_________________________________________________ Wie emotional darf Werbung sein? _________________________________________________ I. II. III. IV. V. VI. VII. Tabu-Brecher Werbung?.....................……………..............2 Vier aktuelle Probleme werblicher Kommunikation..…….....3 Die gute Seite des Tabu-Bruchs……………………………….5 Das Soziale an der Profit-Maximierung………..……………..6 Schläge mit dem Werbehammer………………………..……..7 Instrumentalisierung der Presse – eine Fehlkalkulation….10 Wie emotional darf Werbung sein?...................................12 Vortrag von Volker Nickel Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) Marketing Club Frankfurt 13. September 2006, Frankfurt/Main Wieviel Emotion in der Werbung? Seite 2 I. Tabu-Brecher Werbung? Der Begriff ‚Emotion’ stammt aus dem Lateinischen: emovere. Wollen die Hersteller also ihre Kunden mit Hilfe von Werbung „erschüttern“, seelisch erregen, gefühlsmäßig packen? Schluss mit Vernunft, Kopf ist out. Zielpunkt kommerzieller Kommunikation ist die Brust mit der dort vermuteten Seele. Manche peilen noch tiefer - auf den Bauch, wo offenkundig ein Nebenfeld seelischen Gefühls verortet ist. ’Bringt dort die Schmetterlinge zum Flattern- dann klappt das auch mit den betriebswirtschaftlichen Zielen der Marktkommunikation’, so schallt’s Land auf, Land ab. Schön wär’s! Aufmerksamkeit zu erringen ist heute werbefachliche Schwerstarbeit. Die Konkurrenz ist gewaltig. Politiker, Kirchen, Gewerkschaften, gesellschaftliche Institutionen und natürlich auch Unternehmen – sie alle sind Konkurrenten um das Interesse der Menschen. Ist öffentliche Aufmerksamkeit für Zahnbürsten und Autos, Küchenkrepp und Waschmaschinen überhaupt noch produzierbar - angesichts der Omnipotenz von gesellschaftlichen Mitteilungsbedürfnissen auf der Bühne der Öffentlichkeit? Ist das Problem der Werbung heute nicht ihre vermeintliche Macht, sondern ihre Ohnmacht, Gehör zu finden? Auf jeden Fall geht die Sorge von der Empfängnisverhütung in Sachen Werbebotschaften um. Einige Unternehmen meinen, sie müssten dem Konsumenten emotional die Sporen geben, damit der sich überhaupt noch bewegt. Das Ganze nennt sich dann ’Prinzip Provokation’. Da wirbt ein Bestattungsunternehmen in den USA mit dem Text: „Warum leben, wenn Sie schon für 10 Dollar beerdigt werden können?“ Wieviel Emotion in der Werbung? Seite 3 Zarte Seelen klassifizieren solche Werbetexte als „Tabu-Bruch“; robustere Gemüter werden das allenfalls als „makaber“ bewerten. Provozieren heißt hervorrufen, herausfordern, aufreizen. Gefühlsaufwallungen sollen Verhalten beeinflussen und bestenfalls steuern. Beispiel der Tierschutzverein ’Noah’. In einer Anzeige sieht man den Rücken eines gefesselten Soldaten. Hinter ihm ist der Arm eines weiteren Soldaten zu sehen, der seine Pistole auf den Rücken des Gefangenen drückt. Schlagzeile neben dem Foto: „Wie man sich kurz vor seiner Ermordung fühlt. Fragen Sie mal ihr Schnitzel.“ II. Vier aktuelle Probleme werblicher Kommunikation Wir brauchen den Fall ’Noah’ hier nicht weiter zu beleuchten. Es handelt sich nicht um kommerzielle Werbung. Die Gemeinsamkeiten aber ergeben sich aus den aktuellen Kommunikationsproblemen: Punkt 1: Die Menge der Werbung hat dramatisch zugenommen. Der Mensch, so scheint es, wird zugeschüttet mit Millionen von Spots, Plakaten, Anzeigen oder Werbebannern. Aus dieser Werbelawine noch die eigene Werbeflagge hochhalten zu können - dazu benötige man die Tricks emotionaler Strategien, so empfehlen einige. Punkt 2: Die Menschen sind als Konsumenten zu schlau geworden. Sie haben große Erfahrung mit dem, was die Wirtschaft werbend anbietet. Man muss ihnen Produkte nicht mehr erklären. „Ich bin doch nicht blöd“ ist nicht nur der Werbespruch eines Elektrohändlers. Er entspricht auch weitgehend der Lebensrealität. Deshalb müssen die Gefühle, Emotionen und Stimmungen der Menschen erreicht werden, will man ihnen Zahnpasta, Waschmittel, Kühlschränke, Autos oder auch politische Konzepte bis hin zu weltanschaulichen Ideologien verkaufen. Wieviel Emotion in der Werbung? Seite 4 Dazu passt jetzt eine Fußnote: In Brüssel, in den Bürokratiestuben der Behörde EU-Kommission, hat man die Werbekompetenz der Menschen in Europa noch nicht registriert. Deshalb wird zum Beispiel in wenigen Tagen eine Verordnung über gesundheitsbezogene Werbeaussagen bei Lebensmitteln verabschiedet. Danach bewegen wir uns auf eine von emotionalen Elementen gesäuberte Markt-Kommunikation der folgenden Art zu – greifen wir Joghurtwerbung etwa im Jahr 2010 heraus: Der Offertentext wird dann möglicherweise so lauten: „Probiotische Kulturen können die natürlichen Abwehrmechanismen unterstützen – durch Beeinflussung der Intestinal-Flora. Verbessert werden kann dadurch die Barrierefunktion und/oder Modulation von Immun-Parametern, während die Vermehrung unerwünschter MikroOrganismen verhindert und damit die Regeneration der Darmflora gefördert wird.“ Im Jahr 2006 lautet die Werbeaussage für Joghurt noch schlicht „Stärkt ihre Abwehrkräfte“. Punkt 3: Kommunikation mit den Konsumenten hat sich im realen Leben auch deshalb verändert, weil weniger die demographischen Daten wesentlich sind, sondern Lebensstile. Ihre Pluralität zwingt zu vielfältigen Werbewegen und Werbeformen. Punkt 4: Das Angebot an vergleichbaren hochwertigen Gütern auf den Märkten hat eine in der Geschichte nie da gewesene Dimension erreicht. Daraus ergibt sich das Problem für den werbenden Hersteller bzw. für den Handel: Welche Befriedigung von Bedürfnissen kann ich über den Produktnutzen zusätzlich anbieten? Mit rationalen Argumenten allein dringt man nicht mehr durch. Wieviel Emotion in der Werbung? Seite 5 III. Die gute Seite des Tabu-Bruchs Liegt die Lösung dieser Kommunikationsprobleme also im emotionalen Dauer-Werbefeuer? Also: Ran an den Tabu-Bruch? Die Magie, die früher dem Tabu gegeben war, ist in offenen Gesellschaften verschwunden und hat einem lässigen Wortgebrauch Platz gemacht. Der Begriff Tabu meint entweder ein einfaches Verbot oder die Weigerung, über bestimmte Dinge zu sprechen, nachzudenken oder zu diskutieren. Schwächer geworden ist auch die ordnende Funktion der Vokabel. Wir sprechen heute von 'political correctness'. Man macht eben keine Witze über Juden. Sogar die "Negerküsse" mussten weichen. Auch mit patriotischen Gefühlen geht man hierzulande in der Öffentlichkeit immer noch verhalten um – trotz der an die Oberfläche geschwappten Lockerungsübungen während der Fußballweltmeisterschaft. Der Trend aber ist vorgezeichnet: Reaktionäre Tabus verlieren in Deutschland ihren Nährboden. Und das ist gut so: Tabus früherer Art haben sich häufig der Demokratisierung der Gesellschaft entgegengestellt. So war es jahrzehntelang verpönt, über die Tatsache zu sprechen, dass man als Frau geschieden ist oder ein uneheliches Kind aufzieht. Die Folge davon: Um nicht der gesellschaftlichen Anprangerung ausgesetzt zu sein, blieben viele Ehen nach außen intakt, aber innen war menschlich die Hölle los. Oder gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen. Das Sexualstrafrecht wurde zwar bereits im Jahr 1973 gelockert, aber die Gesellschaft brauchte noch lange, bis sie beispielsweise Homosexualität öffentlich tolerierte. Erst im Jahr 2000 fasste auch die Werbung Mut: In verschiedenen Wieviel Emotion in der Werbung? Seite 6 TV-Spots und Anzeigen tauchten eindeutig gleichgeschlechtliche Paare auf, die ihr gemeinsames eindimensionales Familienleben über die Begeisterung von Speiseeis, Nudeln und Kaffee zum Ausdruck brachten. Wenn wir uns nüchtern umblicken, dann ist unsere Gesellschaft nicht barbarischer, sondern insgesamt toleranter geworden. Viele Tabubrüche von damals sind in die Normalität eingeflossen, Regelverletzungen eingemeindet, Ausgrenzungen aufgehoben. Die Optionen der Lebensgestaltung sind vielfältiger, die Konventionen flexibler. In einem Satz: Die Liberalität der Gesellschaft hat zugenommen, ohne dass die Ordnung aus dem Ruder läuft. IV. Das Soziale an der Profit-Maximierung Eine Ordnung der Freiheit kann aber nur überleben, wenn die vielen, die in ihr leben und von ihr profitieren, an den Sinn und an ihre Grundsätze glauben. Auch müssen die Handlungen danach ausgerichtet sein. Da drängt sich geradezu die Frage auf: Wer legt denn unter heutigen Zeitzeichen fest, was tabuisiert werden soll beziehungsweise tabuisiert bleiben muss? Sucht man nach einem Wort, mit dem das Anliegen von moralischem Verhalten auch in der Alltagssprache zur Geltung kommt, so trifft man heute auf den Begriff ’Verantwortung’. Vokabeln wie "Gewissen", "Pflicht" oder "Tugend" wirken demgegenüber angestaubt. Mindestens zwei Berufsständen wird indessen weitgehende Unfähigkeit zum moralischen Handeln unterstellt. Sie verhielten sich meistens „verantwortungslos“: Die Politiker wollten immer nur an die Hebel der Macht, und die Unternehmer hätten nur Profit-Maximierung im Kopf, wobei ihnen Werbung assistieren soll. Wieviel Emotion in der Werbung? Seite 7 Es gehört gewiss zum ökonomischen Analphabetismus, dass individuelle Streben der Unternehmer nach Vorteilen als menschenfeindlich zu unterstellen - also die Firmenlenker auf die Gegenseite von Moral zu schieben. Tatsächlich ergeben sich moralische Effekte aus einem anderen Zusammenhang: Nicht gemeinsame Ziele oder Werte integrieren häufig die Menschen, sondern meistens individuelle Vorteile und Vorteilserwartungen. Beispiel Marktwirtschaft. Ihre Ethik ist eine zutiefst soziale. Grundsätzlich ist es Aufgabe der Unternehmer, nicht den Mantel zu teilen, sondern sich der Mantelproduktion und dessen Absatz zu widmen. Dadurch wird den Menschen ein Arbeitsplatz verschafft und ihnen ermöglicht, sich einen Mantel zu kaufen. So hat die Ethik des Produzierens und der Absatzpolitik weit mehr zur Überwindung der Armut getan, als alle karitative Armenpflege oder Sozialhilfe. Wie aber sind die realen Verhältnisse im Kampf um Kunden, um deren Aufmerksamkeit und Sympathie - also: Wie ist es mit der Werbemoral der Wirtschaft bestellt? Sind die werbenden Firmen tatsächlich die TabuBrecher der Gesellschaft? Wenn das Stilmittel Provokation in den Kommunikationsstrategien aller Bereiche der Gesellschaft zumindest eine gewisse Rolle spielt, wäre es geradezu absurd, wenn solche Phänomene nicht auch in der Werbung der Wirtschaft spiegelbildlich auftauchten. Die Frage stellt sich dann aber immer wieder in jedem Einzelfall erneut: Handelt es sich um eine moralisch verwerfliche Grenzüberschreitung? V. Schläge mit dem Werbehammer Die 41 im Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft zusammengeschlossen Organisationen der werbenden Unternehmen, der Wieviel Emotion in der Werbung? Seite 8 Medien, der Agenturen, der Werbeberufe und Forschung haben sich eine selbstdisziplinäre Institution geschaffen – den Deutschen Werberat. Der Blick in dessen Spruchpraxis zeigt, dass es böse Fälle von Grenzüberschreitungen gibt: z So kam es zu einer öffentlichen Rüge des Werberats der in Delmenhorst ansässigen "WM Großhandels GmbH" - eine Firma, die unter anderem Freisprechanlagen für Autos offeriert. Ihr Leistungspaket bot sie unter der Überschrift an "Unser Service macht Sie süchtig". Im Vordergrund des Anzeigenmotivs ist eine in der Hocke sitzende junge nackte Frau zu sehen, die sich gerade eine Drogeninjektion setzt. „Menschenverachtend“- so das Urteil des Gremiums. Das Motiv der drogensüchtigen Frau bagatellisiere in unverantwortlicher Art eine lebensbedrohende Sucht und spiele mit einem tödlichen Risiko. Unterdessen wird das Sujet nicht mehr geschaltet. z Auch die Ausbeutung von Nacktheit und Sexualität von Menschen ist noch immer eine Variante werblicher Provokation. So hängte das italienische Textilunternehmen ’Sisley’ in Köln anlässlich einer Modemesse folgendes Plakatbild auf: Auf einem Stuhl sitzt eine junge Asiatin. Unter ihrem Minirock ist ihr Slip zu sehen – blutbefleckt. Im Arm hält sie ein Lamm mit einem blutigen Maul. z Fast harmlos dagegen der Fall der Handwerker-Vermittlungskette unter dem Firmennamen 'Hol Harry'. Die Firma ließ in Ballungszentren Großflächen mit Plakaten bekleben. Darauf war formatfüllend ein nacktes Gesäß zu sehen, aus dem ein Heizkörper oder eine Waschmaschine herausschaute. Slogan darüber: "Heizung im Arsch – Hol Harry!" z Gewalt als emotionalen Blickfang setzte das Düsseldorfer Textilunternehmen Amtraks ein. Die Firma führt in Deutschland die Geschäfte des italienischen Jeans-Herstellers 'Diesel'. Wieviel Emotion in der Werbung? Seite 9 In einer Zeitschriftenanzeige des Unternehmens ist ein Mann mit nacktem Oberkörper zu sehen. Er trägt eine Hose - natürlich von 'Diesel'. Er ist gerade dabei, den Unterarm eines Menschen zu zersägen. Die Szene spielt sich in einem dunklen Raum mit offensichtlich blutverschmierten Wandfliesen ab – von der Decke baumeln Körperteile, und aus einer Mülltonne ragen Gliedmaße heraus. Sind das nun "Werbe-Hooligans"? Oder ist die Kritik daran nur das Klopfzeichen eines neuen Puritanismus? Auf jeden Fall müssen die Vorgänge gerecht gewichtet werden. Die zitierten Entgleisungen sind kein Trend in der deutschen Werbung. Gemessen an den hunderttausenden von Werbeeinschaltungen pro Jahr spielen sie nur eine Rolle am Rand des Werbemarkts. Aber solche Werbeformen fördern den Grundsatz: Hauptsache, die Katze fängt die Mäuse. Schamloser Realismus, der ohne Rücksicht auf moralische Hemmungen das vor seinen Karren spannt, was den eigenen Zielen nutzt? Dann würde Werbung zur visuellen Droge, die den Bürger als Konsumenten letztlich verachtet. Werbende würden zu integrierten Asozialen, die zwar lauthals ihr negatives Image in der Öffentlichkeit beweinten, aber ansonsten die letzten sogenannten kreativen Ressourcen rücksichtslos ausbeuteten. Warum dann als Nächstes nicht auch Vergewaltigung von Frauen oder den sexuellen Missbrauch von Kindern in der Werbung. Unter der entschuldigenden Vokabel "Selbstironie" ließe sich doch auch das fabelhaft der Öffentlichkeit verkaufen. Benetton beispielsweise ging es mit seinen provozierenden Plakaten nicht um Menschlichkeit, sondern kaufte sich in Menschlichkeit ein, um Verkaufsförderung für seine Pullover zu betreiben und nichts anderes. Da erinnert manches an Pharisäer, die sich als Sozialarbeiter verkleiden. Wieviel Emotion in der Werbung? Seite 10 Und wer spezielle Markenwaren - wie die Firma Diesel - als Grundausstattung für Perverse, Sadisten und Schwerkriminelle positioniert, sägt nicht nur an der Leiche, sondern auch an dem Ast, auf dem er sitzt. VI. Instrumentalisierung der Presse - eine Fehlkalkulation In diesem Zusammenhang ist immer wieder die Meinung von Kreativen in der Werbebranche zu hören, die Werbung der Wirtschaft müsse die gleichen Freiheiten haben, wie Politiker und Theatermacher, Kirchen oder Kabarettisten, Gewerkschafter oder bildende Künstler. Werbung müsse aus ihrem "Ghetto" heraus. Nur auf diese Weise könne sie noch Aufmerksamkeit erregen. Wer von "Sackgasse" oder "Ghetto" der Werbung spricht, aus dem wie aus einem Gefängnis auszubrechen ist, müsste konsequenterweise auch das Ende der Verkehrsregeln im Straßenverkehr fordern. Es war ja gerade die Wirtschaft, die das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb Anfang des 20. Jahrhunderts durchsetzte – damit die anarchischen Verhältnisse im Wettbewerb aufhörten. Völlig unstreitig ist, dass auch mit Hilfe provokativer Elemente in der Werbung beim Publikum hohe Aufmerksamkeit zu erzielen ist. Aber: Hohe Aufmerksamkeit ist eben noch keine Werbewirkung. Sie bietet nur die Voraussetzung dafür, dass die vielbeachtete Werbung auch das Kaufverhalten der Umworbenen beeinflusst. Was nutzt es da, wenn sich die Leute über Werbung köstlich amüsieren oder provoziert fühlen, aber keine Erinnerung an die Vorzüge der Marke oder an die Marke selbst haben. Dort liegt doch der intellektuelle Kurzschluss: Werbliche Grenzüberschreitungen teilen häufig die Kundschaft in Befürworter und Gegner auf. Das aber kann wohl aus Wieviel Emotion in der Werbung? Seite 11 betriebswirtschaftlicher Sicht kaum Funktion von Investitionen in Werbung sein: Ich will meine gesamte Zielgruppe für mich gewinnen und nicht nur die Hälfte. Nun hört man immer wieder, dass Provokationen in der Werbung einen exzellenten zusätzlichen Effekt hätten: Die Medien würden sich massenweise in ihrem redaktionellen Teil mit solchen Aktionen befassen. Keine Frage: Diese Instrumentalisierung von Presse und Funkmedien gelingt in manchen Fällen auch. Der Grund ist simpel: Solche Werbeattacken haben häufig einen gewissen Unterhaltungswert. Der wird von Medien gerne aufgegriffen. Nach dem Medienrauschen messen dann ganz Schlaue die Größen der erschienenen Artikel aus oder die Länge der Beiträge in den Funkmedien, errechnen auf dieser Grundlage die ’gesparten’ Streukosten und brüsten sich damit auf Chefetagen und bis hinein in die Werbefachpresse. So geschehen nicht nur beispielsweise im Fall Benetton oder jetzt im April 2006 mit einer werblichen Entgleisung des Musiksenders MTV. Der TV-Veranstalter hatte in der Karwoche, also acht Tage vor Ostern, in ganzseitigen Zeitschriftenanzeigen für den Start seiner Serie „Popetown“ geworben. Unter der Überschrift „Lachen statt Rumhängen“ zeigt das Bild im Hintergrund ein leeres Kreuz auf einem Hügel, im Vordergrund sitzt Christus mit Dornenkrone und Fernbedienung vor einem TV-Gerät und lacht. Es gab wohl keine deutsche Tageszeitung, viele Publikumszeitschriften und Funkmedien, die sich redaktionell mit diesem Vorgang beschäftigten. Beim Werberat kann es zu einer Beschwerdeschwemme. Der Vorwurf empörter Christen lautete: Hier würden religiöse Empfindungen gezielt eklatant verletzt. War die Rechnung von MTV aufgegangen? Das scheint so. Alle Welt sprach doch von der Serie. Dabei hätte der Sender vom Fall Benetton Wieviel Emotion in der Werbung? Seite 12 lernen können. Viele Käufer wandten sich von Benetton ab, 240 Geschäfte mussten in Deutschland mangels Kunden schließen. Unterdessen hat Benetton den Macher dieser Propaganda-Serie, den Fotografen Toscani, entlassen und ist zur Produktwerbung zurückgekehrt. Bis heute ist die Erosion der Marke Benetton zu spüren: Bei Meinungsbefragungen fallen den Konsumenten meistens nicht die schönen Strickwaren des Herstellers ein, sondern die Proteste gegen dessen Plakate. Auch MTV hatte sich verrechnet. Das Interesse an der Serie „Popetown“ verdunstete regelrecht. Solche Spiele mit Emotionen sind riskant. Ebenso die Kalkulation mit der Medienresonanz. Warum? In einer Anzeige ist der Auftraggeber Herr des Verfahrens – also der Inhalte. Im redaktionellen Teil kommt es auf die Sicht des Redakteurs an. Letztlich bleibt bei strittigen Werbekampagnen dann immer etwas Negatives an der Marke hängen. VII. Wie emotional darf Werbung sein? Da sind wir wieder bei der Anfangsfrage: „Wie emotional darf kommerzielle Kommunikation sein?“ Teil eins der Antwort gebührt der höchsten juristischen Instanz – dem Bundesverfassungsgericht. In einem Urteil über die rechtliche Zulässigkeit - der später eingestellten „Schock-Werbung“ von Benetton - weist das hohe Gericht der freien Meinungsäußerung einen absoluten Spitzenrang zu. Hierunter falle auch die kommerzielle Kommunikation. Deshalb tolerierte Karlsruhe zumindest aus rechtlicher Sicht die PropagandaPlakate von Benetton. Wieviel Emotion in der Werbung? Seite 13 Die Grenzen für die Werbefreiheit sieht das Bundesverfassungsgericht dann, "wenn Ekel erregende, Furcht einflößende oder jugendgefährdende Bilder" in der Werbung gezeigt werden. Grundsätzlich sind Werbemaßnahmen – so Karlsruhe - als wettbewerbswidrig einzustufen, wenn dort einzelne Personen oder Personengruppen in einer die Menschenwürde verletzende Weise ausgegrenzt, verächtlich gemacht, verspottet oder sonst wie herabgewürdigt werden. Dann tritt auch der Schutz der Kommunikationsrechte zurück, wie sie im Grundgesetz beschrieben sind. Hier klingt an, was sich in der deutschen Rechtsprechung aber auch beim Europäischen Gerichtshof immer stärker zur Grundlage entwickelt: Würde ist immer die Würde des Anderen, die es zu schützen gilt. Aber Grundlage der Beurteilung muss der lebenskompetente Mensch sein, nicht der Unbedarfte, der alles missversteht. Diese Leitlinie spiegelt sich auch in den Grundsätzen des Deutschen Werberats zur Diskriminierung und Herabwürdigung von Personen wider. Der zweite Teil der Antwort auf die Frage „Wie emotional darf kommerzielle Kommunikation sein?“ liegt im Menschen selbst. Lust und Begehren, Wünsche und Sehnsüchte sind Teil menschlichen Empfindens. Nur irreale Werbung klammert diese Elemente aus. Es gibt ihn eben nicht, den „Homo oeconomicus“ – denjenigen Menschen, der wirtschaftliche Entscheidungen ausschließlich vom Kopf her bestimmt. Wer Käufer, Kunden, Konsumenten erreichen will, muss auch ihre emotionale Seite ins Kalkül ziehen. Doch der Bumerang liegt immer dabei. Regeln brechen kann Marken brechen. Kreativ ist eine kommerzielle Werbung dann, wenn sie legal betriebswirtschaftliche Ziele erreicht. Aufmerksamkeit für ein Angebot ist eben noch nicht automatisch brauchbare Kommunikationsleistung. Aufsehen ist noch kein Ansehen. Extreme Ideen können zwar zur Wieviel Emotion in der Werbung? Seite 14 Unterhaltung der Bevölkerung beitragen - aber auch schlechte Aufmerksamkeitswerte produzieren und Konsumenten von Regalen und Geschäften fernhalten. Das Zusammenspiel von Moral und Betriebswirtschaft bildet die Meßlatte. Sie sollte an jede geplante Werbemaßnahme angelegt werden. Dann klappt’s auch mit dem Markterfolg - und mit dem überlebenswichtigen Wert eines Unternehmens: seinem Ansehen. Kontakt Volker Nickel Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) Telefon: (030) 59 00 99 – 715, E-Mail: [email protected]