Festpredigt zum Bodensee-Kirchentag, 7. Mai 2006, Dom Johannes 10,9.10b.11-18 gehalten von Pfr. Markus Unholz Liebe Mitchristinnen und Mitchristen aus fern und nah Eine einladend offene Tür vorzufinden oder verzweifelt an einer verschlossenen zu rütteln, das lässt einen nicht kalt. So erinnere ich mich an das Gefühl der Verlorenheit, das mich als Kind überkam, weil die Türe zu unserem eigenen Haus zu war und ich den Schlüssel nicht dabei hatte. Doch auch wer den Schlüssel in der Tasche trägt und seine Haus- oder Wohnungstür aufschliessen kann, hat keine Gewähr, wirklich nach Hause zu kommen, an einen Ort, wo Schutz und Geborgenheit zu finden sind. Manche von uns sind bei den Menschen um sich herum, ja bei sich selber nicht daheim. Manche laufen scheinbar frei in der Welt umher und bleiben doch eingeschlossen in Ängste und Zwänge. Wie gut tut es da, die Verheissung von Christus zu hören: „Ich bin die Tür. Wenn jemand durch mich hineingeht, wird er gerettet werden und wird eingehen und ausgehen und eine Weide finden.“ Wer wünscht sich nicht eine solche Tür, hinter der Schutz und Sicherheit zu finden ist bei Nacht und Dunkelheit. Und die sich wieder öffnet, wenn ein neuer Tag anbricht, und hinausführt in fruchtbare Gegenden, wo „Leben in Fülle“ zu finden ist. Christus hat sich als solche Tür erwiesen für Blinde, Gelähmte, Geknechtete. Er führte sie in die Freiheit, ins Weite, zurück ins Leben. Und Mühseligen und Beladenen hat er bei sich einen Schutzraum gewährt, wo sie aufatmen konnten. Diese Einladung gilt auch uns. Das Motto des Kirchentags „In der Vielfalt zuhause“ ist ein Anstoss, den in seinem Geist gegenwärtigen Christus auch heute als Tür unseres Lebenshauses zu entdecken. Jede und jeder von uns hat die Tür seines Hauses geöffnet, in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz, sonstwo. Wir z.T. sind über die Schwelle unseres konfessionellen Daheims getreten und hierher gekommen an den ökumenischen Kirchentag. Wir begegnen da bekannten und unbekannten Men-schen. Nun suchen wir hier im Dom, an diesem wunderbar grosszügigen, far-bigen und lichten Ort, wo Menschen sich seit Jahrhunderten auf Gott ausrichten, im gemeinsamen Feiern und in den Klangräumen der Musik seine Gegenwart. Den auferstandenen Christus, dessen Gegenwart nicht hinter der undurchdringlichsten aller Türen, jener zum Grab, eingesperrt blieb, können auch wir heute als lebendig und gegenwärtig erfahren, wo wir unsere Aufmerksamkeit auf Türen richten, die Gott uns öffnet, vielleicht solche, die leicht zu übersehen sind. Da ist eine Tür, wo wir Lärm, Unrast und Ungewissheit hinter uns lassen können und ein inneres Zuhause finden in der Stille vor Gott oder in einem festlichen Gottesdienst; oder eine andere, durch die wir, wenn es an der Zeit ist, wieder hinausgehen in die Welt, im Vertrauen darauf, Gott auch in der manchmal verwirrenden Vielfalt unseres Lebens und unserer Zeit begegnen zu können; es gibt Türen, die sich öffnen zum leiblich oder seelisch Hungernden, zu einer Herausforderung, die wir beherzt angehen, zu einer tiefen Begegnung mit einem Menschen oder mit Gott. Dass er die Tür zur Fülle des Lebens sei, verheisst Christus dabei auch uns. Das heisst für mich, darauf zu vertrauen, dass ich mich mit der ganzen Vielfalt meines Lebens, dem, was ich mir gewünscht habe, und auch jenem, was mir schwer ist, beim dreieinigen Gott, zuhause fühlen darf. Und es heisst, dass ich da den guten Geist von Christus unter die Menschen bringe, wo ich meinerseits anderen Menschen dazu verhelfe, dass sie an der Fülle des ihnen von Gott zugedachten Lebens Anteil bekommen. Neben dem Bild von sich als Tür zum Leben braucht Jesus im Evangeliumstext aus Johannes 10, den wir gehört haben, noch ein zweites Bild: „Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich.“ Die beiden Bilder – die Tür und der gute Hirte – erschliessen sich für mein Empfinden gegenseitig. Obwohl kaum jemand von uns in seinem Alltag mit einer umherziehenden Herde und ihrem Hirten zu tun hat, werden wohl die meisten von uns in der Tiefe angesprochen. Ruhe und Frieden, Geborgenheit und Vertrauen, Behütetsein – das sind die Gefühle, die der „gute Hirte“ ins uns hervorruft. Die Verbindung des Bildes von der Tür und jenes vom guten Hirten tritt mir in der Erinnerung an einen Sommerabend vor Augen, als wir auf einer hochgelegenen Alp in einem wilden, entlegenen Seitental des Unterengadins eine Verwandte besuchten, die in jenem Sommer dort Hirtin war. Mit ihrer Stimme – „sie werden auf meine Stimme hören,“ heisst es bei Johannes – rief sie die Tiere herbei. Sie kamen angerannt von überall her, die steilen, felsdurchsetzten Hänge herunter, fröhlich bimmelten ihre Glocken, und sie nahmen durch die Tür den Weg in den Stall. Dort, bei der Tür, zählte sie die Hirtin, um ganz sicher zu sein, dass sich auch nicht eines verirre und im Dunkel der Nacht verloren gehe. An einem anderen Abend hätten sie noch lange ein fehlendes Tier gesucht. Diesmal waren alle da. Die schroffen Schründe, die tosenden Bergbäche rundherum, ein nächtliches Gewitter mit seinem Blitzen und Krachen konnte ihnen nun nichts mehr anhaben. Und am nächsten Morgen wird sich die Tür von neuem öffnen und die Hirtin wird ihre Tiere wieder zu den saftigsten Kräutern führen. Dass auch wir bei Gott Schutz finden und er uns an Plätze und zu Menschen führen möchte, wo wir Nährendes und Stärkendes finden, diese lebensvolle Verheissung liegt im Bild von Christus als gutem Hirten. Da ist kein harter Stock und kein scharfer Hund. Das Hören auf seine Stimme muss uns genügen. Und das gehört wohl zum Anspruchsvollsten, wenn wir heute als Christen zu leben versuchen, dass wir aus der Vielfalt und dem Durcheinander der Stimmen, die auf uns eindringen und um unsere Gunst, unsere Aufmerksamkeit, unsere Zeit und unser Geld wetteifern, jene oft leise Stimme Christi heraushören, die uns dahin ruft, wo es uns und anderen gut tut: zur beziehungsreichen Fülle des Lebens. Wenn es denn Gott ist, der uns führt, dann geht es ihm nicht um den eigenen Gewinn, nicht darum, möglichst viel aus uns herauszupressen, uns zu gewinnträchtigen Objekten zu machen. Von dieser Haltung befreit uns der gute Hirte. Und weil er seine Geschöpfe kennt und liebt, geht er mit ihnen bis in die tiefsten Abgründe. Das wurde in Christus sichtbar. Nicht Macht und eigene Interessen, nicht Einschüchterungen und Drohungen sind Sache des guten göttlichen Hirten und der menschlichen Hirtinnen und Hirten, die ihm nachfolgen. M.E. können nämlich wir alle diesen Dienst versehen, entsprechend unseren Gaben, den Menschen gegenüber, denen wir gute Wege zum Leben eröffnen helfen. Der gute Hirte kennt die „Seinen“. Die aber haben keine Exklusivrechte an ihm. Es gibt noch andere Schafe, aus einem anderen Stall – auch sie hören seine Stimme. Es kommt nicht darauf an, ob ich diesen oder jenen „Stallgeruch“ verströme, sondern: ob ich die Stimme Christi höre – in dem, was mir widerfährt, in dem, was ich an anderen wahrnehme. Das bringt frische Zugluft in den Stall des eigenen Lebens, der eigenen Kirche. Es eröffnet Chancen eines neuen ökumenischen Miteinanders unter der Gegenwart dessen, der die Seinen in ihrer bunten, manchmal schönen, manchmal auch anstrengenden Vielfalt kennt und zusammenführt. Und unsere Antwort auf die Stimme des guten Hirten? Mit bekennenden Worten und mit solidarischem Handeln bringen wir den Glauben auf dem Feld des Lebens zum Ausdruck. Gleich werden wir Mozarts musikalisches Glaubensbekenntnis an den dreieinigen Gott hören. Ich wünsche uns, dass es auch uns Raum für unser Denken und Fühlen und Glauben bietet. Über 60mal wird das Wort „Credo“ – „ich glaube“ erklingen. Fest, sicher, froh, ermutigend meistens. Wie ein feines, leises Echo einige Male. Auch unseren Glauben sprechen wir nicht immer im gleichen Tonfall aus. So ist das zarte „Et incarnatus“ – „und Gott wurde Mensch“ ein Zeichen, dass Gott auch heute bei uns Mensch werden kann, gerade da, wo wir die feinen und leisen Töne hören. Dann bricht das unerbittliche „Crucifixus“ – „gekreuzigt“ ein. Es gibt auch unseren Kreuzeserfahrungen Raum, bevor schliesslich das „Resurrexit“ – „er ist auferstanden“ strahlend erklingt und unser Leben in eine österliche Perspektive stellt. Immer und immer wieder habe der Schriftsteller Peter Bichsel sich Mozarts Credo-Messe angehört, als er eine musikalische Meditation über den Komponisten am Verfassen war. Und je länger desto schwerer sei es ihm gefallen, Worte zu finden. Im Blick auf diese Musik, die das Bekenntnis des Glaubens zum Klingen bringt, sagte Bichsel deshalb: Sie „schlägt einem die Wörter aus den Händen. Sie (wörtl.: die Musik) ist kein Argument. Sie ist Einüben in das Schweigen.“ So mögen auch in uns nun, schweigend und hörend, und nachher in der gemeinsamen Feier des heiligen Mahles die Vielfalt und das Geheimnis des Glaubens zum Klingen kommen. Amen.