1986-Römischer Einfluss auf das rätische Frühmittelalter

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Untervazer Burgenverein Untervaz
Texte zur Dorfgeschichte
von Untervaz
1986
Römischer Einfluss auf das rätische Frühmittelalter
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1986
Römischer Einfluss auf das rätische Frühmittelalter
in: Bündner Zeitung Nr. 134 vom 12. Juni 1986
Urs Clavadetscher
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Der Einfluss der römischen Herrschaft in Graubünden
auf das Frühmittelalter
Mit der Unterwerfung der Alpenvölker durch die Römer im Jahre 15 v. Chr. begann für
den bündnerischen Raum ein neuer Abschnitt in seiner Geschichte. Die rund
rund 400 .Jahre
dauernde römische Herrschaft in Graubünden hat nachhaltige Spuren hinterlassen und
viele Bereiche des Lebens im Frühmittelalter mitgeprägt. Als offensichtliches Merkmal
sei auf die rätoromanischen Idiome hingewiesen, die auf die Oberschichtung
Oberschichtung der
vorromanischen Sprachen in Graubünden durch das Lateinische zurückgehen1. Nach
einem kurzen geschichtlichen Abriss soll anhand einiger ausgewählter Beispiele gezeigt
werden, in welchen Bereichen das römische Erbe im Frühmittelalter weiterwirkte.
von Urs Clavadetscher
Ein Weiheinschriftfragment an den Augustussohn L. Caesar aus Chur (Welschdörfli)
zeigt, dass Chur bereits in der Frühzeit der römischen Herrschaft Verwaltungszentrum
war2. Nach dem Tode von Augustus (14 n. Chr.) wurde Rätien durch eine Kastellkette
von Bregenz bis zum Bayrischen Inn geschützt. Zu einer Provinz zweiter Klasse wurde
es erst um 180 n. Chr. Vor der Mitte des 4. Jahrhunderts teilten die Römer Rätien. das
zur Diözese Italien gehörte, in zwei Provinzen auf: Raetia prima und Raetia secunda,
deren Grenze der Arlberg und die Münstertaleralpen waren. (Statthalter (praesides)
verwalteten die beiden Provinzen. Das Verwaltungszentrum der Raetia prima war Chur,
jenes der Raetia secunda Augsburg.
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Militärisch waren sie einem Dux in Augsburg unterstellt. Im 3. und 4. Jahrhundert litt
Rätien unter Allemanneneinfällen3. Der neueste Münzhortfund von Jenins mit 730
Münzen darf wohl auch in diesem Zusammenhang gesehen werden4. Nach 400 bestand
die römische Herrschaft über Rätien nur noch dem Namen nach. Aus einem
Bestallungsschreiben für den rätischen Dux, das vor 507 abgefasst worden sein muss,
geht deutlich hervor, dass Rätien ein gefährdetes Grenzgebiet war. In diesem
Schriftstück wird auch betont, dass Rätien Bollwerk und Riegel Italiens sei5.
Die Herrschaft der Franken in Rätien dürfte unter König Theudebert (533-48), einem
Enkel Chlodwigs, begonnen haben. Auf welche Art dieser Wechsel vollzogen wurde sei es durch kriegerische Auseinandersetzungen oder vertragliche Abmachung - lässt
sich nicht entscheiden. Rätien war für das Frankenreich im 6. Jahrhundert von
wesentlicher Bedeutung, überquerten doch mehrmals alemannische und fränkische
Heere die rätischen Pässe, um nach Italien zu gelangen. Aufgrund der zahlreichen
Auseinandersetzungen zwischen den fränkischen Teilreichen im 7. und zu Beginn des 8.
Jahrhunderts ist anzunehmen, dass Rätien damals relativ selbständig war. Dies führte
auch zum Aufstieg der Viktoriden, die in Rätien im 8. Jahrhundert. mit Bischof Tello
sogar die geistliche und weltliche Macht inne hatten6. Der Ahnherr dieses Geschlechts,
Zacco, war aller Wahrscheinlichkeit nach ein Germane.
Erst unter Karl dem Grossen wurde die Sonderstellung Rätiens allmählich aufgehoben.
Die einheimischen Machtträger wurden durch einen Grafen aus seinem Hofkreis
abgelöst7.
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Verkehrsorganisation
Die Verkehrsorganisation im Frühmittelalter stützte sich zum grossen Teil auf die
römische. Man kann davon ausgehen, dass sowohl die Linienführung, wie auch der
militärische Zweck aller Verkehrsanlagen von den Römern übernommen wurden.
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Das karolingische Reichsgutsurbar aus der Zeit um 840 gibt einen guten Einblick in die
frühmittelalterliche Verkehrsorganisation8. Als Beispiel sei die Julierroute
herausgegriffen, auf deren Passhöhe noch heute die beiden Römersäulen sichtbar sind.
Von Chur aus gelangte man in einem kurzen Tagesmarsch nach Lantsch, wo eine
taberna (Rastortherberge) stand. Die nächsten Rastmöglichkeiten waren wohl in Riom
und Marmorera (taberna). In Bivio bestand die Möglichkeit, die Pferde zu wechseln
(stabulum). Nach der mühsamen Überquerung des Juliers konnte man in Sils i. E. die
müden Pferde gegen frische auswechseln und auf dem Wege nach Italien passierte man
die Zollstation in Castelmur (Porta Bergalliae).
Das Engadin abwärts standen noch je eine Taberna in Zuoz und Ardez. Im Gegensatz
zum Julier dürfte der Splügen, der zur Römerzeit Reichsstrasse war, im Frühmittelalter
nur eine unbedeutende Rolle gespielt haben. Über die Begehung des Lukmaniers und
des San Bernardino liegen noch zu wenig gesicherte Forschungsergebnisse vor, um
stichhaltige Aussagen zu machen.
Siedlungen
Die Erforschung der frühmittelalterlichen Siedlungen in Graubünden ist mit grösseren
Schwierigkeiten verbunden, da die Siedlungsräume durch die Topographie eingeengt
sind, so dass immer wieder dieselben Standorte belegt wurden.
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Durch die Bautätigkeit der Jahrhunderte und vor dem in den letzten Jahrzehnten wurden
ältere Bauten grösstenteils zerstört und sind nur - wenn überhaupt - in wenigen Resten
feststellbar.
An einigen Beispielen soll gezeigt werden, dass im Frühmittelalter sehr oft die
römischen Siedlungsplätze übernommen wurden. Der Hof in Chur war ohne Zweifel
schon in römischer Zeit besiedelt. Die bis anhin archäologisch untersuchten Flächen
weisen darauf hin, dass hier ein römisches Kastell stand9. Obwohl erst 451 mit Asinio
ein Churer Bischof erwähnt wird, darf mit Sicherheit angenommen werden, dass schon
am Ende des 4. Jahrhunderts ein Bischof auf dem Hof residierte.
Auf dem Hügel Carschlingg bei Castiel entstand um die Mitte des 4. Jahrhunderts eine
ummauerte Siedlung. Der Zeitraum zwischen dem Abgang (Anfang 5. Jahrhundert) der
spätrömischen Befestigung mit ihren dem Plateaurand entlang errichteten
Grubenhäusern und der befestigten Siedlung des 6. Jahrhunderts liegt noch im Dunkeln,
doch weisen Funde darauf hin, dass auch damals der Hügel mindestens zeitweise
besiedelt war. Im Laufe des 6. Jahrhunderts wurde die gemörtelte Umfassungsmauer
durch eine doppelte Pfostenreihe abgelöst. Diese Siedlung dürfte rund 200 Jahre
bestanden haben10.
Die römische Siedlung von Riom weist eine Siedlungsdauer vom 1. bis ins 4.
Jahrhundert auf. Von ihrer Lage an der Julierroute her ist es nicht auszuschliessen, dass
es eine mutatio, das heisst eine Herberge und Pferdewechselstation für die Reisenden
war. Nach dem Abgang der römischen Siedlung wurde das Gelände mit sechs bis acht
Holzhütten, teilweise mit Herdstellen, überbaut. Am Beispiel Riom lässt sich sehr schön
die Kontinuität von der römischen Zeit bis ins Frühmittelalter nachweisen11.
Die Ausgrabungen in Riom haben gezeigt, dass die Bevölkerung im Frühmittelalter auf
ihre traditionelle Bauweise (Holzhütten) zurückgriff, während in Castiel ersichtlich ist,
dass schon in spätrömischer Zeit die Grubenhäuser bevorzugt wurden, jedoch die
römische Mauertechnik übernommen wurde. An diesen beiden Beispielen ist die
Verflechtung von einheimischer und römischer Bauweise in der Übergangszeit ablesbar.
Bevölkerung
Angaben über die Struktur, Art und Grösse der Bevölkerung lassen sich am besten aus
Gräberfeldern gewinnen, da vollständig ergrabene Siedlungen aus dem Frühmittelalter
in unserem Gebiet fehlen. Das Gräberfeld von Valbeuna bei Bonaduz mit über 700
Gräbern ist das grösste und am besten ausgewertete in Graubünden12. Die Belegungszeit
reicht von der Mitte des 4. Jahrhunderts bis in den Anfang des 8. Jahrhunderts.
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Für die Kontinuität der Bevölkerung sprechen folgende Argumente: Die
anthropologischen Untersuchungen haben eine einheitliche romanische Population
festgestellt, das he isst fremde zum Beispiel germanische Menschentypen sind nicht
vertreten. Die Schmuck- und Trachtenbestandteile stimmen in der Früh- und Spätphase
sowohl nach Zusammensetzung als auch nach Art überein und gehen auf spätrömische
Vorformen zurück. Auf eine ungebrochene Kontinuität weist auch der Umstand hin,
dass die älteren Gräber von den jüngeren respektiert wurden, das heisst es sind
sozusagen keine Überschneidungen feststellbar. Dasselbe gilt auch für die
spätrömischen Memorialbauten. Das Fehlen der Beigaben aus dem 5. Jahrhundert
spricht nicht gegen eine Kontinuität, denn dieses Phänomen kann allgemein beobachtet
werden.
Natürlich lassen sich aus einem Gräberfeld allein nicht allgemein gültige Schlüsse für
den ganzen bündnerischen Raum ziehen. Doch weist gerade das Aufgeben der Sitte der
Speisebeigaben darauf hin, dass nach 400 n.Chr. das Christentum sich durchzusetzen
begann. Interessant ist das Grab 1966/21 von Tamins, bei dem es sich um die letzte
Ruhestätte eines um 530 verstorbenen Franken handelt13. Es zeichnet sich im Gräberfeld
nur durch eine tiefere Grabgrube und den Beigabereichtum aus, nicht aber durch einen
bevorzugten Standort.
Kirche
Es würde zu weit führen, an dieser Stelle auf die Problematik des frühen Christentums
in Graubünden einzugehen, doch sollen einige Beispiele angeführt werden, die zeigen,
dass auch im kirchlichen Bereich das römische Erbe spürbar ist. Nicht nur in Chur,
sondern auch an andern Orten (Genf, Base usw.) wurde die römische Stadt zum Sitz des
Bischofs und zum Zentrum des Bistums. Der Einfluss Oberitaliens und des
Adriagebietes ist in den kirchlichen Bauten Graubündens ablesbar14. Als Beispiel sei
hier die Grabkammer St. Stephan in Chur angeführt15. Der geostete, tonnengewölbte
Rechteckbau entstand vor der Mitte des 5. Jahrhunderts und dürfte als Grablege der
Bischöfe von Chur gedient haben.
Die Memorien von Schiers und Bonaduz weisen ebenfalls auf eine antike Tradition hin.
Auch in der Kleinkunst ist römischer Einfluss spürbar. So haben die
Reliquiarsarkophage der Kathedrale in Chur und von St. Lorenz in Paspels grosse
römische Steinsarkophage zum Vorbild.
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Aus diesen kurzen Ausführungen, die bei weitem nicht vollständig sind, geht deutlich
hervor, dass ohne die römische Herrschaft die Verfassungs- und Kulturgeschichte
Graubündens ganz anders aussehen würde und - was ganz besonders schmerzlich wäre es keine rätoromanischen Idiome gäbe.
Anmerkungen:
Stefan Sonderegger, Die Siedlungsverhältnisse Churrätiens im Licht der Namenforschung, in: Von der
Spätantike zum frühen Mittelalter, hrg. von J. Werner und E. Ewig, Vorträge und Forschungen XXV,
Sigmaringen 1979, S. 219-54 - Alexi Decurtins, Die Entwicklung der rätoromanischen Sprache. Terra
Grischuna 4/1985, S. 45-48).
2
Hans Erb/Auguste Bruckner/Ernst Meyer, Römische Votivaltäre aus dem Engadin und neue Inschriften
aus Chur (Schriftenreihe des Rätischen Museums Chur, Heft 2) Chur 1966, S. 8-10.
3
Bernhard Overbeck. Das Alpenrheintal in römischer Zeit aufgrund der archäologischen Zeugnisse,
Teil I. Topographie, Fundvorlage und historische Auswertung (Münchner Beiträge zur Vor- und
Frühgeschichte. hrg. von J. Werner, Band 20). München 1982. S. 197-228.
4
«Bündner Zeitung» vom 26. Januar 1984.
5
Bündner Urkundenbuch. bearbeitet von Elisabeth Meyer Marthaler und Franz Perret, Band I. Chur
1955, Nr. 3 S. 4 Zeilen 6 und 7: « . . .Rätia namque munimina sunt Italiae et claustra provinciae ..,»
6
Otto P. Clavadetscher. Zur Verfassungsgeschichte des merowingischen Rätien, (Frühmittelalterliche
Studien 8, 1974, S. 60-70
Iso Müller, Rätien im 8. Jahrhundert, Zeitschrift für schweizerische Geschichte 19, 1939, S. 337-68.
So hatte zum Beispiel um 720 Vigilius das Bischofsamt inne, während sein Bruder als preases amtete.
7
Otto P. Clavadetscher. Die Einführung der Grafschaftsverfassung in Rätien und die Klageschriften
Bischof Viktors III. von Chur, Zeitschrift der Savignystiftung für Rechtsgeschichte. Kan. Abt. 39,
1953, S. 46-111.
8
Otto P. Clavadetscher. Verkehrsorganisation in Rätien zur Karolingerzeit. Schweizerische Zeitschrift für
Geschichte 5.1955, S.1-30Zur neuesten Strassenforschung vgl. Armon Planta, Verkehrswege im alten
Rätien, Band 1, Chur 1985.
9
«Bündner Zeitung» vom 5. Juli 1972 - «Bündner Zeitung» vom 8. Juli 1972
10
Urs Clavadetscher. Die Fluchtsiedlung von Castiel/Carschlingg. Terra Grischuna 4/1985. S. 26-29.
11
Jürg Rageth, Die römische Siedlung von Riom (Oberhalbstein GR), Archäologie der Schweiz 5. 1982,
S. 136-40.
12
Gudrun Schneider-Schnekenburger. Churrätien im Frühmittelalter auf Grund der archäologischen
Funde (Münchner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte. hrg. von J. Werner, Band 26) München,
1980, vor allem S. 17-50.
13
wie Anm. 12, S. 60-61
14
Hans Rudoff Sennhauser. Spätantike und früh- mittelalterliche Kirchen Churrätiens, in: Von der
Spätantike (wie Anm. 1), S. 193-218.
15
Walther Sulser und Hilde Claussen, Sankt Stephan in Chur (Veröffentlichungen des Instituts für
Denkmalpflege an der ETH Zürich, Band 1) Zürich 1978.
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Internet-Bearbeitung: K. J.
Version 12/2010
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