Kompositionstechniken im Klavierwerk Franz Liszts Eine Gegenüberstellung kompositorischer Verfahren im Früh- und Spätwerk unter besonderer Berücksichtigung des Klavierstücks Funérailles Dieter Kleinrath Betreuer: Dr. phil. Christian Utz September 2007 INHALTSVERZEICHNIS DANKSAGUNG 2 EINLEITUNG 3 I. KOMPOSITIONSTECHNISCHE BESONDERHEITEN IM SPÄTEN KLAVIERWERK LISZTS 9 1.1 Der verminderte Septakkord und der übermäßige Dreiklang 10 1.2 Skalen in Liszts Kompositionen 19 1.2.1 Die Zigeunerskala 20 1.2.2 Die Ganztonskala 25 1.2.3 Die Halbton-Ganzton-Skala 31 1.2.4 Die mixolydische Skala mit erhöhter Quart (akustische Skala) 34 1.3 Reale Sequenzen und weitere Skalen 35 1.4 Harmonische Verläufe 39 1.5 Chromatische Veränderung von Motiven und Harmonien 42 II. LISZTS KLAVIERSTÜCK 'FUNÉRAILLES' 46 2.1 Formaler Überblick über 'Funérailles' 48 2.2 Teil A – Die Einleitung 52 2.3 Teil B – Das Hauptthema 56 2.4 Teil C und D – Das Seitenthema 62 2.5 Fanfare und Reprise 66 SCHLUSSWORT 68 QUELLENVERZEICHNIS 69 ABBILDUNGSVERZEICHNIS 73 a) Verzeichnis der Notenbeispiele 73 b) Verzeichnis der Abbildungen 74 ANHANG 75 a) Werkverzeichnis der späten Solo-Klavierwerke Liszts (ab 1870) 75 b) Weiterführende Literatur 77 1 DANKSAGUNG Ich möchte mich einleitend bei meinem Betreuer Christian Utz und meiner Lebensgefährtin Barbara für die unbezahlbare Unterstützung bedanken, ohne deren konsequentes Hinterfragen meiner Ausführungen diese Arbeit nicht zustande gekommen wäre. 2 Einleitung EINLEITUNG In der folgenden Arbeit habe ich mir zum Ziel gesetzt einige kompositionstechnische Entwicklungen in Franz Liszts Klavierwerken zu untersuchen. Der Schwerpunkt meiner Untersuchungen liegt in einem Vergleich der Techniken früherer Kompositionen mit denen späterer Werke (ab ca.1880). Insbesondere konzentriere ich mich dabei auf das Stück Funérailles (1849) aus dem Zyklus Harmonies poétiques et religieuses (1848-53) und präsentiere im Verlauf dieser Arbeit auch eine detaillierte Analyse dieses außergewöhnlichen Klavierwerks. Ich erwarte mir dadurch ein besseres Verständnis für die Vorgänge zu erhalten, die dazu führten, dass Liszt sich in seinen letzten Lebensjahren zunehmends von der Tonalität abwandte und versuchte neue Wege zu beschreiten. Die Jahre um 1860 markieren einen wichtigen Wendepunkt in Liszts Leben. Am 15. Dezember 1859 legt er sein Kapellmeisteramt in Weimar nieder, nachdem es zu einer Demonstration bei der Uraufführung des Barbier von Bagdad von Peter Cornelius kam, die Liszt leitete. Damit endete die für Liszt anfangs so erfolgreiche Weimarer Zeit, in der einige seiner bedeutendsten Werke entstanden, mit einer Enttäuschung. 1860 wurde Liszt von einem schweren Schicksalsschlag getroffen, als sein Sohn Daniel verstarb. Am 17. August 1861 verlässt Liszt Weimar, wie er damals dachte für immer und folgt der Fürstin Sayn-Wittgenstein, mit der er Heiratspläne geschmiedet hatte, nach Rom. Es wurden Hochzeitsvorbereitungen getroffen, doch im letzten Moment entzog der Papst der Fürstin die Einwilligung, sich von ihrem Ehemann scheiden zu lassen, wodurch eine Heirat mit Liszt unmöglich wurde. 1862 folgte mit dem Tod seiner Tochter Blandine ein weiterer Schicksalsschlag. In den Folgejahren wurde auch seine Beziehung zu Richard Wagner immer angespannter.1 1 Zusammengefasst aus: Humphrey Searle, Liszt's Final Period (1860-1886), in: Proceedings of the Royal Musical Association 78, 1951-1952, S. 67-81, hier S. 67f – Peter Raabe, Liszts Leben, Meisenheim/Glan 1968, S. 297ff 3 Einleitung Diese Ereignisse prägten Liszt bis an sein Lebensende. Er zog sich für einige Zeit fast vollständig aus dem öffentlichen Leben zurück und begann einen Werdegang als Geistlicher in der katholischen Kirche. Am 25. April 1865 empfing er vom Fürsten Hohenlohe die Tonsur. Die Werke, die Liszt kurz danach schrieb, lehnen sich zwar harmonisch noch an die Werke seiner Weimarer Zeit an, sind jedoch von einer neuen Einfachheit und Zurückhaltung geprägt. In den Werken seiner letzten Lebensjahre gibt es schließlich einige deutliche Neuerungen in Liszts Stil. Sein Spätwerk ist meist schlicht und ernst gehalten, es gibt lange Passagen mit Unisonoverläufen und eine deutliche Zunahme an übermäßigen Dreiklängen. Kadenzen scheint Liszt in dieser Zeit bewusst zu vermeiden. Man findet diese Neuerungen zum Beispiel in seiner letzten symphonischen Dichtung Von der Wiege bis zum Grabe (1881-1882) sowie in den Klavierwerken, die in der Zeit nach 1880 entstanden sind.2 Diese Klavierwerke bilden auch den Fokus der vorliegenden Arbeit. Liszts Spätwerk fand nach seinem Tod am 31. Juli 1886 zunächst kaum Beachtung und war bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts weitgehend in Vergessenheit geraten. Liszts Tochter Cosima schreibt im Zusammenhang mit diesen Werken in ihrem Tagebuch, nach einer abendlichen Konversation mit ihrem Mann Richard Wagner, dass von "Mißklängen" und "keimende[m] Wahnsinn"3 die Rede war. Manche Schüler Liszts haben das Spätwerk als Senilitätserscheinung abgetan.4 Der Dirigent und Musikschriftsteller Peter Raabe führt "diese schwachen Alterswerke"5 auf das Nachlassen der "schöpferischen Kräfte"6 Liszts zurück. Erst die ungarische Musikwissenschaft hat sich dieser Werke wieder angenommen und versuchte, zum Teil sicher aus nationalem Interesse, Liszt als einen zukunftsweisenden Komponisten darzustellen, der mit übermäßigen Dreiklängen, dem tonikalosen Einsatz der Ganztonskala und überraschenden atonalen Wendungen den Weg für Bartók und das 20. Jahrhundert geebnet hat. Andere musikwissenschaftliche Forschungen sehen 2 3 4 5 6 Zusammengefasst aus: Searle, Liszt's Final Period (Anm. 1), S. 67ff. - Raabe, Liszts Leben (Anm. 1), S. 297-302. Cosima Wagner, Die Tagebücher (Bd. 2), Kösel/Kempten 1977, S. 1059. (29. November 1882) Vgl. Gerhard J. Winkler, Liszt contra Wagner. Wagnerkritik in den späten Klavierstücken Franz Liszts, in: Liszt-Studien 3, München/Salzburg 1986, S. 189-210, hier S. 199. Raabe, Liszts Leben (Anm. 1), S. 222. Ebd., S. 223f. 4 Einleitung Liszt dagegen in einer Evolutionslinie mit Schönberg und der Zweiten Wiener Schule7 oder bringen Liszts Harfenakkorde aus Nuages gris mit dem mystischen Akkord Skrjabins in Verbindung.8 Häufig wurden bei den Versuchen, Liszts Spätwerk mit der neuen Musik in Verbindung zu bringen, einzelne unkonventionelle Teilaspekte der Musik Liszts aus dem Zusammenhang gerissen und andere, traditionellere Elemente in Liszts Schaffen ignoriert. Dieter Torkewitz wies 1986 auf die Probleme hin, die eine losgelöste Analyse einzelner Teilaspekte aus Liszts Spätwerk mit sich bringen kann: "Das Herauslösen von als neu empfundenen Details und das Hintanstellen, Übergehen oder Kritisieren von vermeintlich Schwachem [...] machte [...] Liszt im Grunde 'vogelfrei' für die unterschiedlichsten Strömungen im 20. Jahrhundert."9 Als einen der Auslöser für diese Problematik nennt Dieter Torkewitz die von Béla Bartók und Arnold Schönberg verfassten Gedenkartikel anlässlich des 100. Geburtstages von Franz Liszt. Ein Hauptkritikpunkt in Schönbergs Artikel waren "Liszts musikalische Formen, die 'so kahl, kalt und unwohnlich eingerichtet' seien, weil sie der Verstand aufgezwungen hätte."10 Und Schönberg schreibt weiter: "Liszts Form aber ist Erweiterung, Kombinierung, Verschweißung, eine mathematisch-mechanische Weiterentwicklung der alten Formbestandteile. Die Mathematik und die Mechanik können keine Lebewesen erzeugen. Von einem richtigen Gefühl angeregt, hat ein richtig funktionierender Verstand diese Form angefertigt. Ein richtig funktionierender Verstand jedoch tut fast immer das Gegenteil von dem, was einem richtigen Gefühl angemessen ist. Ein richtiges Gefühl darf sich nicht abhalten lassen, immer wieder von Neuem ins dunkle Reich des Unbewußten hinabzusteigen, um Inhalt und Form als Einheit heraufzubringen."11 7 8 9 10 11 Vgl. Norbert Nagler, Die verspätete Zukunftsmusik, in: Musik Konzepte 12, München 1980, S. 4-41, hier S. 4f. Vgl. Zsolt Gárdonyi, Paralipomena zum Thema Liszt und Skrjabin, in: Virtuosität und Avandgarde, Untersuchungen zum Klavierwerk Franz Liszts, Mainz 1988, S. 9-31, hier S. 9. Dieter Torkewitz, Die neue Musik und das Neue bei Franz Liszt, eine wechselvolle Beziehung, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Tl. 28,1), 1986, S. 117-124, hier S. 118. Ebd., S. 117. Arnold Schönberg, Franz Liszts Werk und Wesen, in: Stil und Gedanke (= Gesammelte Schriften Bd. 1), in: Aufsätze zur Musik, Frankfurt/Main 1976, S. 169-173, hier S. 171. 5 Einleitung Dieter Torkewitz versuchte bereits 1978 eine alternative Interpretation für Liszts Musik anzubieten, die das vermeintlich Unvereinbare – das Neue und die Tradition – aus einem übergeordneten Blickwinkel betrachtet. Er sieht in der für Liszts Schaffen typischen Wechselbeziehung zwischen Neuem und Altem einen "Kompromiß als übergeordnete Kategorie."12 Dieses Kompromissdenken lässt sich laut Dieter Torkewitz schon in Liszts Frühwerk nachweisen. Liszts erste Veröffentlichungen (1834-1835) nach einer längeren Studienzeit zwischen 1829-1832 stießen bei Publikum und Kritik auf Unverständnis. Zu revolutionär waren die angewandten Kompositionstechniken. Beispielsweise überrascht der erste Teil der Erstfassung des Klavierstücks Harmonies poétiques et religieuses (1835) durch eine ungewöhnliche Metrik in der sich 8/4-, 10/4- und 9/4-Takte abwechseln. Liszt distanziert sich nach dieser schlechten Rezeption unvermutet von diesen Werken und schrieb in einem offenen Brief im Januar 1837: "Um diese Zeit [um 1834] schrieb ich mehrere Stücke, die nothwendigerweise den Charakter des Fiebers, das mich verzehrte, an sich trugen. Das Publikum fand sie bizarr, unverständlich. [...] Ich war soweit entfernt gegen diese [...] Verurtheilung zu appelliren, daß es meine erste Sorge gewesen – sie ins Feuer zu werfen."13 In der 1853 publizierten endgültige Fassung der nun zum Klavierzyklus erweiterten Harmonies poétiques et religieuses wird das gleichnamige Einzelstück aus dem Jahre 1835 in einer überarbeiteten Variante unter dem Titel Pensée des morts aufgenommen. In dieser Neufassung hat Liszt die Musik an den Geschmack des Publikums weitestgehend angepasst. So wurden die wechselnden Taktarten im ersten Teil durch einen durchgehenden 5/4-Takt ersetzt. Dieter Torkewitz kommt zu der Schlussfolgerung, dass das "Kompromißdenken bei Liszt, das zum erstenmal deutlich aus dem Verhältnis der Werke vor und nach 1834 ersichtlich wurde, [sich] somit insgesamt als übergeordnete Kategorie [erweist]. Sie trifft selbst dort noch zu, wo man sie – wie im Spätwerk – am wenigsten vermutet."14 12 13 14 Dieter Torkewitz, Harmonisches Denken im Frühwerk Liszts, München/Salzburg 1978, S. 98. Franz Liszt, Reisebriefe eines Baccalaureus der Tonkunst (1835-1840), in: Gesammelte Schriften (Bd. 2), Hildesheim/New York 1978, S. 124- 133, S. 129f. Torkewitz, Harmonisches Denken (Anm. 12), S. 102. 6 Einleitung Traditionelle Modelle der Geschichtswissenschaften verfolgten das Anliegen, möglichst eindeutige evolutionistische Entwicklungsmodelle zu postulieren, um so jedes Stück Geschichte an dem ihm gebotenen Platz einordnen zu können. Die Musikwissenschaft machte hier keine Ausnahme und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass viele Musikhistoriker das Spätwerk Liszts bereitwillig als Lückenbüßer beziehungsweise "missing link"15 zwischen Tonalität, Modalität, Atonalität und Reihentechnik aufnahmen (gab es da überhaupt eine Lücke zu schließen?16). Besonders konstruiert erscheinen in diesem Zusammenhang die Untersuchungen Allen Fortes, der mittels des Pitch-Class-Systems versuchte, die Klangstrukturen in Liszts Spätwerk mit den Klängen Weberns und Bergs in Beziehung zu bringen. Forte unterscheidet dabei strikt zwischen Liszts "experimental idiom" und der "traditional music of triadic tonality."17 Er erläutert: "Under the term 'experimental' I mean to include not only the radical late works, but also segments of earlier works, extending back into the pre-Weimar period, before 1848."18 Forte kommt durch seine Analysen unter anderem zur Erkenntnis, dass die fraglichen Werke einer strengen Struktur folgen und in ihnen übermäßige (trichord 3-12) und verminderte Dreiklänge (trichord 3-10) ein auffällig häufiges musikalisches Element darstellen.19 Diese Tatsache wurde wohl nicht einmal von den schlimmsten Liszt-Kritikern jemals angezweifelt. Es stellt sich natürlich die Frage ob ein abstraktes Analysemodell wie das Pitch-Class-System tatsächlich geeignet ist, eine Musik zu beschreiben, die, obwohl sie atonale Züge trägt, doch weitestgehend von tonalen Elementen durchsetzt ist. 15 16 17 18 19 Winkler, Liszt contra Wagner (Anm. 4), S. 200. Eine berechtigte Frage meines Betreuers Christian Utz. Allen Forte, Liszt's Experimental Idiom and Music of the Early Twentieth Century, in: 19th-Century Music (Bd. 10,3), 1987, S. 209-228, hier: S. 210. Ebd., S. 210. Ebd., S. 209-228. 7 Einleitung Ich zitiere an dieser Stelle nochmals Dieter Torkewitz: "Die Qualität des Neuen beim alten Liszt besteht [...] in einer veränderten Haltung zur Idee des musikalischen Kunstwerks, wo Heterogenität an die Seite von Logizität tritt, und wo Zusammenhang durchgängig dennoch nicht fehlen muß, nur daß er sich anders als im Motivischen oder Thematischen herstellt: intervallisch und strukturell nämlich, also subkutan und somit die Heterogenität ermöglichend und einbindend zugleich. Eine Kunst auch, die sich transparent und – indem sie das Neue geduldig repetiert – beinahe didaktisch gibt."20 In der folgenden Studie steht nicht die Frage im Vordergrund, ob es möglich ist, eine direkte Linie zwischen Liszts Spätwerk und Werken anderer Komponisten zu ziehen. Für mich ist diese Frage nebensächlich. Meiner Meinung nach hat die Liszt-Forschung einen wichtigen Schritt getan, indem sie das Interesse an Liszts Spätwerk neu erweckte und klar darlegte, dass Liszt in einer Zeit in der die Tonalität allmählich zerfiel, zu ähnlichen Konsequenzen gelangte wie viele seiner Zeitgenossen und Komponisten nach ihm. Mich interessiert an den Kompositionstechniken in Liszts Spätwerk, in welcher Beziehung sie zu einander und zu den Techniken früherer Werke stehen, um dadurch vielleicht einen besseren Einblick in die komplexen Vorgänge zu erhalten, die zu den kompositorischen Konsequenzen der späten Werke führten. 20 Torkewitz, Die neue Musik (Anm. 9), S. 124. 8 Kapitel 1 - Kompositionstechniken KAPITEL I KOMPOSITIONSTECHNISCHE BESONDERHEITEN IM SPÄTEN KLAVIERWERK LISZTS Bevor ich damit beginne die Kompositionstechniken früherer Werke Liszts mit denen der späteren zu vergleichen möchte ich mich zunächst den Techniken im Spätwerk selbst widmen, sie analysieren und einige Beispiele dazu geben. Ich konzentriere mich bei den Analysen vorwiegend auf übermäßige und verminderte Dreiklänge, verschiedene Skalen wie die Ganztonskala und die Halbton-Ganzton-Skala, Atonalität und Verschleiern der Tonalität, Bitonalität, reale Sequenzen sowie chromatische Rückungen beziehungsweise Harmonieverläufe in Sekundschritten. Außerdem gehe ich auf einige strukturelle Zusammenhänge zwischen diesen Kompositionstechniken ein. Die späten Klavierwerke, die ich für eine Analyse dieser Techniken herangezogen habe, sind Nuages gris (1881), La lugubre gondola (1882), R.W. - Venezia (1883), Am Grabe Richard Wagners (1883), Unstern! sinistre, disastro (nach 1881) und Bagatelle sans tonalité / Bagatelle ohne Tonart (1885). Der folgenden Tabelle kann man entnehmen in welchen Stücken einige der genannten Kompositionstechniken eine relevante Stellung einnehmen. Kompositionstechnik Stücke verminderter Septakkord La lugubre gondola II, Bagatelle ohne Tonart übermäßiger Dreiklang Unstern!, Nuages gris, La lugubre gondola I und II, R. W. - Venezia Ganztonskala Unstern!, La lugubre gondola I, Bagatelle ohne Tonart, Grand galop chromatique Halbton-Ganzton-Skala Bagatelle ohne Tonart Harmonieverläufe in Sekundschritten La lugubre gondola I und II, R. W. - Venezia, Nuages gris, Unstern! Bitonalität La lugubre gondola I und II, Unstern! 9 1.1 Der verminderte Septakkord und der übermäßige Dreiklang 1.1 Der verminderte Septakkord und der übermäßige Dreiklang Diesen beiden Akkorden ist gemeinsam, dass sie aus äquidistanten Intervallen bestehen und keinen eindeutigen Grundton besitzen. Setzt man mehrere dieser Klänge hintereinander, ohne sie in der gewohnten Weise aufzulösen, wird jegliche Tonalität aufgehoben oder zumindest entkräftet. Diesen Effekt nutzt Liszt in seinen Spätwerken sehr häufig. Auch teilen beide Akkorde die Oktave in gleich große Intervalle, was später bei der Behandlung der realen Sequenzen und der harmonischen Entwicklung mancher Stücke von Bedeutung sein wird. Der verminderte Septakkord ist seit dem Barock eines der wichtigsten Werkzeuge zur Modulation. Es gibt nur drei mögliche verminderte Septakkorde mit unterschiedlichem Tonvorrat. Als Stellvertreter für eine Dominante eingesetzt, kann man diesen Akkord, wegen seiner symmetrischen Struktur, in vier verschiedene Toniken auflösen. Meist wurde der verminderte Septakkord in Dominantfunktion verwendet, um in eine neue Tonart zu modulieren, seltener war sein Gebrauch als Subdominantklang.21 Auf die subdominantische Funktion des verminderten Septakkords, wenn der Subdominant-Grundton im Bass liegt, wies auch Wilhelm Maler hin22 (Notenbeispiel 123). Auf die Mehrdeutigkeit beziehungsweise "Doppelfunktion"24 von Akkorden, die mit anderen Akkorden gemeinsame Töne teilen, wird im Verlauf dieser Arbeit noch öfters eingegangen werden. Es handelt sich dabei um eines der kompositorischen Elemente, die man sowohl in Liszts früheren Werken, als auch im Spätwerk findet. Notenbeispiel 1: Verminderter Septakkord als Stellvertreter der Subdominante 21 22 23 24 Vgl. Diether de la Motte, Harmonielehre, München 1995, S. 92-99. Vgl. Wilhelm Maler, Beitrag zur durmolltonalen Harmonielehre. Lehrbuch 1, München 1992, S. 30. de la Motte, Harmonielehre, (Anm. 21), S. 96. Ebd., S. 97. 10 1.1 Der verminderte Septakkord und der übermäßige Dreiklang Der übermäßige Dreiklang ist auch bereits seit dem Barock bekannt, auch wenn er dort meist als Vorhalt oder in Durchgängen vorkam. Als eigenständiger Akkord wird er erst in der Übergangszeit zwischen Klassik und Romantik gebräuchlich und dient dort meist als Dominantklang. Es gibt vier mögliche übermäßige Dreiklänge, die einen unterschiedlichen Tonvorrat besitzen und, wie beim verminderten Septakkord, ermöglicht seine symmetrische Struktur, ihn in mehrere Toniken aufzulösen. In diesem Fall gibt es drei mögliche Auflösungsakkorde. Liszt macht von beiden Akkorden bereits in seinen frühen Werken auffallend häufig Gebrauch, wie wir noch am Beispiel von Funérailles sehen werden. In seinen späten Klavierwerken verwendet Liszt diese Akkorde (im Speziellen den übermäßigen Dreiklang) jedoch nicht mehr primär als Werkzeug zur Modulation, sondern sie werden zu einem formbildenden Element das zugleich die instabile Tonalität des Stückes mitbestimmt. In La lugubre gondola II steht gleich zu Beginn des Stückes eine teilweise Zerlegung eines verminderten Septakkordes (Notenbeispiel 2). Notenbeispiel 2: La lugubre gondola II, Takte 1-9 Das Prinzip der folgenden Sequenzen (Takte 10-26) dieser ersten Phrase ist von der Struktur des verminderten Septakkordes abgeleitet. Jede Sequenz erklingt um einen Halbton tiefer, bis die drei möglichen verminderten Septakkorde ausgeschöpft sind. Die erste Sequenz des Vordersatzes beginnt auf F (Notenbeispiel 3). Notenbeispiel 3: La lugubre gondola II, Takte 10-13 11 1.1 Der verminderte Septakkord und der übermäßige Dreiklang Danach nutzt Liszt jedoch die Vieldeutigkeit des verminderten Septakkords und beginnt den Nachsatz nicht wie erwartet mit der Terz sondern mit der verminderten Quint des Akkordes (Notenbeispiel 4). Notenbeispiel 4: La lugubre gondola II, Takte 14-18 Zuletzt wird das Thema noch in der letztmöglichen Variante sequenziert. Der Vordersatz beginnt nun auf E, während der Nachsatz mit der Sept des verminderten Septakkordes Des einsetzt. Damit hat Liszt einerseits den Vordersatz mit den drei möglichen verminderten Septakkorden harmonisiert und andererseits den Nachsatz auf allen Intervallen des verminderten Septakkordes, mit Ausnahme der Prim, einsetzen lassen. Der verminderte Septakkord wurde hier sowohl für das Verschleiern der Tonalität verwendet als auch als formbildendes Element für diesen Abschnitt genutzt. Die Ableitung der musikalischen Form aus einer abstrakten Struktur, wie der Intervallfolge eines Akkordes, ist dabei besonders bemerkenswert. Liszt verfolgt hier einen neuen Ansatz formalen Denkens, der auch in der Musik des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle einnimmt – das der Musik zugrunde liegende harmonische Material wird selbst zu einem Bedeutungsträger des formalen Prozesses. Erste Anzeichen für diese formale Denkweise finden sich schon in Liszts frühesten Werken. In seinem 1827 komponierten Scherzo kommt zum Beispiel dem verminderten Septakkord strukturbildende Bedeutung zu.25 In Apparations Nr. 1 ist die Form dagegen eng mit der Gestalt des übermäßigen Dreiklangs verwoben.26 Siegfried Mauser schreibt über die "Simplizität der Formbildung" in Liszts Spätwerk: "Sie vermeidet generell Mehrteiligkeit im Sinn etablierter Modelle und gibt sich ganz der ungebundenen Klangformulierung des gewählten Materials hin."27 25 26 27 Torkewitz, Harmonisches Denken (Anm. 12), S. 15. Ebd., S. 76. Siegfried Mauser, Demontage und Verklärung: Zur Form und Dramaturgie in den späten Klavierstücken Franz Liszts, in: Virtuosität und Avandgarde, Untersuchungen zum Klavierwerk Franz Liszts, Mainz 1988, S.60-70, hier S. 61. 12 1.1 Der verminderte Septakkord und der übermäßige Dreiklang Im Zusammenhang mit dem verminderten Septakkord möchte ich hier auch noch auf das Tritonusintervall eingehen, das durch seine Eigenschaft die Oktave in zwei gleiche Teile zu teilen ebenfalls oft für das Verschleiern der Tonart verwendet wird. Liszt macht von diesem Intervall gerade in seinem Spätwerk sehr gerne Gebrauch. Exemplarisch seien hier der Beginn von Unstern! (Notenbeispiel 5) und Bagatelle ohne Tonart (Notenbeispiel 6) genannt. Notenbeispiel 5: Unstern!, Takte 1-4 Notenbeispiel 6: Bagatelle ohne Tonart, Takte 1-8 Erwähnenswert ist auch noch, dass der Tritonus leitereigen in der Zigeunerskala, der Ganztonskala und der Halbton-Ganzton-Skala vorkommt. Auf diese Zusammenhänge wird noch im Kapitel über Skalen genauer eingegangen werden (vgl. Kapitel 1.2). Der übermäßige Dreiklang wird von Liszt in seinen letzten Jahren noch häufiger verwendet als der verminderte Septakkord. Ernest Newman meinte, dass Liszts enge Freundschaft mit dem Komponisten und Musiktheoretiker Carl Friedrich Weitzmann dazu beigetragen habe, dass sich Liszt zunehmends den übermäßigen Akkorden widmete.28 Liszts ausgeprägtes Interesse für musiktheoretische Abhandlungen ist bekannt. Es wäre also durchaus denkbar, dass er sich mit dem 1853 erschienenen musiktheoretischen Lehrwerk Der übermäßige Dreiklang seines Freundes Carl 28 Vgl. Bernard C. Lemoine, Tonal organisation in selected late piano works of Franz Liszt, in: Liszt Studien 2, München/Salzburg 1981, S. 123-131, hier S. 123. 13 1.1 Der verminderte Septakkord und der übermäßige Dreiklang Weitzmann auseinander setzte.29 Humphrey Searle merkt allerdings an, dass Liszt den übermäßigen Dreiklang schon 1840 und die Ganztonskala ansatzweise 1838 in Grand gallop chromatique einsetzte.30 Liszts Freundschaft zu Weitzmann macht jedoch zumindest hellhörig. Schließlich hat sich Weitzmann ausgiebig mit den Beziehungen zwischen dem verminderten Septakkord und dem übermäßigen Dreiklang auseinander gesetzt. Notenbeispiel 731 zeigt eine von Weitzmann erstellte Matrix, die alle 12 Töne als Kreuzprodukt von verminderten Septakkorden und übermäßigen Dreiklängen darstellt. Auch die äquidistante Teilung der Oktave (vgl. Kapitel 1.3) wurde von Weitzmann in diesem Zusammenhang bereits systematisiert (Notenbeispiel 832). Aus einem 1878 an Weitzmann gerichteten Brief geht unmissverständlich hervor, dass Liszt Weitzmanns Schriften sehr schätzte: "Hochverehrter Freund. Seit langen Jahren gebe ich mir die Genugtuung meine aufrichtige Hochschätzung ihrer vortrefflichen Werke auszusprechen. [...] Ihre theoretischen Schriften, Verehrter Freund, sind von wirklich praktischen Nutzen: desshalb empfehle ich überall meinen Befreundeten Musikern Sie zu studieren und zu verbreiten."33 Notenbeispiel 7: Weitzmanns Zwölftonmatrix 29 30 31 32 33 Vgl. Laszlo Somfai, Die musikalischen Gestaltwandlungen der Faust-Symphonie von Liszt, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Tl. 2,1), 1962, S. 87-137, hier S. 98. Vgl. Lemoine, Tonal organisation (Anm. 28), S. 123. Carl Friedrich Weitzmann. Der übermäßige Dreiklang, Berlin 1853, Bsp. aus: Richard Cohn, Weitzmann's Regions, My Cycles, and Douthett's Dancing Cubes, in: Music Theory Spectrum (Bd. 22,1), 2000, S. 89-103, hier S. 91. Ebd. Franz Liszt, zitiert nach: Gyorgy Gábry, Neuere Liszt-Dokumente, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Tl. 10, 3), 1968, S. 339-352, hier S. 348. 14 1.1 Der verminderte Septakkord und der übermäßige Dreiklang Notenbeispiel 8: Weitzmanns äquidistante Oktavteilung Liszt verwendet im Spätwerk den übermäßigen Dreiklang nicht mehr nur in seiner ursprünglichen Funktion als Dominantklang, sondern auch als tonikalen Klang, den er oft auch mit dem Molldreiklang auf der tiefalterierten II. Stufe ("Mollneapolitaner") zu einem Klanggemisch vereint. Über den bitonalen Charakter dieses Akkordes gehe ich ausführlich im nächsten Kapitel ein. Die Auflösungsmöglichkeiten des übermäßigen Dreiklangs Wie dargestellt kann man den übermäßigen Dreiklang, wenn er als Dominante eingesetzt wird, in drei mögliche Toniken auflösen. Wenn man dabei die Umkehrung des übermäßigen Dreiklangs beibehält, entstehen durch die Auflösung drei unterschiedliche Fundamentschritte (Notenbeispiel 9). Notenbeispiel 9: Auflösungsmöglichkeiten des überm. Dreiklangs in einen Moll-Dreiklang V I III I #VII I Der erste Fundamentschritt im Beispiel entspricht der Verbindung Dominante - Tonika. Diese Form der Auflösung war bereits in der Klassik üblich. Auch in den Choralsätzen J. S. Bachs findet man den übermäßigen Dreiklang in der Dominantfunktion. Er wird 15 1.1 Der verminderte Septakkord und der übermäßige Dreiklang dort jedoch noch nicht als eigenständigen Akkord verwendet, sondern als Vorhalt (Notenbeispiel 10).34 Notenbeispiel 10: J. S. Bach, Choralstelle mit übermäßigem Dreiklang Ein typisches Beispiel, in dem Liszt diese Auflösungsvariante anwendet ist die Faust Symphonie (1854). Das Stück beginnt mit einer 22-taktigen Umspielung eines übermäßigen Dreiklangs auf C. Dieser wird erst in Takt 24 nach f-Moll aufgelöst.35 Der zweite Fundamentalschritt aus Notenbeispiel 9 ist der von der III. zur I. Stufe. Der übermäßige Dreiklang kommt leitereigen auf der III. Stufe der melodischen Molltonleiter vor. In diesem Zusammenhang wird er auch in Arnold Schönbergs Harmonielehre erwähnt. Als leitereigenen Klang in Moll führt Schönberg die III. Stufe mit der erhöhten Quint zunächst als dissonanten Klang ein, der einer Auflösung und einer Vorbereitung bedarf. Als Auflösungsmöglichkeiten gibt Schönberg die I. und die VI. Stufe an, als mögliche vorbereitende Akkorde die V. und auch die VII. Stufe.36 Im Kapitel "An den Grenzen der Tonart" behandelt Schönberg auch die anderen Auflösungsmöglichkeiten des übermäßigen Dreiklangs.37 Im Zusammenhang mit Liszt setzt sich Zdenek Skoumal ausgiebig mit dieser Akkordfortschreitung auseinander. Dabei weist er auf den Zusammenhang zwischen der III. Stufe in Dur und der III. Stufe in Moll hin. In Dur kann die III. Stufe sowohl als Stellvertreter für die Tonika (Tonikagegenklang) als auch als Stellvertreter für die Dominante (Dominantparallele) verwendet werden. Dies liegt daran, dass beide Funktionen zwei gemeinsame Töne mit ihrem "Vertreterklang", oder nach Schönberg 34 35 36 37 de la Motte, Harmonielehre, (Anm. 21), S. 89. Vgl. Zdenek Skoumal, Liszt's Androgynous Harmony, in: Music Analysis, Bd. 13,1, 1994, S. 51-72, hier S. 60. Vgl. Arnold Schönberg, Harmonielehre, 2001, S. 114, 123. Vgl. Ebd., S. 291f. 16 1.1 Der verminderte Septakkord und der übermäßige Dreiklang ein "harmonisches Band"38, besitzen. Außerdem enthält die III. Stufe den für die Dominantfunktion charakteristischen Leitton.39 Zdenek Skoumal weist darauf hin, dass Liszt in manchen seiner Stücke die III. Stufe so einsetzt, dass man kaum zwischen ihrer Dominant- und Tonikafunktion unterscheiden kann. Er bezeichnet diese Mehrdeutigkeit eines Klanges als "androgynous harmony."40 So gesehen ist die III. Stufe in Dur ein Zwitter zwischen Dominante und Tonika. In ganz ähnlicher Weise bezeichnet übrigens Diether de la Motte den verminderten Septakkord bei J. S. Bach als "Doppelfunktion" der beiden Funktionen Dominante und Subdominante.41 Im natürlichen Moll verhält es sich etwas anders, da die III. Stufe den Leitton nur dann enthält, wenn man sie zu einem übermäßigen Dreiklang alteriert. Danach kann die III. Stufe aber wie in Dur als Mischklang zwischen Dominante und Tonika aufgefasst werden. Wieder kann ein Beispiel aus Liszts Faust Symphonie herangezogen werden, in dem diese Akkordverbindung zum Einsatz kommt. In den Takten 359-381 wiederholt sich die Einleitung des Stücks, nur wird der übermäßige Dreiklang auf C dieses Mal in Takt 382 nach a-Moll aufgelöst.42 Der letzte mögliche Fundamentalschritt bei der Auflösung eines übermäßigen Dreiklangs (vgl. Notenbeispiel 9) ist der von der erhöhten VII. zur I. Stufe, also ein Halbtonschritt. Wenn man diese Akkordverbindung nicht von der I. Stufe aus denkt, sondern von der VII. Stufe, handelt es sich dabei um eine Verbindung von der I. Stufe mit erhöhter Quint zur tiefalterierten II. Stufe (Notenbeispiel 11). Notenbeispiel 11: Beziehung zwischen I. Stufe und tiefalterierter II. Stufe bVII 38 39 40 41 42 I I bII Ebd., S. 42. Vgl. Skoumal, Liszt's Androgynous Harmony (Anm. 35), S. 52f. Vgl. Ebd. Vgl. de la Motte, Harmonielehre, (Anm. 21), S. 95ff. Vgl. Skoumal, Liszt's Androgynous Harmony (Anm. 35), S. 60f. 17 1.1 Der verminderte Septakkord und der übermäßige Dreiklang Der Dreiklang auf der tiefalterierten II. Stufe war zu Liszts Zeit bereits bestens bekannt. In der dur-moll-tonalen Musik begegnet uns dieser Akkord zuerst als neapolitanischer Sextakkord. Dieser Akkord, mit seinem eigentümlichen Klang, erfreut sich von der Zeit des Barock bis in die Hochromantik hinein sehr großer Beliebtheit und macht auf diesem Weg einige erstaunliche Entwicklungen durch. Ursprünglich wurde er üblicherweise in seiner Funktion als Mollsubdominante mit tiefalterierter Sext eingesetzt. Spätesten ab Beethoven hat sich der Akkord jedoch zunehmends verselbstständigt und wird oft in Grundstellung und auch mit vorangestellter Zwischendominante verwendet. Ab dem frühen 18. Jahrhundert beginnen sich Komponisten zunehmend auch für die Mollvariante der tiefalterierten II. Stufe zu interessieren. So steht zum Beispiel der 1. Satz von Beethovens Eroica in Es-Dur, die zentrale Tonart der Durchführung ist jedoch e-Moll. Auch Schubert und Wagner machen gerne vom Molldreiklang auf der tiefalterierten II. Stufe Gebrauch. Natürlich hat dieser Akkord, so wie er in der Romantik meist verwendet wird, funktionsharmonisch mit dem ursprünglichen Neapolitaner nur noch den Namen der Stufe gemeinsam, ich behalte die Schreibweise "n" und die Bezeichnung "Mollneapolitaner" bei meinen Analysen aber trotzdem bei. Es besteht ein erstaunlicher Zusammenhang zwischen Mollneapolitaner, Tonika, dem übermäßigen Dreiklang und der im nächsten Kapitel behandelten Zigeunerskala. Zunächst besitzen Mollneapolitaner und Tonika eine gemeinsame Terz (Notenbeispiel 12). Wenn man die Tonika zu einem übermäßigen Dreiklang erweitert, haben diese Akkorde sogar zwei gemeinsame Töne (Notenbeispiel 13). Es liegt also nahe, den übermäßigen Dreiklang auf der I. Stufe wieder als eine Doppelfunktion zu betrachten. Diesesmal als eine Mischung aus Tonika und Mollneapolitaner. Notenbeispiel 12: E-Dur und f-Moll E-Dur f-Moll Notenbeispiel 13: E-Überm. und f-Moll E-Überm. f-Moll 18 1.2 Skalen in Liszts Kompositionen Ein weiterer Zusammenhang besteht darin, dass der übermäßige Dreiklang auf der I. Stufe zugleich auch als Zwischendominante zum Mollneapolitaner gedeutet werden kann. Damit ergibt sich gewissermaßen sogar eine Tripelfunktion. Schönberg erwähnt in seiner Harmonielehre auch noch den Zusammenhang zwischen Tonika und I. Stufe mit erhöhter Quint. Er skizziert die Möglichkeit der Auflösung eines übermäßigen Dreiklangs, indem man die Quint nach unten führt und nicht, ihrem Leittoncharakter entsprechend, nach oben (A60 _ 5 ). Allerdings bezeichnet er diese Auflösung als "harmonisch belanglos" und erwähnt sie nur am Rande.43 Wie wir in den folgenden Kapiteln sehen werden, wendet Liszt auch diese Doppelfunktion des übermäßigen Dreiklangs häufig in seinen Werken an. So zum Beispiel in La lugubre gondola I und La lugubre gondola II. In Unstern! dehnt er diese Beziehung sogar noch weiter aus, indem er die erste und die tiefalterierte II. Stufe in Moll zu einem Klanggemisch vereint (vgl. Kapitel 1.2.1 u. 1.2.2). 1.2 Skalen in Liszts Kompositionen Die kompositionstechnische Bedeutung von Skalen bei Liszt lässt sich auf seine Beschäftigung mit antiken griechischen Tonsystemen zurückführen. In einer Skizzenbucheintragung um 1855/56 zeichnete Liszt das ihm bekannte System der antiken griechischen Musik auf. Er beschrieb dort die verschiedenen Tetrachorde und antiken Modi sowie damit verbundene Kompositionstechniken wie die Erweiterung eines Tetrachords durch Hinzufügen eines Tones.44 Das Erweitern von Tonsystemen, Harmonien und auch Themen und Motiven durch das Hinzufügen beziehungsweise Abändern eines Tones ist eine Kompositionstechnik, von der Liszt in allen Schaffensperioden sehr gerne Gebrauch machte (vgl. Kapitel 1.5). 43 44 Vgl. Schönberg, Harmonielehre (Anm. 36), S. 295. Vgl. Istvan Szelényi, Der unbekannte Liszt, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Tl. 5,1), 1963, S. 311-331, hier S. 313. 19 1.2.1 Die Zigeunerskala 1.2.1 Die Zigeunerskala Durch Liszts Beschäftigung mit der Musik der griechischen Antike und der ungarischen Folklore war es für ihn naheliegend, sich mit der sogenannten "Zigeunerskala" (auch ungarisches Moll oder Ungar-Skala genannt) auseinander zu setzen. Laut Istvan Szelényi kann man die Zigeunerskala aus dem altgriechischen "chromatischen Tetrachord" (eine kleine Terz gefolgt von zwei Halbtonschritten) ableiten. Wenn man die Zigeunerskala in Viertongruppen unterteilt, entspricht jede dieser Gruppen einem der Modi des chromatischen Tetrachords (vgl. Notenbeispiel 14). Liszt selbst nimmt in seinem Buch über "Zigeunermusik" (1883) an, dass die Musik der Griechen und Zigeuner einen gemeinsamen Ursprung haben muss.45 Notenbeispiel 14: Zigeunerskala auf D und Modi des chrom. Tetrachords Ein typisches Beispiel für die Verwendung dieser Skala sind die ersten Takte in Liszts Sonate in h-Moll. Weitere Werke, die auf dieser Skala aufbauen, sind die Sätze Széchényis und Deák aus dem Zyklus Historische ungarische Bildnisse (1885).46 Wenn man die Struktur der Zigeunerskala betrachtet, fällt auf, dass sie sich außergewöhnlich gut dafür eignet, mit verminderten und übermäßigen Dreiklängen kombiniert zu werden. Einerseits bildet sich ein leitereigener, übermäßiger Dreiklang auf der III. Stufe, andererseits enthält die Skala den Tritonus sowohl auf der I. als auch auf der II. Stufe. Erweitert man die Zigeunerskala um die Töne der natürlichen Molltonleiter, lässt sich außerdem noch der Tritonus auf der IV. Stufe (Notenbeispiel 15) leitereigen bilden. Notenbeispiel 15: Zigeunerskala auf F um die Töne des natürlichen Molls erweitert 45 46 Vgl. Ebd., S. 313f. Vgl. Sándor Kovács, Formprinzipien und ungarische Stileigentümlichkeiten in den Spätwerken von Liszt, in: Liszt Studien 2, München/Salzburg 1981, S. 114-122, hier S. 118-121. 20 1.2.1 Die Zigeunerskala Dieser erweiterten Zigeunerskala begegnet man im Stück La lugubre gondola I als Übergangselement zwischen dem ersten und zweiten A-Teil (Notenbeispiel 16). Notenbeispiel 16: "La lugubre gondola I", Takte 27-34 Wie bereits angedeutet steht die Zigeunerskala in einer engen Beziehung zum übermäßigen Dreiklang und zum Mollneapolitaner. Wenn man von E-Dur ausgeht, sind die Tonika, der übermäßige Dreiklang auf der I. Stufe und der Mollneapolitaner leitereigen in der um die Töne der natürlichen Molltonleiter erweiterten Variante der Zigeunerskala auf F (Notenbeispiel 17). Notenbeispiel 17: Leitereigene Dreiklänge (Notiert in f-Moll, Funktionsbezeichnung in E-Dur) A A5ß n Ich habe bereits mit Notenbeispiel 16 darauf hingewiesen, dass die erweiterte Zigeunerskala in La lugubre gondola I offenbar von Bedeutung ist. Formal gesehen gliedert sich dieses Stück in drei Abschnitte (im Folgenden: A1 | A2 | A3). Teil A2 (Takte 39-77) ist eine Wiederholung von A1 (Takte 1-38), um eine große Sekunde tiefer. A3 wiederholt den ersten Abschnitt (Takte 1-18) von A1 nochmals, enthält jedoch einige eingeschobene sequenzierende Takte (Takte 77-93) und eine Coda (Takte 111-120). Betrachten wir nun den ersten Teil dieses Werkes etwas genauer (Notenbeispiel 18). Liszt notiert diesen Teil in f-Moll, der erste Akkord ist aber ein übermäßiger Dreiklang auf E. Das erste Intervall der Melodie deutet f-Moll an, der weitere Melodieverlauf scheint aber im ersten Moment zu verwundern. Bei genauer Beobachtung erkennt man, dass es sich bei den Takten 6-10 um einen Ausschnitt aus der E-Dur-Tonleiter handelt, 21 1.2.1 Die Zigeunerskala bei den Takten 11-13 jedoch wieder um einen Ausschnitt aus der erweiterten F-Zigeunerskala. In Takt 19 scheint es so, als wolle Liszt f-Moll durch die Begleitung der linken Hand zunächst bestätigen. Der f-Moll-Akkord wird aber durch das darauf folgende des1 sofort wieder entkräftet. Notenbeispiel 18: La lugubre gondola I, Takte 1-22 Wenn man E-Dur mit der Zigeunerskala auf F vergleicht, erkennt man, dass sie sich nur durch zwei Töne von einander unterscheiden – A und Fis. Vereinigt man beide Skalen zu einer, erhält man eine Elftonskala, welcher als einziger Ton das D fehlt. Tatsächlich ist D auch der einzige Ton, der im gesamten ersten Teil (Takte 1-27) nie auftritt. Er wird erst in Takt 37 eingeführt, zwei Takte vor der transponierten Wiederholung des Teils A1, die dieses Mal in D-Dur / es-Moll steht. Interessant ist auch, dass Liszt die Wiederholung hier nicht in der Molltonart es-Moll notiert, sondern in der entsprechenden Durtonart D-Dur. 22 1.2.1 Die Zigeunerskala Das zugrunde liegende tonale System scheint also tatsächlich aus einer Symbiose der I. Stufe mit der tiefalterierten II. Stufe in Moll zu bestehen – also einer bitonalen Mischung aus E-Dur und f-Moll. Ein weiteres Indiz dafür findet sich in den Überleitungstakten 28-38 und 66-76. Wie in Notenbeispiel 16 dargestellt, handelt es sich bei der "Modulation" von E-Dur/f-Moll nach D-Dur /es-Moll um eine erweiterte F-Zigeunerskala. In den entsprechenden Takten der Wiederholung (Takte 66-76) wird diese zu einer Mischung aus E-Dur und F-Zigeunerskala abgeändert, um gleichsam wieder zurück zu "modulieren". In Takt 75 endet die "Modulation" erneut um einen Ganzton tiefer mit einem übermäßigen Dreiklang auf C, was wieder dem Ausgangsakkord entspricht, mit dem Unterschied, dass nun ein C im Bass liegt. Bemerkenswert sind auch die beiden Takte 9 und 13 (vgl. Notenbeispiel 18), in denen die Melodie auf dem Ton es1 verharrt. Der Akkord der an dieser Stelle klingt ist ein übermäßiger Septakkord mit großer Septim, ein Akkord, der eher als in sich ruhend wahrgenommen wird und nicht das starke Auflösungsbedürfnis einer Dominante in sich trägt. Dieser Akkord nimmt vor allem im letzten Teil (Takte 101, 105, 109 u. 111) eine herausragende Rolle ein, um das "Klangzentrum"47 E-Übermäßig nochmals zu bekräftigen. Das Thema aus La lugubre gondola I (Takte 3-38) wird in La lugubre gondola II variiert (Takte 35-51). In dieser Variation tritt die Beziehung zwischen dem übermäßigen Dreiklang auf E und dem f-Moll-Dreiklang noch stärker zum Vorschein. Diesesmal wechselt Liszt alle zwei Takte zwischen diesen beiden Akkoden hin und her (vgl. Notenbeispiel 19). Notenbeispiel 19: La lugubre gondola II, Takte 35-44 47 Hermann Erpf versteht unter dem Begriff "Klangzentrum" einen Klang der durch "Intervallzusammenhang, Lage im Tonraum und Farbe" bestimmt wird. Vgl. Hermann Erpf, Studien zur Harmonie- und Klangtechnik der neueren Musik, Leipzig 1927, S. 122. 23 1.2.1 Die Zigeunerskala Als weiteres Beispiel zu diesem Thema möchte ich das 1881 entstandene Klavierstück Nuages gris diskutieren. Unter Miteinbeziehung der bisher genannten Verfahren ist dieses Werk relativ leicht zu erklären. Die Anfangstakte (Takte 1-10) entstammen einer G-Zigeunerskala. Auch das in Takt 9 klingende es-Moll ist in dieser Skala leitereigen. Liszt notiert diesen Akkord auch, der G-Zigeunerskala entsprechend, mit den Tönen fis, b und es1 (Notenbeispiel 20). Zusammengenommen sind in den Takten 1-12 sogar alle Töne der Zigeunerskala enthalten. Auch die Variation des Anfangsmotivs, das in den Takten 21-24 erklingt, ist dieser Skala entnommen (Notenbeispiel 21). Notenbeispiel 20: Nuages gris, Takte 1-12 Notenbeispiel 21: Nuages gris, Takte 21-24 Den Akkord in Takt 11 kennen wir auch bereits aus den vorangegangenen Untersuchungen. Es ist der mit dem G-Zigeunermoll in Beziehung stehende übermäßige Dreiklang auf Fis. Liszt transponiert diesen Dreiklang in den folgenden Takten (Takte 13-20) dreimal um eine kleine Sekunde nach unten, bis er wieder bei dem Ausgangsakkord Fis-Übermäßig angelangt ist. Die Form ergibt sich in diesem Abschnitt also wieder aus der Struktur eines Akkordes – dem übermäßigen Dreiklang. 24 1.2.2 Die Ganztonskala 1.2.2 Die Ganztonskala Die Ganztonskala ist ein weiteres Element, das man in Liszts Spätwerk häufig antrifft. Sie ist eine symmetrische, äquidistante Skala, die die Oktave in sechs gleiche Teile teilt und steht in einer engen Beziehung zum übermäßigen Dreiklang. Dieser ist der einzige leitereigene Dreiklang, der sich mit dieser Skala bilden lässt. Damit ist die Ganztonskala wie der übermäßige Dreiklang selbst ein geeignetes Instrument um die Dur-Moll-Tonalität zu verschleiern. Die Ganztonskala kannte man bereits vor Liszts Zeit. Zoltán Gárdonyi erwähnt unter anderem Schubert und Berlioz, bei denen sich Ausschnitte der Ganztonskala zum Teil nachweisen lassen. In diesem Zusammenhang wird auch gerne der canon circularis per tonos aus J. S. Bachs Musikalischem Opfer zitiert. Dieser Kanon schreitet harmonisch durch die Stufen der Ganztonleiter, wegen seiner immerwährenden Modulation um eine große Sekund. Liszt verwendet die Ganztonskala schon in seinem Frühwerk. Sie kommt zum Beispiel in den Schlussteilen der Klavierstücke Harmonies poétiques et religieuses (Erstfassung 1835) und Lyon (1834) vor.48 Wie gut sich die Ganztonskala mit den bisher vorgestellten Techniken Liszts verträgt, lässt sich wieder an einem Beispiel von La lugubre gondola I zeigen (Notenbeispiel 22). Wie dargestellt endet der Teil A2 mit einem übermäßigen Dreiklang auf C (Takte 75-76). Dies ist auch der Akkord, mit dem der Teil A3 (Takte 77-110) beginnt. Strukturell sind die Takte 77-100 dieses Teils recht einfach zu erklären. Das Verfahren, das Liszt hier anwendet, ist aber sehr außergewöhnlich und zukunftsweisend. 48 Vgl. Zoltán Gárdonyi, Neue Tonleiter- und Sequenztypen in Liszts Frühwerken (Zur Frage der "Lisztschen Sequenzen"), in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Tl. 11,1), 1969, S. 169-199, hier S. 171f. 25 1.2.2 Die Ganztonskala Notenbeispiel 22: La lugubre gondola I, Takte 77-100 Im Prinzip laufen in diesem Abschnitt zwei gegenläufige, von einander unabhängige, reale Sequenzen ab. Die erste Sequenz findet sich in der rechten Hand, die in großen Sekunden ansteigt, die zweite in der Begleitung, die in großen Sekunden abfällt. Insgesamt wird durch diese Sequenzen die Ganztonskala auf C umrahmt. Liszt muss die Akkorde der linken Hand nicht einmal zu übermäßigen Dreiklängen vervollständigen, um das Gefühl der Ganztonskala zu vermitteln. Durch die gegebene Sequenzstruktur in großen Sekunden reichen die kleinen Sexten der rechten Hand vollkommen aus. In Takt 100 ändert Liszt den vorherigen chromatischen Durchgang der Sequenz wieder in das ursprüngliche Thema aus A1 ab (vgl. Takt 8, Notenbeispiel 18). So dient die letzte Sequenz (Takte 95-100) zugleich als Beginn der Wiederholung der Takte 1-18. 26 1.2.2 Die Ganztonskala Wenn man die Ganztonskala auf E mit dem oben beschriebenen bitonalen System zwischen E-Dur und f-Moll vergleicht, erkennt man viele Parallelen und sieht, dass das Verwenden dieser Skala ein ganz natürlicher Schritt ist, um diese Bitonalität nochmals zu betonen. Die Ganztonskala erweitert das bisherige System, das elf Töne umfasst, um den zwölften Ton zu einer Zwölftonskala. Diese ist aber nicht als eine Reihe zu verstehen, sondern als ein Tonraum, der sich aus verschiedenen Skalen zusammensetzt und eindeutige Schwerpunkte besitzt. Diese Schwerpunkte sind die Töne E, F, As, H und C, die sich aus den Dreiklängen E-Dur und f-Moll ergeben. Dadurch erhält diese Skala auch das ihr eigene Klangzentrum49, das sich zwischen E-Dur, E-Übermäßig und f-Moll befindet. Eine genaue Gegenüberstellung dieser Skalen unter Miteinbeziehung der Halbton-Ganzton-Skala und des verminderten Septakkordes findet sich im nächsten Kapitel (vgl. Notenbeispiel 30). Ein weiteres Beispiel zur Verwendung der Ganztonskala und auch zur Beziehung zwischen übermäßigem Dreiklang auf der I. Stufe und Molldreiklang auf der tiefalterierten II. Stufe findet sich in Unstern!. Die Melodie der ersten Phrase (vgl. Notenbeispiel 5) bleibt zwar durch die beiden Tritonusintervalle sehr offen, aber dennoch kann man als tonales Zentrum F vermuten. Zum einen liegen die metrischen Schwerpunkte auf der I. und V. Stufe von F, zum anderen wird der Ton F durch die beiden Töne E und Fis chromatisch eingekreist. Tatsächlich ist der Tonvorrat dem von La lugubre gondola I nicht unähnlich. Die Takte 21-25 von Unstern! (Notenbeispiel 23) beginnen mit einem Gis in der Oberstimme, dem später in der Unterstimme ein F hinzugefügt wird. Dies scheint im ersten Moment f-Moll zu bestätigen, in den Takten 23-25 kommt es jedoch zu einer Umspielung eines übermäßigen Dreiklangs auf E. 49 Vgl. Anm. 47. 27 1.2.2 Die Ganztonskala Notenbeispiel 23: Unstern!, Takte 21-25 Sándor Kovács erkannte in seiner Analyse von Unstern!, dass sich zusätzlich zu dieser Umspielung auch noch die Struktur eines verminderten Septakkordes auf F innerhalb dieser Phrase versteckt.50 Dieser verminderte Septakkord fügt sich hervorragend in die bitonale Mischung zwischen E-Dur und f-Moll ein (vgl. Notenbeispiel 30). Man kann diese Takte also auch als bitonal zwischen E-Übermäßig und F-Vermindert auffassen. Die Takte 21-28 werden drei Mal real sequenziert, immer um einen Halbton höher, wobei die letzten beiden Sequenzen verkürzt wurden. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die Akkordstruktur selbst zum formbildenden Element wird. Das Sequenzmotiv erklingt insgesamt über die übermäßigen Dreiklänge auf E, F, Fis und schließlich G. Das entspricht genau den vier möglichen übermäßigen Dreiklängen. Man vergleiche dazu auch meine Analyse zu La lugubre gondola II in Kapitel 1.1. Dort wendet Liszt eine ganz ähnliche Technik an, und leitet in diesem Fall aus dem verminderten Septakkord die Form ab. An diese Sequenzen schließt ab Takt 45 ein Teil an, der ausschließlich auf der Ganztonskala beruht, und der das vorherige Sequenzmotiv noch weiter verarbeitet (Notenbeispiel 24). Der diese Takte einleitende Vierklang (A-H-Dis-F) besteht aus Tönen der Ganztonskala auf A. Seine Struktur ist interessant, da er, trotz seiner Ganztönigkeit, keinen übermäßigen Dreiklang in sich birgt. Statt dessen setzt er sich aus 50 Vgl. Kovács, Formprinzipien (Anm. 46), S. 116. 28 1.2.2 Die Ganztonskala zwei um eine große Sekunde verschobenen Tritoni zusammen. Das kann man als eine Anspielung auf das Anfangsmotiv, in dem zwei um eine kleine Sekunde verschobene Tritoni die Grundstruktur bilden, auffassen. Man kann diesen Akkord auch als dritte Umkehrung eines Dominantseptakkords auf H mit tiefalterierter Quint auslegen, also als Dominante in E-Dur. Auch diese Interpretation deutet darauf hin, dass in diesem Teil Reste einer E-Dur-Tonalität vorhanden sind. Dieser Teil ist auch formal von der Ganztonskala abgeleitet. Das Bassmotiv wird auf jedem Ton der Skala genau einmal sequenziert. Notenbeispiel 24: Unstern!, Takte 45-57 Besonders deutlich wird der bitonale Mischklang zwischen E-Dur und f-Moll in den Takten 70-84, welche den ersten größeren Formteil von Unstern! abschließen. Die in Notenbeispiel 25 abgebildete Phrase wird gleich viermal wiederholt. Notenbeispiel 25: Unstern!, Takte 70-72 Es handelt sich dabei um einen übermäßigen Dreiklang auf E, zu dem in der Bassmelodie E-F-H erklingt. Dieses Motiv kennen wir bereits aus der ersten Phrase des Stückes (Takt 1-2). Der Akkord über dem H ist ein Fünfklang, der genau aus den Tönen 29 1.2.2 Die Ganztonskala von E-Dur und f-Moll besteht: E, F, Gis(As), H und C. Andererseits setzt sich dieser Klang natürlich auch aus den Tönen des übermäßigen Dreiklangs auf E und des verminderten Dreiklangs auf F zusammen, worauf auch Thomas Kabisch in seiner Analyse von Unstern! hinwies. 51 Ab Takt 78 wird das H im Bass in ein Gis überführt und der Teil endet mit einer Repetition eines übermäßigen Dreiklangs auf Gis mit hinzugefügtem F (Notenbeispiel 26). Notenbeispiel 26: Unstern!, Takte 79-82 Im ersten Teil von Unstern! ist keine Tonart angegeben. Dagegen steht der deutlich kontrastierende zweite Teil (Takt 85 - Schluss) in H-Dur. Wie wir gesehen haben, verbleibt im ersten Abschnitt die Tonalität weitestgehend in einem offenen, bitonalen Raum zwischen E-Dur und f-Moll. Die Harmonik wird meist von übermäßigen Dreiklängen und der Ganztonskala bestimmt. Der zweite Teil beginnt im Gegensatz dazu tonal eindeutig in H-Dur, auch wenn Liszt keine Kadenzen im traditionellen Sinn einsetzt. Man könnte fast glauben, dass die Takte nach Takt 85 aus einem anderen Stück stammen und tatsächlich wirkt das klangliche Ergebnis im ersten Moment auch etwas "fehl am Platz". Bernard C. Lemoine versucht in seiner Analyse von Unstern! das H-Dur im zweiten Teil mit dem Tritonus des Anfangsmotivs (F-H) zu erklären.52 Dieser Zusammenhang ist sicher nicht zu bestreiten. In dem von mir vorgeschlagenen bitonalen System ergibt sich der Tritonus zu Beginn aber aus der Wahl der Anfangstöne: e-f-h-c1. Diese Töne entsprechen den Grundtönen und Quinten von E-Dur und f-Moll. Wenn man Unstern! unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist das plötzliche H-Dur im zweiten Teil auch gar nicht mehr so ungewöhnlich. Im Gegenteil – auf die Form bezogen ist H-Dur, als Dominantregion von E-Dur, in einem kontrastierenden B-Teil schon fast als klassisch zu bezeichnen. Aber im Kontext und 51 52 Vgl. Thomas Kabisch, Struktur und Form im Spätwerk Franz Liszts. Das Klavierstück "Unstern" (1886), in: Archiv für Musikwissenschaft (Jahrg. 42,3), 1985, S. 178-199, hier S. 190. Vgl. Lemoine, Tonal organisation (Anm. 28), S. 127. 30 1.2.3 Die Halbton-Ganzton-Skala durch die außergewöhnlichen Techniken die Liszt im ersten Teil anwendet, kann er der altmodisch anmutenden Dominantregion wieder neues Leben einhauchen. Bezeichnend ist auch, dass Liszt das Stück nach einem kurzen Ausschnitt aus der Ganztonskala auf dem Ton E beendet. Notenbeispiel 27: Unstern!, Schlusstakte 1.2.3 Die Halbton-Ganzton-Skala Wie bei der Ganztonskala handelt es sich bei der Halbton-Ganzton-Skala um eine symmetrische Skala. Der ihr zuzuordnende Akkord ist der verminderte Septakkord. Von den drei möglichen verminderten Septakkorden lassen sich zwei leitereigen in der Halbton-Ganzton-Skala bilden. Messiaen bezeichnet diese Skala als den "2. Modus mit begrenzter Transponiermöglichkeit."53 Mit dieser Bezeichnung deutet er darauf hin, dass diese Skala wie der verminderte Septakkord nur dreimal transponierbar ist. Weitere Bezeichnungen sind "oktatonische Skala", "alterierende Achtstufigkeit"54 oder einfach "verminderte Skala". Letztere Bezeichnung findet sich vor allem im Jazz, wo diese Skala zur Improvisation über verminderte Septakkorde und Dominantseptakkorde mit tiefalterierter None verwendet wird. Elmar Seidel wies darauf hin, dass es einen engen Zusammenhang zwischen der Halbton-Ganzton-Skala und der sogenannten "Teufelsmühle" gibt. Bei der Teufelsmühle handelt es sich um folgende Akkordfolge: Notenbeispiel 28: "Teufelsmühle" 53 54 Oliver Messiaen, Technik meiner musikalischen Sprache, Paris 1966, S.57. Gárdonyi, Paralipomena (Anm. 8), S. 11. 31 1.2.3 Die Halbton-Ganzton-Skala 1776 erscheint diese Akkordfolge in Georg Joseph Voglers Tonwissenschaft und Tonsetzkunst.55 Der Wiener Komponist Emanuel Aloys Förster bezeichnete sie in seiner 1805 erschienenen Anleitung zum General-Bass als "Teufelsmühle". Bekannt war sie aber schon sehr viel früher. So verwendet J. S. Bach die Teufelsmühle teilweise in der Matthäus-Passion56, die Liszt 1855 gezielt studiert hatte.57 Ab dem ausklingenden 18. Jahrhundert wurde diese Akkordfolge sehr häufig verwendet, unter anderem von Komponisten wie C. Ph. E. Bach, den Wiener Klassikern, Schubert und Weber. Auch Liszt bedient sich dieser Akkordfolge mehrfach.58 Dieter Torkewitz wies in seiner Dissertation auf einige Fälle in frühen Werken hin.59 Sie findet sich aber in allen Schaffensperioden Liszts, wie zum Beispiel in der 1852 erschienenen Etüde Ab Irato. Der Zusammenhang zwischen Teufelsmühle und Halbton-Ganzton-Skala besteht darin, dass sich die Harmonien der Teufelsmühle, abgesehen vom chromatischen Bassverlauf, ausschließlich innerhalb eben dieser Skala bewegen.60 Das liegt daran, dass es sich bei dieser Akkordfolge um eine reale Sequenzierung in kleinen Terzen handelt (Kapitel 1.3). Ein typisches Beispiel, in dem Liszt von der Halbton-Ganzton-Skala Gebrauch macht, ist Bagatelle ohne Tonart. In der überleitenden Passage in Takt 86 verwendet er ausschließlich Tonmaterial aus der Halbton-Ganzton-Skala auf Cis (Notenbeispiel 29). Notenbeispiel 29: Bagatelle ohne Tonart, Takte 85-86 55 56 57 58 59 60 Vgl. Elmar Seidel, Ein chromatisches Harmonisierungs-Modell in Schuberts "Winterreise", in: Archiv für Musikwissenschaft (Jahrg. 26,4), 1969, S. 285-296, hier S. 289. Vgl. Elmar Seidel, Über den Zusammenhang zwischen der sogenannten Teufelsmühle und dem 2. Modus mit begrenzter Transponiermöglichkeit in Liszts Harmonik, in: Liszt Studien 2, MünchenSalzburg 1981, S. 172-206, hier S. 172f. Vgl. Dorothea Redepenning, Franz Liszts Auseinandersetzung mit Johann Sebastian Bach, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Tl. 34, 2), 1992, S. 97-123, hier S. 97f. Vgl. Seidel, Über den Zusammenhang (Anm. 56) S. 172f. Vgl. Torkewitz, Harmonisches Denken (Anm. 12), S. 32-35. Vgl. Seidel, Über den Zusammenhang (Anm. 56), S. 172-178. 32 1.2.3 Die Halbton-Ganzton-Skala Wenn man die Halbton-Ganzton-Skala mit den bisherigen Techniken in Beziehung bringt, ergibt sich ein interessantes Skalensystem, welches Liszt die Möglichkeit bietet in einem zwölftönigen System zu komponieren. Die diesem System zugrunde liegende Ordnung entfaltet eine eigenständige, für die letzten Klavierstücke typische Harmonik. Um dies zu veranschaulichen, stelle ich die bisher vorgestellten Techniken nochmals einander gegenüber (Notenbeispiel 30). Notenbeispiel 30: Gegenüberstellung der Skalen Der direkte Vergleich zeigt, dass diese Skalen viele Gemeinsamkeiten besitzen. Sie unterscheiden sich von einander meist nur in zwei Tönen und besitzen ähnliche Schwerpunkte. Diese Schwerpunkte entsprechen den Tönen der Dreiklänge, die man in den bisher beschriebenen Stücken Liszts am häufigsten antrifft. 33 1.2.4 Die mixolydische Skala mit erhöhter Quart (akustische Skala) 1.2.4 Die mixolydische Skala mit erhöhter Quart (akustische Skala) Eine weitere, von Liszt in seinen Kompositionen eingesetzte Skala, ist die mixolydische Skala mit erhöhter Quart (Notenbeispiel 31). Sie wird oft auch als "akustische Skala" bezeichnet und die, von ihr beschriebene Tonalität, als "akustische Tonalität". Diese Bezeichnung rührt daher, dass sie der Teiltonreihe vom 8. bis zum 14. Teilton entspricht. Man kann sie auch als eine Mischung von Ganztonskala und Halbton-Ganzton-Skala auffassen. Der erste Skalenausschnitt verläuft in großen Sekunden, während sich im zweiten Teil große und kleine Sekunden abwechseln.61 Notenbeispiel 31: mixolydische Skala mit erhöhter Quart (Die Teiltonreihe wurde zur Vereinfachung ohne mikrointervallische Abweichungen dargestellt) Diese Skala entspricht in ihrem Aufbau der melodischen Molltonleiter aufwärts, beginnend bei der IV. Stufe (C-akustisch ≙ G-melodisch). In der Musik des 20. Jahrhunderts trifft man sie, wie auch die Halbton-Ganzton-Skala, sehr häufig an, unter anderem in der Musik von Bartók, Skrjabin, Debussy, Ravel, Strawinsky und Messiaen.62 Im Jazz wird sie gerne zur Improvisation über alterierte Dominantseptakkorde verwendet. Sie wird dann auch als alterierte Skala bezeichnet (C-akustisch ≙ Fis-alteriert). Beispiele für die Verwendung der akustischen Skala bei Liszt sind unter anderem Angelus! und Les jeux d'eaux à Villa d'Este aus dem Zyklus Années de pèlerinage, Troisième annèe (1877) und der Dritte Mephisto-Walzer (1883). Zsolt Gárdonyi vertritt die Auffassung, dass die Schlussakkorde aus Nuages gris ebenfalls als ein Ausschnitt einer akustischen Skala aufgefasst werden können.63 61 62 63 Vgl. Gárdonyi, Paralipomena (Anm. 8), S. 11-14. Vgl. Ebd., S. 11-27. Vgl. Ebd. S. 28-31. 34 1.3 Reale Sequenzen und weitere Skalen 1.3 Reale Sequenzen und weitere Skalen Reale Sequenzen, also Sequenzen bei denen jeder Ton im gleichen Intervall sequenziert wird, sind in Liszts Musik bereits seit seinen frühesten Werken ein wesentliches kompositorisches Element. Dieter Torkewitz zeigt die wichtige Beziehung zwischen den realen Sequenzen in Liszts Musik und seiner Beschäftigung mit der Form des achttaktigen Satzes (als Alternative zur achttaktigen Periode) auf.64 Die Unterscheidung zwischen Periode und Satz geht vor allem auf Schönberg zurück, der den Satz als die "höhere Form der Konstruktion als die Periode" bezeichnet.65 Bei einem Satz wird im Unterschied zur Periode das Anfangsmotiv bereits im Vordersatz wiederholt oder sequenziert. Der Nachsatz bildet einen Kontrast zum Vordersatz, indem er dessen Motive abspaltet und weiterentwickelt.66 Besonders die Sequenz im Vordersatz scheint Liszt in diesem Zusammenhang angezogen zu haben. Carl Dahlhaus sieht in der "realen, modulierenden Sequenzierung" ein grundliegendes Formprinzip Liszts und Wagners.67 Mit den realen Sequenzen in enger Verbindung steht das sogenannte "Distanzprinzip". Dieser Begriff, der eigentlich aus der Akustik stammt, wurde von Zoltán Gárdonyi verwendet um harmonische und melodische Erscheinungen zu bezeichnen, die nicht auf die zugrunde liegende Tonalität zurückzuführen sind, sondern sich aufgrund übergeordneter Ordnungsprinzipien bilden. Damit ist gemeint, dass der Oktavraum nicht mehr diatonisch strukturiert wird, sondern sich seine Struktur aus gleichen oder periodisch alterierenden Intervallen ergibt.68 Thomas Hitzlberger merkt an, dass "die verschiedenen Erscheinungsformen des Distanzprinzips bei Liszt [...] zum größten Teil aus zwei harmonischen Phänomenen, der realen Sequenz und der realen Figuration [resultieren]."69 64 65 66 67 68 69 Vgl. Dieter Torkewitz, Modell, Wiederholung - Sequenz. in: Liszt-Studien 3, München/Salzburg 1986, S. 177-188, hier S. 177f. Arnold Schönberg, Die Grundlagen der musikalischen Komposition, Wien 1979, S. 31. Vgl. Ebd., S. 21, 31f. Vgl. Torkewitz, Modell, Wiederholung (Anm. 64), S. 177. Vgl. Thomas Hitzlberger, Zwischen Tonalität und Rationalität, in: Virtuosität und Avandgarde, Untersuchungen zum Klavierwerk Franz Liszts, Mainz 1988, S. 32-59, hier S. 32. Ebd., S. 34. 35 1.3 Reale Sequenzen und weitere Skalen Hermann Erpf bezeichnete Klänge aus äquidistanten Intervallen in seinen Studien zur Harmonie und Klangtechnik der neueren Musik als symmetrische Klänge. Diese "funktionslosen" Klänge unterscheiden sich von den "Funktionsträger"-Klängen darin, dass ihre einzelnen Töne gleichwertig und damit austauschbar sind. Erpf unterscheidet zwischen sechs verschiedenen symmetrischen Klängen:70 1. der "Kleinterzklang" (≙ verminderter Septakkord) 2. der "Kleinterzklang" (≙ übermäßiger Dreiklang) 3. der "Ganztonklang" (≙ Ganztonleiter) 4. der "Tritonusklang" 5. der "Quartenklang" 6. der "Halbtonklang" Dem Distanzprinzip sind wir in den bisher beschriebenen Kompositionstechniken Liszts schon mehrmals begegnet. Der übermäßige und der verminderte Dreiklang sowie die Ganztonskala setzen sich aus äquidistanten Intervallen zusammen. Die Halbton-Ganzton-Skala wäre ein Beispiel für eine Oktavteilung, die auf periodisch alterierenden Intervallen basiert. Wenn mehrere reale Sequenzen in gleichem Intervallabstand aneinander gereiht werden, ergibt sich durch die innere Struktur meist automatisch eine übergeordnete äquidistante Skala, die aus diesen Sequenzen abgeleitet werden kann. Ein einfaches Beispiel für diesen Vorgang ist die Sequenzierung eines Dur- oder Molldreiklangs in kleinen Terzen. Eine solche Sequenz enthält ausschließlich die Töne der Halbton-Ganzton-Skala (Notenbeispiel 32). In Liszts Etüde Mazzepa (1853) entsteht zum Beispiel eine Halbton-Ganzton-Skala durch eine Reihe von realen Sequenzen in kleinen Terzen. Grand galop chromatique (1883) ist dagegen ein Beispiel für reale Sequenzen, aus denen sich die Ganztonskala ableiten lässt.71 70 71 Vgl. Erpf, Studien (Anm. 47), S. 77ff. Vgl. Hitzlberger, Zwischen Tonalität und Rationalität (Anm. 68), S. 35ff. 36 1.3 Reale Sequenzen und weitere Skalen Notenbeispiel 32: reale Sequenzen von Dreiklängen in kleinen Terzen Eigentlich ist es nicht weiter verwunderlich, dass in der romantischen Musik die Teilung der Oktave in gleiche Teile immer mehr an Bedeutung gewann. Im Barock und auch noch während der Klassik war der wichtigste Fundamentalschritt die Quint beziehungsweise ihr Komplementärintervall die Quart. Dies machte sich in der häufigen Verwendung von Quintfallsequenzen und den bevorzugten Modulationen in die Dominant- und Subdominantregion bemerkbar. Um neue harmonische Wege im dur-moll-tonalen System zu gehen, war man also gewissermaßen gezwungen in anderen Intervallen zu sequenzieren oder in andere Regionen zu modulieren. Quint und Quart sind allerdings die einzigen Intervalle die, bei äquidistanter Fortsetzung, die Oktave nicht in gleiche Teile teilen. Wenn man also real in anderen Intervallen als Quint oder Quart sequenziert, ergibt sich als Resultat automatisch eine gleichmäßige Teilung der Oktave. Ähnlich verhält es sich mit periodisch alterierenden Skalen oder Akkordfortschreitungen, die aus Sekunden und Terzen bestehen. Diese teilen die Oktave genau dann in periodisch alterierende Intervalle auf, wenn sich die beiden verwendeten Intervalle nicht zu einer Quint oder Quart ergänzen. In Notenbeispiel 33 habe ich alle möglichen Oktavteilungen mittels alterierender Sekunden und Terzen zusammengefasst und zwei alterierende Skalen angegeben, die die Oktave nicht teilen. Ich verwende dabei die gleiche Namensgebung, die auch Zoltán Gárdonyi benutzt.72 Dabei bezeichnet Modell 1 : 2 eine alterierende Skala, die sich aus einer Fortsetzung von kleinen und großen Sekunden zusammensetzt, Modell 2 : 3 steht dagegen für große Sekund und kleine Terz. 72 Vgl. Gárdonyi, Neue Tonleiter- und Sequenztypen (Anm. 48), S. 180. 37 1.3 Reale Sequenzen und weitere Skalen Notenbeispiel 33: Alterierende Skalen mit und ohne Oktavteilung Bei Modell 1 : 2 handelt es sich um die bereits besprochene Halbton-Ganzton-Skala. Auch Modell 1 : 3 wird von Liszt in verschiedenen Werken verwendet. Zum Beispiel in Réminiscences de Don Juan (1839) und in Fleurs mélodiques des Alpes (1843).73 Das Modell 2 : 4 entspricht genau dem bereits erwähnten Akkord aus Unstern! in Takt 46, der sich aus Tönen der Ganztonskala auf A zusammensetzt. Man könnte auch die Töne des einleitenden Motivs von Unstern! (e-f-h-c1-fis) als einen Ausschnitt des Modells 1 : 5 interpretieren. Das Modell 1 : 5 wendet Liszt unter anderem auch noch im Klavierstück Orage (1855) an.74 Zu Modell 2 : 3 sei noch erwähnt, dass die pentatonische Skala eine Teilmenge dieses Modells ist – eine weitere Skala, deren Bedeutung in der romantischen Musik immer mehr zunahm. Neben den alterierenden Skalen experimentierte Liszt auch noch mit anderen Skalen, die die Oktave symmetrisch teilen. Eine solche Skala wird in Notenbeispiel 34 dargestellt. Diese Skala findet sich in dem Klavierstück Preludio funebre (1885), als eine sich immer wiederholende Basslinie. Das harmonische Gerüst dieser Skala ist der übermäßige Dreiklang Cis-F-A. Dieser bildet auch die zentrale Harmonie des nur 18 Takte langen Werkes. Die Skala besteht aus zwei Viertongruppen, wobei die eine der Krebs der Umkehrung der anderen ist. Dadurch ergibt sich auch ihre symmetrische Struktur.75 Notenbeispiel 34: symmetrische Skala aus Preludio funebre 73 74 75 Vgl. Ebd., S. 191. Vgl. Ebd., S. 195. Vgl. Dieter Torkewitz, Anmerkungen zu Liszts Spätstil. Das Klavierstück "Preludio funebre" (1885), in: Archiv für Musikwissenschaft (Jahrg. 35,3), 1978, S. 231-236, hier S. 232ff. 38 1.4 Harmonische Verläufe 1.4 Harmonische Verläufe Wie bereits angedeutet macht die dur-moll-tonale Harmonik während der Romantik eine Entwicklung durch, die mit der Entwicklung von äquidistanten Skalen und Akkorden einhergeht. Einerseits wurden harmonische Verbindungen im Terzabstand (Medianten) immer beliebter, andererseits nahmen auch großformale Harmonieverläufe, die auf Terzschichtung beruhen, zu. So findet sich schon in Haydns Streichquartett in G-Dur, op. 54, 1 ein harmonischer Verlauf in kleinen Terzen, bei dem von G-Dur über B-Dur nach Des-Dur moduliert wird. Besonders in Beethovens und Schuberts Werken finden sich Harmonieverläufe sowohl in großen, als auch in kleinen Terzen.76 Auch in Liszts Musik finden sich diese Wendungen sehr häufig. Möglicherweise hat Anton Reicha, bei dem Liszt 1826 Unterricht im Kontrapunkt nahm, ihn in diesem Zusammenhang beeinflußt. Reicha ermutigte seine Schüler darin, ungewöhnliche harmonische Wendungen zu verwenden, und veröffentlichte 1803 selbst das Aufsehen erregende Werk 36 Fugues d'après un nouveau système. In diesen Fugen beantwortet er die Themen nicht wie üblich in der Quint, sondern in großen und kleinen Terzen, die von Einsatz zu Einsatz fortschreiten.77 Die ersten Anzeichen für Terzschichtungen finden sich schon in Liszt Frühwerk. So sind die 1827 komponierten Jugendetüden in Tonarten geschrieben, die in einer direkten Terzverwandschaft zueinander stehen.78 In den Klavierwerken Lyon (1834) und Harmonies poétiques et religieuses (Erstfassung 1835) finden sich Akkordfolgen in kleinen Terzen.79 Auch im Modulationsverlauf ganzer Sätze lassen sich Kleinterzschichtungen nachweisen. Ein Beispiel hierfür ist die Fantasie Réminiscences de Lucrezia Borgia (1840), deren tonale Zentren C-Dur, A-Dur, Fis-Dur und Es-Dur sind. Auch während der Analyse des Stückes Funérailles werden wir später einige harmonische Verläufe finden, die auf demselben Prinzip beruhen. 76 77 78 79 Vgl. Gárdonyi, Neue Tonleiter- und Sequenztypen (Anm. 48), S. 175-180. Vgl. Torkewitz, Harmonisches Denken (Anm. 12), S. 23ff. Ebd. Vgl. Gárdonyi, Neue Tonleiter- und Sequenztypen (Anm. 48), S. 177. 39 1.4 Harmonische Verläufe Wie wir gesehen haben, basieren die letzten Werke Liszts harmonisch hauptsächlich auf dem übermäßigen Dreiklang und dem verminderten Septakkord. Eine weitere harmonische Eigenheit, die auffällt, ist das häufige Auftreten von Harmonieverläufen in großen und kleinen Sekunden. Chromatische Verläufe von verminderten Septakkorden scheinen Liszt schon in seiner Jugend fasziniert zu haben. So kommt zum Beispiel in seinem im Alter von 13 Jahren komponierten Klavierstück Allegro di bravura (1824) eine ansteigende Linie von chromatisch versetzten Septakkorden vor.80 Der folgenden Tabelle kann man Werke entnehmen, in denen harmonische Verläufe in großen und kleinen Sekunden in unterschiedlicher Form auftreten. Stück Anmerkung Nuages gris (T. 11-20) Ein übermäßiger Dreiklang wird über eine gleichbleibende Bassmelodie chromatisch verschoben. La lugubre gondola I Der zweite Teil steht um eine große Sekunde tiefer als der erste. (Teil A1 und A2) La lugubre gondola I Die Harmonien fallen in gr. Sekunden ab während die Melodie in (T. 77-100) großen aufsteigenden Sekunden real sequenziert wird. La lugubre gondola II Der Vordersatz der Anfangsphrase wird in kleinen absteigenden (T. 1-26) Sekunden 2-mal real sequenziert. La lugubre gondola II Das Thema wird im Gegensatz zu "La lugubre gondola I" eine (T. 35-51 u. T. 52-68) kleine Sekund tiefer real sequenziert. La lugubre gondola II Reale Sequenz um einen Ganzton tiefer. (T. 69-88 u. T. 89-108) Unstern! (T. 21-44) Drei reale Sequenzen um einen Ganzton höher. Unstern! (T. 58-70) Ein übermäßiger Dreiklang wird über eine gleichbleibende Bassmelodie chromatisch verschoben. 80 Vgl. Torkewitz, Harmonisches Denken (Anm. 12), S. 11. 40 1.4 Harmonische Verläufe Harmonische Verläufe in großen und kleinen Sekunden ergeben sich ganz automatisch aus der Verwendung von übermäßigen Dreiklängen oder verminderten Septakkorden in Verbindung mit realen Sequenzen. In Notenbeispiel 35 sieht man exemplarisch die realen Sequenzmöglichkeiten des übermäßigen Dreiklangs, die Möglichkeiten beim verminderten Septakkord verhalten sich in ähnlicher Weise. Bezogen auf reale Sequenzen, bietet diese Harmonik nur eine begrenzte Anzahl an Varianten. So erzeugt zum Beispiel eine reale Sequenzierung von übermäßigen Dreiklängen in Quarten immer einen Harmonieverlauf in kleinen Sekunden. Notenbeispiel 35: reale Sequenzmöglichkeiten beim übermäßigen Dreiklang Das häufige Auftreten dieser harmonischen Verbindungen in Liszts Spätwerk kann somit als eine Konsequenz des in diesen Stücken verwendeten harmonischen Materials gedeutet werden. Andererseits kommt aber gerade dieses harmonische Material Liszts Vorliebe zur Chromatik, die er bereits in früheren Werken bewiesen hatte, sehr entgegen. 41 1.5 Chromatische Veränderung von Motiven und Harmonien 1.5 Chromatische Veränderung von Motiven und Harmonien Eine weitere Kompositionstechnik, die ich im Zusammenhang mit Liszts Spätwerk für erwähnenswert halte, ist das chromatische Verändern von Themen und Harmonien. Bei diesem Verfahren werden einzelne Töne eines Themas oder einer Harmonie um einen Halbton abgeändert, um so zu einer neue Variante zu gelangen. Carl Dahlhaus hat bei seiner Analyse der symphonischen Dichtung Mazzepa diese Kompositionstechnik als "Alternativchroma" bezeichnet. Er untersuchte dabei die thematischen Variationen des Werkes.81 "Dahlhaus sieht im Alternativchroma ein (von Liszt entdecktes) Pendant zur Modulation, das besonders 'unter den Bedingungen des Nicht-Modulierens, die im Variationszyklus gelten' sinnvoll ist."82 Dieter Torkewitz konnte dieselbe Kompositionstechnik in dem Klavierstück Harmonies poétiques et religieuses (Erstfassung 1835) nachweisen. Nur, dass Liszt hier die chromatisch abgeänderte Variation nicht auf ein Thema, sondern auf die Harmonik selbst anwendet.83 Auch Ramon Satyendra hat sich ausführlich mit dieser Kompositionstechnik im Zusammenhang mit Liszts Musik auseinandergesetzt und bezeichnet dieses Verfahren als "inflected repetition". Er weist darauf hin, dass man diese Technik auch in der Symphonie fantastique (1830) von Berlioz und bei Donizetti findet.84 Liszt, der mit Berlioz seit der Uraufführung der Symphonie fantastique am 5. Dezember 1830 befreundet war, hat 1833 eine Klavierübertragung dieses Werkes veröffentlicht und war deshalb mit den darin eingesetzten Kompositionstechniken sicher bestens vertraut.85 Das Aternativchroma ist eine Technik, die mit einigen der bisher beschriebenen Kompositionstechniken in einer Wechselbeziehung steht. So besteht zum Beispiel die Verbindung von Dur und Molldreiklängen mit übermäßigen Dreiklängen aus dem chromatischen Abändern nur eines Tones. Genau so verhält es sich bei der Auflösung eines übermäßigen Dreiklangs. Auch chromatische Harmoniefolgen kann man mit diesem Prinzip in Verbindung bringen. Weiters ist in diesem Zusammenhang Liszts 81 82 83 84 85 Carl Dahlhaus, Mazzepa, in: Analyse und Werturteil, Mainz 1970, S. 85-89. Torkewitz, Harmonisches Denken (Anm. 12), S. 59. Vgl. Ebd., S. 59f. Vgl. Ramon Satyendra, Conceptualising Expressive Chromaticism in Liszt's Music, in: Music Analysis (Bd. 16,2), 1997, S. 219-252, hier S. 221. Raabe, Liszts Leben (Anm. 1), S. 275ff 42 1.5 Chromatische Veränderung von Motiven und Harmonien Beschäftigung mit antiken Kompositionstechniken, wie dem Erweitern eines Tetrachords durch Hinzufügen eines Tones, zu nennen.86 Diese Wechselbeziehungen zwischen den Kompositionstechniken machen es fast unmöglich eine dieser Techniken isoliert von den anderen zu betrachten, da sie sich immer gegenseitig erweitern, ergänzen und bedingen. Ein Werk, bei dem diese Zusammenhänge besonders gut nachvollziehbar sind, ist das Klavierstück R.W. Venezia (1883). Fast das gesamte harmonische Gerüst dieses Stückes lässt sich mit einer chromatischen Variation der ersten vier Takte erklären. In Notenbeispiel 36 sieht man den harmonischen Verlauf der Takte 1-24. Um das Beispiel übersichtlicher zu gestalten, habe ich dabei einige Tonverdoppelungen ausgespart. Man kann gut erkennen, wie der Ausgangsklang, ein übermäßiger Dreiklang auf Cis, durch chromatische Veränderungen immer weiter variiert wird. In gleicher Weise wird auch das sich immer wiederholende Bassmotiv der ersten beiden Takte variiert. Notenbeispiel 36: Harmonisches Gerüst von R.W. Venezia, T. 1-24 Cis-Übem. b-Moll D-Überm. h-Moll Dis-Überm. Aber die chromatische Variation macht bei weitem noch nicht die gesamte Substanz dieses Stückes aus. Zum einen entsteht durch die Variation eine Harmoniefolge, die drei chromatisch versetzte übermäßige Dreiklänge auf Cis, D und Dis enthält. Zum anderen werden die ersten beiden übermäßigen Dreiklänge dieser Harmoniefolge in Molldreiklänge aufgelöst. Die in Notenbeispiel 36 nicht behandelte Melodielinie der Takte 5-7 lässt sich auch als eine chromatische Veränderung des Ausgangsakkords auffassen. Die Chromatik dieser Linie bereitet durch ihre Viertelbewegung auch die Überleitungstakte 24-30 vor. In Takt 24 folgt ein vierter chromatisch versetzter übermäßiger Dreiklang auf E und leitet die Überleitung (Takte 24-30) zum nächsten Teil (Takte 31-42) des Stückes ein. 86 Zu den Zusammenhängen zwischen Alternativchroma und griechischen Tetrachorden vgl. auch: Satyendra, Conceptualising Expressive Chromaticism (Anm. 84), S. 225-230 und Szelényi, Der unbekannte Liszt (Anm. 44), S. 311-331. 43 1.5 Chromatische Veränderung von Motiven und Harmonien Die Überleitung (Notenbeispiel 37) führt die chromatisch versetzten übermäßigen Dreiklänge des ersten Teils zunächst fort. Ab Takt 28 wird diese Linie jedoch in eine neue Linie abgeändert, die aus einem Wechsel zwischen einem übermäßigen Dreiklang auf A und einem gis-Moll-Dreiklang besteht. Bis zu diesem Takt wurden harmonische Wechsel in R.W. Venezia immer durch chromatische Veränderung der vorangegangenen Harmonie erreicht. Der Wechsel zwischen A-Übermäßig und gis-Moll beinhaltet zum ersten Mal eine Veränderung der Harmonie um zwei Ganztöne (Cis zu H und F zu Dis). David Butler Cannata erklärt den gis-Moll-Dreiklang in seiner Analyse von R.W. Venezia als eine verspätete Auflösung des übermäßigen Dreiklangs auf Dis, der im ersten Teil als Einziger nicht in einen Molldreiklang aufgelöst wurde.87 Interessant ist auch, dass die Takte 28-29 dem Tonvorrat der akustischen Skala auf H entstammen (vgl. Kapitel 1.2.4 Die mixolydische Skala mit erhöhter Quart (akustische Skala)). Die Überleitung endet in Takt 30 auf dem übermäßigen Dreiklang auf Cis, dem Anfangsakkord des Stückes. Notenbeispiel 37: R.W. Venezia, T. 24-30 Der nächste Teil (Takt 31-42) von R.W. Venezia beginnt mit einem B-Dur-Dreiklang, der wieder als chromatische Veränderung der Ausgangsharmonie aufgefasst werden kann. Die Akkordfortschreitung der Takte 31-42 kann man auf vielerlei Arten erklären. Einerseits handelt es sich um eine Akkordfortschreitung, in der zwei aufeinanderfolgende Akkorde immer zwei gemeinsame Töne enthalten. Durch dieses harmonische Band kann man jeden Akkordwechsel auch als Veränderung des vorherigen Akkordes um einen Halbton oder um einen Ganzton auffassen. Diese Auffassung ist nicht ganz abwegig, wenn man bedenkt, dass der erste Teil des Stückes auf chromatischen Veränderungen beruht und die Veränderung der Harmonie um einen 87 Vgl. David Butler Cannata, Perception & Apperception in Liszt's Late Piano Music, in: The Journal of Musicology (Bd. 15,2), 1997, S. 178-207, hier S. 182f. 44 1.5 Chromatische Veränderung von Motiven und Harmonien Ganzton erst drei Takte vorher in der Überleitung eingeführt wurde (die wechselnden Akkorde der Takte 28-29). Andererseits kann man den Harmonieverlauf dieses Teiles auch als Ganzes betrachten. Es handelt sich dabei um nichts anderes als um reale Sequenzen in kleinen Terzen, die zur Harmoniefolge B-Des-E führen. Natürlich ergibt sich aus diesen realen Sequenzen auch wieder ein Ausschnitt der Halbton-Ganzton-Skala (vgl. Notenbeispiel 32). Der letzte Akkord dieses Teiles, ein A-Dur-Dreiklang (Takt 42), leitet in den letzten Teil des Stückes über, den David Butler Cannata als Coda bezeichnet.88 Diese Coda beginnt wieder mit einem übermäßigen Dreiklang auf Cis, den man als chromatische Veränderung des vorangegangenen A-Dur-Dreiklangs auffassen kann. Die absteigende Melodielinie, mit der das Stück endet, besteht aus den Tönen der Dreiklänge Cis-Übermäßig und b-Moll, mit denen R.W. Venezia begann. Es gibt wahrscheinlich noch zahlreiche weitere Möglichkeiten R.W. Venezia zu interpretieren. Auf die Beziehung dieses Stückes zu Richard Wagners Tod am 13. Februar 1883 und zu dem Klavierstück Am Grabe Richard Wagners (1883) bin ich in dieser Analyse bewusst nicht eingegangen. Ich verweise hier auf die Analysen von Bernard C. Lemoine89, Dorothea Redepenning90, Gerhard J. Winkler91, Zdenek Skoumal92, David B. Cannata93 und James M. Baker94, die zum Teil unterschiedlichste Ansätze verfolgen und damit belegen, wie reichhaltig die Assoziationen sind, die Liszt mit seiner Musik in uns auslöst. Auch zeigen diese Analysemodelle, wie komplex und vielschichtig die Beziehungen zwischen Liszts Kompositionstechniken sind und auch, dass sie sowohl mit denen der Romantik als auch mit denen der Musik des 20. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden können. Es würde keinen Sinn machen eine dieser Kompositionstechniken aus dem Zusammenhang zu reißen, da sie immer nur einen kleinen Ausschnitt eines größeren Bildes vermitteln können. 88 89 90 91 92 93 94 Vgl. Ebd., S. 183. Vgl. Lemoine, Tonal organisation (Anm. 28), S. 126f. Vgl. Dorothea Redepenning, Erinnerung und Vergessen: Bemerkungen zu einigen Spätwerken Franz Liszts, in: Liszt-Studien 3, München/Salzburg 1986, S.119-127, hier S. 124ff. Vgl. Winkler, Liszt contra Wagner (Anm. 4) S. 200-203. Vgl. Skoumal, Liszt's Androgynous Harmony (Anm. 35), S. 67ff. Vgl. Cannata, Perception & Apperception (Anm. 87), S. 179-183. Vgl. James M. Baker, The Limits of Tonality in the Late Music of Franz Liszt, in: Journal of Music Theory (Bd. 34, 2), 1990, S. 145-173, hier S. 167-171. 45 Kapitel 2 - Funérailles KAPITEL II LISZTS KLAVIERSTÜCK 'FUNÉRAILLES' Der zweite Teil dieser Arbeit enthält eine Analyse des Klavierstücks Funérailles (1849) aus dem Zyklus Harmonies poétiques et religieuses (1848-53). Ich stelle im Verlauf dieser Analyse die in Funérailles angewandten Kompositionstechniken den Techniken des Spätwerks in einem Vergleich gegenüber. Der Titel Harmonies poétiques et religieuses bezieht sich auf die gleichnamige Gedichtsammlung von Alphonse de Lamartine. Die erste Fassung von Harmonies poétiques et religieuses war ursprünglich als einzelnes Klavierstück im Jahre 1835 erschienen. In einer umgearbeiteten Fassung wurde dieses Einzelstück später in das 1853 erschienene Sammelwerk Harmonies poétiques et religieuses unter dem Namen Penseé des morts aufgenommen (vgl. Einleitung S. 5).95 Liszt scheint für den Zyklus Harmonies poétiques et religieuses eine besondere Vorliebe gehabt zu haben. In späteren Jahren, als er längst nicht mehr öffentlich auftrat, spielte er im Freundeskreis noch gerne Stücke aus diesem Zyklus vor. Eines dieser Stücke war Funérailles.96 Liszt wurde von der misslungenen ungarischen Revolution (1848-1849) zu Funérailles inspiriert. Auf diese Ereignisse bezieht sich wahrscheinlich auch die Angabe "Oktober 1849" im Notentext. Am 3. Oktober 1849 kapitulierten die letzten ungarischen Revolutionäre gegenüber den österreichischen Besatzern. Es wurde schon frühzeitig vermutet, dass auch ein Zusammenhang zwischen Funérailles und Chopins Tod besteht. Diese Vermutung wurde jedoch nach einer Veröffentlichung Lina Ramanns fallengelassen.97 Laut Ramann bezieht sich Funérailles statt dessen auf den Tod des Fürsten Felix Lichnowsky und der Grafen Ladislaus Teleky und Ludwig Batthyanyi.98 Allerdings lässt sich ein Bezug zu Chopin nicht ganz leugnen. Liszt selbst hat sogar, laut seinem Schüler August Gollerich, auf einen Zusammenhang zwischen Chopins 95 96 97 98 Vgl. Dieter Torkewitz, Die Erstfassung der "Harmonies Poétiques et Religieuses" von Liszt, in: Liszt Studien 2, München/Salzburg 1981, S. 220-236, hier S. 220. Vgl. Peter Raabe, Liszts Schaffen, Meisenheim/Glan 1968, S. 57. Vgl. Torkewitz, Harmonisches Denken (Anm. 12), S. 101. Vgl. Raabe, Liszts Schaffen (Anm. 96), S. 248. 46 Kapitel 2 - Funérailles As-Dur-Polonaise op. 53 und Funérailles hingewiesen.99 Adrienne Kaczmarczyk weist zusätzlich noch auf einen Beziehung zu Liszts unvollendeter Revolutions-Symphonie (1830) hin.100 Der Untertitel dieser Arbeit lautet: "Eine Gegenüberstellung kompositorischer Verfahren im Früh- und Spätwerk unter besonderer Berücksichtigung des Klavierstücks Funérailles". Da Funérailles ungefähr 1849 von Liszt komponiert wurde, also im Alter von fast 40 Jahren, muss ich hier kurz darauf eingehen, warum ich dieses Werk trotzdem zu Liszts früheren Werke zähle. Der Grund dafür liegt in Liszts Biografie. Nachdem die erste Fassung von Harmonies poétiques et religieuses 1835 zu einem Misserfolg geworden war, kündigte Liszt an das Werk in einer neuen Fassung als Teil eines Sammelwerkes herauszubringen. Liszt versprach zu dieser Zeit auch noch weitere Werke herauszubringen, die seine Fähigkeiten als Komponist unter Beweis stellen sollten. Dieses Versprechen blieb jedoch für lange Zeit uneingelöst, was ihm bei Publikum und Kritik einen zweifelhaften Ruf einbrachte. Einer der Gründe, warum Liszt in den Jahren zwischen 1835 und 1848 kaum künstlerisch hochwertige Musik veröffentlichte, war seine Tätigkeit als Klaviervirtuose. Er schrieb zwischen 1835 und 1848 hauptsächlich Gebrauchsmusik und Transkriptionen fremder Werke, die er in seinen Konzerten aufführte. Dies änderte sich erst mit seiner Tätigkeit als Kapellmeister in Weimar 1848. In dieser Zeit holte Liszt die versäumten Jahre nach und es entstanden die musikalischen Monumente, für die er noch heute berühmt ist. Funérailles war eines der ersten in Weimar komponierten Stücke, deshalb analysiere ich es in dieser Arbeit stellvertretend für die "frühen" Werke Liszts. 99 100 Vgl. Adrienne Kaczmarczyk, The Genesis of the Funérailles. The Connections between Liszt's "Symphonie révolutionnaire" and the Cycle "Harmonies poétiques et religieuses", in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Tl. 35,4), 1993-1994, S. 361-398, hier S. 370. Ebd., S. 361. 47 2.1 Formaler Überblick über 'Funérailles' Zur Erinnerung fasse ich die Kompositionstechniken des Spätwerks, die im Verlauf der Analyse von Funérailles relevant sind hier nochmals zusammen: • Verminderte und übermäßige Dreiklänge (vgl. Kapitel 1.1) • Enge Beziehung zwischen I. Stufe und Mollneapolitaner (vgl. Kapitel 1.1, Kapitel 1.2.1 und Kapitel 1.2.2) • Reale Sequenzen (vgl. Kapitel 1.4) • Distanzprinzip – Teilung der Oktav in äquidistante Intervalle (vgl. Kapitel 1.4) • Chromatische Veränderung von Motiven und Harmonien (vgl. Kapitel 1.5) 2.1 Formaler Überblick über 'Funérailles' Den großformalen Ablauf von Funérailles (Abbildung 1) kann man als eine dreiteilige Strophenform mit einer Einleitung (Takte 1-23) und einer stark reduzierten Reprise (Takte 156-192) bezeichnen. Diese dreiteilige Form besitzt mehrere Gemeinsamkeiten mit der klassischen Sonatensatzform. Beispielsweise steht die Einleitung in der Dominantregion und das zweite, kontrastierende Thema in der Tonart der Tonikaparallele. In der Reprise kommt nach der Wiederholung des ersten Themas (Takte 156-167) eine Rückführung (Takte 168-176) zur Haupttonart f-Moll – auch das deutet auf eine Verwandtschaft mit der Sonatensatzform hin. Da ich in meiner Analyse von Funérailles öfters auf die Zusammenhänge mit der Sonatensatzform eingehen werde, bezeichne ich die ersten beiden Teile des Werkes als "Hauptthema" (Takte 24-55) und "Seitenthema" (Takte 56-108). Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Überreste der Sonatensatzform in Funérailles nur einen kleinen Teil der formalen Konzeption ausmachen. Zum einen gibt es statt einer Durchführung ein drittes Thema (Takte 109-155 – im Folgenden: "Fanfarenthema" oder "Fanfare"), das in seinem Charakter einer Fanfare ähnelt. Der Beginn dieser Fanfare wird ebenso wie das Hauptthema und das Seitenthema in der Reprise wiederholt. Allerdings wirkt diese Wiederholung zugleich auch als eine Coda, da sie über dem Pedalton der Haupttonart f-Moll den Schluss des Stückes einleitet. 48 Abbildung 1: Formaler Überblick über Funérailles 2.1 Formaler Überblick über 'Funérailles' 49 2.1 Formaler Überblick über 'Funérailles' Ein weiterer Unterschied zur Sonatensatzform sind die Überleitungen zwischen den einzelnen Teilen – in Funérailles sind die überleitenden Takte direkt in die Schlusstakte der Themen integriert. Dies unterstreicht den strophenartigen Charakter des formalen Ablaufs, da jeder Teil einerseits in sich abgeschlossen ist, andererseits aber logisch in den nächsten Teil überleitet. Durch das Fehlen einer Durchführung findet auch die Themen- und Motiventwicklung in Funérailles auf einer anderen Ebene statt – nämlich innerhalb der einzelnen Teile. Die Einleitung, und das Hauptthema von Funérailles haben einen ähnlichen formalen Aufbau: Das Thema, bei dem es sich um eine satzartige Struktur handelt, wird einmal wiederholt. Der Vordersatz dieser Wiederholung enthält zwar meist nur leichte, satztechnische Änderungen, diese modifizieren den Charakter des Themas allerdings in einer Weise, dass man von einer ersten Entwicklung sprechen kann. Der Nachsatz der Wiederholung wird so abgeändert, dass er in den nächsten Teil überleitet und entwickelt das Thema und dessen Motive noch weiter. In Abbildung 2 sieht man diesen formalen Aufbau am Beispiel der Einleitung dargestellt. Abbildung 2: Formaler Überblick der Einleitung 50 2.1 Formaler Überblick über 'Funérailles' Das Seitenthema und die Fanfare von Funérailles sind dreiteilige Formmodelle. Das Interessante an diesen Modellen ist, dass der zweite Teil vom Thema des ersten Teiles abgeleitet ist. In diesem Mittelteil wird das Thema verändert und weiterentwickelt, was im Falle des Seitenthemas diesem Teil einen durchführungsartigen Charakter verleiht. Im dritten Teil wird das Thema des ersten Teils in einer abgeänderten Variante wiederholt. Eine weitere Motiventwicklung lässt sich zwischen dem Hauptthema und dem Seitenthema feststellen. Die Nachsätze dieser Teile sind einander in ihrem Charakter sehr ähnlich. In Abbildung 3 sieht man einige der entwickelten Motive in einer Gegenüberstellung. Die Takte 101-108 wirken fast wie eine vergrößerte Zusammenfassung der vorangegangenen Nachsätze. Besonders auffällig ist, dass die Takte 52-55 und die Takte 101-108, die zeitlich am weitesten von einander entfernt sind, fast aus demselben Tonvorrat bestehen. Abbildung 3: Motiventwicklung zwischen Haupt- und Seitenthema Takte 68-71 Takte 76-79 Takte 84-88 Takte 52-55 Takte 101-108 51 2.2 Teil A – Die Einleitung 2.2 Teil A – Die Einleitung Die Haupttonart von Funérailles ist f-Moll. Allerdings zögert Liszt die Bestätigung dieser Tonalität bis zum Beginn des Hauptthemas hinaus (Takt 24). Die gesamte Einleitung kann harmonisch als ein einziger Auftaktakkord auf der Dominante angesehen werden. Allerdings beinhaltet sie einige Schlüsselstellen, die für den weiteren Verlauf des Stückes von Bedeutung sein werden. Die Einleitung gliedert sich in drei Teile (im Folgenden: A1, A2 und A3 – vgl. Abbildung 1) und erstreckt sich über die Takte 1-23. Wie bereits angedeutet ist der Vordersatz von Teil A2 (Takte 10-13) eine Wiederholung des Vordersatzes von Teil A1 (Takte 2-5), mit dem Unterschied, dass die Stimmen etwas anders ausgesetzt wurden, wodurch sich in Verbindung mit der intensivierten Dynamik der Charakter stark ändert. Ein wichtiges kompositorisches Element, das Liszt in Funérailles immer wieder einsetzt, sind Doppelfunktionen, also harmonische Verbindungen, die funktionstheoretisch in mehrfacher Weise gedeutet werden können (vgl. S. 10). Die erste Doppelfunktion, die in diesem Zusammenhang auftritt, ist die Wechselbeziehung zwischen dem f-Moll-Dreiklang und dem Des-Dur-Dreiklang. Mit diesen beiden Dreiklängen verwandt sind der übermäßige Dreiklang auf Des und der F-Dur-Dreiklang (Notenbeispiel 38). Notenbeispiel 38: Harmonisches Band der Dreiklänge f-Moll Des-Dur F-Überm. F-Dur. Diese Akkorde besitzen ein harmonisches Band, weshalb sie als Stellvertreter für einander angesehen werden können. Der übermäßige Dreiklang auf F beziehungsweise Des kann als Bindeglied zwischen den Tonarten f-Moll/F-Dur und Des-Dur aufgefasst 52 2.2 Teil A – Die Einleitung werden. Zusammen bilden diese Dreiklänge eine Akkordfamilie, auf die Liszt in Funérailles immer wieder Bezug nimmt. Die Doppelfunktion des Tonikagegenklangs in Moll ist zu Liszts Zeit, durch seine Funktion als Tonika-Stellvertreter im Trugschluss, natürlich nichts Neues mehr. Bis Takt 17 unterliegt den harmonischen Fortschreitungen ein Pedalbass auf der V. Stufe (C), der als Dominantpedal den Bezugspunkt zur Zieltonart f-Moll darstellt. Der erste Hinweis auf die Bedeutung von Des-Dur findet sich schon im ersten Ton von Funérailles. Noch bevor der Pedalbass einsetzt, erklingt im Bass ein Des. Dieses Des trübt die Farbe des Pedaltons C1 drei Takte lang durch das Intervall der kleinen None ein und verschleiert so die anfangs auch aus anderen Gründen instabile Tonart (Notenbeispiel 39). Notenbeispiel 39: Funérailles, Takte 1-3 Ein weiteres wichtiges kompositorisches Element in diesem Werk ist der verminderte Septakkord. Er tritt zum ersten Mal in Takt 2 über dem C-Pdeal als Dominante mit tiefalterierter None auf. In Takt 3 wird er jedoch nicht in die Tonika f-Moll aufgelöst, sondern in den Tonikagegenklang Des-Dur weitergeführt. Ebenfalls in Takt 3 setzt Liszt einen fis-Moll-Dreiklang (letztes Achtel), die tiefalterierte II. Stufe von f-Moll. Dieser Akkord wird hier zwar nur als kurzer chromatischer Wechselakkord zu Des-Dur eingeführt, er wird jedoch im Verlauf des Stückes noch eine wichtige Rolle einnehmen. Die Beziehung zwischen dem Molldreiklang auf der erniedrigten II. Stufe und der DurTonika wurde bereits ausführlich in Kapitel 1.1 dargestellt. Hier tritt dieser Dreiklang nun im Kontext einer Molltonart auf. An dieser Stelle ist darüber hinaus auch noch seine Beziehung zum Tonikagegenklang von Bedeutung – es handelt sich um dessen Mollsubdominante. 53 2.2 Teil A – Die Einleitung In den Takten 4-5 folgt eine reale Sequenz (vgl.Kapitel 1.3) der Takte 2-3, um eine große Sekund höher. Durch den Einsatz einer realen Sequenz wird die Tonart f-Moll hier noch weiter verschleiert und es entsteht kurzzeitig der Eindruck als sei die Grundtonart g-Moll. Danach wird die Melodie nochmals eine große Sekund höher sequenziert (Takte 6-7). Die zugrunde liegenden Harmonien werden hier jedoch zugunsten von verminderten Dreiklängen abgeändert, was zur Folge hat, dass in Takt 7 die Tonalität des Stückes nahezu aufgehoben wird. In meiner Analyse schließt der Vordersatz des A1-Teils nach dieser 2. Sequenz (vgl. Abbildung 2). Dies sind auch jene Takte, die im Teil A2 weitgehend auf denselben Tonstufen wiederholt werden. Im Nachsatz des Teils A1 (Takte 8-9) werden die Motive des vorangegangenen Sequenzmodells abgespaltet und nach einem kurzen Umweg über As-Dur – die Tonart des Seitenthemas – folgt eine chromatische Linie von verminderten Dreiklängen, die diesen ersten Teil beendet (Notenbeispiel 40). Der Nachsatz des Teils A2 (Takte 16-17) ist eine Variation dieser chromatische Linie. Allerdings wird sie nicht mehr mit verminderten Dreiklängen ausgesetzt sondern mit großen Terzen und Oktaven (Notenbeispiel 41). Damit bereitet Liszt in diesen Nachsätzen die für Funérailles wichtigen Elemente der Kleinterzschichtung (entspricht dem verminderten Septakkord) und der Großterzschichtung (entspricht dem übermäßigen Dreiklang) vor. Notenbeispiel 40: Funérailles, Takte 9-10 Notenbeispiel 41: Funérailles, Takt 17 54 2.2 Teil A – Die Einleitung Die ersten Takte des Teils A3 (Takte 18-19) sind für den weiteren Verlauf des Stückes von besonderer Bedeutung, da sie gleich mehrere in Funérailles wichtige musikalische Elemente in komprimierter Form einführen. Takt 18 beginnt mit einem liegenden des1 im fff, auf dem die Musik plötzlich inne hält. Ein Des-Dur-Akkord an dieser Stelle würde dem oben erwähnten Trugschluss in Moll entsprechen. Liszt bildet unter diesem des1 jedoch in Takt 19 mittels hinzugefügter großer Terzen einen übermäßigen Dreiklang auf F, den er schließlich in einen A-Dur-Dreiklang (2. Umkehrung) weiterführt (Notenbeispiel 42). Notenbeispiel 42: Funérailles, Takte 18-19 Die Takte 20-22 scheinen zunächst eine erneute Wiederholung des Teils A1 zu sein (Notenbeispiel 43). Unter derselben Akkordfolge erklingt nun allerdings ein Pedalbass auf Des1, womit sich die Tonart in Takt 21 nach Des-Dur abändert. Der Des-Dur-Septakkord auf der dritten Viertel dieses Taktes stellt allerdings, als Stellvertreter der Doppeldominante101, sofort wieder den Bezug zur Haupttonart f-Moll her. In Takt 22 erklingt auf die zweite Viertel kurz der Neapolitaner (tiefalterierte II. Stufe) von Des-Dur, der danach in einen verminderten Septakkord auf E (Dominante in f-Moll) weitergeführt wird. Somit wird im Teil A3 eine harmonische Großterzschichtung erreicht – von A-Dur über Des-Dur nach f-Moll. Notenbeispiel 43: Funérailles, Takte 20-23 101 Des-Dur-Septakkord als Tritonusstellvertreter der Doppeldominante G7 ohne Grundton mit kleiner None und tiefalterierter Quint. 55 2.3 Teil B – Das Hauptthema 2.3 Teil B – Das Hauptthema Dieser Abschnitt von Funérailles (Takte 24-55) steht in der Tonart f-Moll. Die Beziehung zwischen der auf einem Dominantpedal basierenden Einleitung und dem Hauptthema ist also formal gesehen sehr konventionell. Das Hauptthema gliedert sich in zwei Abschnitte (im Folgenden: B1 und B2 – vgl. Abbildung 1), die wieder dem eingangs erwähnten Formmodell entsprechen (vgl. S. 50). Der Vordersatz (Takte 24-31) dieses Themas beginnt mit einem Wechsel zwischen einem f-Moll Akkord und einem übermäßigen Dreiklang auf C (Notenbeispiel 44). Notenbeispiel 44: Funérailles, Takte 24-27 Einerseits ist die Funktion dieses übermäßigen Dreiklangs natürlich dominantisch zu f-Moll. Andererseits macht sich auch wieder die Doppelfunktion dieses Akkords bemerkbar. Der übermäßige Dreiklang auf C steht zu f-Moll in derselben Beziehung, die man im Spätwerk Liszts so häufig antrifft: f-Moll ist die tiefalterierte II. Stufe von E-Dur (vgl. S.17). Diese Beziehung mag im ersten Moment etwas weit hergeholt erscheinen, aber die Behandlung des übermäßigen Dreiklangs in diesen Takten ist für eine Dominante recht ungewöhnlich. Zum einen führt die Bassmelodie in Takt 24/3. Viertel zunächst zum Ton E. In Takt 25, in dem der Bass auf dem Grundton der Dominante anlangt, erklingt darüber allerdings schon wieder ein f-Moll-Dreiklang. Zum anderen wird in der Wiederholung dieser Takte (Takte 40-43) ein Pedalbass auf F/F1 unter die in den Diskant transponierte Melodie gesetzt. In der Reprise (Takte 156-192) bestätigt Liszt schließlich die in diesen Takten nur angedeutete Doppelfunktion von 56 2.3 Teil B – Das Hauptthema f-Moll und E-Dur, indem nach der Einrichtung der Haupttonart das Seitenthema nicht – wie im klassischen Sonatensatz üblich – in der Tonart des Hauptthemas f-Moll steht, sondern in E-Dur (Takte 177-180). Istvan Szelényi macht auf einen Zusammenhang zwischen der Basslinie der Takte 24-27, einem Melodieausschnitt der in der Bagatelle ohne Tonart wieder auftaucht und einem Tetrachord der antiken griechischen Musik aufmerksam (vgl. S. 20). Szelényi bezeichnet diesen Tetrachord als "Lochryses Molltetrachord", da er "aus dem 7-ten, 1-, 2- und 3-ten Ton des Zigeunermolls (und harmonischen Molls) besteht" (Notenbeispiel 45).102 Wie wir bei den Analyses von von La lugubre gondola I / II und Unstern! gesehen haben steht die Zigeunerskala in einer engen Beziehung zu der Doppelfunktion Tonika/Mollneapolitaner. Notenbeispiel 45: "Lochryses Molltetrachord" Istvan Szelényi zeigt, dass man in Bagatelle ohne Tonart und Funérailles den gleichen Intervallaufbau wie in diesem Tetrachord findet (Notenbeispiel 46 und Notenbeispiel 47).103 Notenbeispiel 46: Bagatelle ohne Tonart Notenbeispiel 47: Funérailles 102 103 Szelényi, Der unbekannte Liszt (Anm. 44), S. 316. Vgl. Ebd., S. 317. 57 2.3 Teil B – Das Hauptthema Der Nachsatz von Teil B1 (Takte 32-39) beginnt in der Tonart des Mollneapolitaners fis-Moll, den Liszt in Takt 3 der Einleitung bereits angedeutet hatte. Interessant ist auch die Rückmodulation nach f-Moll in den Takten 36-39 (Notenbeispiel 48), in denen Liszt in die Tonart es-Moll (die Doppelsubdominante der Grundtonart) ausweicht. Notenbeispiel 48: Funérailles, Takte 36-39 Ausweichung nach es-Moll Es entsteht dadurch in diesem Teil wieder eine Harmoniefolge in Terzen: b-Moll (Takte 28-31) → fis-Moll (Takte 32-35) → es-Moll (Takte 36-38). Der letzte Takt des Nachsatzes (Takt 39) ähnelt dem Ende der Einleitung (vgl. Notenbeispiel 43), nur, dass dieses Mal die Terz der Doppeldominante im Bass liegt.104 Die Dominante zu f-Moll, auf das letzte Viertel dieses Taktes, ergibt zur Tonart es-Moll eine weitere kleine Terz und leitet in den Teil B2 über, der eine leicht abgeänderte Wiederholung von B1 ist. In Teil B2 setzt Liszt in den Takten 52-53 die chromatische Linie im Bass aus den Takten 36-37 weiter fort und setzt auf das 3. und 4. Viertel von Takt 53 einen verminderten Septakkord auf A (Notenbeispiel 49). Notenbeispiel 49: Funérailles, Takte 52-55 104 Vgl. Anm. 101 58 2.3 Teil B – Das Hauptthema Es macht wenig Sinn diesen Akkord noch funktionshamonisch deuten zu wollen. Es ist hier vollkommen ungewiss, wie sich die Musik weiterentwickeln wird und auch der nächste Akkord, ein A-Dur-Dreiklang mit Terz im Bass, macht erst im Nachhinein als neapolitanischer Sextakkord in As-Dur einen Sinn, wird aber bei seinem Eintreten wohl kaum als solcher gehört. Um die vielen Assoziationen aufzuzeigen, die diese Verbindung (Av7 nach A-Dur mit Terz im Bass) bei der Analyse auslösen kann, möchte ich es dennoch wagen mich dieser Akkordfolge funktionsharmonisch aus unterschiedlichen Richtungen zu nähern. Die erste Möglichkeit wäre sie als Zwischendominante zur Subdominante in As-Dur zu deuten (vgl. Abbildung 4). Gegen diese Interpretation spricht allerdings die eigenwillige Stimmführung der Takte 53-54. Abbildung 4: Funérailles, T. 53-54, Funktionsanalyse 1 in As-Dur T.53 T.54 <C7 >m sj b9 3 Die zweite Möglichkeit besteht darin, den ersten Akkord (Av7) als einen Vorhaltsakkord beziehungsweise Wechselakkord zu hören (vgl. Abbildung 5). Wiederum lässt die Stimmführung zu wünschen übrig. Allerdings ist interessant, dass eben dieser Wechselakkord kurz danach in Takt 56 vorkommt und zu einem wichtigen Element des anschließenden Abschnitts wird (in diesem Fall Iv7 → I / As v7 → As-Dur). Abbildung 5: Funérailles, T. 53-54, Funktionsanalyse 2 in As-Dur T.53 T.54 NRÜwü6 -_. 1 5Te 3 59 2.3 Teil B – Das Hauptthema Die Verbindung eines verminderten Septakkords zu einem Durdreiklang auf derselben Stufe (zum Beispiel Av7 → A-Dur mit Terz im Bass) spielt in Funérailles eine wichtige Rolle. In den Takten 68-71 (Notenbeispiel 50) findet man im Prinzip die gleiche Harmoniefolge wie in den Takten 52-55 (vgl. Notenbeispiel 49). Allerdings wird in den Takten 68-71 der verminderte Septakkord durch eine Zwischendominante ersetzt (Takt 69 – C7 mit Terz im Bass), weshalb man die Verbindung hier als Trugschluss hört – anstelle der Tonikaparallele f-Moll steht auf der 1. Viertel von Takt 70 ein Fes-Dur-Sextakkord (der neapolitanische Sextakkord der Zieltonart es-Moll). Notenbeispiel 50: Funérailles, Takte 68-71 in As-Dur: in es-Moll: Sh <D7> m [Ah] 5 3 [sj 3 D7ZP - T ]m a 3 Trugschluss Diese letzte Interpretation der Akkordfolge ist meiner Meinung nach die, die Liszts Gedankengang am nächsten kommt (obwohl Liszt natürlich nicht in Funktionen gedacht hat) und sie ist die einzige, die auch den es-Moll-Quartsextakkord in Takt 53 (1. und 2. Viertel) zu deuten vermag. Wenn wir die Takte 53-54 mit diesem Hintergrundwissen analysieren ist die Grundtonart b-Moll, in Takt 54 steht ein Trugschluss, der es-Moll-Dreiklang entspricht der Subdominante (Abbildung 6). Man darf auch nicht vergessen, dass die Takte 53-54 als Modulation von der Haupttonart f-Moll zur Tonikaparallele As-Dur dienen. Für diesen Modulationsweg ist b-Moll, als Subdominantregion von f-Moll und als Region der Subdominantparallele von As-Dur, eine gut geeignete Übergangstonart. Abbildung 6: Funérailles, T. 53-54, Funktionsanalyse 3 in b-Moll: in As-Dur: T.53 T.54 s C90u m [a] sj V90Utp 5 3 3 T.55 D6R -_ /5E 3 Trugschluss 60 2.3 Teil B – Das Hauptthema Dieser Trugschluss ist so interessant und ungewöhnlich, dass ich mich hier näher mit ihm auseinander setzen möchte und ihn dem üblichen Trugschluss in Moll und der regulären Auflösung einer Dominante gegenüberstelle. Um das Beispiel zu vereinfachen steht es in c-Moll. Ich übertrage dabei die Stimmführung des traditionellen Trugschlusses auf die Trugschluss-Varianten von Liszt (Notenbeispiel 51). Notenbeispiel 51: Der Trugschluss zur tiefalterierten Dur-Tonika reguläre Auflösung in c-Moll: D7 3 a regulärer Trugschluss in c-Moll: Trugschluss nach Liszt T.53-54: Trugschluss nach Liszt T.69-70: D7 aG D7 3 3 3 ? C90UP ? 3 Die Reduktion der entsprechenden Stellen bei Liszt: Takte 53-54 Takte 69-70 Der einzige Ton des erwarteten Auflösungsakkords (b-Moll in Takt 53/54, f-moll in Takt 69/70), der in Liszts Trugschlussakkorden noch vorhanden ist, ist die Terz (cis/des bzw. As). Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet macht nun auch der Sprung im Bass einen Sinn, da dadurch genau diese Terzen verdoppelt werden. Der üblicherweise bei einem Trugschluss verdoppelte Grundton ist ja in der Liszt-Variante tiefalteriert. Es ist nicht möglich diesen Trugschluss aus Sicht der Ursprungstonart funktionsharmonisch sinnvoll zu bezeichnen, deshalb bezeichne ich ihn in dieser Analyse als "Trugschluss zur tiefalterierten Dur-Tonika". Man könnte die VII. Stufe zwar auch als Dur-Dominant-Gegenklang ansehen (DG), damit würde aber nicht ausgedrückt, dass dieser Akkord eigentlich ein Stellvertreter der Tonika ist. 61 2.4 Teile C und D – Das Seitenthema Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass dieser Trugschluss wieder in einer engen Beziehung zur oben beschriebenen Doppelfunktion – I-Moll | bI-Dur (bzw. I-Dur | bII-Moll) – steht. In der Reprise von Funérailles wird er zum Beispiel verwendet, um von der Haupttonart f-Moll zu der Tonart des wiederholten Seitenthemas in E-Dur überzuleiten (Takte 174-177). Der letzte Akkord, der vor dem Seitenthema steht, ist eine Dominante in f-Moll, während das Thema in E-Dur einsetzt. Es ist auch bemerkenswert, dass die Grundtöne dieses Trugschlusses in großen Terzen fortschreiten (C → E). 2.4 Teile C und D – Das Seitenthema Das lyrische Thema dieses Abschnitts ist ein deutlicher Kontrast zum Hauptthema. – Liszt folgt hierin wieder dem Beethovenschen Modell der Sonatensatzform. Ebenso dem Modell entsprechend steht die Tonart des Seitenthemas (Takte 56-108) in As-Dur, der Region der Tonikaparallele. Allerdings macht die Modulation nach As-Dur einen so weiten Umweg, dass man die Tonikaparallele beim ersten Hören von Funérailles kaum als solche identifizieren wird. Die Form besteht aus drei Teilen (im Folgenden: C1 C2 | D1 D2 | C3 C4 – vgl. Abbildung 1). In diesem Abschnitt wendet Liszt die von Dahlhaus beschriebene Kompositionstechnik des "Alternativchromas" an (vgl. S. 42). Die Vordersätze aller Teile entstammen demselben Thema. In den Vordersätzen des Mittelteils (Takte 72-88) wird dieses Thema jedoch anders harmonisiert und das harmonische Gerüst danach durch chromatische Veränderung einzelner Töne variiert. Durch diese Variation und durch die rasch aufeinander folgenden Modulationen erhält der Mittelteil einen durchführungsartigen Charakter. 62 2.4 Teile C und D – Das Seitenthema Um den Vorgang dieser chromatischen Veränderungen zu veranschaulichen, habe ich in Notenbeispiel 52 den ersten Vordersatz und die beiden Vordersätze des Mittelteils in einer nach C-Dur transponierten Reduktion einander gegenübergestellt. Man sieht, dass der Unterschied zwischen den Takten 72-75 und 80-83 minimal ist. Die Wirkung dieser Änderung ist jedoch enorm. Man kann an dieser Gegenüberstellung auch gut erkennen wie Liszt ein und dieselbe Melodie immer wieder in ein neues harmonisches Gewand kleidet. Dieses Verfahren wirkt hier fast wie eine entwickelnde Variation, die nicht die Melodie direkt verändert – wie wir es von Brahms und Schönberg kennen – sondern die Melodie mit Hilfe der darunter liegenden Harmonien variiert. Notenbeispiel 52: Reduktion der Vordesätze des Seitenthemas Takte 56-59 von As-Dur nach C-Dur transponiert A tE -. rüWÜ .- Et A tE -. rüWÜ .- Et Takte 72-75 von H-Dur nach C-Dur transponiert Dz . o A tü . t D z . o A tü . t Takte 80-83 von F-Dur nach C-Dur transponiert <D7>m Ah A tü . t <D7>m Ah A (in As-Dur) Trugschluss 63 2.4 Teile C und D – Das Seitenthema Bei der harmonischen Entwicklung dieses Mittelteils spielt das Distanzprinzip eine wichtige Rolle. Der Vordersatz von Teil D1 steht in H-Dur, der von Teil D2 steht, auf das variierte Thema bezogen, in F-Dur. Allerdings muss zu Teil D2 angemerkt werden, dass man ihn zunächst nicht in F-Dur wahrnimmt sondern eher in der Tonikaparallele d-Moll. Das liegt daran, dass der Takt 79 auf A-Dur endet und man deshalb Takt 80 dominantisch zu d-Moll hört. Liszt verbindet die beiden Teile, indem er in der ersten Hälfte von Takt 77 zunächst die Zwischendominante zur Subdominantparallele der Bezugstonart H-Dur setzt – Gis-Dur-Septakkord (Notenbeispiel 53). Notenbeispiel 53: Funérailles, T. 76-79 Statt in die erwartete Subdominantparallele (cis-Moll) wird dieser Akkord jedoch in einen übermäßigen Dreiklang auf Cis weitergeführt, den Liszt im nächsten Takt nach A-Dur auflöst. Diese harmonische Wendung hat Liszt bereits in der Einleitung von Funérailles angekündigt (vgl. Notenbeispiel 42). A-Dur steht zur folgenden Tonart F-Dur in einem Großterzverhältnis. Die harmonische Wendung der Takte 82-83 (vgl. Notenbeispiel 52) entspricht wieder dem oben vorgestellten Trugschluss und moduliert so um eine weitere Großterz nach Des-Dur. Interessant ist allerdings, dass dieselbe Wendung hier durch die chromatische Veränderung des ursprünglichen Themas um nur einen Ton entsteht. Der harmonische Verlauf der Takte 78-83 (A-Dur → F-Dur → Des-Dur) leitet sich somit abermals von der Struktur des übermäßigen Dreiklangs auf Des ab. 64 2.4 Teile C und D – Das Seitenthema Wie bereits erwähnt entspricht der Trugschluss zur tiefalterierten Dur-Tonika auch folgender Akkordverbindung: verminderter Septakkord auf der I. Stufe → Durdreiklang auf der I. Stufe. Diese Verbindung kann, da der erste Akkord ein verminderter Septakkord ist, in vier verschiedene I. Stufen aufgelöst werden. Reiht man mehrere dieser Verbindungen aneinander und löst sie in unterschiedliche Toniken auf entsteht eine Harmoniefolge in Kleinterzschichtung (Notenbeispiel 54). Notenbeispiel 54: Auflösung des verminderten Septakkords auf der I. Stufe As-Verm. As-Dur As-Verm. kleine Terz H-Dur As-Verm. D-Dur kleine Terz Diese Mehrdeutigkeit des verminderten Septakkords nutz Liszt in den Takten 99-104, um von As-Dur über H-Dur und D-Dur nach Des-Dur zu gelangen. Im ersten Teil des Seitenthemas kommt der verminderte Septakkord noch als Wechselakkord zur Tonika vor (vgl. Takte 56-57: As-Vermindert → As-Dur), während er in den Takten 99-100 in einen H-Dur-Dreiklang aufgelöst wird. Zwei Takte später (Takte 102-103) löst Liszt denselben verminderten Septakkord (mit geändertem Bass: D statt As) schließlich in einen D-Dur-Dreiklang auf. Dieses D-Dur deutet Liszt anschließend in den neapolitanischen Sextakkord in Des um. Diese Umdeutung entspricht auch der Wendung der Takte 53-54 in denen diese Verbindung zum ersten Mal auftritt. Die Beziehung zwischen D-Dur und Des-Dur ist auch dieselbe wie zwischen der I. Stufe und der tiefalterierten zweiten. Offensichtlich handelt es sich bei diesen beiden harmonischen Wendungen und ihrer Beziehung zu einander um zentrale kompositorische Elemente in Funérailles. 65 2.5 Fanfare und Reprise 2.5 Fanfare und Reprise Bei der Fanfare (Takte 109-155) handelt es sich wieder um eine dreiteilige Form (im Folgenden: E1 E2 | F1 F2 | E3 – vgl. Abbildung 1). An diesem Abschnitt fällt zunächst auf, dass die einzelnen Teile harmonisch sehr viel einfacher gehalten sind, als im übrigen Stück. Über einer ostinaten Bassfigur erklingt meist die Tonika, die nur gelegentlich von der Dominante oder der Subdominante unterbrochen wird. Liszt stellt den harmonischen Bezug zu den bisherigen Elementen hier nicht innerhalb der einzelnen Teile her, sondern über den harmonischen Verlauf des ganzen Abschnitts (vgl. Abbildung 1). Die Tonarten der ersten drei Teile (E1, E2, F1) entsprechen der Großterzschichtung Des-A-F, also jenem übermäßigen Dreiklang, den ich in Kapitel 2.1 (vgl. Notenbeispiel 38) mit Des-Dur und f-Moll/F-Dur in Beziehung gebracht habe. Ähnliche Akkordfortschreitungen fanden wir in Funérailles bereits in der Einleitung (Takte 18-19) und im Seitenthema (Takte 78-83). Die nächsten beiden Teile (F2 und E3) stehen in den Tonarten Es-Dur und D-Dur. Die Beziehung zwischen diesen beiden Tonarten entspricht der Verbindung zwischen tiefalterierter II. Stufe und I. Stufe, ein weiteres kompositorisches Element, das in Funérailles von Bedeutung war. Die Rückmodulation zur Tonart f-Moll der Reprise geschieht wieder über den übermäßigen Dreiklang auf Des in Takt 150. Wie bereits erwähnt wird in der Reprise das Seitenthema in der Tonart E-Dur wiederholt (Takte 177-180). In den Takten 185-189 folgt eine Reprise des Fanfarenthemas. Die Tonart bleibt in diesem Schlussteil von Funérailles allerdings unbestimmt. Das ostinate Bassmotiv deutet auf Des-Dur oder f-Moll hin, die Harmonien die darüber klingen sind allerdings ein Wechsel zwischen einem F-Dur-Dreiklang und einem übermäßigen Dreiklang auf Cis (Des). So treffen die vier Harmonien der in Notenbeispiel 38: vorgestellten, Akkordfamilie in den letzten Takten aufeinander und beenden damit das Stück. 66 2.5 Fanfare und Reprise Betrachtet man den großformalen harmonischen Ablauf in Funérailles, zeigt sich, dass dieser einer interessanten Logik folgt (Abbildung 7). In der Einleitung fand sich zum ersten Mal eine angedeutete harmonische Folge in großen Terzen: A-Dur → Des-Dur → f-Moll (Takte 19 - 24). Vom Hauptthema zum Seitenthema entsteht die Kleinterzfolge f-Moll → As-Dur → H-Dur (Hauptthema in f-Moll, Seitenthema in As-Dur, Teil D1 in H-Dur). Im Mittelteil des Seitenthemas findet sich wieder eine harmonische Folge in großen Terzen: A-Dur → F-Dur → Des-Dur (Takte 78-83) und im letzten Teil des Seitenthemas kommt wieder eine Folge in kleinen Terzen: As-Dur → H-Dur → D-Dur (Takte 97-103). Die Fanfare beendet diese harmonische Entwicklung mit der Großterzfolge Des-Dur → A-Dur → F-Dur. Der großformale Prozess in Funérailles ist offenbar von dem musikalischen Material der übermäßigen und verminderten Dreiklänge abhängig. Abbildung 7: Harmonische Folgen in großen und kleinen Terzen Auch in seinem Spätwerk hat Liszt den formalen Ablauf häufig von der Struktur des harmonischen Materials abgeleitet (vgl. S. 12). Allerdings hat Liszt diese Idee im Spätwerk zunehmends abstrahiert und weiterentwickelt. So finden sich im Spätwerk nicht nur harmonische Folgen, die auf dem Intervallaufbau äquidistanter Akkorde beruhen, sondern auch solche, die auf die begrenzte Anzahl von möglichen übermäßigen Dreiklängen oder verminderten Septakkorden zurückzuführen sind. 67 SCHLUSSWORT Ich machte im Verlauf dieser Arbeit auf die Gemeinsamkeiten der Kompositionstechniken in Liszts Früh- und Spätwerk aufmerksam. Es zeigte sich, dass Berührungspunkte in den unterschiedlichsten Teilbereichen zu finden sind – in der Materialauswahl, der Harmonik, den harmonischen Verläufen und auch in der Form. In Funérailles gibt es eine besondere Vielzahl von Parallelen zu den Kompositionstechniken im Spätwerk. Die Techniken, die Liszt im Alter einsetzte, sind somit durchaus als Erweiterung und Konsequenz seiner früheren Techniken zu verstehen und sollten nicht als experimentelle Sonderfälle behandelt werden. Auch zwischen den einzelnen Kompositionstechniken, die in dieser Arbeit behandelt wurden, fanden sich viele Anknüpfungspunkte die eine unreflektierte Abqualifizierung von Liszts Spätwerk als "schwache Alterswerke" ohne Beziehung zum sonstigen Schaffen des Komponisten sehr fragwürdig erscheinen lässt. 68 Quellenverzeichnis QUELLENVERZEICHNIS BAKER, James M.: The Limits of Tonality in the Late Music of Franz Liszt, in: Journal of Music Theory (Bd. 34, 2), 1990, S. 145-173 CANNATA, David Butler: Perception & Apperception in Liszt's Late Piano Music, in: The Journal of Musicology (Bd. 15,2), 1997, S. 178-207 COHN, Richard: Weitzmann's Regions, My Cycles, and Douthett's Dancing Cubes, in: Music Theory Spectrum (Bd. 22,1), 2000, S. 89-103 DAHLHAUS, Carl: Mazzepa, in: Analyse und Werturteil, Mainz 1970, S. 85-89 DE LA MOTTE, Diether: Harmonielehre, München 1995 ERPF, Hermann: Studien zur Harmonie- und Klangtechnik der neueren Musik, Leipzig 1927 FORTE, Allen: Liszt's Experimental Idiom and Music of the Early Twentieth Century, in: 19th-Century Music (Bd. 10,3), 1987, S. 209-228 GÁBRY, Gyorgy: Neuere Liszt-Dokumente, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Tl. 10, 3), 1968, S. 339-352 GÁRDONYI, Zsolt: Paralipomena zum Thema Liszt und Skrjabin. in: Virtuosität und Avandgarde, Untersuchungen zum Klavierwerk Franz Liszts, Mainz 1988, S. 9-31 GÁRDONYI, Zoltán: Neue Tonleiter- und Sequenztypen in Liszts Frühwerken (Zur Frage der "Lisztschen Sequenzen"), in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Tl. 11,1), 1969, S. 169-199 HITZLBERGER, Thomas: Zwischen Tonalität und Rationalität, in: Virtuosität und Avandgarde, Untersuchungen zum Klavierwerk Franz Liszts, Mainz 1988, S. 32-59 69 Quellenverzeichnis KABISCH, Thomas: Struktur und Form im Spätwerk Franz Liszts. 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Wagnerkritik in den späten Klavierstücken Franz Liszts, in: Liszt-Studien 3, München/Salzburg 1986, S. 189-210 72 Abbildungsverzeichnis ABBILDUNGSVERZEICHNIS a) Verzeichnis der Notenbeispiele Notenbeispiel 1: Verminderter Septakkord als Stellvertreter der Subdominante 10 Notenbeispiel 2: La lugubre gondola II, Takte 1-9 11 Notenbeispiel 3: La lugubre gondola II, Takte 10-13 11 Notenbeispiel 4: La lugubre gondola II, Takte 14-18 12 Notenbeispiel 5: Unstern!, Takte 1-4 13 Notenbeispiel 6: Bagatelle ohne Tonart, Takte 1-8 13 Notenbeispiel 7: Weitzmanns Zwölftonmatrix 14 Notenbeispiel 8: Weitzmanns äquidistante Oktavteilung 15 Notenbeispiel 9: Auflösungsmöglichkeiten des überm. Dreikl. in einen Moll-Dreikl. 15 Notenbeispiel 10: J. S. Bach, Choralstelle mit übermäßigem Dreikl. 16 Notenbeispiel 11: Beziehung zwischen I. Stufe und tiefalterierter II. Stufe 17 Notenbeispiel 12: E-Dur und f-Moll 18 Notenbeispiel 13: E-Überm. und f-Moll 18 Notenbeispiel 14: Zigeunerskala auf D und Modi des chrom. Tetrachords 20 Notenbeispiel 15: Zigeunerskala auf F um die Töne des natürlichen Molls erweitert 20 Notenbeispiel 16: "La lugubre gondola I", Takte 27-34 21 Notenbeispiel 17: Leitereigene Dreiklänge 21 Notenbeispiel 18: La lugubre gondola I, Takte 1-22 22 Notenbeispiel 19: La lugubre gondola II, Takte 35-44 23 Notenbeispiel 20: Nuages gris, Takte 1-12 24 Notenbeispiel 21: Nuages gris, Takte 21-24 24 Notenbeispiel 22: La lugubre gondola I, Takte 77-100 26 Notenbeispiel 23: Unstern!, Takte 21-25 28 Notenbeispiel 24: Unstern!, Takte 45-57 29 Notenbeispiel 25: Unstern!, Takte 70-72 29 Notenbeispiel 26: Unstern!, Takte 79-82 30 Notenbeispiel 27: Unstern!, Schlusstakte 31 Notenbeispiel 28: "Teufelsmühle" 31 Notenbeispiel 29: Bagatelle ohne Tonart, Takte 85-86 32 73 Abbildungsverzeichnis Notenbeispiel 30: Gegenüberstellung der Skalen 33 Notenbeispiel 31: mixolydische Skala mit erhöhter Quart 34 Notenbeispiel 32: reale Sequenzen von Dreiklängen in kleinen Terzen 37 Notenbeispiel 33: Alterierende Skalen mit und ohne Oktavteilung 38 Notenbeispiel 34: symmetrische Skala aus Preludio funebre 38 Notenbeispiel 35: reale Sequenzmöglichkeiten beim übermäßigen Dreikl. 41 Notenbeispiel 36: Harmonisches Gerüst von R.W. Venezia, T. 1-24 43 Notenbeispiel 37: R.W. Venezia, T. 24-30 44 Notenbeispiel 38: Harmonisches Band der Dreiklänge 52 Notenbeispiel 39: Funérailles, Takte 1-3 53 Notenbeispiel 40: Funérailles, Takte 9-10 54 Notenbeispiel 41: Funérailles, Takt 17 54 Notenbeispiel 42: Funérailles, Takte 18-19 55 Notenbeispiel 43: Funérailles, Takte 20-23 55 Notenbeispiel 44: Funérailles, Takte 24-27 56 Notenbeispiel 45: "Lochryses Molltetrachord" 57 Notenbeispiel 46: Bagatelle ohne Tonart 57 Notenbeispiel 47: Funérailles 57 Notenbeispiel 48: Funérailles, Takte 36-39 58 Notenbeispiel 49: Funérailles, Takte 52-55 58 Notenbeispiel 50: Funérailles, Takte 68-71 60 Notenbeispiel 51: Der Trugschluss zur tiefalterierten Dur-Tonika 61 Notenbeispiel 52: Reduktion der Vordesätze des Seitenthemas 63 Notenbeispiel 53: Funérailles, T. 76-79 64 Notenbeispiel 54: Auflösung des verminderten Septakkords auf der I. Stufe 65 b) Verzeichnis der Abbildungen Abbildung 1: Formaler Überblick über Funérailles 47 Abbildung 2: Formaler Überblick über die Einleitung 50 Abbildung 3: Funérailles, T. 53-54, Funktionsanalyse 1 59 Abbildung 4: Funérailles, T. 53-54, Funktionsanalyse 2 59 Abbildung 5: Funérailles, T. 53-54, Funktionsanalyse 3 60 Abbildung 6: Harmonische Folgen in großen und kleinen Terzen 67 74 Werkverzeichnis ANHANG a) Werkverzeichnis der späten Solo-Klavierwerke Liszts (ab 1870)105 Entstehungsjahr Searle Titel 1870 194 Mosonyis Grabgeleit - Mosonyi gyázmenete 1870 233 Ungarischer Geschwindmarsch - Magyar Gyors induló ca. 1870? 233a Siegesmarsch - Marche triomphale 1872 191 Impromptu ("Nocturne") 1873 245 Fünf ungarische Volkslieder 1874 196 [Erste] Elegie ca. 1875 500 Excelsior! [Prelude zu Die Glocken des Straßburger Münsters (Nr.6)] 1874-76 186 Weihnachtsbaum - Arbre de Noel (Sammelwerk) 1877 187 Sancta Dorothea 1877 187a Resignazione 1877 195 Dem Andenken Petöfis - Petöfi szellemének 1877 197 Zweite Elegie 1865-79 192 Fünf kleine Klavierstücke 1879 181 Sarabande und Chaconne aus Händels "Almira" 1865-81 197a Toccata 1865-81 214a Carousel de Mme Pelet-Narbonne 1870-80? 239 Vive Henri IV 1880 188 In festo transfigurationis Domini nostri Jesu Christi o.D. (1881?) 198 Wiegenlied - Chant du berceau 1881 199 Nuages gris 1881/82 224 Csárdás macabre 105 Zusammengefasst aus: Manfred Wagner, Franz Liszt, Wien 2000, S. 204-239. 75 Werkverzeichnis 1882 200 La lugubre gondola 1 / 2 1883 230 Bülow-Marsch 1883 201 R. W. - Venezia 1883 202 Am Grabe Richard Wagners 1883 203 Schlaflos, Frage und Antwort; Nocturne 1883 216 Dritter Mephisto Walzer 1883 217 Mephisto-Polka nach 1880 246 Puszta-Wehmut - A Puszta keserve nach 1880 204 Receuillement nach 1880 208 Unstern! sinistre, disastro 1884 225 Zwei Csárdás: 1. Allegro; 2. Csárdás obstiné (1886) 1881?-1885 215 Quatre valses oubliées 1885 205 Historische ungarische Bildnisse (Sammelwerk) 1885 206 Trauervorspiel und Trauermarsch 1885 207 En rêve, nocturne 1885 251 Abschied 1885 216a Bagatelle ohne Tonart - Bagatelle sans tonalité 1885 696 Vierter Mephisto-Walzer (unvollendet) nach 1880 698 La mandragore, Ballade aus Delibes' Jean de Nivelle (unvollendet) 76 Literaturverzeichnis b) Literaturverzeichnis CINNAMON, Howard, Tonic Arpeggiation and Successive Equal Third Relations as Elements of Tonal Evolution in the Music of Franz Liszt, in: Music Theory Spectrum (Bd. 8), 1986, S. 1-24. 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GÁRDONYI, Zoltán: Zoltán Kodály über Liszts Hungarismen, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Tl. 25,1), 1983, S. 131-134 GUT, Serge: Berlioz, Liszt und Wagner: Die französischen Komponenten der Neudeutschen Schule, in: Liszt-Studien 3, München/Salzburg 1986, S. 48-55 JUNG, Hans Rudolf: Einige Lebens- und Schaffensprobleme Franz Liszts in den Jahren 1859-1861, dargestellt unter Verwendung unveröffentlichter Briefe des Komponisten, in: Liszt Studien 2, München/Salzburg 1981, S. 56-69 KABISCH, Thomas: Franz Liszt und die Traditon der "nichtdiskursiven" Musik, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Tl. 28,1), 1986, S. 125-136 LISZT, Franz: Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn, in: Franz Liszt, Gesammelte Schriften (Bd. 6), Hildesheim/New York 1978 LONGYEAR, Rey M. - COVINGTON, Kate R.: Tonal and Harmonic Structures in Liszt's Faust Symphony, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Tl. 28,1), 1986, S. 153-171 77 Literaturverzeichnis MÓRICZ, Klára: The Ambivalent Connection between Theory and Practice in the Relationship of F. Liszt & F.-J. Fétis, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Tl. 35,4), 1993-1994, S. 399-420. POPOVIC, Linda: Liszt's Harmonic Polymorphism: Tonal and Non-Tonal Aspects in 'Héroïde Funèbre', in: Music Analysis (Bd 15, 1), 1996, S. 41-55 PROTZIES, Günther: Studien zur Biographie Franz Liszts und zu ausgewählten seiner Klavierwerke in der Zeit der Jahre 1828 - 1846, Doktorarbeit an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum 2004 REHDING, Alexander: Liszt und die Suche nach dem "TrisZtan"-Akkord, in: Acta Musicologica (Bd. 72,2), 2000, S. 169-188 SAFFLE, Michael: Liszt Research Since 1936: A Bibliographic Survey, in: Acta Musicologica (Bd. 58, 2), 1986, S. 231-281 SATYENDRA, Ramon: Liszt's Open Structures and the Romantic Fragment, in: Music Theory Spectrum (Bd. 19,2), 1997, S. 184-205 TODD, R. 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