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Dokumentation zum Vortrag von Wolfgang Pieschel: Erna Berger (1900 - 1990) - Eine „Königin
der Nacht“ von Weltgeltung
(überarbeitetes Vortragsmanuskript von Wolfgang Pieschel)
1. Hörbeispiel
(Ausschnitt)
Arie der Königin der Nacht „Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“ aus „Die Zauberflöte“ von
Wolfgang Amadeus Mozart
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Die Königin der Nacht war zweifelsohne eine der Glanzpartien dieser herausragenden
Koloratursopranistin, die mit ihrer Stimme die deutsche und internationale Opernszene des
zwanzigsten Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt hat. Ob in Dresden, Berlin, München, Hamburg,
Wien, Paris, Rom, Madrid, London, New York oder an anderen Opernhäusern der Welt – überall
vermochte Erna Berger ihr Publikum zu faszinieren und zu Beifallsstürmen hinzureißen. Der deutsche
Komponist Werner Egk – ein Jahr später als Erna Berger geboren – äußerte einmal über die weltweit
gefeierte Sängerin: „Durch Erna Berger verstand ich, was Singen bedeuten kann: Sich mit Leib und
Seele ausliefern, alles beherrschen, was man ist, und alles einsetzen, was man kann.“
Erna Berger ist ein überzeugendes Beispiel dafür, was große Künstlerinnen und Künstler unter
anderem auszeichnet: Begeisterung und leidenschaftlicher Einsatz bei der Ausübung des Berufes, der
von Berufung getragen ist, unverzichtbarer Fleiß mit dem Ziel einer stetigen Vervollkommnung der
jeweils immanenten Leistungsfähigkeit und eine Selbstverständlichkeit sowie Natürlichkeit der
Darbietung, der man nicht im geringsten anmerkt, wie viel harte Arbeit und strenge Disziplinierung
dazu erforderlich waren. Mit welcher Leichtigkeit perlen die Koloraturen der Stimme Erna Bergers –
wie soeben in der Arie der Königin der Nacht gehört – dahin, mit welcher stimmlichen
Überzeugungskraft gelingt es, Mozarts Königin der Nacht nahezu körperlich-bildhaft vor uns erstehen
zu lassen.
Diese Eindringlichkeit der Gestaltung besticht stets aufs Neue: sei es als Blondchen oder Konstanze
in Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“, als Zerlina in „Don Giovanni“ oder als Despina in „Così
fan tutte“, sei es als Adele in Johann Strauß’ „Die Fledermaus“ oder als Gilda in Verdis „Rigoletto“, sei
es als Sophie in Richard Strauss’ „Der Rosenkavalier“ oder als Zerbinetta in „Ariadne auf Naxos“ oder
sei es in vielen anderen Partien. Ohne zu übertreiben: Erna Berger war eine der ganz Großen am
Opernhimmel. Sie ist es geworden durch hohe Begabung, stetige eiserne Arbeit und eine
unverzichtbare Selbstdisziplin. In einem Interview mit dem bekannten Musikjournalisten Peter Csobádi
antwortete sie auf die Frage: „Trifft es zu, wenn man Ihren ganzen Erfolgsweg mit dem einzigen Wort
‚Arbeit’ charakterisiert?“: „Oh ja! Man hat Talent, Begabung, man wird sozusagen vom Glück getragen
[...] man wird auch gefördert und trotzdem, die Sache fängt erst dann an: Mit Arbeit. Dreimal Arbeit,
nicht wahr?“
Und diese Arbeit an sich selbst setzte sie zeit ihres Lebens fort, in besonderem Maße je weiter sie im
Alter fortschritt. Im gleichen Interview mit Peter Csobádi äußerte Erna Berger: „Ich kam an die fünfzig
und der Körper war einfach dann anders eingestellt und nicht mehr so auf der Höhe. Gerade da
begann meine Auslandskarriere. Das Schlimme war, dass alle Welt ja von mir die Königin der Nacht
hören wollte. Als ich nach New York kam, im Hotelzimmer nebenan nudelte irgendein Plattenspieler
die Arien der Königin der Nacht mit Erna Berger. Das war fürchterlich. Dieses Weib hat mich verfolgt!
Das war für mich eigentlich eine Tragödie. Ich musste einfach die Königin weiter singen [...]“
Und überall wo Erna Berger diese Partie sang, gab es rauschende Beifallsstürme, ein begeistertes
Publikum. Sie wurde zu einer „Königin der Nacht“ von Weltgeltung.
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Welch einen künstlerischen Weg hatte Erna Berger seit ihrem Dresdner Debüt 1925 mit der Partie des
Ersten Knaben in Mozarts „Zauberflöte“ zurückgelegt, bis die Königin der Nacht in der gleichnamigen
Oper zu einer ihrer in aller Welt gefeierten Glanzpartie wurde. Ehe sie jedoch erstmals 1929 in
Dresden diese Partie gesungen hat, wurde ihr noch im Jahre ihres Debüts an der Sächsischen
Staatsoper 1925 die Rolle der Papagena angetragen, mit der sie ihre dann so erfolgreiche
Entwicklung zu einer herausragenden Sängerinnenpersönlichkeit bereits erahnen ließ.
So war im „Dresdner Anzeiger“ vom 19. November 1925 zu lesen: „In der ‚Zauberflöte’ sang Erna
Berger zum ersten Male die Papagena. Die Sopranistin ist in letzter Zeit auffällig oft beschäftigt
worden [...] Immerhin ergibt sich aus der Art, wie Erna Berger sich mit diesen kleinen Rollen
abgefunden hat, als Gesamtbild der klare Eindruck einer nicht bloß durch ihre wertvollen stimmlichen
Mittel, sondern auch durch ihre natürliche Spielbegabung starke Hoffnungen für die Zukunft
erweckenden Kraft.“
Und die starken Hoffnungen sollten sich zur Freude aller erfüllen: Sie wurde eine der begnadetsten
Sängerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts. Dabei war ihr Start ins Leben nicht gerade begnadet zu
nennen. In ihren Erinnerungen „Auf Flügeln des Gesanges“ schreibt Erna Berger: „Als ich am
19. Oktober 1900 in Cossebaude bei Dresden zur Welt kam, natürlich zu Hause in der elterlichen
Wohnung, wie’s damals üblich war, musste ein Arzt zu Hilfe geholt werden. Der sah mich winziges
Wesen mitleidig an und sagte: ‚Ach nein, dieses Kind, also die Nacht wird’s wohl nicht überleben’,
denn ich wog nur drei und ein halbes Pfund und war so lang wie eine Sechserzeile, drei aneinander
gereihte Doppelbrötchen, wie sie in Sachsen üblich waren. Aber meine Großmutter entschied: ‚Ach
woher! Gucken Sie sich doch mal die Augen der Kleinen an, wie lebendig die in die Welt sehen. Die
stirbt nicht.’“
Und die Großmutter sollte Recht behalten. Nur einige Monate weniger als neunzig Jahre währte das
Leben der Erna Berger, bevor ihr Leben am 14. Juni 1990 – heute auf den Tag genau vor zwanzig
Jahren – hochbetagt ein Ende fand. In einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof, wo viele
große Musiker(innen)persönlichkeiten ihre letzte Ruhe fanden, wurde auch Erna Berger bestattet.
Zwei Jahre nach ihrem Todestag wurde ihr zu Ehren in Dresden in der Nähe des Neustädter
Bahnhofs eine Straße in Erna-Berger-Straße umbenannt. Ihr zu Ehren soll auch unsere heutige
Veranstaltung „Erna Berger – Eine ‚Königin der Nacht’ von Weltgeltung“ stattfinden. Es soll eine Eloge
auf die kleine große Erna Berger sein. Klein, weil sie nur ca. 1,50 m groß war; groß, weil sie eine
große Künstlerin war. Große Kunst lässt sich eben nicht an der Körpergröße messen. In ihrer
Heimatstadt Dresden begann der Weg Erna Bergers zu internationalem Ruhm.
Ihr Vater war ein angesehener Eisenbahningenieur, der beruflich an keinen festen Ort gebunden war.
So war sie bereits in ihrer Kindheit in Südamerika, wohin ihre Eltern übergesiedelt waren, noch bevor
sie lesen und schreiben konnte. Aber noch ehe sie in die Schule ging, konnte sie singen und tanzen.
Diese Fähigkeiten wurden von ihren Eltern im fernen Paraguay gepflegt und gefördert. So schön
Südamerika für Erna Berger auch war, so hatte sie doch Sehnsucht nach der Heimat, von deren
Kindheitseindrücken sie in der Fremde nicht los kam. Hatte sie doch dort viele schöne Stunden im
Kreise von Mutter, Oma und Tanten, den drei Schwestern des Vaters, verlebt, das Lyzeum besucht, in
einer Dresdner Drogerie und bei einer Bank in Zittau gearbeitet. Musik war ihr Lieblingsfach in der
Schule gewesen. Schon als Zehnjährige hatte sie der berühmten Dresdner Hofopernsängerin
Elisabeth Rethberg vorgesungen, die bereits bei dem Kind Erna Berger eine außergewöhnliche
musikalische Begabung erkannt hatte. Kein Wunder, dass Klein-Erna private Konzerte im Haus ihres
Onkels ungeheuer anregend empfunden hatte. Mit den Eltern mehrere Jahre in Südamerika lebend,
hatte sie dort das Singen nie aufgegeben, war dort als Erzieherin und Klavierlehrerin tätig und kehrte
nun nach fünf Jahren Leben in Südamerika im Jahre 1924 zurück nach Deutschland, zurück in ihre
Heimatstadt Dresden – allein, ohne Eltern, mit nur zehn Dollar in der Tasche.
Nun musste sie sich mit Büroarbeit Geld verdienen und ließ sich in Dresden ihre Stimme von Hertha
Boeckel, vor allem aber von der bekannten Gesangspädagogin Melitta Hirzel ausbilden. „Mit Singen
Geld verdienen wäre natürlich herrlich“ – das waren Zukunftsgedanken der jungen Erna Berger nach
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ihrer Rückkehr aus mehreren südamerikanischen Staaten, von ihren mehrjährigen Aufenthalten in
Paraguay, in Montevideo und in Argentinien. Und es ergab sich alsbald eine Chance, dem Ziel,
Sängerin zu werden, ein Stückchen näher zu kommen: Die Dresdner Staatsoper suchte für ihr
Ensemble eine junge Sopranistin, eine Soubrette. So durfte sie Dresdens berühmtem
Generalmusikdirektor Fritz Busch, der seit 1922 die Staatsoper leitete, vorsingen. Sie sang Arien des
Ännchen aus Carl Maria von Webers „Der Freischütz“, eine Arie des Cherubin aus Wolfgang
Amadeus Mozarts „Die Hochzeit des Figaro“ und eine Arie der Mimi aus Giacomo Puccinis „La
Bohème“. Nach dem Vorsingen wieder zu Hause angekommen, war die neugierige Frage ihrer
Tanten: „Na, wie war’s? Was hat er gesagt?“ Erna Berger antwortete mit den Worten von Fritz Busch:
„Sie werden von uns hören.“ Darauf die Tanten aus Erfahrung: „Na, da wirste wohl nischt hören.“
Aber es kam anders. Nach drei Wochen Wartezeit wurde sie erneut bestellt und Generalintendant
Alfred Reucker sagte zu ihr: „Liebes Kind! Sie können als Anfängerin zu uns kommen, mit einer
kleinen Gage. Fünfundachtzig Mark im Monat sind nicht viel Geld, aber ich habe gehört, Sie wohnen
bei ihren Tanten [...].“
So wurde Erna Berger, überglücklich, ab 1. April 1925 an die Sächsische Staatsoper Dresden
engagiert. Ihr Operndebüt gab sie – wie an anderer Stelle schon erwähnt – mit der Partie des Ersten
Knaben in Mozarts „Die Zauberflöte“. Als zweite Partie kam bald darauf der Junge Hirt in Richard
Wagners „Tannhäuser“ hinzu. Noch im ersten Anstellungsjahr - dem Jahr 1925 - folgten weitere kleine
Partien: die Papagena in Mozarts „Die Zauberflöte“, einer der Edelknaben in Richard Wagners
„Lohengrin“, der Page der Herzogin in Giuseppe Verdis „Rigoletto“ und Annina in „La Traviata“,
Esmeralda in Bed•ich Smetanas „Die verkaufte Braut“, Nuri in Eugen d’Alberts „Tiefland“ und die
Stimme aus der Höhe in der Uraufführung „Doktor Faust“ von Ferruccio Busoni. Dies waren also die
Anfänge einer Weltkarriere. Sogenannte Nebenrollen ließen sie sich behutsam entwickeln bis hin zu
den großen Fachpartien der späteren Jahre.
Ein erster Ausflug der Anfängersoubrette Erna Berger in das Koloraturfach war die Puppe Olympia in
Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ Ende September des Jahres 1925. Diese Partie hatte
jahrelang die ausgezeichnete Koloratursopranistin der Staatsoper, Liesel von Schuch, gesungen.
Doch als sie ein Baby bekam, wurden für diese Partie stets Gäste geholt. Eines Tages fasste Erna
Berger all ihren Mut zusammen, ging zum Kapellmeister Kurt Striegler und sagte forsch: „Sie holen
immer Gäste für die ‚Puppe’, ich kann’s doch auch und bin viel billiger.“ Und Kurt Striegler erwiderte,
wie es seine Art war: „Ja? Na dann sing mal, Kleene.“ Und tatsächlich wurde Erna Berger nach einem
erfolgreichen Vorsingen vor dem Dirigenten Kurt Striegler in einer der nächsten Vorstellungen von
„Hoffmanns Erzählungen“ als Olympia eingesetzt. Über dieses Debüt der Erna Berger als Olympia in
Jacques Offenbachs beliebter Oper „Hoffmanns Erzählungen“ schrieb der Kritiker E.P. in den
„Dresdner Nachrichten“ vom 29. September 1925: „Zum ersten Mal sang Erna Berger die Olympia
und sie gewann damit starke und wohlverdiente Anerkennungen. Der Gesamteindruck war ein
durchaus günstiger und für die junge Künstlerin vielversprechender. Die Stimme ist von edlem Klange.
Sie wird bei weiterer Entfaltung an Glanz und durchschlagender Kraft gewinnen. Ihre Ausschulung
beweist naturgemäße sichere Grundlagen. Die Koloraturen gelangen überraschend gut. Auch im Spiel
zeigten sich hervorragende Anlagen.“
Diese hervorragenden Anlagen in Gesang und Spiel sollten sich in der Folgezeit zur vollen Entfaltung
und Vervollkommnung entwickeln. Sie kamen erstmals bei der Uraufführung der Oper „Hanneles
Himmelfahrt“ von Paul Graener am 17. Februar 1927 in Dresden umfassend zum Tragen. Erna Berger
wurde in dieser Oper nach der gleichnamigen Traumdichtung von Gerhart Hauptmann mit der
Titelpartie betraut. Gerhart Hauptmanns „Hanneles Himmelfahrt“ war Ende des Jahres 1894 im
Berliner Königlichen Schauspielhaus uraufgeführt worden und beinhaltet, neben der für Hauptmann
typischen Komponente der Schilderung des Lebens der sozialen Unterschichten, der naturalistischen
Darstellung des Elendsmilieus, auch Elemente von Hauptmanns von seiner pietistischen Mutter
beeinflussten Religiosität. Diese kommt beispielsweise in der Kraft, die in den Fiebervisionen des
kranken Kindes die Engel erscheinen und ihm das Paradies verheißen lässt, stark zum Ausdruck.
Diese höchste Ansprüche fordernde Partie des Kindes Hannele war für Erna Berger in der Oper
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„Hanneles Himmelfahrt“ von Paul Graener eine immense Herausforderung. Die Kritiker bewerten ihre
Leistung unter anderem mit folgenden Sätzen: „Man begrüßte in der jungen Erna Berger mit
Vergnügen das erste singende Hannele [...] Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die hübsche, kleine,
grelle infantile Stimme diesmal besonders ergiebig klang.“ (Hans Schnoor im „Anzeiger“ vom 18.
Februar 1927.)
„Erna Berger, zum ersten Mal in einer führenden Rolle, gestaltete das Hannele auf gewinnende
Weise. Die ziemlich hoch liegende Partie sang sie mit entzückendem Gelingen. Im Darstellerischen
gab Erna Berger das vom Anflug zart aufkeimender Erotik belebte Kindhafte überzeugend wieder.“
(Paul Büttner in der „Dresdner Volkszeitung“ vom 18. Februar 1927.)
Und Auszüge aus einer weiteren Rezension; d. h. über eine Aufführung unter Leitung des
Komponisten: „Auffallend war doch, dass er es [das Werk] ruhiger nahm als Busch und sehr diskret in
der Orchesterbegleitung, was der Wirkung der Stimmen zustatten kam, sonderlich auch der Erna
Bergers, die sich stellenweise in recht anstrengenden heiklen Hochlagen bewegen muss.“ (O.S. in der
„Stadtzeitung“ vom 25. Februar 1927.)
Partnerinnen und Partner auf der Bühne waren bei „Hanneles Himmelfahrt“ u.a. Curt Taucher als
Lehrer Gottwald, Helene Jung als Diakonissin Schwester Martha, Elfriede Haberkorn als eine der
Armenhäusler (Tulpe), und als Traumerscheinungen u.a. Ludwig Ermold als Hanneles Vater (Der
Maurer Mattern), Helene Jung als eine Frauengestalt (Hanneles verstorbene Mutter) und als
Diakonissin, der Tänzer Gino Neppach als Ein großer schwarzer Engel, Curt Taucher als Der Fremde
und viele andere mehr als Drei lichte Engel, Armenhäusler und Kinder.
Erna Berger war stolz, dass sie nach zwei Jahren ihres Engagements in Dresden, in denen sie viele
Nebenrollen zu singen gehabt hatte, mit dem Hannele in Paul Graeners „Hanneles Himmelfahrt“ eine
Titelpartie übertragen bekommen hatte. Nicht ohne Genugtuung schreibt sie in ihren Erinnerungen:
„Bei der Premierenfeier lernte ich auch Gerhart Hauptmann kennen, der damals fünfundsechzig Jahre
alt war. Die Verwandlung seines Traumspiels in eine zu Herzen gehende Oper gefiel ihm sehr, und er
nahm das kindhaft kleine Hannele nach der Vorstellung erfreut auf seinen Schoß, von dem ich zu Paul
Graener weitergereicht wurde.“
Im gleichen Jahr 1927 gab es für Erna Berger eine Reihe von neuen Aufgaben im Spielplan des
Dresdner Opernhauses. Wieder sind es eine Reihe von Nebenrollen, nachdem bereits ein Jahr zuvor
die kleinen Partien der Priesterin in Giuseppe Verdis „Aida“, der Barbarina in Wolfgang Amadeus
Mozarts „Die Hochzeit des Figaro“, eine Brautjungfer in Carl Maria von Webers „Der Freischütz“, (als
große Partie auch das Ännchen), Ein Friedensbote in Richard Wagners „Rienzi“ und Ein Knappe und
Ein Zaubermädchen (Blumenmädchen) in „Parsifal“, Ein Sklave in Richard Strauss’ „Salome“, die
Kammerjungfer Anna in „Intermezzo“ sowie eine Najade in „Ariadne auf Naxos“ das Repertoire von
Erna Berger erweitert hatten.
Nun also zum Jahr 1927. In diesem Jahr kamen als kleine Rollen hinzu: Eine Magd in Richard
Strauss’ „Elektra“, die Stimme des Falken und eine Dienerin in „Die Frau ohne Schatten“ sowie das
Stubenmädchen Yvonne in der Dresdner Erstaufführung „Jonny spielt auf“ von Ernst K•enek. Es gab
für Erna Berger 1927 aber auch eine Reihe von mittleren, größeren und großen Rollen, darunter das
Blondchen in Wolfgang Amadeus Mozarts Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“, die Marzelline in
Ludwig van Beethovens „Fidelio“, die Marie in Albert Lortzings „Zar und Zimmermann“, die Stimme
des Waldvogels in Richard Wagners „Siegfried“ und die Rheintochter Woglinde in der
„Gätterdämmerung“, Frasquita in George Bizets „Carmen“, vor allem aber auch der Page Oscar in
Giuseppe Verdis „Ein Maskenball“ (damals unter dem Titel „Amelia“) und nicht zu vergessen die Adele
in der Johann-Strauß-Operette „Die Fledermaus“.
Hohe Anerkennung fand Erna Berger in der Presse für ihre Verkörperung des Pagen Oscar in
„Amelia“ („Ein Maskenball“). So schrieb Hans Schnoor am 19. Januar 1927 im „Anzeiger“: „Erna
Berger hat ihre erste wirklich prominente oder mindestens als solche gedachte und behandelte Rolle
übernommen: den Pagen in Verdis ‚Amelia’. Im letzten Akt der Oper [...] entfaltete sich das
Gesangstalent der jungen Künstlerin recht verheißungsvoll. Frische Spielmanieren nehmen für die
begabte Anfängerin ein. Die Koloraturen perlen in sauberem Gleichfluss.“
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Derselbe Kritiker schrieb zwei Jahre später, am 4. Juni 1929 ebenfalls im „Anzeiger“: „Sehr glücklich
warb auch Erna Berger um die Rolle des Pagen. Die schwierigen Koloraturen nimmt sie mit
jugendlicher Virtuosität.“ Noch ein Jahr später, am 11. Dezember 1930, heißt es im „Anzeiger“ vom
gleichen Rezensenten: „Erna Berger soll als die eigentliche Zauberin des Abends nicht vergessen
sein: ihre Koloraturstimme verrichtet wirkliche kleine Wunder.“
Über Erna Berger in der Rolle des Pagen Oscar ist folgende kleine Episode überliefert: Als sie in
Kostüm und Maske neben Tino Pattiera (dem berühmten Tenor in der Rolle des Grafen Riccardo in
dieser Verdi-Oper) in der Seitengasse auf der Bühne vor ihrem Auftritt stand, soll er erstaunt gefragt
haben: „Was machst du denn hier, Kleine?“ Ihre schlagfertige Antwort soll gelautet haben: „Ich will sie
gerade ankündigen, Herr Gouverneur!“ In den nachfolgenden Jahren hat dann Erna Berger oft mit
Tino Pattiera, der in Dresden Kultstatus besaß, auf der Bühne gestanden, und gemeinsam haben
beide große Erfolge feiern können.
Die Adele in der „Fledermaus“ zu singen, war schon lange ein Herzenswunsch von Erna Berger aus
der Zeit, wo sie nur mit der kleinen Partie der Schwester Ida besetzt war. Als sie ihrer Lehrerin gesagt
hatte, dass sie gern die Adele studieren möchte, soll diese erwidert haben: „Natürlich, liebes Kind, du
kannst sie ja lernen, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie die Kleine da im zweiten Akt als große
Dame ankommt.“ Kess soll Erna Berger geantwortet haben: „Meine ein Meter fünfzig kann ich nicht
ändern, aber die Adele versucht ja nur, die große Dame zu s p i e l e n, sie stolpert über ihre Schleppe
und braucht nicht geschickt zu sein oder besonders seriös. Die ist ein kleines Stubenmädchen.“ Auf
diese entwaffnende Replik konnte ihre Lehrerin nichts weiter sagen als: „Da hast du eigentlich recht.“
Und so begann das Abenteuer „Fledermaus“-Adele, das triumphal endete. Die Adele wurde eine der
Lieblingspartien von Erna Berger.
Erste Dresdner Kritiken erschienen 1927 nach Erna Bergers Auftritten als Adele in der Sächsischen
Staatsoper. In den „Dresdner Nachrichten“ vom 14. März 1927 hieß es: „Ganz reizend vor allem die
gesangliche Seite; frisch und hell mit vogelhaft gezwitscherten Koloraturen klang der leichte anmutige
Sopran über Orchester und Ensemble hin.“
In den „Dresdner Neuesten Nachrichten“ vom 15. März 1927 stand: „Im Opernhaus gab Erna Berger
zu ersten Male die Adele in der ‚Fledermaus’. Ein kokettes und adrettes Stubenmädel in der
Erscheinung. Stimmlich ganz vortrefflich: die Koloraturen stiegen wie Lerchentriller über Orchester
und Ensemble. Für das Lachcouplet und die Talentprobe vor dem Gefängnisdirektor gab es
berechtigten Sonderapplaus.“
Und kein Geringerer als der große Dirigent Wilhelm Furtwängler war es, dem es die Interpretation der
Adele durch Erna Berger besonders angetan hatte. Das gleiche gilt für das Ännchen in Carl Maria von
Webers „Der Freischütz“. Auch viele andere Partien, darunter die Mozart-Partien, die Erna Berger
sang, ernteten höchstes Lob des berühmten Ausnahmedirigenten Wilhelm Furtwängler. „Sie ist die
Beste, die wir haben“, formulierte er einmal.
Wenden wir uns nun dem Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ von Wolfgang Amadeus Mozart
zu, in dem Erna Berger sowohl die Partie des Blondchens als auch die Partie der Konstanze
gesungen hat. Die Konstanze wurde eine ihrer Glanzpartien, gesungen in Dresden, Berlin und vielen
großen Opernhäusern der Welt. Hören wir nun aus dem Ersten Akt „Die Entführung aus dem Serail“
die Arie der Konstanze „Ach ich liebte, war so glücklich“, gesungen von Erna Berger, begleitet von der
Staatskapelle Berlin unter Karl Schmidt.
2. Hörbeispiel
(Ausschnitt)
Arie der Konstanze „Ach ich liebte, war so glücklich“ aus „Die Entführung aus dem Serail“ von
Wolfgang Amadeus Mozart
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In der Arie „Ach ich liebte“ denkt Konstanze nach der Aufforderung des Bassa Selim, ihn zu heiraten,
zurück an den von ihr getrennten Geliebten Belmonte.
Je eine Pressestimme soll die Interpretationen Erna Bergers sowohl als Blondchen wie auch als
Konstanze beleuchten. Über das Blondchen, gesungen 1928 in Dresden, schrieb Hans Schnoor am
24. Juni 1928 im „Dresdner Anzeiger“: „Wenn von einer Überraschung und, fast, von einer Erfüllung
im Sinne des Mozartgesangs zu sprechen ist, dann bei Erna Berger, die das Blondchen sang. Wie
ruhig und organisch entwickelt sich dies Stimmtalent, wie füllig und zugleich locker-schwebend dieser
klangreizende Sopran.“
Noch überschwänglicher äußert sich Hans Schnoor über ein Jahrzehnt später über ein Gastspiel der
inzwischen an der Berliner Staatsoper engagierten Erna Berger im Januar 1942 als Konstanze in
Dresden: „Zu einer vollendeten Darbietung erlebnishafter, verinnerlichter und vermenschlichter Kunst
wurde das Gastspiel von Erna Berger als Constanze in Mozarts ‚Entführung aus dem Serail’. Aus der
munteren Koloratursoubrette ist eine Sängerin geworden, die die weiteste Ausdrucksskala der
Empfindungen beherrscht, die mit Mitteln, die immer noch schlicht und natürlich wirken, Unsagbares
zu sagen weiß! Das Leid und die Gefühlstiefe einer Constanze zu künden, ist wohl keine deutsche
Sängerin heute so berufen wie Erna Berger.“ („Dresdner Anzeiger“ vom 8. Januar 1942.)
Welche großartige Entwicklung hatte also Erna Berger von Mitte der Zwanziger bis Anfang der
Vierziger Jahre genommen. Innerhalb dieser Zeitspanne gab es so manches Aufregende und
Überraschende. Erwähnen möchte ich nur Folgendes: Es war im Jahre 1929, als Erna Berger für eine
erkrankte Kollegin als Ännchen in Webers „Der Freischütz“ einspringen musste. In diesen Tagen war
Siegfried Wagner, der Sohn Richard Wagners, in Dresden, um einen Knaben vom Dresdner
Kreuzchor als Hirten für seine „Tannhäuser“-Inszenierung im Festspielhaus Bayreuth zu suchen. Mehr
oder weniger zufällig besuchte er am Abend die besagte „Freischütz“-Vorstellung in der Semperoper.
Er hörte Erna Berger und äußerte nach der Vorstellung: „Da suche ich nicht weiter, die nehm’ ich. Die
hat eine Knabenstimme.“
So begann für Erna Berger das Abenteuer Bayreuth. 1930 stand sie als Junger Hirt in Wagners
„Tannhäuser“ auf der Festspielbühne in Bayreuth. Die Inszenierung hatte Siegfried Wagner, die
musikalische Leitung Arturo Toscanini (welch ein Glücksumstand für die junge Erna Berger!), und den
Landgrafen sang Ivar Andrésen von der Staatsoper Dresden. Außerdem sang Erna Berger in
Bayreuth im gleichen Jahr 1930 ein Blumenmädchen in „Parsifal“ (Spielleitung Siegfried Wagner,
Dirigent Karl Muck und Ivar Andrésen als Gurnemanz). 1931 gab es Reprisen von „Tannhäuser“ und
„Parsifal“ (diesmal beide Opern dirigiert von Arturo Toscanini). Neu hinzu kam für Erna Berger, neben
dem Jungen Hirten und dem Blumenmädchen, der Waldvogel in „Siegfried“ unter der musikalischen
Leitung des späteren Dresdner Generalmusikdirektors Karl Elmendorff. Das waren die Ausflüge der
Erna Berger aus Dresden auf den Grünen Hügel in Bayreuth.
In diesen Jahren sang Erna Berger, die in ihrer Mädchenzeit beim Hören von Wagner-Opern ins
Schwärmen geriet, nahezu sämtliche kleinen Rollen vom Friedensboten in „Rienzi“ über den Jungen
Hirten in „Tannhäuser“, Edelknaben in „Lohengrin“ bis hin zur Rheintochter Woglinde in „Rheingold“
und „Götterdämmerung“, dem Waldvogel in „Siegfried“ und dem Blumenmädchen in „Parsifal“. Doch
Wagner blieb auf Grund ihres Stimmfaches nur eine kurze Episode. Aber wie gerne hätte sie –
besonders in ihren jungen Jahren – eine Senta, eine Elisabeth, eine Elsa, ein Evchen gesungen! Erna
Berger hat mit anderen Partien, die ihrem Stimmfach entsprachen, Weltkarriere gemacht.
Aus der Zeit des festen Engagements von Erna Berger in Dresden, bevor sie 1932 einem Ruf nach
Berlin folgte – zunächst an die Städtische Oper, ab 1934 dann an die Staatsoper Unter den Linden –
seien aus der Fülle des künstlerischen Wirkens der Sängerin wenigstens noch die Mitwirkung als
Erste Dienerin der Aithra in der Uraufführung von Richard Strauss’ Oper nach einem Text von Hugo
von Hofmannsthal „Die Ägyptische Helena“ am 6. Juni 1928 und ihr Debüt als Zerbinetta in „Ariadne
auf Naxos“ in einer Neueinstudierung vom 13. April 1932 unter der Leitung von Fritz Busch genannt.
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Bei der Uraufführung der „Ägyptischen Helena“ kam es zur ersten persönlichen Begegnung zwischen
Richard Strauss und Erna Berger. Auf die Übertragung der Partie der Zerbinetta – eine der
schwierigsten im Koloratursopranfach – hatte sie länger als ein Jahr gewartet und bekam sie erst, als
sie schon beschlossen hatte, ein Angebot der Städtischen Oper Berlin mit der Verpflichtung als
Koloratursopranistin anzunehmen. Der Versuch, sie mit der Besetzung als Zerbinetta in Dresden zu
halten, scheiterte; dennoch hielt sie der Dresdner Staatsoper als Gast weiterhin die Treue.
Die Zerbettina wurde für Erna Berger ein triumphaler Erfolg. Die Rezensionen überschlugen sich mit
Worten des Lobes. Es ist die Rede von einem „funkelnden Feuerwerk eines Koloraturgesanges wie
man ihm kaum woanders in solcher Vollendung hören dürfte“ (B. in „Volksstaat“ vom 16. April 1932)
oder: „Es ist sehr lange her, dass man in Dresden eine Zerbinetta-Arie hörte, wie die der Erna Berger,
für die es bei offener Szene minutenlangen Beifall gab.“ (W. im „Freiheitskampf“ vom 14. April 1932)
Und Dr. Karl Schönewolf schrieb in den „Dresdner Neuesten Nachrichten“ vom 15. April 1932: „Es ist
nicht nur der Charme dieser reizenden Zerbinetta, diese Spielsicherheit und Musikalität, es ist vor
allem das große Können, das man in ihrer Arie bestaunen kann. Die Koloraturen der Königin der
Nacht erscheinen als ein Kinderspiel gegen die Ungeheuerlichkeiten dieses Stücks. Die Berger singt
es mit einer Leichtigkeit, die begeistert. Die Stimme ist überdies so viel wärmer geworden und hat
doch nichts von ihrer glashellen Klarheit verloren. Mit Recht wird ihr stürmischer Applaus nach ihrer
Arie gezollt. Dresden hat eine Zerbinetta, die sich hören und sehen lassen kann.“
Ihre letzte „Ariadne“-Vorstellung ihrer Dresdner Zeit fand unter der musikalischen Leitung des
Komponisten selbst statt. Dies war nach der „Ägyptischen Helena“ eine weitere persönliche
Begegnung zwischen Erna Berger und Richard Strauss. Erna Berger erinnert sich: „Nach der großen
Arie ging’s minutenlang nicht weiter. Die Leute konnten sich gar nicht beruhigen, denn ich hatte den
hohen Ton ungewöhnlich lange ausgehalten, der stand einfach im Raum, da waren sie ganz aus dem
Häuschen. Das Orchester konnte nicht weiterspielen und wir auch nicht. Es folgt noch ein kleines
Zwiegespräch zwischen Zerbinetta und Harlekin: ‚Hübsch gepredigt, aber tauben Ohren.’ Strauss
sagte danach: ‚Bei Ihnen lassen wir das kleine Schwänzchen weg, Bergerlein, das geht ja unter im
Applaus’, und auf ein Notenblatt schrieb er mir: ‚Meiner herrlichen Zerbinetta – Richard Strauss’.“
An ihrer neuen Wirkungsstätte, an der Städtischen Oper in Berlin, glänzte sie vor allem zunächst mit
der Nedda in Ruggero Leoncavallos „Der Bajazzo“, mit der Konstanze in der „Entführung aus dem
Serail“ von Mozart und mit der Butterfly von Giacomo Puccini.
Hören wir die Arie der Cho-cho-san „Eines Tages seh’n wir“ aus „Madame Butterfly“ mit Erna Berger
und dem Städtischen Opernorchester unter Wilhelm Schüchter.
3. Hörbeispiel
(Ausschnitt)
Arie der Butterfly „Eines Tages sehn wir“ aus „Madame Butterfly“ von Giacomo Puccini
Die Butterfly hat Erna Berger später u. a. auch als Gast in Dresden und an der Staatsoper Berlin
gesungen. Über eine Aufführung von „Madame Butterfly“ an der Berliner Staatsoper schrieb Ingeburg
Kretzschmer in der „Täglichen Rundschau“ vom 29. Januar 1946: „Madame Butterfly war Erna Berger,
die mit ihren Gaben verschwenderisch umging. Goldstrahlender Glanz der Stimme im ersten Akt, sehr
bald aber schwingt etwas Tragisches mit, zuerst ganz bescheidentlich und wie in höflicher
Unaufdringlichkeit, um dann bis zum schmerzlichen Ausbruch hinaufzusteigen. Stark nachklingend die
Prunkstücke des Gesanges, stärker aber fast noch die halb erstickten, todesgefassten Worte im
dritten Akt. Eine zierliche kleine Cho-cho-san, die in ihrer unendlich vertrauensvollen Geduld und
Selbstaufopferung etwas rührend Mädchenhaftes hat, demütig und erschütternd. Eine Leistung, die
Erna Berger ungezählte Male vor den ‚Eisernen’ rief.“
War diese Berliner Aufführung im ersten Jahr nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, so war Erna
Berger noch im Kriegsjahr 1941 als Gast von der Berliner Staatsoper in der Partie der Butterfly in der
Dresdner Staatsoper aufgetreten. Über dieses Gastspiel schrieb der Kritiker Georg Striegler im
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„Anzeiger“ vom 17. November 1941: „In Erfüllung ihres Gastspielvertrages bescherte uns Erna Berger
nach der Gilda (am Donnerstag) nun die ‚Cho-cho-san’ in Puccinis ‚Madame Butterfly’. Das wollte auf
den ersten Blick beinahe wie ein Ausbruch aus ihrer Heimat, der Koloraturgesangskunst, aussehen, in
der sie von aller Welt bewundert wird. Aber die Rolle gehört der musikalischen Linienführung zufolge
eben in den Aufgabenkreis der Opernsoubrette, wiewohl sie mit ihrem tragischen Einschlag nicht
deutlich soubrettenhaft anmutet. Die Künstlerin brachte vom Darstellerischen wie vom Gesanglichen
her alle hervorragenden Eigenschaften mit, um mit der Zeichnung der kindhaften Mädchengestalt
tiefstgehende Eindrücke zu erwecken. Der Liebes- und Leidensweg der dem Untergang Geweihten
wurde den Hörern zum überwältigenden Erlebnis. Zu Hochfesten tief verinnerlichter Klangsinnlichkeit
gestaltete sich insbesondere das berauschende Liebesduett (mit Treffner), das glückstrahlende
Blumenduett (mit Helene Rott), das traumhaft verzückte Arioso ‚Eines Tages seh’n wir’ und der
rührende Abschied vom Kinde.“
Das Soubretten- und Koloraturfach ergänzt Erna Berger von nun an immer mehr durch lyrische und
Zwischenfachpartien, in denen sie ebenso große Erfolge feiert wie in den reinen Koloraturpartien.
Darunter sind Partien wie eben Butterfly, Mimi, Liù, Gilda, Sophie, aber auch weiterhin die Königin der
Nacht, Konstanze, Zerlina, Despina, Zerbinetta, Frau Fluth und andere.
Die Gilda sang Erna Berger (schon als Gast an der Städtischen Oper Berlin) auch bei der
denkwürdigen Dresdner „Rigoletto“-Aufführung am 7. März 1933, an jenen dies ater, als Fritz Busch
durch grölende und pfeifende SA-Horden am Dirigieren der „Rigoletto“-Vorstellung gehindert und vom
Dirigentenpult vertrieben worden war. Der ehemalige Orchesterdirektor der Staatskapelle Dresden,
Arthur Tröber, erinnerte sich: „Wir, die wir nicht die geringste Ahnung von dieser Aktion hatten, waren
wie erstarrt.“ Nur er und sein Kapellkollege Kurt Strelewitz besaßen die Zivilcourage, sofort zusammen
mit ihrem Chef den Orchestergraben zu verlassen. Alle übrigen Orchestermitglieder verharrten auf
ihren Plätzen. Schließlich baten Generalintendant Alfred Reucker und der von den Vorfällen tief
enttäuschte Generalmusikdirektor Fritz Busch Kapellmeister Kurt Striegler – um die Vorstellung nicht
ausfallen lassen zu müssen, - die „Rigoletto“-Aufführung zu dirigieren. Kaum vorstellbar, wie unter
diesen Umständen an diesem Abend von allen mitwirkenden Künstlern ein Opernerlebnis stattfinden
konnte! Eine Woche später wurde den Künstlern ein Schriftstück vorgelegt, in dem sie unterschreiben
sollten, dass sie Fritz Busch sowohl künstlerisch als auch menschlich für unfähig hielten, die Dresdner
Staatsoper zu leiten. Nur wenige verweigerten ihre Unterschrift. Erna Berger war darunter (weitere
Sängerinnen, die nicht unterschrieben waren: Marta Fuchs, Hilde Clairfried, Camilla Kallab und Maria
Elsner).
In der „Rigoletto“-Aufführung am 7. März 1933 sangen neben Erna Berger als Gilda u. a. Martin
Kremer (Herzog), Paul Schöffler (Rigoletto), Kurt Böhme (Sparafucile), Helene Jung (Maddalena) und
Sven Nilsson (Monterone).
Hören wiir die Arie der Gilda „Gualtier Maldé“ / „Teurer Name, dessen Klang“ aus Giuseppe Verdis
„Rigoletto“, gesungen von Erna Berger in einer Aufnahme mit der Staatskapelle Berlin und dem
Staatsopernchor unter der Leitung von Robert Heger.
4. Hörbeispiel
(Ausschnitt)
Arie der Gilda „Gualtier Maldé“ / „Teurer Name, dessen Klang“ aus „Rigoletto“ von Giuseppe Verdis
Gut einen Monat vor dem schrecklichen Eklat vor der „Rigoletto“-Aufführung am 7. März 1933 in
Dresden hatte Erna Berger schon einmal die Gilda in Dresden gesungen. Darüber schrieb der Kritiker
Dr. Eugen Schmitz in den „Dresdner Nachrichten“ vom 1. Februar 1933: „Die Gilda hatten wir uns
längst von Erna Berger gewünscht, als sie noch ganz die Unsere war. Inzwischen hat sie sie ja in
ihrem Berliner Engagement gesungen. Und der Erfolg, den sie dort errang, ist ihr hier treu geblieben.
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Sie ist rührend lieblich in der Erscheinung und singt eine entzückend leichte meisterliche Koloratur.
Dabei ist nichts Gespreiztes in ihrem Wesen, weder darstellerisch noch musikalisch. Sie spielt nicht
die Gilda, sie ist sie, wie man sie sich nur wünschen kann.“
Und über eine „Rigoletto“-Premiere im Jahre des Kriegsendes 1945 in Berlin schrieb die Berliner
Kritikerin Ingeburg Kretzschmer in der „Täglichen Rundschau“ Anfang November 1945: „Bei Erna
Berger [dagegen] scheint die glockenreine Stimme immer neue Reichtümer zu schöpfen. Die Gilda ist
i h r e R o l l e, in der sie mit der vollendeten Technik ihres Soprans die Hörer in Atem hält, dass
wahre Stürme der Begeisterung sie lange noch an den ‚Eisernen’ riefen.“
Hatte Erna Berger ab 1932 an der Städtischen Oper Berlin und ab 1934 an der Staatsoper Unter den
Linden ihre feste künstlerische Heimat mit großen künstlerischen Herausforderungen gefunden, so
führten Gastspiele die große Künstlerin bis in die Kriegsjahre hinein immer wieder in ihre Heimatstadt
Dresden, wo sie stets genauso stürmisch gefeiert wurde wie in Berlin (vor allem als Konstanze,
Susanna, Königin der Nacht, Sophie, Zerbinetta, Gilda, Violetta, Mimi, Butterfly, Liù, aber auch als
Leïla in Bizets „Die Perlenfischer“, in der Uraufführung von Wolf-Ferraris „La Dama Boba“ und als
Gretl in Werner Egks „Die Zaubergeige“.)
Anhaltend große Erfolge erzielte Erna Berger bei ihren europaweiten Gastspielen an den wichtigsten
Opernzentren, die nach 1945 auch Nord- und Südamerika, Australien und Japan einbezogen.
Legendär wurde ihr erster Auftritt 1949 an der Metropolitan Opera in New York mit der Partie der
Sophie in der Musikalischen Komödie „Der Rosenkavalier“ von Richard Strauss unter der
musikalischen Leitung von Fritz Reiner, dem von 1914 bis 1921 in Dresden tätigen bekannten
Dirigenten. Der Beifall nach der Aufführung war enthusiastisch. Selbst von den in New York am
meisten gefürchteten Kritikern Oscar Thompon vom „International Herald Tribun“ und Olin Downes
von der „New York Times“ gab es nur einhelliges Lob. Erna Berger war mit einem Schlag ein Star,
dem die Opernliebhaber New Yorks huldigten. Zwei Wochen später wiederholte sich der sensationelle
Erfolg mit der Gilda in Verdis „Rigoletto“. Mit ihren Auftritten an der Met und mit Liederabenden in der
berühmten New Yorker Carnegie Hall, wo die größten Musiker(innen)persönlichkeiten aus aller Welt
auftreten, hatte sich Erna Berger endgültig einen festen Platz in der internationalen Musikszene
erobert. Neben Auftritten in München, Hamburg, Wien, Paris, Rom, Madrid, London und eben New
York waren auch Erna Bergers Auftritte zu den Salzburger Festspielen Höhepunkte ihres überreichen
Künstlerlebens. Hatte schon 1932 Fritz Busch sie zu den Salzburger Festspielen mitgenommen und
durfte dort das Blondchen in der „Entführung“ singen, so war es Wilhelm Furtwängler, der sie 1953
und 1954 zu den Salzburger Festspielen in der Felsenreitschule die Zerlina in Mozarts „Don Giovanni“
singen ließ. „Es ist die Beste, die wir haben“ war sein kurzer Kommentar. Hier in Salzburg 1954 war
ihr letzter Bühnenauftritt, nachdem sie schon 1949 letztmalig auf der Bühne der Berliner Staatsoper
Unter den Linden gesungen hatte.
Auf ein Schaffensgebiet von Erna Berger sei noch gesondert hingewiesen: auf ihre zahlreichen
Lieder- und Arienabende. Konzertarien und Lieder waren zeitlebens ein wichtiges Feld ihrer
Kunstausübung, und zwar seit Beginn ihrer Gesangstätigkeit. Schon 1932 hatte sie in Dresden einen
solchen Lieder- und Arienabend gegeben mit Liedern des Dresdner Komponisten Johann Gottlieb
Naumann, Carl Maria von Weber, Robert Schumann und Hugo Wolf sowie Arien von Giuseppe Verdi
und Richard Strauss. Und in einer Kritik von Hanna Hornig über diesen Abend hieß es: „Die junge
Künstlerin vermag es, ein Konzert zu einem Fest zu erheben. Sie besitzt eine der entzückendsten
Stimmen, die man heute hören kann und meistert dieses Gottesgeschenk mit einer derartigen
Leichtigkeit, dass man die Begriffe Kunst und Natur nicht mehr zu scheiden vermag.“
Zahlreiche weitere Dresdner Lieder- und Arienabende mit wechselnden Klavierbegleitern folgten
innerhalb einer Zeitspanne von mehr als zwanzig Jahren. Der letzte dieser Abende in Dresden fand
am 5. September 1955 im Kurhaus Bühlau statt, bedacht mit enthusiastischem Beifall und höchstem
Lob der Kritiker. Erna Berger selbst muss wohl auch zufrieden gewesen sein. In ihren persönlichen
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Aufzeichnungen bewertete sie diesen Abend im Kurhaus-Saal Bühlau mit sechs Sternchen (******),
der Höchstzahl in ihrer Skala.
Bis 1968 gab Erna Berger noch Lieder- und Arienabende in aller Welt. Sie erhielt dafür inoffiziell den
Ehrentitel „Königin des Liedes“. Ihr idealer Liedbegleiter am Klavier war Michael Raucheisen. Aber sie
hatte auch andere bekannte hervorragende Liedbegleiter wie z. B. Günther Weißenborn, Ernst Günter
Scherzer, Gerhard Puchelt, Ferdinand Leitner, Irwin Gage oder Gerald Moore.
Über die Schwierigkeiten des Liedgesanges äußerte Erna Berger: „In wenigen Minuten ein Bild in
Tönen zu malen, eine eigene kleine Welt zu erschaffen und die Menschen in diese Welt zu versetzen,
ist oft schwerer, als eine große Opernszene zu formen. Allein durch den Gesang, ganz ohne Kulisse,
Kostüme und Schauspielkünste muss die Verzauberung gelingen.“
Lassen auch wir uns verzaubern durch den Liedgesang von Erna Berger!
5. / 6. Hörbeispiel
(Ausschnitte)
Franz Schubert „Gretchen am Spinnrade“
Johannes Brahms „Wiegenlied“
Klavierbegleiter ist bei beiden Liedern Michael Raucheisen.
Aus den soeben in Ausschnitten gehörten beiden Liedern wird deutlich, wie durch die Kunst des
Liedgesangs neben dem Operngesang andere, sehr persönliche Akzente gesetzt werden
können und gute Voraussetzungen geschaffen werden, Erfahrungen an nachfolgende
Künstler(innen)generationen weiterzugeben.
Schon ab 1957 gab Erna Berger Gesangskurse in der Schweiz, ab 1959 unterrichtete sie als
Professorin an der Staatlichen Hochschule für Musik in Hamburg, dann verlegte sie ihren Wohnsitz
nach Essen. Daneben hielt Erna Berger auch Meisterkurse für Gesang am Mozarteum in Salzburg ab.
Ihre bedeutendste Schülerin wurde die durch viele Auftritte und zahlreiche Tonaufnahmen weithin
bekannt gewordene Rita Streich. Selbstredend liegen auch von Erna Berger Hunderte von Aufnahmen
aus rund dreieinhalb Jahrzehnten erfolgreichen künstlerischen Wirkens, meist als
Rundfunkaufnahmen, aber auch auf Schallplatte, vor und zeugen von der Kunst dieser einzigartigen
und in aller Welt beliebten Sängerin.
Für ihre Verdienste erhielt sie zahlreiche hohe Auszeichnungen wie beispielsweise 1985 die
Ehrenmitgliedschaft der Berliner Staatsoper, das Große Bundesverdienstkreuz, die Aufnahme als
Ordentliches Mitglied der Berliner Akademie der Künste.
Im Februar 1985 war Erna Berger Ehrengast bei der Festlichen Wiedereröffnung der Semperoper
Dresden. Es war für sie eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise an den Ort, wo ihre
Bühnenlaufbahn begonnen hatte, wo sie vielfach vom Publikum mit Beifallsstürmen überschüttet
worden war. Tief bewegt war sie aber nicht nur von der Schönheit der wiedererstandenen
Semperoper, sondern auch von der Begegnung mit Menschen, mit denen sie während ihrer Dresdner
Jahre freundschaftlichen Kontakt hatte. Sie traf Liesel von Schuch, für die sie einst als Olympia in
„Hoffmanns Erzählungen“ eingesprungen war, Fritz Buschs Sekretärin Gertrud Döhnert, Palucca und
andere.
In das Gästebuch der Semperoper schrieb sie: „Möge das neue Haus eine ebenso glückliche Zukunft
haben, wie es die Vergangenheit des alten zu meiner Zeit gewesen ist, und wieder eines der
bedeutendsten Musiktheater der Welt werden.“
Fünf Jahre später – wenige Monate vor ihrem 90. Geburtstag – starb Erna Berger am 14. Juni 1990 in
Essen, wo sie ihren Lebensabend verbracht hatte. Ihre letzte Ruhe fand sie in einem Ehrengrab auf
dem Wiener Zentralfriedhof, hatte sie doch schon viele Jahre vor ihrem Tod den Wunsch geäußert,
neben berühmten Musikern wie Johannes Brahms, Ludwig van Beethoven, Christoph Willibald Gluck,
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Franz Schubert, Johann Strauß und Hugo Wolf beigesetzt zu werden. Die Wiener Staatsoper flaggte
ihr zu Ehren am Tag ihrer Beisetzung Halbmast. Die deutsche und internationale Opernszene hatte
eine der bedeutendsten Sängerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts verloren. Erna Berger gehört zu
den Ausnahmekünstlerinnen, deren Stimme sich offenbar im Verlauf fast eines halben Jahrhunderts
ewiger Jugendlichkeit zu erfreuen schien. Sie übte ihren Beruf, der zugleich Berufung war, mit
Begeisterung aus, hatte keinerlei Starallüren, behielt Zeit ihres Lebens ihre Natürlichkeit und
bezauberte mit der Leichtigkeit und Schönheit ihrer Stimme zahllose Musikfreundinnen und
Musikfreunde in aller Welt. Sie war beseelt vom Dienst an der Kunst, an der Musik. Sie machte sich
die Worte Hugo von Hofmannsthals in der Strauss-Oper „Ariadne auf Naxos“ voll und auf beglückende
Weise zu eigen: „Musik ist eine heilige Kunst.“
(Quelle: Erna Berger: „Auf Flügeln des Gesanges“, Atlantis Musikbuch-Verlag AG, Zürich 1988.)
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