Das Christentum - Thomas Schirrmacher

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05.10.2010 - Das Christentum
Das Christentum ist die auf Jesus (ca. 7/4 v. Chr.?30 n. Chr.) zurückgehende und nach
dessen Ehrentitel Christus (griech: der Gesalbte, hebr. Messias) benannte Religion, deren
Anhänger schon im N.T. 'Christen' und seit Bischof Ignatius von Antiochien (?107/117) als
'Christentum' (griech. christianismos) bezeichnet wurden. Wegen seiner Herkunft aus dem
Judentum gehört das Christentum ursprünglich zu den vorderasiatischen Religionen.
Das Christentum ist mit 2,1 Milliarden Anhängern (1/3 der Weltbevölkerung) und aufgrund
seiner geographischen Verbreitung noch weit vor dem Islam die größte Religion der Welt
und wird dies wohl auch auf lange Zeit bleiben. Denn während in Europa die Zahl der
Mitglieder der ehemaligen Staatskirchen sinkt, nimmt selbst dort die Zahl der Mitglieder
kleinerer Kirchen, insbesondere die Zahl evangelikaler, charismatischer und
fundamentalistischer Gruppen stark zu und wächst die Zahl der Christen in Afrika und Asien
wesentlich schneller als die Weltbevölkerung.
Das Christentum ist in 223 Ländern der Erde verbreitet, darunter als Mehrheitsreligion mit
über 50% Anteil an der Bevölkerung in 138 Staaten. Das Christentum war lange in der einen
oder anderen Form Staatsreligion oder Volksreligion in fast allen westlichen Staaten und ist
heute noch Staatskirche in der evangelisch-lutherischen Form in Finnland und Norwegen, in
seiner anglikanischen Form in Großbritannien und in seiner katholischen Form in Bolivien,
Kolumbien, Paraguay, Monaco und der Vatikanstadt.
Das Christentum ist zugleich neben dem Islam die Religion, die in Geschichte und
Gegenwart weltweit den größten Einfluß und die meisten ? positiven wie negativen ? Folgen
hatte und hat. Seine Geschichte ist mit fast allen Höhepunkten und Tiefpunkten der
Weltgeschichte eng verwoben.
Das Christentum ist auch in seiner Spiritualität und seinem missionarischen Eifer
ungebrochen. Täglich werden schätzungsweise 122.000 Menschen getauft, und während
etwa der Islam sein Wachstum vor allem dem Geburtenzuwachs zu verdanken hat, gehen
rund die Hälfte der Taufen auf Überzeugungs- und Missionsarbeit zurück. Seine heilige
Schrift, die Bibel, ist das mit Abstand am meisten gedruckte Buch der Geschichte (jährlich
werden 61 Mio. Bibeln, 122 Mio. N.T., 4,5 Milliarden Bibelteile verbreitet) und kein Buch
wurde und wird auch nur annähernd so viel übersetzt (vollständig übersetzt in 1.943
Sprachen, nur das N.T. zusätzlich in 2.897 Sprachen, Teile der Bibel in 2.063 Sprachen,
Übersetzungen in Arbeit in 1.355 Sprachen), ja Hunderte von Sprachen liegen nur wegen
einer Bibelübersetzung in Schriftform vor und blieben deswegen erhalten.
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Das Christentum ist einerseits von einer unglaublichen Vielfalt an geschichtlichen,
geographischen und kulturellen Erscheinungsformen bestimmt und insbesondere die Vielfalt
im protestantischen Bereich bringt fast täglich neue Ableger hervor. Gleichzeitig ist aber die
katholische Kirche mit dem Papst an der Spitze nicht nur die mit 1,1 Milliarde Mitgliedern
mit Abstand größte Organisation in Geschichte und Gegenwart, sondern auch mit Abstand
die älteste, kontinuierlich bestehende Organisation, die seit dem römischen Reich gewaltige
Umbrüche aller Art überdauert hat. Daneben nimmt sich das britische Königshaus als die
zweitälteste ununterbrochen existierende Institution, in Alter, Umfang und Bedeutung
geradezu bescheiden aus.
Auch wer selbst keiner oder einer anderen Religion angehört, kommt kaum an dem
prägenden Einfluß des Christentums auf die westliche Kultur und über sie auf alle Kulturen
in Vergangenheit und Gegenwart vorbei. Lange Zeit waren Kunst, Literatur und Musik
ebenso wie Wissenschaft, Recht und Wirtschaft und auch der Alltag von christlichen
Denkmustern beeinflußt. Maler verwendeten christliche Symbole, Dichter nahmen biblische
Stoffe als Vorlage, Komponisten vermittelten die christliche Botschaft durch ihre Musik.
Bevor sich die Wissen-schaften zu eigenen Disziplinen verselbständigten, waren sie eng mit
der Theologie verflochten. Das west-liche Fortschrittsdenken basiert auf dem linearen
Geschichtsbild des Christentums mit seiner Annahme einer unwiederholbaren Einmaligkeit
der historischen Prozesse. Ohne die Kenntnis des christlichen Hintergrunds sind Ursprung
und Entwicklung der europäischen und nordamerikanischen Kultur und ihr Einfluß in der
ganzen Welt nur schwer zu verstehen. Bestimmte typisch christliche Erscheinungen, wie der
arbeitsfreie Sonntag, haben sich weit über den Bereich der praktizierenden Christen hinaus
etabliert, weswegen er etwa auch in Tunesien, Japan, Indien und Indonesien den
Lebensrhythmus bestimmt.
Darüber hinaus sind auch die beiden anderen monotheistischen Weltreligionen und ihre
Geschichte ohne das Wechselspiel mit dem Christentum nicht zu verstehen, denn das
Judentum ist der Wurzelboden des Christentums und seit dem 1. Jh. maßgeblich von dessen
Wohlwollen abhängig, während der Islam aus beiden herauswuchs, bereits im Koran
detailliert zum Christentum Stellung nimmt und mit dem Christentum sowohl im fruchtbaren
Kulturaustausch, wie auch im dauernden kriegerischen Auseinandersetzungen stand. Aber
auch weltweite Bewegungen wie Kapitalismus (Aufhebung des Zinsverbotes),
Kommunismus oder Atheismus sind ohne ihr Wechselspiel mit dem Christentum kaum zu
verstehen.
Das Christentum unterscheidet sich von allen anderen Weltreligionen dadurch, daß es seinen
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Stifter völlig und in jeder Hinsicht in den Mittelpunkt stellt und göttlich verehrt. Jesus ist für
die Kirche nicht nur Urheber oder Wiederentdecker metaphysischer und ethischer Lehren,
wie Buddha oder Konfuzius, nicht nur der Gesandte eines sich ihm offenbarenden Gottes,
wie Mose oder Mohammed, nicht nur eine Inkarnation des Weltenherrn, der göttliche
Weisheit verkündet, wie Krishna, sondern er ist dies alles zusammen und darüber hinaus
Gott selbst. Er ist durch Geburt, Kreuzestod, Auferstehung und Himmelfahrt Mittel- und
Wendepunkt der Weltgeschichte und als Weltenrichter im Jüngsten (= letzten) Gericht Ziel
der Weltgeschichte. Trotz aller Unterschiede in Einzelfragen herrscht bei den zahllosen
christlichen Kirchen und Gruppen in einem Punkt Einigkeit: Gott hat sich in Jesus Christus
offenbart und an ihm hängt das Schicksal und die Erlösung der Menschheit.
Das Christentum wurde von Jesus Christus gestiftet. Keiner seiner ersten Anhänger und
keiner der bedeutenden Kirchenführer der Geschichte hätte sich jemals als Stifter bezeichnet.
Unter den Persönlichkeiten der ersten Stunden haben die hier dargestellten Apostel Paulus
und Petrus und außerdem der Apostel Johannes den Kurs des jungen Glaubens wie niemand
sonst maßgeblich bestimmt. Daneben hat das Christentum eine nicht enden wollende Liste
von bedeutenden Theologen, Philosophen, aber auch Sozialreformern und Mystikern
hervorgebracht, wie Aurelius Augustinus oder Martin Luther King, um nur zwei zu nennen.
Die Reformatoren des 16. Jh. stehen am Anfang eigener Kirchen, die teilweise nach ihnen
benannt wurden, doch sie waren nicht die ersten und nicht die letzten, die den Kurs der
christlichen Kirche ganz neu bestimmten, waren doch Reformen zumindest in den
westlichen Kirchen immer eine Selbstverständlichkeit, wie etwa das 2. Vatikanische Konzil
der kath. Kirche gezeigt hat. Und dennoch hätte sich niemand von all diesen
Persönlichkeiten als Stifter des christlichen Glaubens bezeichnet. Denn gestiftet hat Jesus
Christus das Christentum aus Sicht der Christen nicht nur durch seine Lehren, Gedanken,
Ideen oder Reformversuche, sondern vor allem durch sein Handeln. Er selbst steht nicht nur
am Anfang der christlichen Botschaft, sondern schuf die reale Grundlage für sie, ja ist die
Botschaft selbst.
Der Name Jesus (griech.-lat. Form des hebr. Namens Josua / Jeschua, kurz für Jehoshua =
'Jahwe ist Rettung') war ein verbreiteter jüdischer Personenname, während Christus (griech.
Übersetzung des hebr. maschiach = 'der Messias', der Gesalbte') ursprünglich nur als
Hoheitstitel verwendet wurde. So ist 'Jesus Christus' oder 'Christus Jesus' die älteste und
kürzeste Form des christlichen Urbekenntnisses: Jesus ist der zur Rettung der Welt gesandte
Messias (1Joh 2,2; 5,1; Joh 20,31; Apg 9,22; 17,3; 18,5+28), Jesus von Nazaret der
verheißene Christus, also der Messias. 'Jesus Christus' wurde schon sehr früh einfach als
Doppelname verwendet.
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