NTS Kapitel 4: Elektrische Systeme

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Kapitel 4
Elektrische Systeme
Anwendungen von elektrischen Phänomenen und Systemen dominieren unser technisiertes Leben. Im Alltag begegnet uns die Elektrizität fast wie eine magische Kraft,
da sie unsichtbar ist. Die einzige direkte körperliche Wahrnehmung von Elektrizität hat damit zu tun, dass elektrisch geladene Körper uns einen Schock versetzen
können (wir wissen, dass Blitze bei Gewittern auch elektrischer Natur sind, das ist
aber auf den ersten Blick nicht unbedingt klar). Ansonsten sehen wir nur die durch
Elektrizität verursachten Folgen.
Der menschliche Geist macht interessanterweise von dieser unsichtbaren Kraft Vorstellungen, die auf direkteren körperlichen Erfahrungen aufbauen – insbesondere auf
der Erfahrung, die wir mit fluiden Substanzen machen. Sie werden sehen, dass wir
elektrische Phänomene im Folgenden mit Begriffen erklären, die aus der Welt der
Fluide übertragen wurden. Das führt dazu, dass wir eine sehr weitgehende Analogie
zwischen Fluidsystemen (Hydraulik) und elektrischen Systemen erstellen können.
Die zwei im nächsten Abschnitt besprochenen Beispiele sollen die Bedeutung des
Analogiedenkens von Anfang an hervorheben. Im darauf folgenden Abschnitt werden wir dynamische Modelle dieser und andere Beispiele kennen lernen.
4.1
Phänomene und Wortmodelle
In diesem Abschnitt werden zwei elektrische Systeme mit zugehörigen Phänomenen
qualitativ beschrieben (Wortmodelle). Es handelt sich um den elektrischen Angleich
verschieden stark geladener Kondensatoren und um eine Schaltung, die als physisches Modell für den systemischen Blutkreislauf (Kapitel 3) dienen kann.
4.1.1
Angleich der Spannung bei zwei Kondensatoren
Man kann Stäbe aus verschiedenen Materialien an Tierfellen oder Tüchern reiben
und dann mit einem Stab eine isolierend aufgestellte Metallkugel berühren (Abb.4.1,
unten rechts). Hat man eine zweite solche Kugel bereit und bringt diese ganz nahe
an die erste, so sieht oder hört man einen Funken springen – ein erster schneller
Hinweis, dass wir es hier mit Elektrizität zu tun haben. Etwas technischer gemacht
kann man die Kugeln mit Elektrometern verbinden; diese zeigen einen Aspekt des
Ladungszustandes an. Ist eine Kugel stark geladen, die andere ungeladen, so kann
man sie mit einem Draht mit einer kleinen Lampe verbinden. Für kurze Zeit leuchtet
die Lampe auf und die Anzeigen der beiden Elektrometer gleichen sich an.
Technisch moderner kann man die Sache so aufbauen. Man nimmt zwei sogenannte
Kondensatoren, ein Leitungselement (das manmeistens Widerstandselement nennt)
122
Elektrische Systeme
und ein paar Drähte und macht aus den drei Elementen eine elektrische Schaltung
(Abb.4.1, oben links und unten links symbolisch dargestellt). Man bringt über den
beiden Kondensatoren sogenannte Spannungsmessgeräte (Voltmeter) an und lädt
einen der Kondensatoren mit Hilfe einer Batterie oder einem Ladegerät – solange der Stromkreis nicht geschlossen ist. Wenn man dann den Stromkreis schliesst
und die Spannungen über den Kondensatoren aufzeichnet, so sieht man als mögliches Ergebnis Kurven wie in Abb.4.1 oben rechts: die Werte der gemessenen Grössen gleichen sich einander an. (Wenn man beim Beispiel mit den Metallkugeln die
Elektrometer-Anzeige messen würde, so würde man die gleichen Typen von Kurven
erhalten.)
5
Voltage / V
4
3
2
1
0
X
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0
10
20
Time / s
30
40
V
V
UC1
UC2
Abbildung 4.1: Eine elektrische Schaltung (oben links) mit zwei Kondensatoren und einem
Widerstandselement. Oben rechts: Verlauf der über den beiden Kondensatoren gemessenen
Spannungen. Symbolisches Schaltungsdiagramm (unten links). Zwei kommunizierende Metallkugeln mit kleiner Lampe als Verbindung (unten rechts).
Interpretation. Das Ergebnis sieht nun sehr ähnlich wie die Messung von Füllhöhen oder (kapazitiven) Druckdifferenzen bei zwei kommunizierenden Tanks aus
(Abb.2.7). Diese und viele andere Beobachtungen (zusammen mit dem auf Vorstellungsschemas aufbauenden menschlichen Geist) veranlassen uns nun, das Phänomen
in weitgehender Analogie zu unserer Kenntnis hydraulischer Systeme zu beschreiben
und zu erklären. Hier ist ein Wortmodell (mit Prozessdiagramm in Abb.4.2).
CAPACITOR
CONDUCTOR
Charge
Q
CAPACITOR
Heat
T
Charge
Charge
Electric
potential 1
Electric
potential 2
Q
Charge
Abbildung 4.2: Die Funktionsweise dere elektrischen Schaltung (oder der beiden verbundenen Metallkugeln) kann durch ein Prozessdiagramm veranschaulicht werden. Ein Kondensator (oder eine Kugel) hat Ladung gespeichert. Diese flisst zum Kondensator (Kugel),
bei dem das elektrische Niveau (Intensität) niedriger ist. Ladung fliesst also von selber vom
höheren zum tieferen Potential durch einen Leiter und treibt einen anderen Vorgang an.
4.1 Phänomene und Wortmodelle
123
Durch einen geriebenen Stab überträgt man elektrische Ladung (Elektrizitätsmenge)
auf eine der Kugeln; sie wird dort gespeichert. Verbindet man die Kugel mit einer
anderen, die nicht geladen wurde (die also keine elektrische Ladung gespeichert hat),
so fliesst Ladung von der ersten zur zweiten. Bei der ersten verringert sich darum die
Anzeige des Elektrometers, während das zweite Gerät einen erhöhten Wert anzeigt.
Der Unterschied der beiden gemessenen Grössen ist offensichtlich der Antrieb für das
Fliessen von Elektrizität – man nennt ihn darum elektrische Spannung. Die Werte
selber, die Niveaus, nennt man elektrisches Potential. Da am Anfang der Unterschied
der Potentiale hoch ist, fliesst die Elektrizität stark, die Messungen verändern sich
schnell. Durch die Änderung der Spannung (sie wird niedriger) fliesst die Elektrizität
(elektrische Ladung) weniger stark, wodurch die Spannung (Unterschied der beiden
Messungen) weniger schnell sinkt, usw. Am Ende wird die Spannung zwischen den
beiden Elektrizitätsspeichern (Kugeln) Null sein, und der Strom der elektrischen
Ladung wird auch Null sein: wir haben elektrisches Gleichgewicht erreicht.
Etwas wurde in der Geschichte ausgelassen, nämlich was die Elektrizität macht oder
was für einen (Folge-)Prozess sie antreibt. Hier ist es offensichtlich die Produktion
von Licht oder Wärme (Abb.4.2). Mit einer Batterie kann man einen kleinen Motor
antreiben, etc. Unser Leben ist voll von genau diesen Vorgängen: Elektrizität wird
benutzt, um etwas Anderes anzutreiben, zu verursachen. Es muss in den physikalischen Wissenschaften sicher ein Mass geben, mit dem man quantifiziert, wie viel die
Elektrizität “angerichtet” hat: dieses Mass nennt man in den Wissenschaften Energie
oder genauer, die bei einem Vorgang freigesetzte und dann genutzte Energie. Das
gilt natürlich auch für die Hydraulik: Wasser und Öl treiben andere Vorgänge an.
Wir werden uns der Energie in Kapitel 6 zum ersten Mal im Detail zuwenden.
1. Welche elektrische Grösse gleicht sich an, wenn man zwei (geladene) Kondensatoren
miteinander verbindet? Sollte man diese Grösse eine Menge oder ein Niveau nennen?
2. Welcher der beiden Kondensatoren, die im Experiment, dessen Daten in Abb.4.1
(oben rechts) gezeigt sind, benutzt wurden, ist der elektrisch “grössere”? Wieviel mal
“grösser” ist er?
3. Wenn elektrische Ladung durch das Widerstandselement fliesst, fliesst sie dann
“bergab”?
4. Was passiert mit der elektrischen Potentialdifferenz (Spannung) über dem Leitungslement (Widerstandselement) in der Schaltung in Abb.4.1 im Laufe der Zeit?
5. Was passiert mit der Ladung des Kondensators, der links im Prozessdiagramm in
Abb.4.2 dargestellt ist, im Laufe der Zeit? Was passiert mit der Ladung des anderen
Kondensators? Was passiert mit der Ladung der beiden zusammen genommen?
4.1.2
Ladung pumpen
Das folgende Beispiel hilft uns, die Natur elektrischer Ladung und die systemische
Funktionsweise von Batterien (generell: Generatoren) etwas besser zu verstehen.
Wir machen wie im ersten Beispiel eine Schaltung aus zwei (verschiednen) Kondensatoren und einem Widerstandselement dazwischen (Abb.4.3). Die beiden Kondensatoren sollen ungeladen sein. Damit etwas passiert, schalten wir nun auch eine
Batterie (oder einen Generator) zwischen die Kondensatoren. (Es spielt keine Rolle
wo; nur die Richtung, die Polarität, macht einen Unterschied.)
Was hier passiert, ist recht einfach zu erklären, wenn wir die Rolle einer Batterie
oder eines Generators als “Pumpe” für Elektrizität (elektrische Ladung) erkennen.
Fragen &
Übungen
124
Elektrische Systeme
Wir wissen, dass eine Pumpe dazu da ist, eine Niveaudifferenz, also eine Potentialdifferenz oder Spannung, aufzubauen. So aufgebaute Spannungen dienen dann
anderen Vorgängen als Antrieb. In der Schaltung in Abb.4.3 zwingt die Batterie
Ladung zu fliessen. Sie fliesst vom Minus- zum Pluspol durch die Batterie, hier also
vom linken Kondensator zum rechten Kondensator durch das Widerstandselement.
+
UC1
Voltage / V
UB
4
UR
UC2
2
0
-2
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0
10
20
Time /s
30
Heat
IQ
Q
IQ
Q
ϕ3
ϕ2
ϕ1
GENERATOR
CAPACITOR
RESISTOR
CAPACITOR
Abbildung 4.3: Experiment für das gegenläufige Laden von zwei Kondensatoren mit Hilfe
einer Batterie. Mitte: Schaltungsdiagramm. Die mit U angeschriebenen Pfeile symbolisieren Spannungen; die Pfeile zeigen vom höheren zum tieferen elektrischen Potential. Rechts:
Spannungen über den beiden Kondensatoren als Funktionen der Zeit. Unten: Prozessdiagramm für das System.
Die Analogie zwischen dieser Schaltung und dem Beispiel mit einer Pumpe zwischen zwei Wasserbehältern (Abb.3.9) ist beinahe perfekt; das deutet auch schon
das Prozessdiagramm in Abb.4.3 an. Ein wichtiges Werkzeug zum Verständnis des
hier untersuchten Vorgangs ist ein Diagramm, in dem wir das elektrische Niveau
(Potential: Spannung gegenüber einem Nullpunkt, zum Beispiel “Erde”) als Funktion der Position entlang des Stromkreises darstellen.
Ein solches Diagramm (Abb.4.4) verdeutlicht die Idee einer “elektrischen Landschaft”, in der sich die elektrische Ladung auf und ab bewegt. Wie in der Hydraulik
erhöht hier ein Generator das Niveau (das Potential) der Ladung, und wenn die
Ladung durch einen Leiter fliesst, dann erniedrigt sich das Potential.
B
+
D
F
E
G
UGH
A
Potential
C
UGH
H
Position
A B C D E F G H A
Abbildung 4.4: Schaltung (links) und Niveaudiagramm (rechts): Das elektrische Niveau
wird als Funktion der Position entlang der Schaltung gezeichnet.
4.1 Phänomene und Wortmodelle
125
Elektrische Landschaft
Konzepte
Das elektrische Potential ist für uns eine Niveaugrösse oder Intensität—ein Potential ist höher oder tiefer, geht hinauf oder hinunter. Das heisst, wir können uns
vorstellen, in einem elektrischen System in einer Landschaft mit verschiedenen
Höhen zu sein (tatsächlich sagt man das in der Physik auch über das elektrische
Feld und macht entsprechende Bilder mit Höhenlinien).
Um ein System besser zu verstehen, macht man eine Wanderung entlang der Verbindungen durch verschiedene Elemente (Komponenten) eines Systems, wobei man
wieder zum Ausgangspunkt zurück kehrt. Die Wanderung geht durch Höhen und
Tiefen, und die Summe aller Höhendifferenzen entlang des geschlossenen Weges
ist Null (Maschensatz ).
6. Was macht ein Generator mit elektrischer Ladung? Kann man sagen, ein Generator
“erzeuge” Elektrizität?
7. Woher holen Generatoren ihren “Antrieb”?
8. Warum ist die Differenz der Spannungen zwischen den beiden Kondensatoren in
Abb.4.3 (oben rechts) nicht immer gleich der vom Generator (Batterie) aufgesetzten
Spannung, sobald die Schaltung läuft?
9. Wass passiert mit deder Ladung der beiden Kondensatoren während des Versuchs in
Abb.4.3? Wie ist das möglich, wenn beide Kondensatoren mit Null Ladung starten?
Wird also doch Elektrizität erzeugt?
4.1.3
Elektrizität und Fluide
Elektrizität und Flüssigkeiten sind in keiner Weise gleich oder auch nur ähnlich.
Trotzdem ist es uns gelungen, Beschreibungen hydraulischer und elektrischer Systeme und ihres Verhaltens sprachlich ähnlich zu gestalten. Wir haben über Elektrizität (Ladung) gesprochen, als ob sie eine Flüssigkeit sei, und anstelle von Druckunterschieden haben wir elektrische Spannungen (das Wort Spannung gibt sehr
gut wieder, was wir auch im hydraulischen Fall spüren). Es sollte uns allerdings
nicht überraschen, Unterschiede zwischen Flüssigkeiten und Elektrizität zu finden,
die sich nicht so einfach durch analoge Beschreibungen wegdiskutieren lassen. Wir
wollen hier kurz zwei Aspekte antönen, die Unterschiede zwischen den bisher beschriebenen Phänomenbereichen zeigen.
Analogie: Übertragung von Vorstellungen. Ganz offensichtlich haben wir drei elektrische Begriffe in Analogie zu hydraulischen Begriffen verwendet: elektrische Ladung ist wie Fluidmenge, elektrische Spannung wie Druckdifferenz (die wir ja hydraulische Spannung nennen könnten), und elektrische Strom wie Fluid-Strom. Wichtig: Elektrischer Strom heisst, dass Ladung fliesst, und Spannung gibt die Intensität
der Elektrizität (nicht die Menge!) an (siehe Tabelle 4.1 für eine Liste von Analogen
Grössen und Objekten).
Die Analogie überträgt sich auf auf die physischen Elemente, mit denen man elektrische Systeme baut: Kondensatoren, Leiter, Generatoren und zum Beispiel Dioden
(siehe Tabelle 4.1) und schliesslich auf die konzeptuellen Grössen, mit denen man
die Eigenschaften der Elemente quantifiziert (für uns sind das im Wesentlichen Kapazität und Leitwert oder Widerstandswert).
Fragen &
Übungen
126
Elektrische Systeme
Tabelle 4.1: Analogie zwischen Hydraulik und Elektrizität
Hydraulik
Elektrizität
Menge
(Fluid-)Volumen
elektrische Ladung
Transport
Volumen-Strom
Ladungs-Strom
Druck
elektrisches Potential
Druckunterschied
Spannung
Speicher
Gefäss
Kondensator
Leitung
Schlauch, Rohr
Leiter, Widerstandselement
Pumpe
Pumpe
Batterie, Generator
Ventil
Ventil
Diode
Niveau
Niveauunterschied
Konzepte
Ladung und Spannung
Elektrische Ladung ist die mengenartige Grösse der Elektrizität. Wenn wir von
mehr oder weniger Elektrizität reden, so meinen wir die Ladungsmenge. Ladung
kann gespeichert werden, und sie kann fliessen.
Wir stellen uns die elektrische Spannung als Unterschied des elektrischen Niveaus
(des elektrischen Potentials) und damit als Antrieb für elektrische Vorgänge vor.
Positive und negative elektrische Ladung. Woher kommt die Elektrizität (elektrische Ladung) beim Reiben eines Fells an einem Stab? Was passiert mit der Ladung,
wenn wir uns durch einen spürbaren Schlag entladen (nachdem wir uns selber vorher
durch Reibung aufgeladen haben)? Da wir Elektrizität nicht sehen, kann man die
Frage nicht ganz so leicht beantworten. Bei Wasser wissen wir, wo es ist, wenn sich
ein Behälter entleert hat: irgendwo in der Umgebung, vielleicht dünn auf dem Boden verteilt. Bei Elektrizität aber könnte man durchaus auf den Gedanken kommen
zu sagen, dass sie durch Reibung erzeugt und durch Entladung vernichtet wird. Sie
war vorher nicht da und ist nachher auch nicht mehr da.
Die Welt um uns herum ist im Allgemeinen elektrisch neutral (nicht geladen). Wenn
man einen ungeladenen Stab an einem ungeladenen Fell reibt, so passiert etwas
Interessantes: die beiden Materialien laden sich entgegengesetzt auf. Wenn man z.B.
ein Klebband von einer isoliert aufgestellten Metallkugel (wie in Abb.4.1) abreisst,
so zeigt ein Voltmeter (Elektrometer), dass sich die Kugel aufgeladen hat. Bringt
man das Klebband wieder an der Kugel an, oder bringt man es nur in die Nähe des
Elektrometers, so geht bei diesem der Ausschlag wieder auf Null. Wir interpretieren
das so, dass wir sagen, das Klebband habe (gleichviel) elektrische Ladung mit dem
entgegengesetzten Vorzeichen wie die Kugel; zusammen sind sie also immer neutral.
Man spricht bei elektrischen Phänomenen von positiver und negativer elektrischer
Ladung. Statt negativ könnte man auch Mangel sagen: ein negativ geladener Körper
hat Ladungsmangel (Abb.4.5). Mathematisch ist es überhaupt kein Problem, mit so
einer Interpretation umzugehen: Ladung kann einfach positive oder negative Werte
annehmen. Das passiert bei Wasser natürlich nicht.
Mit dieser Interpretation versteht man etwas, was wir bei der Diskussion der elektri-
4.1 Phänomene und Wortmodelle
127
Positive
charge
Positive level
Equilibrium
Level
Negative
charge
Negative
level
Abbildung 4.5: Ladung, die in einem elektrischen Element gespeichert ist, kann positive
oder negative Werte annehmen. Je nachdem ist das Füllniveau (Potential) positiv oder
negativ.
schen Schaltungen ausgelassen haben: Falls eine Schaltung funktionieren soll, muss
sie geschlossen sein, und Kondensatoren bestehen aus zwei Speichern, die entgegengesetzt geladen sind. Der ganze Kondensator ist also immer elektrisch neutral.
Spricht man von der Ladung eines Kondensators, muss man also einen der beiden
Speicher meinen.
Elektrisches Feld. Der zweite Unterschied zur Hydraulik hat damit zu tun, dass
elektrische Ladung auf Distanz andere elektrische Ladung beeinflussen kann. Das
wird bildhaft so erklärt, dass man sagt, elektrische Ladung baue um sich herum ein
(nicht-materielles) elektrisches Feld auf. Die Wirkung eines elektrische geladenen
Körpers überträgt sich durch den Raum (durch das nicht-materielle, nicht sichtbare)
Feld auf einen zweiten geladenen Körper (z.B. kann der zweite Körper durch den
ersten in Bewegung gesetzt werden).
In der Hydraulik gibt es dieses Phänomen nicht. Allerdings kann man Wasser auch
noch von einer ganz anderen Seite als der hydraulischen ansehen. Wasser ist schwer,
es baut wie andere Materie auch ein Schwerefeld um sich herum auf, auf das andere
Körper reagieren – genauso wie der Mond auf die Schwerewirkung der Erde reagiert.
In der Hydraulik schaut man sich aber nicht Gravitationsphänomene an, darum
müssen wir dort auch keine Felder einführen.
Positive und negative Ladung und Felder
Konzepte
Elektrische Ladung kann positive oder negative Werte annehmen. Gleich viel positive und negative Ladung neutralisieren sich. Ist ein Körper negativ geladen, so
sagt man auch, er habe Ladungsmangel.
Wenn man einfach von Ladung oder von einem Ladungsstrom spricht und nichts
anderes sagt, so meint man positive Ladung oder das Fliessen positiver Ladung.
Elektrische Ladung baut um sich ein elektrisches Feld auf und kann so auf Distanz
(ohne direkte materielle Berührung) andere geladene Körper beeinflussen.
10. Wieso braucht man die Vorstellung von positiver und negativer elektrischer Ladung?
Kann man bei negativer Ladung auch von Ladungsmangel reden?
11. Ein Plattenkondensator (aus zwei gegeneinander isoliert aufgestellten Platten) wird
elektrisch geladen. Was passiert mit Ladung?
Fragen &
Übungen
128
Elektrische Systeme
12. Ein normaler (moderner) Kondensator in einer Schaltung ist immer elektrisch neutral. Wie kann man da von “der Ladung” eines Kondensators reden?
13. Woher kommen elektrische Felder?
4.1.4
Windkesselschaltung als Analogie zum Blutkreislauf
In Kapitel 3, Abschnitt 1 wurde ein kleines Wortmodell für einen Teil der Funktion des Blutkreislaufs präsentiert. Hier wollen wir eine einfache elektrische Schaltung
diskutieren, deren Verhalten dem des systemischen Blutkreislaufs recht stark ähnlich
sieht. Die Beschreibung verwendet die wesentlichen Begriffe und Ideen für Zusammenhänge, die in elektrischen Systemen immer wieder vorkommen, und die wir im
ersten Beispiel schon gebraucht haben. Wenn es uns gelingt, die hier vorkommenden
Ideen zu formalisieren, können wir dynamische elektrische Modelle aufbauen.
Wir erinnern uns, dass wir die linke Herzkammer als Blutpumpe, die Aorta als
(Zwischen-)Speicher, die Blutgefässe durch den Körper als Leitungen und die Aortaklappe als Rückschlagventil betrachten. Es gibt analoge elektrische Elemente, und
wenn es uns gelingt, diese richtig miteinander zu verbinden, haben wir eine Schaltung, die sich ähnlich wie der systemische Blutkreislauf verhalten kann. In Abb.4.6
sehen wir eine Schaltung, die zum hydraulischen Windkesselsystem (mit dem man
sich den systemischen Blutkreislauf vorstellt) analog ist, genauer gesagt, analoges
zeitliches Verhalten aufweist.
Die Schaltung besteht aus einem elektrischen Antrieb (Generator oder Spannungsquelle, Kreis mit Symbol), einer Diode (schwarzes Dreieck mit Linie), einem Kondensator (zwei parallele horizontale Linien) und zwei Widerstandselementen (weisse
Rechtecke). Ein Wortmodell gibt uns eine erste Vorstellung, was passiert, wenn man
die Spannung der Spannungsquelle von Hand rhythmisch erhöht und wieder fallen
lässt (Kurve zwischen 0 V und etwa 4-5 V; V steht für die Einheit der elektrischen
Spannung: Volt).
Aorta
6
Left
ventricle
Arteries and
capillaries
B
B
B
Voltage / V
Aortic
valve
R1
R2
UR1
C
4
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5
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B
B
B
B
B
B
B
B
B
B
B
B
B
B
B
B
B
B
B
J
J
B
B
B
B
B
B
BBB
B
B
B
B
B
B
B
B
B
BB
B
B BBBB
B
B
B
BB
3
2
1
0
BB
B B
-1
US
UC
UR2
0
5
10
Time / s
15
20
Abbildung 4.6: Der systemische Blutkreislauf als hydraulisches Windkesselsystem dargestellt (oben links) und eine dazu analoge elektrische Schaltung mit variablem elektrischem
Generator, Diode, Kondensator und Widerstandselementen. Rechts sind die Spannungen
über dem Antrieb (Generator, von Hand zeitlich variiert) und über dem Kondensator für
ein Experiment gezeigt. Diese beiden Kurven haben Ähnlichkeit mit den Druckkurven in
Abb.3.1.
Wenn der Kondensator anfänglich keine Ladung gespeichert hat, die Spannung über
ihm also Null ist, so wird elektrische Ladung vom elektrischen Generator durch die
4.1 Phänomene und Wortmodelle
129
Diode und durch das erste Widerstandselement (das einer Leitung entspricht) in
den Kondensator fliessen. Als Resultat wird die Spannung des Kondensators steigen, genau so wie die Füllhöhe im Gefäss in Abb.4.6 (oben links) steigt, wenn man
die Pumpe anstellt. Als Folge wird nun elektrische Ladung durch das zweite Widerstandselement, das die Blutgefässe im Körper symbolisiert, zu fliessen beginnen
(siehe zweite Kurve im Diagramm in Abb.4.6 und Prozessdiagramm in Abb.4.7).
MECHANICAL
PROCESS
GENERATOR
RESISTOR
IQ1
CAPACITOR
RESISTOR
Heat
Heat
IQ2
T
Q
IQ2
ϕ1
ϕ2
ϕ3
ϕ3
ϕ1
Abbildung 4.7: Prozessdiagramm der Kette von Elementen, die aus Generator, Kondensator (Speicher) und parallel dazu geschaltetem Widerstandselement besteht. Der Antrieb
des Generators kann zum Beispiel mechanisch sein.
Inzwischen ist der Unterschied der Spannungen zwischen Generator und Kondensator niedriger geworden, was heisst, dass der Strom Richtung Kondensator kleiner
wird. Wird die Spannung des Generators wie der Druck im Herz wieder niedriger,
kann sie unter die Spannung des Kondensators fallen. Nun würde Ladung zurück
zum Generator fliessen, falls das nicht mit einer Diode (Rückschlag-Ventil!) verhindert würde. Der Kondensator entlädt sich nur durch den zweiten Leiter (zweites
Widerstandselement). Wenn dann am Generator die Spannung wieder erhöht wird,
wird auch wieder Ladung zum Kondensator fliessen, und seine Spannung wird wieder höher. Mit der rhythmischen Wiederholung des Auf- und Abbaus der Spannung
am Generator wird sich schliesslich ein rhythmisch variierender Wert der Spannung
über dem Kondensator auf mittlerem Niveau einstellen.
Begriffe und Elemente
Das Beispiel des Angleichs der Spannungen von zwei kommunizierenden Kondensatoren zeigt, mit welchen Begriffen man bei der Beschreibung elektrischer Systeme
hantiert, und was für Elemente in solchen Systemen auftreten.
Begriffe: Elektrizitätsmenge (elektrische Ladung), Strom der elektrischen Ladung
(kurz: Strom), elektrisches Potential, Spannung (Unterschied des elektrischen Potentials), und direkt davon abhängende Begriffe wie geflossene Menge der elektrischen Ladung.
Elemente: Kondensatoren, Leiter oder Widerstände, Batterien und Generatoren
(inklusive photovoltaische Zellen), Dioden.
Eigenschaften der Elemente: In einer Theorie elektrischer Systeme kommen
natürlich noch Grössen vor, mit denen man die Eigenschaften der Elemente quantifiziert (Beispiel: bei einem Kondensator die Kapazität, bei einem Leiter der Leitwert oder Widerstandswert).
Konzepte
130
Quellen
Elektrische Systeme
Phänomene in elektrischen Systemen
Lectures and books
· Fuchs H. U. (2010): The Dynamics of Heat. A Unified Approach to Thermodynamics and Heat Transfer. Springer, New York. Chapter 1, pp. 17-25.
· Fuchs H. U. (2006-2010): Lecture Notes for NTS. Course Website. Chapter
2, pp. 21-37.
· Borer T., Frommenwiler P., Fuchs H. U., et al. (2010): Physik, ein systemdynamischer Zugang. h.e.p. verlag, Bern. Seiten 45-49.
Fragen &
Übungen
14. Welche elektrischen Grössen sind zu Volumen von Flüssigkeiten und Druckdiffe-
renzen analog? Was ist analog zur geflossenen Menge eines Fluids (transportiertes
Volumen)?
15. Was passiert, wenn Sie elektrische Ladung (in einem Kondensator) ansammeln? Mit
welcher Grösse würden Sie den Zusammenhang zwischen Ladung und Spannung
eines Kondensators beschreiben?
16. Wass passiert mit dem elektrischen Potential, wenn man in Richtung der fliessenden
Ladung durch einen Generator geht?
17. Wieso braucht es die Diode in der Schaltung in Abb.4.6? Was ist die systemische
Funktion einer Diode?
18. Die Einheit der elektrischen Ladung ist Coulomb. Für die Einheit des Ladungsstroms
nimmt man Ampère. Was ist der Zusammenhang zwischen diesen beiden Einheiten?
Was ist die entsprechende Fragestellung in der Hydraulik?
19. Wie sieht das Prozessdiagramm eines Kondensators aus?
4.2
Modelle dynamischer Systeme
Wie in den Kapiteln 2 und 3 beginnen wir mit der konkreten Modellierung einiger
dynamischer elektrischer Systeme. Wir werden sehen, dass diese in weitgehender
Analogie zu Modellen hydraulische Systeme erstellt werden können. Wie nehmen
dies zum Anlass, die unsichtbare und vielleicht im ersten Moment geheimnisvolle
Elektrizität bildhaft zu verstehen. Mit einer Handvoll Begriffe und Ideen kommen
wir schon sehr weit.
4.2.1
Angleich von Spannungen bei Kondensatoren
Das erste Beispiel ist das in Abb.4.1 beschriebene. Eine Schaltung wird aus zwei
Kondensatoren und einem dazwischen liegenden Widerstandselement (Leitungselement) und Verbindungsdrähten gebaut. Einer der Kondensatoren wird mit Hilfe
eines Generators oder einer Batterie geladen (man sieht dann, dass das über diesem Kondensator angebrachte Voltmeter einen von Null verschiedenen Wert anzeigt), während die Schaltung noch offen ist (nicht geschlossener Stromkreis). Dann
schliesst man den Stromkreis und misst die Spannungen über beiden Kondensatoren
4.2 Modelle dynamischer Systeme
131
separat wie im Diagramm in Abb.4.1. Man sieht, dass sich beide Spannungen zum
selben Endwert hin verändern, zuerst schneller und dann immer langsamer.
Die Beobachtung und das Wortmodell deuten darauf hin, dass man das Modell für
dieses System in Analogie zum Modell für zwei kommunizierende Flüssigkeitsbehälter erstellen kann (siehe Abschnitt 2.1.2 und Abb.2.10). Tatsächlich kann man das
Modell, wenn in einem Programm erstellt wurde, einfach kopieren oder neu benennen und jeder Grösse einen passenden elektrischen Namen geben (siehe Abb.4.8):
Volumen (V ) wird zu Ladung (Q); Volumenstrom (IV ) zu Strom elektrischer Ladung (IQ ); Füllhöhen oder kapazitive Druckdifferenzen (h oder 4pC ) zu kapazitiver
Spannung (Spannung über einem Kondensator, UC ); Druckdifferenz über dem Rohr
4pR ) zu Spannung über dem Widerstandselement (UR ); Gefässquerschnitt oder hydraulische Kapazität (A oder CV ) und Leitwert (GV ) werden zu den entsprechenden
elektrischen Grössen (elektrische Kapazität C und elektrischer Leitwert G).
Schon hat man das Diagramm des systemdynamischen Modells für die elektrische Schaltung. Auch die zugehörigen formalen Beziehungen (die Gleichungen) sind
strukturell gleich (analog). Wir haben zwei Bilanzgleichungen für Ladung (der beiden Kondensatoren):
Q̇1 = −IQ
(4.1)
(4.2)
Q̇2 = +IQ
Spannungen sind wie Höhen- oder Druckunterschiede, also summieren Sie sich für
einen geschlossenen Kreis zu Null (Maschenregel). Das bedeutet hier, dass die Spannung über dem Widerstandselement durch die Spannungen über den Kondensatoren
gegeben sein muss:
UR = UC1 − UC2
(4.3)
Hier ist eine Bemerkung angebracht. Die Schaltung besteht ja nicht nur aus zwei
Kondensatoren und dem Widerstandselement, sondern auch noch aus einem oder
mehreren verbindenden Drähten. Drähte sind Leiter oder Widerstandselemente, die
man aber so baut, dass sie die elektrische Ladung sehr leicht durchlassen. Das bedeutet, dass sie einen sehr hohen Leitwert oder einen sehr niedrigen Widerstandswert
haben, und dass damit Spannungen über Drähten, die Ladung durchlassen, fast Null
sind.
G
Q1
Q2
IQ
C1
C2
UR
U C1
U C2
Abbildung 4.8: Diagramm eines systemdynamischen Modells für die in Abb.4.1 skizzierte Schaltung. Das Diagramm ist strukturell mit dem für zwei kommunizierende Behälter
identisch (Abb.2.10).
Zum formalen Modell gehören nun noch die Gleichungen für die konstitutiven Beziehungen für die einzelnen Elemente. Für den Zusammenhang zwischen Ladung
und Spannung eines Kondensators schreiben wir analog zur Hydraulik
Q1 = C1 UC1
(4.4)
Q2 = C2 UC2
(4.5)
132
Elektrische Systeme
und für die Stärke des elektrischen Stromes durch das Widerstandselement
IQ = G UR
(4.6)
Damit ist auch das formale Modell bis auf die Festlegung von Anfangswerten und
Parametern komplett. Hier hört natürlich die Ähnlichkeit mit der Hydraulik auf.
Werte von Spannungen, Kapazitäten und Leitwerten (oder Widerstandswerten) haben nichts mit den entsprechenden Werten aus der Hydraulik (Anfangsfüllhöhen,
hydraulische Kapazitäten und Leitwerte) gemein.
Hat man die elektrischen Parameter richtig bestimmt, so stimmt eine Simulation des
gerade produzierten Modells fast perfekt mit den Messungen aus Abb.4.1 überein.
Wir haben mit anderen Worten wieder eine erklärende Geschichte erfunden, die für
den gewünschten Zweck sehr gut passt.
Fragen &
Übungen
20. Welcher Idee aus der Hydraulik entspricht die Beziehung in Gl.(4.3)?
21. Führen Sie im Schaltungsdiagramm in Abb.4.1 vor und nach jedem Element einen
Punkt auf den Leitungen ein, und Bezeichnen Sie die Punkte nacheinander mit A,
B, C,. . . Zeichnen Sie dann ein Diagramm mit der Position entlang der x -Achse
(wieder mit A, B, C,. . . bezeichnet) und dem elektrischen Niveau (elektrische Intensität, elektrisches Potential) auf der y-Achse. Zeichnen Sie nun in das Diagramm
eine “Höhenkurve”, die so etwas wie die elektrische Landschaft entlang des Stromkreises darstellt. Wiederholen Sie die Aufgabe für die in Abschnitt 3.2.1 eingeführte
hydraulische Drucklandschaft.
22. Die Kapazität des ersten anfänglich geladenen Kondensators in Abb.4.1 beträgt 30
µF (Micro-Farad). Bestimmen Sie die Kapazität des zweiten Kondensators. (Das File
mit den gemessenen Daten ist in PSS_VLE, Chapter 2, Investigation 1 zu finden.)
23. Wie gross sind die Änderungsraten der Spannungen der beiden Kondensatoren in
Abb.4.1 gerade nach Beginn des Prozesses? (Was ist das Verhältnis dieser Werte?)
Wie gross sind demnach die Änderungsraten der Ladung der beiden Kondensatoren?
(Das File mit den gemessenen Daten ist in PSS_VLE, Chapter 2, Investigation 1 zu
finden.)
4.2.2
Ladung mit einer Batterie auseinander treiben
In Abschnitt 4.1.2 wurde ein Beispiel einer Schaltung vorgestellt, mit der wir die Rolle von Generatoren verstehen können. Generatoren sind “Pumpen” für Elektrizität
(elektrische Ladung). Wir wissen, dass eine Pumpe dazu da ist, eine Niveaudifferenz,
also eine Potentialdifferenz oder Spannung, aufzubauen. So aufgebaute Spannungen
dienen dann anderen Vorgängen als Antrieb, zum Beispiel zum Fliessen durch das
Widerstandselement.
Die Stärke des Ladungsstroms wird dann durch den Antrieb über dem Widerstandselement (Spannung UR ) und dem Leitwert oder Widerstandswert des Elementes
bestimmt:
1
(4.7)
IQ = UR
R
Das Modell, das der Schaltung entspricht, ist bis auf einen Punkt fast identisch mit
dem in Abb.4.8 aufgeführten (siehe Abb.4.9). Wir können dieses kopieren, und den
einen entscheidenden Schritt hinzufügen: wir müssen UR bestimmen können, mit
dessen Hilfe wir die Stromstärke bestimmen:
IQ =
1
UR
R
(4.8)
4.2 Modelle dynamischer Systeme
133
Diese Beziehung ist äquivalent zu Gl.(4.6) wenn R = 1/G. R nennt man den Widerstandswert des Widerstandselementes.
Um nun die Spannung UR über dem Widerstandselement bestimmen zu können,
bedienen wir uns wieder der Vorstellung einer elektrischen Landschaft mit Höhen
und Tiefen, durch die wir wandern. Eine Spannung ist ein Höhenunterschied, und
natürlich hängen alle Höhenunterschiede eines Wanderweges, auf dem man zum
Ursprung zurück kehrt, miteinander zusammen. Also haben wir hier
(4.9)
UR = UB − (UC2 − UC1 )
2
1
E
E
E
EEEEEEEEEE
EEEEEEE
EEE
EE
E
Voltage / V
E
E
0
E
-1
E
E
E
E
-2
E
E
E
EE
EEE
EEEEEEEE
EEEEEEE
-3
0
10
20
30
Time / s
Abbildung 4.9: Diagramm eines systemdynamischen Modells für das System in Abb.4.3.
Das Diagramm ist strukturell mit dem für zwei kommunizierende Behälter mit einer dazwischen eingebauten Pumpe identisch. Rechts: Experimentelle Daten (Kreise) und Simulationsergebnis (Linien).
Warum man das Konzept Ladung braucht. Warum braucht man überhaupt den
Begriff der Ladung? Die Frage ist nicht ganz müssig, da wir im Alltag keinen sehr
direkten sensorischen Zugang zu den wichtigen Grundgrössen der Elektrizität haben. Wir bringen zum Beispiel Spannung, Ladung und Strom im Alltag meist wild
durcheinander; wenn wir ehrlich sind, wissen wir kaum, wovon wir sprechen. Wäre eine Vereinfachen nicht möglich? Würde es zum Beispiel reichen, nur den Begriff
Spannung einzuführen, da wir mit unseren Werkzeugen im Experiment relativ leicht
Spannungen messen können? Elektrische Ladung kann man dagegen nur sehr schwer
(direkt) messen.
Können wir die beiden bisher aufgebauten Modelle nicht einfach mit dem Begriff Spannung aufbauen? Wir könnten im Modell-Diagramm Reservoir-Symbole für
Spannung einführen und den Flow zwischen den beiden Reservoiren in Abb.4.8 oder
4.9 als Änderung (Änderungsrate) der Spannung interpretieren und diesen Strom
direkt von der Differenz der Werte der (Spannung-)Reservoire machen. Wenn man
das tatsächlich durchführt, wird man enttäuscht. Das Modell führt auf ein falsches
Ergebnis: die Spannungen im Modell treffen sich nach mehr oder weniger langer
Zeit unweigerlich genau in der Mitte zwischen den beiden Anfangsspannungen (im
Fall von Abb.4.9 gehen sie genau gleich weit ins Negative und ins Positive). Dieser
Fall tritt in der Wirklichkeit tatsächlich auf, allerdings nur, wenn die Kapazitäten
der beiden Kondensatoren gleich sind. In allen anderen Fällen ist das nicht so.
Also brauchen wir die Ladung für unsere Vorstellung von Menge und die Spannung
als davon vollkommen verschiedene Vorstellung von Intensität oder Antrieb. Ladung
wird gespeichert und sie fliesst; Spannung (Intensität) fliessen zu lassen, wäre eine
vollkommen verkorkste Vorstellung. Spannungen gleichen sich an, Ladungsmengen
tun das (im Allgemeinen) nicht. Wenn wir also unsere Vorstellungen von Menge
und Intensität durcheinander bringen oder sogar verschmelzen, stehen wir hilflos
vor Natur und Technik. Wir verstehen nichts mehr.
134
Fragen &
Übungen
Elektrische Systeme
24. Wie hoch ist die Spannung, die die Batterie in der Schaltung von Abb.4.3 aufsetzt?
25. Was passiert mit der Spannung UR in der Schaltung von Abb.4.3 im Laufe der Zeit?
Wie verhält sich die Stromstärke im Stromkreis als Funktion der Zeit?
26. Der Widerstand des Widerstandselementes war im Experiment von Abb.4.9 10’000
Ohm gross. Wie viel Ladung wurde vom ersten zum zweiten Kondensator gepumpt?
Wie viel Ladung haben Kondensator 1 und Kondensator 2 am Ende des Vorgangs?
27. Wie gross sind die Kapazitäten der beiden Kondensatoren in Abb.4.9?
4.2.3
Modell einer Windkesselschaltung
In Abb.4.6 wurde eine Windkesselschaltung mit zugehörigem Experiment vorgestellt. Daten dazu findet man in PSS_VLE, Chapter 2, Investigation 11. Ein systemdynamisches Modell hat eine grosse Ähnlichkeit mit dem in Abb.3.24 für den
hydraulischen Windkessel aufgebauten. Wie wir sehen werden, besteht der einzige
wesentliche Unterschied darin, dass wir die Diode in Abb.4.10 explizit modellieren.
Die Analogie zu Zu- und Abfluss für einen Tank in einem hydraulischen System wird
in der elektrischen Schaltung durch zwei Schlaufen dargestellt, in deren gemeinsamen
Ast der Kondensator (als Analogie zum Tank) eingebaut ist. In dieser Schaltung gibt
es zwei Stöme IQ1 und IQ2 , die den Kondensator laden und entladen. Der Zustrom
wird durch einen Generator, dessen Spannung man zum Beispiel rhytmisch per Hand
ähnlich wie bei einer intermittierend arbeitenden Pumpe verändert, angetrieben.
Die Diode sorgt dafür, dass sich der Kondensator nicht mehr über R1 und das
Ladegerät entladen kann. Das Widerstandselement R1 symbolisiert in Analogie zum
Blutkreislauf mit linker Herzkammer und Aorta den Strömungswiderstand durch die
Aortaklappe. R2 regelt zusammen mit UR2 den Abfluss (im Blutkreislauf analog zu
den Blutgefässen im sysytemischen Kreislauf).
Die Gleichungen des bisher beschriebenen Teils des Modells fangen wie immer mit
der Bilanzgleichung – hier für die Ladung des Kondensators – an. Dazu kommt die
Anfangsbedingung:
dQ
= IQ , Q (0) = Q0
(4.10)
dt
Dazu kommen die generischen Beziehungen zwischen den Spannungen in einer Schlaufe. Hier sind das also zwei:
US = UC + UR1 + UD
(4.11)
UR2 = UC
(4.12)
Dann brauchen wir für jedes identifizierte Element des Stromkreises eine entsprechende konstitutive Beziehung. Beim Kondensator handelt es sich um den Zusammenhang zwischen Ladung und Spannung:
UC =
1
Q
C
(4.13)
Für die beiden Widerstandselemente sind diese
IQ1 =
1
UR1
R1
IQ2 =
f alls UR1 > 0
1
UR2
R2
(4.14)
(4.15)
4.2 Modelle dynamischer Systeme
135
Der Generator wird durch eine Funktion US (t) beschrieben: die Funktion dient als
externer Input für das Modell, treibt das Modell an. Sie wird vorgegeben, d.h., in
einem konkreten Experiment entspricht sie der über dem Generator gemessenen
Spannung.
R1
UD
US
UR1
IQ2
R2
C
UR2
UC
IQ1
IQ1
UD
Abbildung 4.10: Schaltungs-Diagramm einer elektrischen Windkessel Schaltung (oben
links). Die Schaltung enthält einen Generator, Kondensator, zwei Widerstandselemente
und eine Diode. Der Kondensator entspricht dem Tank im hydraulischen Windkessel, der
mit Hilfe eines Generators, der eine variable Spannung US (t) aufsetzt, geladen wird. Entladung geschieht über das zweite Widerstandslement R2 . Oben rechts: Diagramm eines
systemdynamischen Modells für das elektrische System. Das Diagramm ist strukturell mit
dem für einen hydraulischen Windkessel in Abb.3.24 bis auf die Diode identisch. Unten:
Charakteristisches Diagramm für eine ideale Diode.
Modellierung der Diode. Bis auf die Diode sind nun alle Elemente beschrieben. Eine
Diode ist ein elektrischer (Halb-) Leiter mit besonderen Eigenschaften, die man am
einfachsten im Charakteristischen Diagramm erkennt – es geht wie bei jedem Leiter
um die Stromstärke-Spannungs Beziehung. In einem ganz einfachen Experiment
kann man die Charakteristik ausmessen (Abb.4.11). Man schliesst die Diode als
einziges Element an einen Generator, dessen Spannung varriert wird. Man misst
dann die Stromstärke und die Spannung über der Diode bei verschiedenen Werten
der Generatorspannung.
Angenähert zeigt die Kennlinie der Diode (im charakteristischen Diagramm oben
rechts in Abb.4.11), dass dieser Leiter elektrische Ladung ab einer bestimmten Spannung (hier ungefähr 0.8 V) die Ladung sehr gut durchfliessen lässt. Davor ist der
Ladungsstrom beschränkt. Was man nicht sieht ist, dass die Kennlinie durch den
Ursprung gehen muss (Spannung gleich Null bedeutet, dass die Elektrizität nicht
fliessen kann), und dass die Stromstärke bei umgekehrter (negativer) Spannung über
der Diode auch negativ aber sehr, sehr schwach ist. Die halb-logarithmische Darstellung der Messdaten deutet an, dass die Kennlinie ungefähr eine exponentiell
wachsende Funktion ist. Da sie durch den Nullpunkt gehen muss, kann man eine
solche Annäherung so darstellen:
IQ,D = a eb UD − 1
(4.16)
Die Konstante a misst ungefähr, wie schwach die Stromstärke bei negativen Spannungen ist (bei der ausgemessenen Diode ist der Wert ungefähr −1.4·10−7 A), und
136
Elektrische Systeme
b misst, wie steil die Stromstärke ab dem kritischen Wert ansteigt (hier ist der Wert
ungefähr 17 A−1 ).
0.60
IQ
V
US
Current / A
A
0.40
0.20
UD
0.00
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[[[[[
[[[[
[[
0.0
Ln(IQ) / A
IQ1
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
-5.0
-10.0
UD
-15.0
0.00
0.25
0.50
0.75
UD / V
1.00
Abbildung 4.11: Ausmessung des charakteristischen Diagramms einer Diode. Schaltungsdiagramm mit Generator, Diode und Messgeräten (oben links). Messdaten normal im charakteristischen Diagramm dargestellt (oben rechts). Einfach logarithmische Darstellung der
Daten (unten rechts). Die gemessene Charakteristik kann durch eine ideale Kennlinie angenähert werden (unten links).
Will man nun die Kennlinie einer Diode im Modell (Abb.4.10) verwenden, so erlebt
man eine Entäuschung – die Software für die Erstellung solcher Modelle erlaubt
das nicht (Abb.4.12). Der Grund ist der folgende. Wir berechnen die elektrische
Stromstärke IQ1 mit Hilfe der Spannung UR1 über diesem Element. Nun ist UR1
über den Machensatz in Gl.(4.11) mit der Spannung UD über der Diode verbunden.
Da diese letzere Spannung eine Funktion der Stromstärke durch die Diode ist (d.h.
die Umkehrfunktion von Gl.(4.16)), entsteht nun ein von der Software nicht erlaubter
Zirkelschluss.
Das Dilemma können wir für unseren Zweck sinnvoll (aber nicht speziell gut und
genau) lösen. Wir geben der Diodenspannung einen festen Wert. Tut man das, ist
das gleichbedeutend mit einer im IQ −UD Diagramm senkrecht nach oben gehenden
Kennlinie (wie unten links in Abb.4.11). Diese Linie ist eine grobe Annäherung an
die gemessene Kennlinie im Diagramm oben rechts in Abb.4.11. Man muss allerdings noch mit Hilfe einer IF. . . THEN. . . ELSE Bedingung dafür sorgen, dass die
Stormstärke auf Null gesetzt wird, falls UR1 negativ wird. Das Modell liefert mit
einem Wert von UD = 0.88 V sehr gute Übereinstimmung zwischen Messung der
Spannung UC und dem Simulationsresultat (siehe Abb.4.6, rechts).
Fragen &
Übungen
28. Beschreiben Sie die Analogie zwischen der Windkesselschaltung und einem hydrau-
lischen Windkessel System. Welche Elemente und welche Grössen entsprechen einander?
29. Was passiert mit UC, falls man die Diode in der Schaltung in Abb.4.10 weglässt?
4.2 Modelle dynamischer Systeme
137
30. Nehmen Sie einen Moment, in dem die Spannung über dem Kondensator im Dia-
gramm in Abb.4.10 höher als die über dem Generator ist. Gibt es dann eine Spannung über der Diode? Über dem Widerstandselement in der linken Mache? Fliesst
elektrische Ladung durch das Widerstandselement und die Diode?
31. Warum kann man die Diode im Modell durch eine fixe (Dioden-)Spannung darstellen?
32. Warum lässt sich die (reale) Charakteristik einer Diode nicht in unsere dynamischen
Modelle einbauen?
Current / A
0.60
0.40
0.20
0.00
0.00
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[
[[
[
[[[[[
[[[[
[[
0.25
0.50 0.75
Voltage / V
1.00
Abbildung 4.12: Will man die Charakteristik der Diode im bisherigen Windkesselmodell
(Abb.4.10) einfügen, wird das nicht funktionieren. Die Stromstärke ist indirekt eine Funktion der Spannung über der Diode, und die Spannung über der Diode ist eine Funktion
der Stromstärke (die inverse Funktion der Kennlinie). In den meisten Programmen, mit
denen man systemdynamische Modelle erstellen kann, führt diese Konstruktion auf einen
unerlaubten Zirkelschluss.
Box 4.1: Zirkuläre Beziehungen in dynamischen Modellen
Eine zirkuläre Beziehung zwischen normalen Variablen in einem Computermodell
eines dynamischen Systems ist in den meisten Fällen unerlaubt. Das kommt daher, dass eine solche Beziehung mathematisch gesprochen einer nicht-linearen algebraischen Beziehung zwischen zwei Variablen f (x, y) = 0 entspricht. Algebraische
Gleichungen in Anfangswertproblemen machen einen aufwändigen Algorithmus
zum iterativen Lösen solcher Beziehungen nötig.
Zirkuläre Beziehungen sind trotzdem möglich, allerdings nur, wenn es sich dabei
um eine typischen Feedback-Beziehung mit mindestens einem Speicherlement im
Feedback-Kreis handelt.
4.2.4
Diffusion elektrischer Ladung durch Leiter
Die bisherigen Beispiele zeigen eine weitgehende Analogie zwischen hydraulischen
und elektrischen Systemen auf der systemischen Ebene auf. Diese Analogie geht
weiter und kann für andere Beispiele verwendet werden. So ist zum Beispiel das
System in Abb.3.13 aus mehreren Tanks mit Schläuchen dazwischen analog zu einer
Schaltung von mehreren Kondensatoren und Widerstandselementen wie in Abb.4.13.
Das Diagramm eines systemdynamischen Modells für das System sieht dann auch
138
Elektrische Systeme
wieder genau gleich wie im hydraulischen Fall aus. Nur die Namen sind anders, und
natürlich haben elektrische Parameter andere Werte als die hydraulischen.
Schon beim hydraulischen Beispiel wurde darauf hingewiesen, dass wir damit ein
Modell für die Diffusion einer fluidartigen Grösse aufgestellt haben. Während das hydraulische System von Tanks und Schläuchen nicht eigentliche Diffusion wiedergibt,
diffundiert elektrische Ladung im wahrsten Sinne des Wortes. Ladung diffundiert
durch leitende Materialien hindurch. Sie können sich Ladung als unsichtbaren Stoff
vorstellen, der aufgrund von elektrischen Niveauunterschieden (Spannungen) durch
ein Material wandert.
UR1
UC1
UR2
UC2
UR3
UC3
UR4
UC4
UC5
Abbildung 4.13: Mehrere (identische) Behälter werden durch (identische) Schläuche in
einer Reihe miteinander verbunden (links). Rechts sieht man ein dazu analoges Schaltungsdiagramm aus Kondensatoren und Widerstandselementen.
4.3
Experiment und Modell
Experimentieren (und/oder Beobachten oder Prototypen bauen) und Modellieren
stellen zwei wesentliche Methoden der (Natur-)Wissenschaften dar. Ergebnisse von
Experimenten sagen uns durch Vergleich mit Simulationen eines Modells, ob dieses
seinen Zweck erfüllt. Ist der Vergleich weniger gut als erwartet, kann man sich
überlegen, ob das Modell wichtige Elemente und Eigenschaften des Systems nicht
richtig darstellt, was dann heisst, dass man versucht, das Modell zu verbessern.
Umgekehrt kann es sein, dass die Ergebnisse von Simulationen eines Modells uns
sagen, dass wir falsch gemessen haben, oder dass das Experiment möglicherweise
gar nicht geeignet ist, das zu zeigen, was wir sehen wollten. Im ersten Fall versucht
man, besser zu messen. Im zweiten Fall ändert man das Experiment – das Modell
dient also dem Entwurf des Experiments.
Das tönt, als ob man sich beim Arbeiten in den Wissenschaften (und in der Technik)
zwischen Modell und Experiment hin und her bewegt. Genau das ist der Fall, und
das werden wir an einem Beispiel etwas genauer untersuchen.
4.3.1
Laden und entladen von Kondensatoren
Kondensatoren laden und entladen entspricht im hydraulischen Beispiel dem Füllen und Entleeren eines Gefässes. In Abb.4.14 ist eine Schaltung gezeichnet, mit
der man einen Kondensator mit Hilfe einer Batterie oder eines Generators lädt und
in einer späteren Phase wieder über ein anderes Widerstandselement entlädt. Die
Schaltung hat zwei separate Zweige. Im ersten hat es die Batterie, einen Schalter,
ein Widerstandselement und den Kondensator. Der Kondensator ist dann zusammen mit einem Schalter und einem zweiten Widerstandselement im zweiten Kreis.
Beachten Sie das Voltmeter, mit dem die Spannung über dem Kondensator während des ganzen zusammengesetzten Vorgangs gemessen wird. Daten findet man in
PSS_VLE, Chapter 2, Investigation 4.
Der Vorgang besteht aus ein paar Phasen. Zuerst mal ist der Kondensator ungeladen.
Bis zu 10 s sind beide Schalter offen, dann schliesst man den ersten. Bei 80 s wird
4.3 Experiment und Modell
139
der erste Schalter wieder geöffnet und bleibt so bis zum Ende. Der zweite Schalter
wird bei t = 400 s geschlossen. Das heisst, dass der Kondensator in den Intervallen
t ∈ [0 s, 10 s] und t ∈ [80 s, 400 s] isoliert ist und an und für sich nichts passieren
sollte. Wir sehen aber jetzt schon in den Daten, dass das nicht ganz stimmt. Wir
werden uns später dazu wohl noch Gedanken machen müssen.
S1
S2
R1
5
IQ2
+
R2
C
V
Voltage / V
4
3
2
1
0
0
IQ1
200
400
Time / s
600
800
Abbildung 4.14: Diagramm für eine Schaltung, die uns erlaubt, einen Kondensator zu
laden und anschliessend wieder zu entladen. Laden und Entladen gehen über verschiedene Widerstandselemente. Die Spannung über dem Kondensator wird für einen typischen
Vorgang gemessen. Das Symbol mit dem V steht für das Voltmeter.
4.3.2
Aufbau eines ersten Modells
Wir fangen mit einem Modell an, das uns erlaubt, das Aufladen eines Kondensators
darzustellen. Auch wenn es nicht allzu schwierig ist, das ganze System in einem
Schritt zu modellieren, wollen wir das aus methodischen Gründen nicht tun. Es ist
eine gute Angewohnheit, ein Modell langsam und in kleinen Schritten zu bauen, wobei man nach jedem Schritt Simulationen macht um herauszufinden, ob das Modell
auch zu dem führt, was man sich bis zu diesem Punkt überlegt hat.
Wir beginnen mit der Darstellung der Bilanz der Ladung eines Kondensators. Im
Diagramm des systemdynamischen Modells ist das ein Reservoir mit einem Zu-Fluss
für den Ladevorgang. Der Anfangswert für die Ladung ist Null. Das Problem besteht
nun darin, den Ladestrom zu bestimmen (Abb.4.15).
5
EEEEEEEEEEEEEEEEEEEE
EEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEE
EEEE
EEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEE
E
E
E
Voltage / V
4
3
E
E
E
E
E
E
E
E
E
E
E
E
E
EE
EE
EE
EE
EE
EEE
EEE
EEEE
EEEEEEE
EEEEEEEEEEEE
EEEEEEEEEEEEEEEEEE
E
2
1
0
EEE
0
200
400
Time / s
600
800
Abbildung 4.15: Modell-Diagramm für den Ladevorgang. Das Modell stellt die Vorgänge
im linken Zweig der Schaltung in Abb.4.14 dar und führt bei der Simulation (durchgezogene
Linie) auf ein Verhalten wie im Diagramm rechts gezeigt (Kreise: Daten).
Die Stärke des elektrischen Stromes wird wie in den bisherigen Modellen durch das
Widerstandselement “geregelt”: Wir brauchen die Spannung über dem Element und
den als bekannt vorausgesetzten Widerstandswert
IQ1 =
1
UR1
R1
(4.17)
140
Elektrische Systeme
Allerdings müssen wir berücksichtigen, dass der Stromkreis nur zwischen 10 s und
80 s geschlossen ist. Während der anderen Phasen muss die Stromstärke gleich Null
gesetzt werden:
(4.18)
IQ1 = IF (TIME > 10 AND TIME < 80) THEN UR1 /R1 ELSE 0
Genau so wie auch schon besprochen, finden wir die Spannung UR1 mit Hilfe des
Maschensatzes für den ersten Zweig der Schaltung:
(4.19)
UR1 = US − UC
US steht für die (feste) Spannung über der Batterie oder dem Generator (S für source), UC bezeichnet wieder die Spannung über dem Kondensator, die wir mit Hilfe
der bekannten Beziehung zwischen Inhalt und “Füllhöhe” bei Speichern berechnen
(kapazitive Beziehung).
Das Resultat einer Simulation dieses Modells ist in Abb.4.15 rechts dargestellt.
Man erhält dieses Resultat mit dem separat gemessenen Widerstandswert R1 =
9880 Ω und durch Anpassen der beiden verbleibenden Parameter US und C. Für
die Spannung des Generators muss man etwa 4.6 V und für die Kapazität des
Kondensators 550 µF nehmen, dann erhält man die ausgezogene Linie im Diagramm
in Abb.4.15.
Der Anstieg der Spannung nach 10 s entspricht recht gut den Messungen bis 80 s,
dann aber nicht mehr. Es ist klar, dass wir das Entladen nach 400 s überhaupt nicht
im Modell eingebaut haben. Diese Schritt muss also als Nächstes genommen werden.
Das macht man durch Einbau eines Ausflusses für Ladung, der im Modelldiagramm
an das Reservoir gehängt wird (Abb.4.16). Neu ist jetzt die Ladungsbilanz mit zwei
Strömen:
Q̇ = IQ1 − IQ2
(4.20)
5
EEEEEEEEEEEEEEEEEEEE
EEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEE
EEEE
EEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEE
E
E
E
Voltage / V
4
3
E
E
E
E
E
E
E
E
E
E
E
E
E
EE
EE
EE
EE
EE
EEE
EEE
EEEE
EEEEEEE
EEEEEEEEEEEE
EEEEEEEEEEEEEEEEEE
E
2
1
0
EEE
0
200
400
Time / s
600
800
Abbildung 4.16: Modell-Diagramm für den Lade- und Entladevorgang. Das Modell stellt
die Vorgänge in beiden Zweigen der Schaltung in Abb.4.14 dar und führt bei der Simulation
(durchgezogene Linie) auf ein Verhalten wie im Diagramm rechts gezeigt (Kreise: Daten).
Dazu kommen die Beziehungen zwischen den Spannungen in der zweiten Masche
(UR2 = UC ) und zwischen Spannung über dem zweiten Widerstandselement und
der zweiten Stromstärke:
IQ2 = IF (TIME > 400) THEN UR2 /R2 ELSE 0
(4.21)
Nimmt man wieder den im Labor direkt gemessenen Widerstandswert R2 = 107.8 kΩ
und ändert den bei der ersten Simulation angepassten Wert für die Kapazität des
Kondensators nicht, so ergibt sich die in Abb.4.16 rechts gezeigte Simulationskurve
(ausgezogene Linie). Das sieht schon ganz anständig aus. Es scheint als ob wir die
wesentlichen Aspekte des Systems verstehen.
4.3 Experiment und Modell
4.3.3
141
Messungen und Bestimmung von Parametern
Ein erstes Experiment mit einer Messung wurde schon gemacht, und die Daten
wurden verwendet, um Parameter des Modells zu bestimmen. Diesen Schritt wollen
wir uns noch etwas genauer anschauen, bevor wir das Modell verbessern.
Wir sind an dem Punkt angelangt, wo wir zwei Dinge haben: (1) ein physisches
Objekt (unsere Schaltung) mit mindestens einen Datensatz aus einem Experiment
mit dem Objekt und (2) ein Modell, von dem wir meinen, dass es bestimmte Aspekte des Systems darstellt. Man fragt sich nun, ob man eine Simulation des Modells
hinkriegt, deren Resultat mit dem gemessenen Verlauf analoger Grössen in Einklang
gebracht werden kann. Man geht so vor, dass man die gemessenen Zeitreihen in die
Software, wo das Modell läuft, importiert und dann in Simulationen einen oder mehrere Parameter so lange ändert, bis der Unterschied zwischen Simulationsresultaten
und Messungen minimal geworden ist. Praktisch führt dieser Vergleich also auf eine
Festlegung der Parameter, die man variiert hat.
Im Fall unseres Modells in Abb.4.16 bedeutet das Folgendes. Wir haben den Anfangswert der Ladung Q0 , die beiden Widerstandswerte R1 und R2 , die Kapazität
des Kondensators C und die (feste) Spannung des Generators US als Parameter. Im
Experiment sollte der Kondensator anfänglich ungeladen sein, das heisst wir setzen
Q0 = 0. Wir nehmen weiter an, dass die Widerstandswerte separat gemessen wurden
und also gegeben sind. In unserem Fall haben sie die oben schon angegebenen Werte. Also bleiben die Spannung des Generators und die Kapazität des Kondensators
als (noch) unbestimmte Parameter.
Der Prozess der Parameteruntersuchung oder -festlegung funktioniert nun folgendermassen. Die Daten wurden importiert und können grafisch dargestellt werden.
Simulationsergebnisse für die selben Funktionen werden ins selbe Diagramm geplottet, sodass man sich visuell von dem Grad der Übereinstimmung zwischen Daten
und Simulationsergebnis überzeugen kann. Wenn man nur einen einzigen Parameter
zu variieren hat, funktioniert der Prozess von Hand recht gut. Man ändert den Wert
solange, bis man mit der Übereinstimmung mindestens vorläufig zufrieden ist.
Wenn man mehr als einen Parameter variieren muss, wird die Sache praktisch schon
schwieriger. Wenn man Information hat, in welchem Bereich sich Parameterwerte
etwa bewegen sollten, hat man es etwas leichter. Wenn das nicht der Fall ist, kommt
man von Hand oft nicht zum Ziel. Es gibt Software, die uns die Arbeit abnehmen,
Parameter automatisch sehr oft variieren, für jeden Parametersatz eine Simulation
machen und den Unterschied zwischen Simulation und Messung berechnen und dann
ein Minimum dieses Unterschieds suchen.
Aber auch auf diesem automatischen Weg ist Erfolg nicht garantiert – der in der
Software eingebaute Algorithmus (Rechenprozedur) muss nicht unbedingt in jedem
Fall ein brauchbares Ergebnis liefern. Dann bleibt eigentlich nur noch eins: zurück
ins Labor, um Experimente zu entwerfen, mit denen einzelne Parameter separat
bestimmt werden können. Damit haben wir ein Beispiel für das hin und her zwischen Modell und Experiment. Im realen wissenschaftlichen oder technischen Leben
kommt es selten vor, dass man an einem Punkt (Messung) beginnt und auf geradem
Weg zum Ziel (Modell mit Parameterbestimmung) kommt.
4.3.4
Verbesserung des Modells
Wir können in unserem Beispiel den anderen Fall der Wechselwirkung zwischen
Modell und Experiment erleben. Wenn wir das Modell in Abb.4.16 als unser erstes
nehmen, so sehen wir, dass das Modell nur moderat erfolgreich ist. Die Simulation
142
Elektrische Systeme
stimmt mit den Daten in der Phase zwischen 80 s und 400 s deutlich nicht überein.
Etwas passiert in unserem System, das vom Modell nicht eingefangen wird. Also
sollten wir in einem weiteren Durchlauf das Modell verbessern.
Natürlich können wir uns fragen, ob wir vielleicht schlecht gemessen habe, was dann
hiesse, dass wir ins Labor zurück müssten. In einem gewissen Sinn ist das in unserem
Beispiel tatsächlich passiert. Wir werden sehen, dass der Einfluss des Voltmeters zu
der bisher sichtbaren Differenz führt. Also könnten wir vielleicht mit einem besseren
Messinstrument den Unterschied zwischen Simulation des Modells und der Messung
zum Verschwinden bringen. Wir wählen aber den Weg, das reale Verhalten des
Voltmeters zu berücksichtigen und ins Modell zu integrieren.
Die Idee besteht also darin, das Voltmeter als aktives Element der Schaltung aufzufassen, das wie andere Elemente die Dynamik des Systems beeinfluss und nicht
nur passiv die “wahren” Daten erfasst. Das Voltmeter, das bei der computerisierten
Erfassung der experimentellen Daten verwendet wurde, misst Spannungen dadurch,
dass ein ganz schwacher Ladungsstrom durch den Sensor fliesst. Das bedeutet, dass
das Voltmeter eine Masche in der Schaltung generiert, durch die Ladung fliesst – je
mehr desto stärker ist der Einfluss des Messinstruments auf das Verhalten des Systems. Man minimiert diesen Einfluss in der Praxis dadurch, dass man den Leitwert
des Instruments sehr niedrig (den Widerstandswert also sehr hoch) macht.
Wir verstehen das Voltmeter nun also als zusätzlichen “Auslauf” aus dem Kondensator, der ständig offen ist und durch den (Innen-)Widerstand des Voltmeters
geregelt wird. Im dynamischen Modell (Abb.4.17) fügt man einen weiteren Flow an
das Reservoirsymbol für die Ladung des Kondensators an. Die Bilanzgleichung für
die Ladung des Kondensators lautet nun
(4.22)
Q̇ = IQ1 − IQ2 − IQV
5
EEEEEEEEEEEEEEEEEEEE
EEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEE
EEEE
EEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEEE
E
E
E
Voltage / V
4
3
E
E
E
E
E
E
E
E
E
E
E
E
E
EE
EE
EE
EE
EE
EEE
EEE
EEEE
EEEEEEE
EEEEEEEEEEEE
EEEEEEEEEEEEEEEEEE
E
2
1
0
EEE
0
200
400
Time / s
600
800
Abbildung 4.17: Diagramm eines systemdynamischen Modells für die in Abb.4.14 skizzierte Schaltung. Das Diagramm ist strukturell fast gleich wie das für Füllen und Entleeren
eines Gefässes (Kombination aus Abb.3.5 und 3.8) mit einem zusätzlichen Ausfluss. Das
Voltmeter funktioniert wie ein ständig offener Ablauf aus dem Kondensator. Die Simulation folgt nun der Messung sehr nahe.
Nun brauchen wir einen konstitutiven Ausdruck für IQV . Falls wir das Voltmeter
als einfaches Leitungselement behandeln, verhält es sich am ehesten gemäss
IQV =
1
URV
RV
(4.23)
wobei RV der Widerstandswert des Leiters im Voltmeter ist. Wie gesagt, der Wert
sollte hoch sein. Jetzt fehlt noch die Bestimmung der Spannung über dem Voltmeter, die wir durch den Maschensatz erhalten. Die Masche mit dem Messinstrument
4.3 Experiment und Modell
143
enthält noch den Kondensator, also ist
URV = UC
(4.24)
Damit ist das Modell wieder komplett und kann simuliert werden. Für das Resultat im Diagramm rechts in Abb.4.17 wurde eine automatische Anpassung der drei
Parameter US , C und RV . Die durch den in BerkeleyMadonna eingebauten Algorithmus zur Kurvenanpassung wurden die Werte US = 4.59 V, C = 599 · 10−6 F und
RV = 7.82 MΩ erhalten.
Die Übereinstimmung von Simulationsresultaten und Messungen sind nun so gut,
dass wir uns vermutlich damit begnügen werden. Es gibt noch eine kleine Diskrepanz
am Ende der Abklingphase um 600 s. Die Messungen liegen etwas höher als die
Simulation. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass das Voltmeter nicht ganz auf
Null geeicht ist. Man kann dieser Frage nachgehen, indem man die Messungen im
Labor nochmals überprüft. Statt das Gerät mühsam zu eichen, kann man – wenn
das das Problem ist – auch die Daten “korrigieren” und einfach nullen.
4.3.5
Verwendung eines Modells für Simulationen
Das Modell, das sich als Resultat der Wechselwirkung zwischen Modellierungsprozess und Experiment(en) ergeben hat, kann nun für Simulationszwecke benutzt werden. Das Hin und Her zwischen Modell und Labor dient also dem Zweck, unser Vertrauen in das Modell zu begründen. Einen Beweis, dass das Modell “die Wahrheit”
darstellt, wird man nie kriegen. Wir wissen einfach, dass es sich in der bisherigen
Arbeit bewährt hat.
Simulationen eines Modells dienen hauptsächlich der Untersuchung des Verhaltens
des modellierten Systems. Anstatt dass man in meistens sehr aufwändiger Arbeit
im Labor die Parameter des Systems ändert (indem man zum Beispiel den Kondensator durch einen anderen ersetzt und nochmals misst), “fragt” man das Modell,
wie sich eine Änderung der Kapazität des Kondensators auswirkt. Wenn unser Vertrauen in das Modell gegeben ist, kann man durch Simulationen relativ schnell viele
verschiedene Fälle untersuchen und das System wesentlich besser kennen lernen.
Mit genügender Vorsicht kann man aber auch noch weiter gehen. Wir können das
Modell abändern, erweitern, und damit Situationen untersuchen, die man im Labor
(oder in der Natur oder der Gesellschaft) noch nicht angetroffen hat. Natürlich kann
man sich damit auf Glatteis begeben; die Realität ist oft überraschender, als man
meint. Wenn man sich anschliessend durch Vergleich mit Daten eines erweiterten
realen Systems wieder absichert, ist dieses Vorgehen sehr nützlich und dient zum
Beispiel dem Entwurf von Systemen. Flugzeuge entstehen heute im Computer bevor
der erste Prototyp gebaut ist und dann (meistens auch) fliegt.
Es gibt auch viele interessante oder wichtige Fälle, wo Modelle (fast) die einzigen
Werkzeuge sind, mit denen man ein reales System untersucht. Dazu gehören Modelle
astronomischer Prozesse und Objekte (Beispiel: Entwicklungsmodell von Sternen),
des Klimasystems oder sozialer Systeme. Gerade im Bereich sozialer Systeme (z.B.
Ökonomie) spielen Modelle eine wichtige wenn auch kontroverse Rolle. Zum einen
sind die Systeme so komplex, dass ihnen Modelle kaum wirklich gerecht werden
können. Zum anderen kann man oder darf man mit den Systemen nur sehr selten
“experimentieren”. Natürlich spielen politische oder andere Entscheide in der Wirtschaft die Rolle von “Experimenten”, aus denen man hoffentlich später lernen kann
(d.h., ökonomische Daten dienen als Input für Modelle geschichtlich vergangener
Systeme). Aber man kann auf keinen Fall gleichzeitig mehrere verschiedene Experimente mit einer Volkswirtschaft durchführen in der Hoffnung, daraus schnell ein
144
Elektrische Systeme
paar Rückschlüsse zu ziehen. So können uns Modelle – mit Vorsicht genossen – einen
Blick in eine mögliche zukünftige Welt eröffnen.
4.3.6
Ein Modell des wissenschaftlichen Arbeitens
Das in diesem Abschnitt beschrieben Vorgehen ist ein Beispiel von wissenschaftlicher Methodik. Man kann es bildlich als Doppelzyklus darstellen . Erklärungen des
wissenschaftlichen Vorgehens als direkte Linie (von Beobachtungen zur Theorie oder
von der Theorie zu Anwendungen) oder als eifacher Kreislauf sind zu einfach und
entsprechen nicht der tatsächlichen Arbeit in Wissenschaft oder Technik. Es ist eher
so, dass wir uns auf zwei Kreisen bewegen, wobei der eine die Schritte mit Analyse,
Modellbildung und Simulation und der andre die mit Planung, Experiment und Datenanalyse darstellt. In unseren Köpfen kommen die Resultate dieser Bewegungen
zusammen, was zu Urteilen und Entscheiden über das weitere Vorgehen führt.
Es zeigt sich, dass auch der Doppel- oder Zweierzyklus zu einfach ist. Er lässt zwei
wesentliche Fragen unbeantwortet: Woher kommen Ideen und Konzepte für Modelle
und wie generieren wir gute Fragen (Motivation) für unsere Arbeit? Man kann ein
erweitertes Modell des wissenschaftlichen Arbeitens als Vierer-Zyklus darstellen,
wobei wir uns vorstellen, dass wir zusätzlich durch einen Kreis laufen, bei dem
Ideen und Vorstellungen entstehen. Ein weiterer Kreis wird hinzugefügt, um das
Entstehen von Motivation und guten Fragen durch das sorgfältige Recherchieren
von Hintergründen zu einem Thema darzustellen.
Quellen
Wissenschaftliche Methodik: Zweier- und Viererzyklus
Lectures and books
· Zweier-Zyklus: Fuchs H. U. (2002): Modeling of Uniform Dynamical Systems.
pp. 37-41. Orell Füssli, Zürich.
https://home.zhaw.ch/~fusa/MUDS/MUDS_TOP.html
· Vierer-Zyklus: Fuchs H. U. (2007): From Image Schemas to Dynamical Models in Fluids, Electricity, Heat, and Motion, pp. 39-41.
https://home.zhaw.ch/~fusa/LITERATURE/Literature.html
· Fuchs (2005): Viererzyklus. Unterlagen zum Kurs Formales Denken im Dept.
L. https://home.zhaw.ch/~fusa/COURSES/PSS_WI/PSS_Calendar.html
Fragen &
Übungen
33. Im Modell zum Laden eines Kondensators (Abb.4.15) wurde die Funktion der Batterie oder des Generators durch einen einzigen festen Wert (US ) dargestellt. Wieso
scheint das zu funktionieren? Was ist die Analogie zu einer entsprechenden hydraulischen Situation?
34. Im Experiment in Abb.4.14 wurden für das zweite Widerstandselement tatsächlich
zwei hintereinander geschaltete Elemente mit 9.88 kΩ und 97.9 kΩ verwendet. Warum
kann man im Modell ein einzelnes Element mit einem Widerstand von 107.8 kΩ
einsetzen?
35. In der Hydraulik würde man die Funktion einer realen Pumpe durch eine Charakteristik der Form in Abb.3.9 modellieren. Falls im Experiment in Abb.4.14 eine
4.4 Konzepte und Beziehungen
145
Batterie benutzt wurde, sollte diese auch als reale “Elektrizitätspumpe” dargestellt
werden, da sie einen Innenwiderstand von etwa 1 − 2 Ω hat. Warum kann man diese
Tatsache vernachlässigen?
36. Wieso kann man im Modell in Abb.4.17 den Wert von UR2 für die Bestimmung des
Stromes durch das Voltmeter IQV benutzen?
37. Nehmen Sie einen Kondensator mit einer Kapazität von 1.0 mV, für den eine La-
dungsbilanzgleichung wie in Gl.4.22 gilt. In einem bestimmten Moment betragen die
Werte der drei Ströme IQ1 = 4.0 mA, IQ2 = 1.0 mA und IQV = 4.0 µA. Bestimmen
Sie für diesen Moment die Änderungsrate der Ladung des Kondensators und die
Änderungsrate seiner Spannung.
4.4
Konzepte und Beziehungen
4.4.1
Elektrische Grössen
4.4.2
Bilanzieren der elektrischen Ladung
4.4.3
Elektrisches Potential und elektrische Spannung
4.4.4
Transportbeziehungen
4.4.5
Speicherbeziehungen
4.4.6
Batterien und Generatoren
Theorie: Konzepte und Beziehungen
Quellen
Lectures and books
· Fuchs H. U. (2010): The Dynamics of Heat. A Unified Approach to Thermodynamics and Heat Transfer. Springer, New York. Chapter 1, pp. 26-38.
· Fuchs H. U. (2006-2010): Lecture Notes for NTS. Course Website. Chapter
2, pp. 37-48.
· Borer T., Frommenwiler P., Fuchs H. U., et al. (2010): Physik, ein systemdynamischer Zugang. h.e.p. verlag, Bern. pp. 48-65.
4.5
Verhalten elektrischer RC-Systeme
Zeitkonstante und Problem der unabhängigen Bestimmung von R und C in einem
System.
Aufgaben
1. Untersuchen Sie das Beispiel einer elektrischen Windkesselschaltung (Daten finden
Sie in PSS_VLE, Chapter 2, Investigation 11). Machen Sie ein Modell, bestimmen
Aufgaben
146
Elektrische Systeme
Sie die Parameter durch Vergleich mit den Daten, und benutzen Sie dann das Modell
für Simulationen. Das Modell stellt eine gewisse Analogie zum systemischen Blutkreislauf dar. Benutzen Sie Simulationen, um etwas über den Einfluss der Parameter
auf das System zu lernen.
2. Bestimmen Sie von Hand aus den Daten zum Laden und Entladen eines Kondensators (Abb.4.14 und PSS_VLE, Chapter 2, Investigation 4) einen einigermassen
genauen Wert des Innenwiderstands des Voltmeters, das in der Schaltung benutzt
wurde.
Antworten zu Fragen und Übungen
1. Welche elektrische Grösse gleicht sich an, wenn man zwei (geladene) Kondensatoren
miteinander verbindet? Sollte man diese Grösse eine Menge oder ein Niveau nennen?
Antwort: Spannungen gleichen sich an (Spannungen sind elektrische Niveaudifferenzen).
2. Welcher der beiden Kondensatoren, die im Experiment, dessen Daten in Abb.4.1
(oben rechts) gezeigt sind, benutzt wurden, ist der elektrisch “grössere”? Wieviel mal
“grösser” ist er?
Antwort: Der anfänglich ungeladene. Etwa 2 mal.
3. Wenn elektrische Ladung durch das Widerstandselement fliesst, fliesst sie dann
“bergab”?
Antwort: Ja.
4. Was passiert mit der elektrischen Potentialdifferenz (Spannung) über dem Leitungslement (Widerstandselement) in der Schaltung in Abb.4.1 im Laufe der Zeit?
Antwort: Geht von 4.5 V auf Null (exponentiell).
5. Was passiert mit der Ladung des Kondensators, der links im Prozessdiagramm in
Abb.4.2 dargestellt ist, im Laufe der Zeit? Was passiert mit der Ladung des anderen
Kondensators? Was passiert mit der Ladung der beiden zusammen genommen?
Antwort: Ladung links nimmt ab, rechts nimmt sie zu. Zusammen bleibt die Menge
gleich.
6. Was macht ein Generator mit elektrischer Ladung? Kann man sagen, ein Generator
“erzeuge” Elektrizität?
Antwort: Er “pumpt” elektrische Ladung vom niefrigeren zum höheren elektrischen
Niveau. Nein, kann man nicht sagen, sicher nicht, falls man unter “Elektrizität”
elektrische Ladung versteht.
7. Woher holen Generatoren ihren “Antrieb”?
Antwort: Generator in Kraftwerk: von rotierender Turbine. Batterie: von chemischen
Reaktionen. Photovoltaische Solarzelle: vom Sonnenlicht.
8. Warum ist die Differenz der Spannungen zwischen den beiden Kondensatoren in
Abb.4.3 (oben rechts) nicht immer gleich der vom Generator (Batterie) aufgesetzten
Spannung, sobald die Schaltung läuft?
Antwort: Es hat noch Spannungen über Widerstandselementen, so lange Ladung
fliesst.
9. Wass passiert mit deder Ladung der beiden Kondensatoren während des Versuchs in
Abb.4.3? Wie ist das möglich, wenn beide Kondensatoren mit Null Ladung starten?
Wird also doch Elektrizität erzeugt?
Antwort: Ladung wird vom einen zum anderen Kondensator gepumpt (verschoben).
Der erste Kondensator kriegt einen “Elektrizitätsmangel” (wird negativ geladen).
4.5 Verhalten elektrischer RC-Systeme
147
10. Wieso braucht man die Vorstellung von positiver und negativer elektrischer Ladung?
Kann man bei negativer Ladung auch von Ladungsmangel reden?
Antwort:
11. Ein Plattenkondensator (aus zwei gegeneinander isoliert aufgestellten Platten) wird
elektrisch geladen. Was passiert mit Ladung?
Antwort: Eine Platte wird positive, die andere negativ geladen. In der Summe bleibt
die Ladungsmenge gleich Null.
12. Ein normaler (moderner) Kondensator in einer Schaltung ist immer elektrisch neutral. Wie kann man da von “der Ladung” eines Kondensators reden?
Antwort: Man bezieht sich dabei nur auf eine der beiden “Platten”.
13. Woher kommen elektrische Felder?
Antwort: Ladung (geladene Körper) erzeugt elektrische Felder um sich herum im
Raum.
14. Welche elektrischen Grössen sind zu Volumen von Flüssigkeiten und Druckdiffe-
renzen analog? Was ist analog zur geflossenen Menge eines Fluids (transportiertes
Volumen)?
Antwort:
15. Was passiert, wenn Sie elektrische Ladung (in einem Kondensator) ansammeln? Mit
welcher Grösse würden Sie den Zusammenhang zwischen Ladung und Spannung
eines Kondensators beschreiben?
Antwort: Wenn man die elektrische Ladung in einem Kondensator ansammelt, dann
nimmt die Spannung uber den Kondensator zu. Das Verhältnis zwischen Ladung
und Spannung ist die Kapazitat des Kondensators (Darstellbar im charakteristischen
Diagramm eines Kondensators).
16. Wass passiert mit dem elektrischen Potential, wenn man in Richtung der fliessenden
Ladung durch einen Generator geht?
Antwort: Das Potential wird höher.
17. Wieso braucht es die Diode in der Schaltung in Abb.4.6? Was ist die systemische
Funktion einer Diode?
Antwort: Damit Ladung nicht zurück fliesst (“Rückschlagventil”).
18. Die Einheit der elektrischen Ladung ist Coulomb. Für die Einheit des Ladungsstroms
nimmt man Ampère. Was ist der Zusammenhang zwischen diesen beiden Einheiten?
Was ist die entsprechende Fragestellung in der Hydraulik?
Antwort: C = A·s (Hydraulik: Zusammenhang zwicshen Einheit von Volume und
Einheit des Volumenstroms).
19. Wie sieht das Prozessdiagramm eines Kondensators aus?
Antwort:
20. Welcher Idee aus der Hydraulik entspricht die Beziehung in Gl.(4.3)?
Antwort: Beziehung zwischen Niveaudifferenzen in einem geschlossenen Kreis (Maschensatz).
21. Führen Sie im Schaltungsdiagramm in Abb.4.1 vor und nach jedem Element einen
Punkt auf den Leitungen ein, und Bezeichnen Sie die Punkte nacheinander mit A,
B, C,. . . Zeichnen Sie dann ein Diagramm mit der Position entlang der x -Achse
(wieder mit A, B, C,. . . bezeichnet) und dem elektrischen Niveau (elektrische Intensität, elektrisches Potential) auf der y-Achse. Zeichnen Sie nun in das Diagramm
eine “Höhenkurve”, die so etwas wie die elektrische Landschaft entlang des Stromkreises darstellt. Wiederholen Sie die Aufgabe für die in Abschnitt 3.2.1 eingeführte
hydraulische Drucklandschaft.
Antwort: Vergleiche Abb.4.4.
148
Elektrische Systeme
22. Die Kapazität des ersten anfänglich geladenen Kondensators in Abb.4.1 beträgt 30
µF (Micro-Farad). Bestimmen Sie die Kapazität des zweiten Kondensators. (Das File
mit den gemessenen Daten ist in PSS_VLE, Chapter 2, Investigation 1 zu finden.)
Antwort: 60 µF.
23. Wie gross sind die Änderungsraten der Spannungen der beiden Kondensatoren in
Abb.4.1 gerade nach Beginn des Prozesses? (Was ist das Verhältnis dieser Werte?)
Wie gross sind demnach die Änderungsraten der Ladung der beiden Kondensatoren?
(Das File mit den gemessenen Daten ist in PSS_VLE, Chapter 2, Investigation 1 zu
finden.)
Antwort: – 0.59 V/s, 0.29 V/s. – 18 µA, + 18 µA.
24. Wie hoch ist die Spannung, die die Batterie in der Schaltung von Abb.4.3 aufsetzt?
Antwort: 4.5 V (man betrachtet die gemessenen Spannungen über den Kondensatoren am Ende des Vorgangs).
25. Was passiert mit der Spannung UR in der Schaltung von Abb.4.3 im Laufe der Zeit?
Wie verhält sich die Stromstärke im Stromkreis als Funktion der Zeit?
Antwort: Sie geht von 4.3 V exponentiell nach Null – Stromstärke ist proportional
dazu.
26. Der Widerstand des Widerstandselementes war im Experiment von Abb.4.9 10’000
Ohm gross. Wie viel Ladung wurde vom ersten zum zweiten Kondensator gepumpt?
Wie viel Ladung haben Kondensator 1 und Kondensator 2 am Ende des Vorgangs?
Antwort: 1.5 mC; – 1.5 mC und + 1.5 mC.
27. Wie gross sind die Kapazitäten der beiden Kondensatoren in Abb.4.9?
Antwort: 580 µF, 1000 µF.
28. Beschreiben Sie die Analogie zwischen der Windkesselschaltung und einem hydrau-
lischen Windkessel System. Welche Elemente und welche Grössen entsprechen einander?
Antwort:
29. Was passiert mit UC, falls man die Diode in der Schaltung in Abb.4.10 weglässt?
Antwort: UC sinkt (fast) auf Null, wenn US gegen Null geht.
30. Nehmen Sie einen Moment, in dem die Spannung über dem Kondensator im Dia-
gramm in Abb.4.10 höher als die über dem Generator ist. Gibt es dann eine Spannung
über der Diode? Über dem Widerstandselement in der linken Mache? Fliesst elektrische Ladung durch das Widerstandselement und die Diode?
Antwort: UD: ja. UR: nein. IQ: nein.
31. Warum kann man die Diode im Modell durch eine fixe (Dioden-)Spannung darstellen?
Antwort: Steiler Anstieg der realen charakteristischen Kurve nach einer “kritischen”
Spannung.
32. Warum lässt sich die (reale) Charakteristik einer Diode nicht in unsere dynamischen
Modelle einbauen?
Antwort: Führt auf Zirkelbeziehung, die viele Programme für dynamische Systeme
nicht beherrschen.
33. Im Modell zum Laden eines Kondensators (Abb.4.15) wurde die Funktion der Batterie oder des Generators durch einen einzigen festen Wert (US ) dargestellt. Wieso
scheint das zu funktionieren? Was ist die Analogie zu einer entsprechenden hydraulischen Situation?
Antwort: Pumpe mit konstanter Druckdifferenz.
4.5 Verhalten elektrischer RC-Systeme
149
34. Im Experiment in Abb.4.14 wurden für das zweite Widerstandselement tatsächlich
zwei hintereinander geschaltete Elemente mit 9.88 kΩ und 97.9 kΩ verwendet. Warum
kann man im Modell ein einzelnes Element mit einem Widerstand von 107.8 kΩ
einsetzen?
Antwort: Serieschaltung.
35. In der Hydraulik würde man die Funktion einer realen Pumpe durch eine Cha-
rakteristik der Form in Abb.3.9 modellieren. Falls im Experiment in Abb.4.14 eine
Batterie benutzt wurde, sollte diese auch als reale “Elektrizitätspumpe” dargestellt
werden, da sie einen Innenwiderstand von etwa 1 − 2 Ω hat. Warum kann man diese
Tatsache vernachlässigen?
Antwort: Der Innenwiderstand ist im Vergleich zu den anderen Widerständen vernachlässigbar.
36. Wieso kann man im Modell in Abb.4.17 den Wert von UR2 für die Bestimmung des
Stromes durch das Voltmeter IQV benutzen?
Antwort: Parallelschaltung.
37. Nehmen Sie einen Kondensator mit einer Kapazität von 1.0 mV, für den eine La-
dungsbilanzgleichung wie in Gl.4.22 gilt. In einem bestimmten Moment betragen die
Werte der drei Ströme IQ1 = 4.0 mA, IQ2 = 1.0 mA und IQV = 4.0 µA. Bestimmen
Sie für diesen Moment die Änderungsrate der Ladung des Kondensators und die
Änderungsrate seiner Spannung.
Antwort: 2.996 mA. 2.996 V/s.
150
Elektrische Systeme
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