3. Rätien in der Völkerwanderungszeit

Werbung
Einführung
nicht mehr aufhalten; für die Raetia prima
brachten sie immerhin eine längere Verschnaufpause, während der die Angriffskraft der Alemannen sich mehr auf Helvetien und Gallien konzentrierte. Allerdings
war um die Mitte des 4. Jahrhunderts auch
Rätien in heftige Abwehrkämpfe verwikkelt. Spätrömische Höhensiedlungen (St.
Georgen bei Berschis, Severgall in Vilters
und Ochsenberg in Wartau) dienten den
Einheimischen als Refugien gegen die alemannischen Eindringlinge (Grüninger 1977,
55
Geschichte
18). Auch die römische Bevölkerung Liechtensteins war schon im 3. Jahrhundert genötigt, in Höhenlagen (Lotzagüetle, Kröppel)
befestigte Fluchtburgen zu bauen. Noch um
430 war auf dem Bodensee eine römische
Flotte stationiert, und hinter den Mauern
der Kastelle und Städte (Arbon, Bregenz)
behauptete sich weiterhin eine christlich-römische Einwohnerschaft. Um die Mitte des
5. Jahrhunderts aber brach die Rheingrenze
endgültig zusammen.
3. Rätien in der Völkerwanderungszeit
3.1. Sonderentwicklung Rätiens
Unterdessen hatten die Goten die Apenninenhalbinsel erobert. Die Verteidigung des
Limes hörte auf; die Verbindungen Rätiens
zum «Mutterland» Italien brachen ab. Zu
allen Seiten von – teils feindlich gesinnten
– germanischen Staaten und Völkern umgeben, blieb Rätien fortan ganz auf sich gestellt. Durch das Erlöschen der kaiserlichen
Besitzrechte über die zahlreichen Domänen
wurde, namentlich in der weniger exponierten Raetia prima, die Stellung der einheimischen Grossgrundbesitzer gewaltig
gehoben. Sie vor allem waren an einer Erhaltung der Sonderstellung Rätiens interessiert und daher gewillt, dessen Unabhängigkeit zu verteidigen. Rätien beschritt damit
eine Entwicklung, die wesentlich abwich
von derjenigen der übrigen weströmischen
Provinzen, welche fast alle von der römischen unmittelbar unter germanische Herrschaft gerieten (Dietze 1931, 55f.).
Zu einem neuen Anschluss Rätiens an Italien kam es erst, nachdem der Ostgote
Theoderich im Jahre 493 den germanischen
König Italiens, Odoaker, besiegt hatte
(Dietze 1931, 79ff.). Wieder galt es, aus
den Alpenländern ein Bollwerk Italiens gegen die nördlich benachbarten Germanen zu
machen. Dort waren unterdessen die Alemannen von Frankenkönig Chlodwig besiegt (496) und unterworfen worden. Ein
Teil der Geschlagenen begab sich unter den
Schutz Theoderichs (der die aufsteigende
fränkische Macht zu fürchten hatte) und
begann sich an den Nordrändern Rätiens –
also namentlich im unteren Rheintal bis
zum Hirschensprung – niederzulassen. Diese alemannische Einwanderung, da von
oben gelenkt, geschah in durchaus friedlicher Weise. Anders wäre die Festlegung der
zu Verteidigungszwecken nicht eigentlich
geeigneten Linie Hirschensprung–Kummenberg als Südgrenze dieser alemannischen Besiedlung (aus der später die Bistumsgrenze zwischen Chur und Konstanz
sowie eine Gaugrafschaftsgrenze wurde)
kaum verständlich. Theoderichs Absicht lag
aber gerade darin, diese Alemannen in
Grenznähe anzusiedeln, um in ihnen eine
stets schlagfertige Truppe zur Verteidigung
der Grenze zu besitzen.
Mit dieser alemannischen Zuwanderung
war für das Romanentum der Verlust des
Bodenseeufers in die Wege geleitet. Nördlich des Hirschensprungs bestand jetzt der
überwiegende Teil der Bevölkerung aus
Alemannen, mit denen nun auch germanische Kultur und Verfassung, vor allem aber
auch germanisches Heidentum Einzug hielten (Dietze 1931, 94). Das südliche Rätien
dagegen vermochte seinen romanischchristlichen Charakter in Bevölkerung,
Sprache, Kultur und Rechtsleben noch weiter zu bewahren. Als Diözesangebiet des
Herunterladen