Materialien finden sich auf musikpaedagogik-online.de. Weitere umfangreiche Anregungen hierzu bietet Kurt Pahlen: Wolfgang Amadeus Mozart – Don Giovanni. Kompletter Text in italienischer Originalfassung mit der deutschen Übersetzung und Erläuterung zum vollen Verständnis des Werkes, Wien 1987. 5 Ein besonderer Reiz liegt darin, den Text in zeitlicher Übereinstimmung mit der Musik der Ouvertüre zu gestalten. Die SchülerInnen müssen ihren Vortrag so einteilen, dass Dynamik („Blitze“), und Tempo („leicht tanzende Geigentöne“) übereinstimmen. 6 Kierkegaard, a. a. O., S. 151; Kierkegaard behauptet, dass auch Leporello in Don Giovanni widertönt. Im Unterricht lassen sich arbeitsteilig die Arie der Donna Elvira sowie Leporellos „Registerarie“ erarbeiten und in Form der „Kugellagermethode“ gegenüberstellen. Die SchülerInnen werden dazu in zwei Gruppen eingeteilt, die sich im Kreis gegenüberstehen. In einem festgelegten Zeitrahmen erläutert zunächst die Gruppe 1 und dann die Gruppe 2 ihrem Gegenüber die „Ergebnisse“. Anschließend 7 Audio-Teil HB 5: Ouvertüre Don Giovanni HB 6: Hochzeit des Figaro, Arie Cherubino HB 7: Zauberflöte, Arie Papageno HB 8: Don Giovanni, Arie Don Giovanni HB 9: Don Giovanni, Arie Donna Elvira HB 10: Christina Aguilera: Dirty HB 11: Enigma: Mea Culpa musikpaedagogik-online.de • Zur Gestalt des Don Juan/Don Giovanni 25 musik & bildung M1 Kierkegaard und Mozart Sören Kierkegaard: Mozarts „Don Giovanni“ „Höre Don Juan, das heißt, kannst du durchs Hören keine Vorstellung von Don Juan bekommen, so kannst du’s nie. Höre seines Lebens Beginn; wie der Blitz aus dem Dunkel der Wetterwolke sich löst, so bricht er hervor aus der Tiefe des Ernstes, schneller als die Geschwindigkeit des Blitzes; unsteter als dieser und doch ebenso taktfest; höre wie er sich in die Mannigfaltigkeit des Lebens hinabstürzt, wie er an dessen festem Damm sich bricht, höre diese leichten tanzenden Geigentöne, höre den Wink der Freude, höre den Jubel der Lust; höre des Genusses festliche Seligkeit, höre seine wilde Flucht, an sich selber eilt er vorüber, immer schneller immer unaufhaltsamer, höre der Leidenschaft zügelloses Begehren, höre das Rauschen der Liebe, höre das Raunen der Versuchung, höre den Wirbel der Verführung, höre des Augenblicks Stille – höre, höre, höre Mozarts Don Juan!“ ➜ a b c d e f 26 Unten siehst du sechs Ausschnitte aus der Ouvertüre zu Don Giovanni. Welche passen zu dem oben Beschriebenen? Vergleiche mit dem Hörbeispiel. musik & bildung Thema M2 Kierkegaard – Biografie Sören Kierkegaard Sören Kierkegaard wurde am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geboren. Sein Vater, ein wohlhabender Kaufmann, erzog seinen Sohn nach strengen christlichen Grundsätzen. Kierkegaards Mutter war die zweite Frau des Vaters und die ehemalige Dienstmagd, die er ein Jahr nach dem Tod seiner ersten Frau geheiratet hatte. Von den insgesamt sieben Kindern war Sören das Jüngste. Fünf seiner Geschwister starben im Kindesalter. 1830 beginnt Kierkegaard in Kopenhagen Theologie zu studieren. Er schließt sein Studium nicht ab, sondern gerät 1834/35 in eine Krise, die er selbst als das „große Erdbeben“ bezeichnet, weil er glaubt, dass auf der Familie ein „Fluch“ lastet. Er hatte erfahren, dass sein Vater in jungen Jahren Gott verflucht hat und angeblich vorehelichen Kontakt mit seiner ehemaligen Dienstmagd hatte. Kierkegaard ist überzeugt davon, dass durch diesen Fluch alle Kinder, also auch er, vor dem Vater sterben werden. Aus „Verzweiflung“ zieht er aus und führt in Kopenhagen das Leben eines Bohemiens. Doch im Jahre 1838 passiert das Unerwartete. Der Vater stirbt. Trotz des „Schicksalsschlags“ glaubt Kierkegaard aber weiter an den Familienfluch. Porträtiert von Niels Christian Kierkegaard, 1838 Um 1840 lernt er die 17-jährige Regine Olsen kennen und verlobt sich bereits nach kurzer Zeit mit ihr. Allerdings bereut er schon zwei Tage später seinen Entschluss. Die Angst vor dem Fluch und seine Schwermütigkeit zwingen ihn dazu, sein wahres Wesen vor Regine zu verheimlichen, sodass er das Verlöbnis löst. Er legt es darauf an, aus dem „Verhältnis als ein Schurke“ herauszukommen. So spielt er, um seine Braut abzustoßen, den frivolen Lebemann und Verführer und beendet die Verlobung. Allerdings kann sich Kierkegaard nicht von Regine befreien, hadert mit Gewissensbissen und sucht nach Wegen, um ihr sein Handeln verständlich zu machen. Dies ist die Zeit, in der er unter Pseudonymen seine Hauptwerke veröffentlicht, wie z. B. Entweder – Oder. In ihnen verarbeitet er seine gescheiterte Liebesbeziehung. Bis zum Tod glaubt er an eine „Wiederholung“ der Beziehung, selbst als Regine verheiratet ist und seine Briefe ungelesen zurückschickt. Ab 1846 veröffentlicht Kierkegaard zunehmend religiöse Schriften und Flugblätter, in denen er die Rituale der dänischen Kirche kritisiert. Am 2. Oktober 1855 bricht er auf offener Straße zusammen und stirbt eine Woche später, ohne den Segen der Kirche erhalten zu haben. Bei kaum einem anderen Philosophen ist das Denken so eng mit dem Leben verbunden, wie bei Sören Kierkegaard. Im Rahmen seiner bereits in der Biografie angelegten unmissverständlichen Herausstellung der Bedeutung der Existenz jedes Einzelnen, der Verantwortung für seine Freiheit übernimmt, unterscheidet er zwischen drei Existenzebenen, der ästhetischen, ethischen und religiösen Lebensweise. Kierkegaard gilt als Vorreiter des Existenzialismus. Porträt von Peter Klæstrup, 1845 27 musik & bildung M3 Die Figuren Cherubino Cherubino (Hochzeit des Figaro) ist der junge Page des Grafen Almaviva. Seit einiger Zeit spürt er Liebesverlangen und ist auf der Suche nach ersten (heimlichen) Rendezvous. Er möchte am liebsten mit allen weiblichen Wesen anbandeln, soweit sie begehrenswert erscheinen. Hierzu gehören die Gräfin Rosina, Barbarina (die Tochter des Gärtners) und auch Susanna (die Zofe der Gräfin und Verlobte des Figaro). Die Arien von Cherubino verdeutlichen dessen stille Sehnsucht und rastlose Liebesbegierde. Cherubino wird zu einer Art irrationalem Wesen stilisiert, das primär nur emotional agiert. Cherubino ist allerdings nicht der einzige, der dem „Liebeswahn“ verfällt, denn auch der Graf begehrt Susanna und verlangt aus standesrechtlichen Gründen das Recht auf die „erste Nacht“ mit ihr. Da der Graf die stille Begierde von Cherubino zu seiner Gemahlin erahnt, will er ihn in Verbannung schicken. Allerdings gehorcht der Page nicht und versucht weiterhin sein Glück bei den jungen Damen. Nach verschiedenen Versteckspielen und Intrigen fassen die Frauen den Plan, den Grafen zu täuschen, um seine unmoralische Liebesbegierde und Eifersucht zu bestrafen. Nach einer turbulenten Verwechslungskomödie steht der Hochzeit von Figaro und Susanna nichts mehr im Wege. In Bezug auf die Besetzung der Oper ist erwähnenswert, dass Cherubino als „Hosenrolle“ von einer Frauenstimme gesungen wird. Hiermit soll v. a. der jugendliche Charakter des Pagen ausgedrückt werden. Das Libretto von Lorenzo da Ponte ist der Komödie Der Barbier von Sevillla von Beaumarchais entlehnt. Die im Original vorherrschenden sozialkritischen und politischen Hintergründe sind im Text von da Ponte weitestgehend ausgelassen worden. Papageno Papageno (Zauberflöte) ist ein liebenswürdiger, humorvoller, aber nicht immer ehrlicher Vogelhändler, der gerne viel erzählt und auf der Suche nach einem weiblichen Ebenbild, einer Papagena ist. Nachdem er sich als vermeintlicher Retter von Tamino, der von einer Schlange verfolgt wurde, ausgab, wird ihm wegen seiner Lügen ein Schloss vor dem Mund gehängt. Er soll Tamino bei der Suche nach Pamina, der Tochter der Königin der Nacht helfen, die von Sarastro gefangen gehalten wird. Zu beider Schutz erhält Tamino eine Zauberflöte und Papageno ein Glockenspiel mit magischen Kräften. Die Instrumente dienen dazu, Gefahren fernzuhalten und das „Ziel“ zu finden. In Bezug auf verschiedene Läuterungsszenen, die Tamino für die Liebe zu Pamina reif machen sollen, nimmt auch der plappernde Papageno an den Prüfungen teil, nachdem ihm versprochen wurde, dass er eine zu ihm passende Gefährtin finden werde. Besonders schwer fällt ihm die Einhaltung des Schweigegebots. Papageno entpuppt sich als ein nach erotischer Sinnlichkeit begehrender Mensch. Mehrfach wird er gewarnt und gestraft. So erscheint ihm z. B. sein zukünftiges Frauchen als ein altes Weib. Nachdem Pamina und Tamino zueinander gefunden haben und 28 der vermeintliche Bösewicht Sarastro sich als ein ethisch würdevoller Mensch erwiesen hat, wird auch Papageno in das Reich des Lichts hineingezogen. Für sein nicht immer einwandfreies Verhalten wird er mit einem hübschen Frauenzimmer, der hübschen Papagena, „belohnt“. Das Libretto zur Zauberflöte schrieb der Theaterunternehmer Emanuel Schikaneder speziell für das Vorstadttheater im Freihaus an der Wieden (dem späteren Theater an der Wien). Während viele Arien (v. a. die der Königin der Nacht) noch der ernsten italienischen Operntradition (opera seria) verpflichtet sind, verdeutlicht gerade Papageno in seiner Anlage zwischen Liebenswürdigkeit und Trotteligkeit einen Typus des Wiener Singspiels. Sein Streben nach einem Weibchen begründet immer auch die komischen Züge der Oper. Don Giovanni Der nach Lust strebende Don Giovanni hat Donna Anna verführt. Als ihr Verlobter Don Ottavio verkleidet hat er sich heimlich in ihr Zimmer geschlichen und auf der Flucht ihren Vater, den Komtur, getötet. Ohne schlechtes Gewissen ist Don Giovanni bereits am nächsten Tag wieder auf „Frauenfang“, worüber sich sein Diener Leporello „beschwert“. Als plötzlich die ehemalige Verführte Donna Elvira auftaucht, eine ehemalige Verführte, verschwindet der Gigolo, und Leporello ergreift die Gelegenheit, um das „Verführungsregister“ seines Herrn vorzutragen: 640 Frauen in Italien, 201 in Deutschland, 100 in Frankreich, 91 in der Türkei und 1003 in Spanien. Währenddessen ist Don Giovanni unterwegs zu seinem neuen Opfer Zerlina, der Braut eines Bauern. Um als Edelmann leichtere Verführungschancen zu besitzen, lädt er sie auf sein Schloss ein und verkündet in der Champagnerarie den potenziellen Verlauf des Fests. Donna Anna mischt sich zusammen mit ihrem Verlobten und Donna Elvira unter die Gäste. Don Giovanni wird allerdings nicht entlarvt. Nach erneuten Verstellungen und mit Verkleidungen, in denen Don Giovanni immer wieder entkommt, lädt er in seinem Übermut auf einem Friedhof die Statue des ermordeten Komturs zum Nachtmahl ein. Der „steinerne Gast“ erscheint als lebendige Gestalt zum Mahl und fordert Don Giovanni auf, seine Verführungen zu bereuen. Don Giovanni aber weist jede Schuld von sich und verschwindet in der Hölle. Don Giovanni ist Mozarts „anstößigste“ Oper, da sie in keine moralische Schublade passt, der Verführer sympathisch wirkt und die Betrogenen keine Reue erhalten. Obwohl sich alles um Don Giovanni und seine Betrügereien dreht, bleibt seine musikalische Behandlung dürftig. In der ganzen Oper singt er nur zwei kurze Arien. Mozart konzentriert sich vornehmlich auf die Darstellung der Nebenpersonen, wie z. B. Leporello, der seinen Herrn im Hinblick auf das Verführungsregister gerne nacheifern möchte, aber unterlegen erscheint. Allerdings betrachtet er das rastlose Leben aus der Distanz und beurteilt die Handlungen aus ethischer Perspektive. Scherenschnitte von Lotte Reinigers musik & bildung M4 Die erotischen Stadien – 1 Erstes Stadium – Cherubino Thema Die Hochzeit des Figaro – „Euch holde Frauen, die Lieb ihr kennt“ „Das erste Stadium ist im Pagen des Figaro angedeutet. Das Sinnliche erwacht. Die Begierde ist noch nicht erwacht, sie ist schwermütig geahnt. Die Begierde ist stille Begierde, die Sehnsucht stille Sehnsucht, die Schwärmerei, stille Schwärmerei. Die Begierde also, die in diesem Stadium nur in einer Ahnung ihrer selbst gegenwärtig ist, ist ohne Bewegung, ohne Unruhe, sanft gewiegt nur von einer unerklärlichen inneren Rührung. Obgleich die Begierde in diesem Stadium nicht als Begierde bestimmt [ist, und] obgleich diese nur geahnte Begierde hinsichtlich ihres Gegenstandes gänzlich unbestimmt ist, hat sie doch eine Bestimmung: sie ist nämlich unendlich tief. Die Begierde ist so unbestimmt, daß das Begehrte androgynisch in der Begierde ruht. Hinsichtlich des Pagen ist es gleich wesentlich, daß er in die Gräfin verliebt ist und in Marseline, sein Gegenstand ist nämlich die Weiblichkeit, und die haben sie beide gemeinsam. Sollte ich nun einen Versuch wagen, im Hinblick auf den Pagen im Figaro das Eigentümliche an Mozarts Musik mit einem einzigen Prädikat zu bezeichnen, so würde ich sagen: sie ist liebestrunken; doch wie jeder Rausch, so kann auch ein Rausch der Liebe auf zweierlei Weise wirken, entweder erhöhte durchsichtige Lebensfreude oder zu verdichteter unklarer Schwermut. Das letztere ist hier mit der Musik der Fall; die Stimmung läßt sich durch das Wort nicht ausdrücken; sie ist zu schwer und zu gewichtig, als daß das Wort sie zu tragen vermöchte; die Musik allein vermag sie wiederzugeben.“ aus: Sören Kierkegaard: Entweder – Oder, München 72003, S. 91 ff. Aufgabe Fasst die Kernaussagen des Textes stichpunktartig zusammen! 29 musik & bildung M5 Die erotischen Stadien – 2 Zweites Stadium – Papageno „Dieses Stadium ist durch Papageno in der Zauberflöte bezeichnet. In Papageno geht die Begierde auf Entdeckungen aus. Diese Entdeckerlust ist das Pulsierende in sich, ist ihre Heiterkeit. Den eigentlichen Gegenstand dieser Entdeckung findet sie nicht, aber sie entdeckt das Mannigfaltige, indem sie darin den Gegenstand sucht, den sie entdecken möchte. Die Begierde ist somit erwacht, ist aber nicht als Begierde bestimmt. Die suchende Begierde ist nämlich noch nicht begehrend, sie sucht nur das, was sie begehren kann, begehrt es aber nicht. Daher wird am bezeichnendsten für sie vielleicht das Prädikat sein: sie entdeckt. So auch hier mit Papageno, es ist stets dasselbe Lied, dieselbe Melodie; er fängt, wenn er fertig ist, frischweg von vorne an und so immer wieder. Wollte ich nun den Versuch machen, das Eigentümliche der Mozartschen Musik in dem Teil dieses Stückes, der uns interessiert, mit einigen wenigen Prädikaten zu bezeichnen, so würde ich sagen: sie ist fröhlich zwitschernd, lebenstrotzend, liebessprühend. Bekanntlich begleitet Papageno seine lebensfrohe Heiterkeit auf einer Rohrflöte. Ein jedes Ohr hat sicherlich von dieser Begleitmusik sich wundersam bewegt gefühlt; man wird nicht müde, sie immer wieder zu hören, weil sie einen absolut adäquaten Ausdruck für das ganze Leben Papagenos darstellt, dessen ganzes Leben solch ein unaufhörliches Gezwitscher ist. Ihre große Bedeutung in musikalischer Hinsicht hat die erste Arie des Papageno demnach als der unmittelbar-musikalische Ausdruck für sein ganzes Leben und seine Geschichte. Das Glockenspiel ist der musikalische Ausdruck seiner Tätigkeit, von der man wiederum allein durch Musik eine Vorstellung bekommt; sie ist bezaubernd, verführerisch, verlockend gleich dem Spiel jenes Mannes, der die Fische dazu brachte, innezuhalten und zu lauschen.“ aus: Sören Kierkegaard: Entweder – Oder, München 72003, S. 95 ff. Aufgabe Fasst die Kernaussagen des Textes stichpunktartig zusammen! 30 Die Zauberflöte – „Der Vogelfänger bin ich ja“ musik & bildung M6 Thema Die erotischen Stadien – 3 Drittes Stadium – Don Juan Don Giovanni – „Auf zu dem Feste, froh soll es werden“ „Dieses Stadium ist mit Don Juan bezeichnet. Im Don Juan ist die Begierde absolut als Begierde bestimmt. Die Begierde hat in dem einzelnen ihren absoluten Gegenstand, sie begehrt das einzelne absolut. Hierin liegt das Verführerische. Die Begierde ist deshalb in diesem Stadium absolut gesund, sieghaft, triumphierend, unwiderstehlich und dämonisch. Dies ist die Idee der sinnlichen Genialität. Der Ausdruck für diese Idee ist Don Juan, und der Ausdruck für Don Juan wiederum ist einzig und allein Musik. Don Juan ist, wenn ich so sagen darf, die Inkarnation des Fleisches oder die Begeisterung des Fleisches aus des Fleisches eigenen Geist. Don Juan ist somit der Ausdruck des Dämonischen, als das Sinnliche bestimmt. So wie die Sinnlichkeit in Don Juan aufgefaßt ist – als Prinzip –, so ist sie in der Welt noch nie zuvor aufgefaßt worden; daher wird auch das Erotische hier durch ein anderes Prädikat bestimmt, die Erotik ist hier Verführung. Don Juan ist von Grund auf ein Verführer. Seine Liebe ist nicht seelisch, sondern sinnlich, und sinnliche Liebe ist ihrem Begriff nach nicht treu, sondern absolut treulos, sie liebt nicht eine, sondern alle, das heißt: sie verführt alle. Sie existiert nämlich nur im Moment, der Moment aber ist begrifflich gedacht eine Summe von Momenten, und damit haben wir den Verführer. Don Juan hat keine Zeit, für ihn ist alles nur eine Sache des Moments. Sie sehen und lieben ist eins, so ist es im Moment, im selben Moment ist alles vorbei, und das gleiche wiederholt sich ins Unendliche. Die seelische Liebe ist ein Bestehen in der Zeit, die sinnliche ein Verschwinden in der Zeit, das Medium aber, das dies ausdrückt, ist eben die Musik. Von Don Juan muß man den Ausdruck Verführer mit großer Vorsicht gebrauchen, weil er überhaupt nicht unter ethische Bestimmungen fällt. Ich möchte ihn daher lieber einen Betrüger nennen, weil darin doch immerhin etwas mehr Zweideutiges liegt. Um Verführer zu sein, bedarf es stets einer gewissen Reflexion und Bewusstheit. An dieser Bewußtheit fehlt es Don Juan. Er genießt die Befriedigung der Begierde und diese Begierde wirkt verführend; sobald er sie genossen hat, sucht er einen neuen Gegenstand, und so fort ins Unendliche. Er hat somit überhaupt kein Bestehen, sondern hastet in ewigem Verschwinden dahin, geradeso wie die Musik, von der es gilt, daß sie vorbei ist, sobald sie aufgehört hat zu tönen, und nun wieder entsteht, indem sie abermals ertönt. In diesem Reiche ist die Sprache nicht zu Hause, nicht die Besonnenheit des Denkens, der Reflexion mühevolles Erringen, dort ertönt allein die elementarische Stimme der Leidenschaft, das Spiel der Lüste, der wilde Lärm des Rausches, dort genießt man nur in ewigem Taumel. Der Erstling dieses Reiches ist Don Juan. Erst indem die Reflexion hinzutritt, erweist es sich als Reich der Sünde; aber da ist Don Juan getötet, da verstummt die Musik […].“ aus: Sören Kierkegaard: Entweder – Oder, München 72003, S. 146 ff. Aufgabe Fasst die Kernaussagen des Textes stichpunktartig zusammen! 31 musik & bildung M7 Verführung als Widertönen Arie der Donna Elvira Ach, werd’ ich ihn wohl finden (Ah, chi mi dice mai) „Don Juan ist der Held der Oper, auf ihn konzentriert sich das Hauptinteresse. Freilich darf dies nicht in irgendeinem äußerlichen Sinne verstanden werden, vielmehr ist es gerade das Geheimnis der Oper, daß ihr Held auch die Kraft darstellt, die in den übrigen Personen wirkt; Don Juan ist das Lebensprinzip in ihnen. Seine Leidenschaft setzt die Leidenschaft der anderen in Bewegung, seine Leidenschaft hallt allenthalben wider, sie hallt darin wider und trägt den Ernst des Komturs; den Zorn Elvirens, Annas Haß, Ottavios Wichtigtuerei; Zerlinens Angst, Mazettos Erbitterung; Leporellos Verwirrung. Als Held der Oper ist Don Juan der Nenner des Stückes. Durch nähere Betrachtung einer einzelnen Situation möchte ich zeigen, was ich meine. Ich wähle die erste Arie der Elvira. Das Orchester trägt das Vorspiel vor, Elvira tritt auf. Die Leidenschaft, die in ihrer Brust tobt, muß Luft haben, und ihr Gesang verhilft ihr dazu. Im Hintergrund sieht man Don Juan und Leporello in gespannter Erwartung, daß die Dame, die sie schon am Fenster bemerkt haben, erscheine. Das Zusammentreffen will gesehen, die musikalische Situation will gehört werden. Die Einheit der Situation ist nun die Zusammenstimmung, daß Elvira und Don Juan zusammenklingen. Die Arie der Elvira beginnt. Ihre Leidenschaft weiß ich nicht anders zu bezeichnen denn als Liebeshaß, eine gemischte, aber doch klangvolle, tönende Leidenschaft. Es folgt eine Pause in der Musik. Was aber kann diese Erschütterung hervorrufen? Es kann nur eines sein – Don Juans Spott. Mozart hat daher die Pause dazu benutzt, Juans Spott in sie hineinzuschleudern. Nun lodert die Leidenschaft stärker, ungestümer, noch brandet sie und in ihr und bricht in Tönen hervor. Noch einmal wiederholt es sich, da erbebt ihr Inneres, da brechen Zorn und Schmerz gleich einem Lavastrom hervor in jenem bekannten Lauf, mit dem die Arie endet. Hier sieht man nun, was ich meine, wenn ich sage, daß Don Juan in Elvira wiedertöne; denn zwar ist es Don Juan, der singt, aber er singt so, daß der Zuschauer, je entwickelter sein Ohr ist, um so mehr das Gefühl hat, als käme es von Elvira selbst.“ aus: Sören Kierkegaard: Entweder – Oder, München 72003, S. 144 ff. 32