Das Problem der moralischen Motivation im Ersten

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Universität Zürich, Philosophische Fakultät
Seminar: Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
Frühjahrssemester 2014
Dozent: Prof. Dr. Sebastian Muders
Das Problem der moralischen Motivation
im Ersten Abschnitt von Kants
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
und der Begriff „Achtung fürs Gesetz“ als
Lösungsansatz
Abgabedatum:30.05.2014
Lucien Baumgartner
Andelfingerstr.1
8548 Ellikon an der Thur
076 396 87 41
[email protected]
BA Studium: 2.Semester
Matrikelnummer: 13-751-376
Politikwissenschaften 120, Philosophie 30,
Islamische Welt 30
Philosophische Fakultät, FS14
Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
Inhaltsverzeichnis
Einleitung.............................................................................................................................................2
Teil I: Das Problem der moralischen Motivation.................................................................................3
Moralische und weniger moralische Handlungen...........................................................................3
Das Vernunftgesetz..........................................................................................................................4
Das Problem einer affektleeren Vernunft........................................................................................6
Teil II: Achtung fürs Gesetz ................................................................................................................7
Die Bedingungen an die moralische Motivation.............................................................................7
Die Einführung des Achtungsbegriffes in Verbindung mit der Pflicht...........................................8
Das Gesetz als Gegenstand der Achtung.........................................................................................9
Das principium executionis der Vernunft......................................................................................11
Die Achtung als Modus des Gesetzes............................................................................................12
Fazit....................................................................................................................................................14
Bibliographie......................................................................................................................................15
Lucien Baumgartner
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Philosophische Fakultät, FS14
Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
Einleitung
Immanuel Kant (1724-1804) geht in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS, 1785) der Frage
nach, was sittliches Handeln ausmacht. Dabei erschliesst er den Lesern sein wohl bekanntestes Konzept, den
Kategorischen Imperativ. Sicherlich nicht ganz so prominent wie dieser ist das moralische Gefühl der Achtung, das nichtsdestotrotz einen moralphilosophischen Problempunkt thematisiert. Die Achtung ist Kants Lösungsansatz für das Problem der moralischen Motivation, bzw. warum wir überhaupt moralisch handeln. Die
Begriffsklärung, die Kant in der GMS unternimmt, bleibt jedoch skizzenhaft und wird erst in späteren Schriften verstärkt behandelt (allem voran in der Kritik der praktischen Vernunft). Doch die zahlreichen Verweise
und Erwähnungen des Begriffs, einschliesslich einer ausführlichen Anmerkung dazu, deuten darauf hin, dass
die Achtung Kant schon in der GMS, seiner ersten rein moralphilosophischen Abhandlung beschäftigt hat.
Mir erscheint es darum wichtig, das Problem der moralischen Motivation aufzuzeigen und die Ansätze, die
Kant in der GMS zur Achtung entwickelt, für einmal dezidiert herauszuarbeiten.
Dabei wird es in erster Linie darum gehen, eine Darstellung des Kontexts, in dem moralische Motivation
überhaupt nötig ist, zu liefern. Ich werde darin zuerst einige Grundlagen klären, welche es ermöglichen, danach vertieft auf Konzepte wie das „Vernunftgesetz“, den „guten Willen“ oder die „Neigungen“ einzugehen.
In diesen Auseinandersetzungen werde ich den Zusammenhang zwischen jenen Konzepten erläutern und auf
eine Lücke aufmerksam machen, die sich aus dem scheinbaren Fehlen einer moralischen Motivation ergibt.
In einem zweiten Teil werden die Lösungsansätze Kants diskutiert und zum Ende hin zu einer Synthese ver einigt. Dabei soll zentral auf die Achtung eingegangen werden, welche eigens als Lückenfüller für besagtes
Problem eingeführt wird. Da der Begriff von Kant selbst nicht sehr stark konstruiert wor den ist, werde auch
ich vermehrt versuchen, mit Stellen aus der GMS die Stellung und die Funktion des Vernunftgesetzes zu be tonen. Die Stärkung des Vernunftgesetzes als zentrales Element der kantischen Ethik zulasten des Achtungsbegriffes dient dabei auch der Untermauerung des rationalistischen Ansatzes Kants.
Es wurde auch darauf geachtet, dass im ersten Teil dieser Arbeit vermehrt Beispiele zur Illustration zum
Zuge kommen. Das soll den Einstieg erleichtern und das Verständnis vereinfachen. Der zweite Teil ist dagegen deutlich technischer gehalten und es wird darin eher ein ganzheitliches theoretisches Verständnis
angestrebt.
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Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
Teil I: Das Problem der moralischen Motivation
Moralische und weniger moralische Handlungen
Es ist unmöglich, sich mit der Motivation zu moralischen Handlungen auseinanderzusetzen, ohne im Vorfeld
gewisse Grundlagen geklärt zu haben. Darunter fallen Fragen wie Was ist eine Handlung? oder Wodurch
wird eine Handlung moralisch wertvoll?. Im Prozess der Grundlagenklärung soll ersichtlich werden, auf
welchen metaphysischen Fundamenten Kants Moralphilosophie fusst und welches Problem sich, hinsichtlich
der moralischen Motivation, daraus ergibt.
Kant formuliert zwar in der GMS keine explizite Handlungstheorie, doch betont er schon im ersten Abschnitt
drei Konzepte, die jegliche Handlung konstituieren. So gründet eine Handlung immer auf Prinzipien. Das
impliziert aber zugleich, dass wir fähig sein müssen, nach Prinzipien zu handeln, wenn man wie Kant annimmt, dass wir moralische Handlungen vollziehen können. Darum ist für Kant der Begriff des Willens
(bzw. des guten Willens) äusserst wichtig. Der Wille ist demnach nichts anderes als die Fähigkeit nach
Prinzipien zu handeln. Auf das Tun selbst, das Mechanische der Handlung, geht Kant nicht näher ein, dafür
umso mehr auf ihre Wirkung, bzw. ihren Zweck, worumwillen sie vollzogen wird.
Dort, wo sich nach Kant nun der Wert einer Handlung entscheidet, ist das Prinzip, auf welchem die Handlung gründet. Wenn wir also über den moralischen Wert einer Handlung urteilen, müssen wir immer das ihr
zugrunde liegende Prinzip beurteilen. Dabei müssen wir zwischen materiellen und formellen Prinzipien unterscheiden1. Materielle Prinzipien begründen eine Handlung durch die Zwecke, die mit ihr erreicht werden
sollen. Wenn ich also z.B. einer betagten Dame über die Strasse helfe, kann ich das damit begründen, dass
ich mir davon ein kleines Entgelt erhoffe oder dass es mich einfach glücklich macht, ihr zu helfen. Formelle
Prinzipien hingegen sind rein a priorisch: Die Handlung, die aufgrund eines solchen Prinzips ausgeführt
wird, gründet also auf etwas, das vor der Handlung bereits schon vorhanden ist und nicht auf dem Ziel der
Handlung. Das steht im Kontrast zum materiellen Prinzip, das zwingend a posteriori sein muss, da die Wirkung der Handlung, welche der Handlung nachgesetzt ist, den Beweggrund darstellt.
Beim obigen Beispiel mit der alten Dame stehen wir vor der Wahl, entweder aufgrund eines erwarteten Entgelts zu handeln, für das wir gewisse Neigungen verspüren, wie z.B. Geldgier. Oder aber wir befinden, dass
es einem guten Prinzip entspricht, wenn wir einer Dame über die Strasse helfen und handeln darum nach diesem Prinzip. Entweder wir wollen Geld oder wir wollen gut handeln.
Doch welche Prinzipien resultieren nun in einer moralischen Handlung? Kants Antwort ist klar und deutlich:
Nur diejenigen Handlungen, die auf dem „formellen Prinzip des Wollens“ 2 gründen, sind von hohem moralischen Wert. Ein solches Prinzip ist ein Sittengesetz, bzw. eine allgemeingültige und notwendige Maxime,
wie z.B. „Alle sollen immer und überall die Wahrheit sagen“ oder um auf das Beispiel oben
1 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Stuttgart: Reclam, Philipp, jun. GmbH, Verlag, 2011),
400. (Es wird die Paganierung der Akademie-Ausgabe verwendet)
2 Ebd., 400.
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zurückzugreifen: „Alle sollen immer und und überall einer betagten Dame über die Strasse helfen.“
Handlungen sind nach Kant erst dann moralisch hochwertig, wenn sie jeweils auf einem formellen Prinzip
beruhen3. Solche Handlungen sind jedoch nicht absolut wertvoll, denn dies ist laut Kant nur der gute Wille,
bzw. die Fähigkeit nach Vernunftprinzipien zu handeln. 4 Das lässt den Handlungen aus materiellen
Prinzipien jedoch immer noch eine gewisse Bandbreite der Qualität, da sie nicht per se als schlecht eingestuft
werden können. Sie haben zwar keinen moralischen Wert, können jedoch andere Formen von Güte
aufweisen.
Urteilen wir also über den moralischen Wert einer Handlung, müssen wir das ihr zugrunde liegende Prinzip
betrachten. Ist dieses materiell, ist die Handlung nur bedingt und sicher weniger moralisch wertvoll als wenn
es formell wäre. Damit ist jedoch nur die Wertehierarchie geklärt, in welcher wir Handlungen nach ihren je weiligen Prinzipien einordnen können. Über das Gute, welches die Vernunftgesetze auszeichnet, sind wir
uns jedoch immer noch im Unklaren. Als nächstes bleibt darum zu klären, was ein Vernunftgesetz ist und
was das Gute in ihm ausmacht.
Das Vernunftgesetz
Kant identifiziert das gute Prinzip mit dem Sittengesetz oder Vernunftgesetz. Wir werden jedoch sehen, dass
sich dieses Gesetz nur von der Form her von einer Maxime unterscheidet. Aus diesem Grund gehe ich zuerst
auf die Maxime ein, um danach aufzuzeigen, inwiefern sie sich zu einem Gesetz umformulieren lässt.
Eine Maxime ist nach Kant „das subjektive Prinzip des Wollens“ 5, bzw. das, was den Willen einer Person
subjektiv bestimmt. Maximen könnte man darum in der Form „Ich will x“ äussern, was das Polen des Willens auf x ausdrückt. In diesem Ausdruck wird auch ersichtlich, was „subjektive Willensbestimmung“ bedeutet: Es gibt ein Ich, also ein Subjekt, dessen Willen x intendiert. Nehmen wir nun an, wir stünden vor der
Entscheidung, entweder zu lügen oder die Wahrheit zu sagen. Da wir gut erzogen wurden und uns immer gesagt wurde, Lügen sei schlecht, wollen wir die Wahrheit sagen. Wenn wir nun nach Kant moralisch handeln
wollen, reicht es nicht, dass wir unser Wollen nur subjektiv formulieren und lediglich mittels Rückgriff auf
unsere Erziehung oder die öffentliche Meinung, begründen können. Eine Handlung wird nur dann unbedingt
gut sein, wenn sie nach einem objektiven Gesetz vollzogen wird. Folglich muss eine Person wollen können,
dass seine subjektive Maxime zum allgemeinen Gesetz werde, welches allgemeingültig und notwendig ist 6.
Wir müssen also wollen, dass alle immer nach diesem Gesetz handeln müssten.
Die Form des Gesetzes ist somit die einer objektiven, allgemeingültigen und notwendigen Maxime, welche
gewollt werden kann. Also ist der Inhalt des Gesetzes nichts anderes als jener derjenigen Maxime, wel che
von der Vernunft als objektiv, allgemeingültig und notwendig erachtet wird. Was nun aber den Willen be stimmt, nach diesem Gesetz zu handeln, ist nicht der Inhalt selbst, sondern nur seine Form. Wäre es möglich,
3
4
5
6
Vgl. ebd.
Vgl. ebd., 394–395.
Ebd., 401 (Anm.).
Vgl. ebd., 402.
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dass man wollen könnte, die Maxime m „Ich will die Wahrheit sagen“ sei ein allgemeines Gesetz, dann würde das entsprechende Gesetz g inhaltlich (Inhalt I) identisch mit m sein. Das Einzige, was ändern würde, ist,
dass m in die Gesetzform fg überführt und dadurch zum Gesetz selbst würde. Die Formulierung des Gesetzes
g aus Maxime m wäre demnach „Ich will, dass „Ich will die Wahrheit sagen“ allgemeingültig und notwendig
ist“ oder: „Alle sollen die Wahrheit sagen (wollen)“. Formalisiert liesse sich dieser Sachverhalt folgender massen ausdrücken:
(m ≡ g) ↔ ((g ≡ fg(m))˄(I(m) ≡ I(g)))
In der Gesetzform zeigt sich analog zur subjektiven Willensbestimmung, dass sie den Willen auf ei ner objektiven Ebene bestimmt. So wird durch das Gesetz nicht vordergründig das Subjekt angesprochen, sondern
eine Gesamtheit von Wesen („Alle“). Damit wird impliziert, dass alle (teil)ratio nalen Wesen in Ansehung
dieses Gesetzes notwendigerweise genauso handeln müssten, weil ihre Vernunft es gebietet. Moralische Gesetze sind nämlich immer Vernunftgesetze, weil wir vernünftig über den moralischen Wert einer Handlung
urteilen. Die Vernunft sieht nur dasjenige Prinzip als unbedingt gut an, das allgemeingültig und notwendig,
also objektiv wollbar ist. Das Gute, welches das Vernunftgesetz ausmacht, ist also dessen Notwendigkeit und
Universalität. Und genau dieses Gute erkennen wir mit unserer Vernunft, was dazu führt, dass alle Vernunftwesen zum gleichen Urteil über den absoluten Wert einer Handlung nach Gesetz g gelangen können und
danach handeln können.
Wie man an dieser Stelle noch einmal sieht, liegt der moralische Wert einer Handlung im Prinzip, nach dem
sie beschlossen wird. Das Gesetz ist also der Wertträger und dabei gleichursprünglich mit dem guten Willen.
Diese Gleichursprünglichkeit zeigt sich in den folgenden Überlegungen:
1) Die Maxime, welche zum Gesetz werden kann, bestimmt den Willen und ist dadurch von ihm abhängig, da sie den Willen braucht, um selbst zu sein: Der Ausdruck der Maxime („Ich will x“) ist ohne
den Willensbegriff nicht möglich, sie beinhaltet ihn immer.
2) Die Formulierung des Kategorischen Imperativs ist ihrerseits an den Willen gebunden, denn ich
muss wollen können, dass meine Maxime allgemeingültig und notwendig sei. Damit ist der Wille
eine notwendige Bedingung für das „Aufstellen“ eines Gesetzes.
3) Der Wille ist nichts als die Fähigkeit, nach Prinzipien zu handeln. Das heisst, sein Sein ist eng an das
der Prinzipien gebunden. Es gibt diese Fähigkeit nur, weil es Prinzipien gibt. Der gute Wille ist zwar
„allein durch das Wollen, d.i. an sich, gut“ 7, doch dieses Wollen ist nichts anderes als ein „Bestimmtwerden“ durch Prinzipien, bzw. durch das formelle Prinzip qua Vernunftgesetz. Der gute Wille hat
nur darum einen absoluten oder unbedingten Wert 8, weil er nur das gute Prinzip wollen kann. So ist
dann auch das Gesetz das „Prinzip des Wollens“, was ihre Gleichursprünglichkeit auf den Punkt
bringt, denn „principium“ bedeutet nichts anderes als „Ursprung“.
Wenn wir nun aber einen solchen guten Willen besitzen und dieser gleichursprünglich mit dem Sittengesetz
7 Ebd., 394.
8 Vgl. ebd.
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ist, so liegt es nahe, dass wir immer nach diesem Sittengesetz handeln wollen würden. Doch wie das Leben
so spielt, handeln wir wohl mehr aufgrund materieller Zwecke als aufgrund abstrakter Vernunftgesetze. Wieso das so ist und was für eine Rolle die Motivation dabei spielt, werde ich im nächsten Kapitel darlegen.
Das Problem einer affektleeren Vernunft
Eine moralisch hochwertige Handlung ist, wie wir gesehen haben, eine gesetzeskonforme Handlung. Für
Kant ist eine Handlung nach dem Gesetz immer auch eine aus Pflicht und zwar darum, weil wir sinnlich-vernünftige Wesen sind9. Denn als Solche können wir jeweils entweder aufgrund von Neigungen oder Vernunft
handeln. Reine Vernunftwesen dagegen, in der Philosophie gemeinhin als „Engel“ oder „Gott“ bezeichnet,
könnten hingegen lediglich rational handeln und wären somit immer in Einklang mit den a priorischen Vernunftprinzipien. Nach Kant sind jedoch nur diejenigen Handlungen moralisch hochwertig, die aus einem guten Willen resultieren. Ein solcher aber ist, gerade aufgrund seiner Unabhängigkeit von materiellen Triebfedern, unbedingt gut10. Weil wir jedoch, wie erwähnt, nur teilrational sind und noch über einen sinnlich-emotionalen Anteil verfügen, werden Handlungen nach dem Gesetz für uns zur Pflicht. Wir mögen zwar dem
Gesetz entgegengesetzte Neigungen haben, doch sollen wir von diesen abkehren und gesetzeskonform handeln. Sinnlich-rationale Wesen sind immer in einem Pflichtverhältnis zum Gesetz, welches sich als Kategorischer Imperativ äussert: „[I]ch soll niemals anders verfahren als so, dass ich auch wollen könne, meine Ma xime solle ein allgemeines Gesetz werden.“ 11
Neigungen intendieren immer auf a posteriorische Prinzipien, bzw. Handlungszwecke. Nun kann es jedoch
sein, dass wir eine Neigung verspüren, welche scheinbar in derselben Handlung resultiert, wie wenn wir aus
Pflicht handelten. Kant führt dazu das Wohltätigkeitsbeispiel 12 an, in dem er einen Altruisten einem Misanthropen gegenüberstellt. Der Altruist hat eine natürliche Neigung, anderen zu helfen, während der Misanthrop die Menschen hasst und beide helfen nun einem Mitmenschen in Not. Nun argumentiert Kant, dass die
Maxime desjenigen, der aus Nächstenliebe handelt, weniger sittlichen Gehalt hat als diejenige des Menschenhassers. Denn beim Menschenfreund ist die Handlung nur pflichtgemäss, während der Misanthrop
ohne Neigung und rein aus Pflicht handelt. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wieso der Misanthrop den noch nach dem Gesetz „Helfe deinem Nächsten in der Not“ handelt. Denn jegliche Handlung beruht unter
anderem auf einem Willen, was impliziert, dass der Misanthrop entgegen seinem Hass die Maxime „Ich will
meinem nächsten in der Not helfen“ seiner Handlung zugrunde legt. Das Problem ist also folgendes: Wieso
sollte ein teilrationales Wesen einem objektiven Gesetz subjektiv Folge leisten, in dem es dieses will, wenn
es doch seinen Neigungen zuwiderläuft? Dieses Problem berührt die moralische Motivation hinter ei ner moralischen Handlung. Denn es widerspricht jeglicher intuitiver Logik etwas zu wollen, das dem neigungsorientierten Wollen widerspricht. Um also überhaupt aus Pflicht handeln zu können, bedarf es etwas, das uns
9
10
11
12
Vgl. ebd., 397.
Vgl. ebd., 396.
Ebd., 402.
Ebd., 397–398.
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subjektiv motiviert, dieses Sollen des Kategorischen Imperativ überhaupt zu wollen.
Auch wenn man zu einem Urteil über den unbedingten Wert einer Handlung gelangt ist, heisst das noch lan ge nicht, dass man diese auch ausführen wird. Vernünftiges Urteilen (Dijudikation) mündet noch nicht in ei ner Handlung gemäss dieses Urteils. „Mässigung in Affekten und Leidenschaften, Selbstbeherrschung und
nüchterne Überlegung“13 machen laut Kant einen Grossteil des inneren Wertes einer Person aus, doch sind
sie weder ohne Einschränkung gut14, noch vermag eine affektleere Vernunft zu Handlungen zu motivieren.
Allgemein ausgedrückt, kann man sich also die Frage stellen, wie überhaupt genuin moralisch hochwertige
Handlungen möglich sind. Ausserdem ist nicht klar, wie ein moralisches Motiv affektiv und dennnoch von
der Neigung verschieden sein soll. Im folgenden Teil der Arbeit wird es darum gehen, Kants Lösungsansätze
für dieses Problem aufzuzeigen und zu erarbeiten, wie moralische Motivation auf uns wirkt.
Teil II: Achtung fürs Gesetz
Die Bedingungen an die moralische Motivation
Eine Handlung ist dann gut, wenn sie gesetzeskonform ist, bzw. das Gesetz zum Prinzip hat. Das heisst im
Hinblick auf den guten Willen, dass auch die subjektive Willensbestimmung, also die Motivation, moralisch
sein und mit dem Gesetz in Verbindung stehen muss. Im Endeffekt muss „[d]as Urteilen über das sittlich
Richtige (Dijudikation) [...] in Übereinstimmung mit der emotionalen Seite des Menschen gebracht werden,
wenn eine Exekution dieses als gut Erkannten möglich sein soll“ 15. So wird ersichtlich, dass Kant zwei Möglichkeiten hat, das Problem der moralischen Motivation zu lösen: Entweder er weitet den Wirkraum des Vernunftgesetzes auf die subjektive Ebene aus oder er führt einen neuen Begriff ein, der als Pendant zur Nei gung fungiert. Egal welcher Lösungsansatz verfolgt wird, es gibt Bedingungen, die erfüllt werden müssen,
soll es etwas motivierendes (movens) für moralische Handlungen geben.
Erstens muss, freilich zugespitzt politisch ausgedrückt, die Vernunft Alleinherrscherin sein – also zugleich
Legislative (Gesetzesgebende), Judikative (Urteilende) und Exekutive (Ausführende) –,wenn eine Handlung
moralisch sein soll. Gerade die zuletzt erwähnte Gewalt ist jedoch auch in der Hand der Neigungen. Das
stellt Kant vor ein weiteres Problem: Das moralische movens steht in der Konkurrenz zu den Neigungen. Es
müsste jedoch in Ansehung eines Sittengesetzes jeweils über die betreffende Neigung obsiegen, da ein solches immer notwendigerweise eine moralisch wertvolle Handlung gebietet.
Zweitens muss das moralische movens das Gesetz zum Gegenstand haben, denn nur dadurch bleibt die Willensbestimmung insgesamt (subjektiv und objektiv) formell. Und erst durch das moralische movens wird das
Gesetz auch auf beiden Ebenen bindend. Dieses movens muss also analog zur Neigung sein16, was dessen af13 Ebd., 394.
14 Vgl. ebd.
15 Susanne Weiper, Triebfeder und höchstes Gut: Untersuchungen zum Problem der sittlichen Motivation bei Kant,
Schopenhauer und Scheler (Würzburg: Königshausen u. Neumann, 2000), 293.
16 Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 401.
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fektive Struktur und die Intentionalität betrifft. Sowohl Neigung als auch das moralische Pendant sind nichts
als subjektive Übermittler eines objektiv willensbestimmenden Prinzips, wobei sich die Neigung auf materielle und das moralische movens auf formelle Prinzipien richtet.
Im nächsten Kapitel werde ich darauf eingehen, in welchem Kontext Kant den Achtungsbegriff einführt und
warum es eines solchen neuen Begriffes bedarf.
Die Einführung des Achtungsbegriffes in Verbindung mit der Pflicht
Kant führt nun zwar im Hinblick auf die Pflicht den Achtungsbegriff ein, doch bedeutet das nicht, dass er
den anderen Lösungsansatz (das Gesetz ist objektiv und subjektiv willensbestimmend) fallen lässt. Vielmehr
erscheint die „Achtung“ bei genauer Analyse ein theoretischer Kniff zu sein, der in einer Synthese der beiden
Lösungsansätze mündet, worauf jedoch an späterer Stelle eingegangen wird.
Die erste Erwähnung der Achtung findet sich im „Dritten Satz zur Pflicht“: „Pflicht ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.“ 17 In dieser Definition wird der Begriff „Achtung“ als erklärende Variable für die zu erklärende Variable „Pflicht“ verwendet, ohne dass die Achtung im Vorfeld thematisiert
worden wäre. Darum soll als nächstes ein genauer Blick auf die Pflicht als Ausdruck der Binde kraft des
Gesetzes geworfen werden.
Moralische Urteile, allen voran in Gesetzesform, sind immer bindend. Korsgaard sieht in dieser Bindekraft
des Gesetzes qua Grund neben dem dadurch entstehenden Pflichtcharakter noch ein motivierendes Moment:
„Moral reasons motivate because they are perceived as binding.“ 18 Die Notwendigkeit, die eine moralische
Handlung nach Gesetzen mit sich bringt, spielt dabei eine wichtige Rolle. Man erinnere sich an den dritten
Satz zur Pflicht, wo die Pflicht als Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz charakterisiert
wird. Erkennt man nun ein Gesetz der Vernunft, so erkennt man gleichzeitig seine eigene Pflicht (als Vernunftwesen) danach zu handeln.
Diese Pflicht muss jedoch stark von einem Zwang unterschieden werden. Zwang wäre gleichbedeu tend mit
einem unausweichlichen Druck von aussen, der einem keine Wahl lässt, anders zu handeln. Pflicht dagegen
ist Ausdruck der Einsicht, wonach der gute Wille zwar (hypothetisch) immer noch die Wahl anders zu han deln hat, jedoch (faktisch) nicht anders kann, als nach dem vorgestellten Gesetz zu handeln. Er kann nicht
anders, weil ein guter Wille per definitionem immer nach dem Vernunftgesetz handeln muss, es gehört quasi
zu seinem Wesen oder seiner Essenz, dies zu tun.
Die angesprochene Notwendigkeit einer Handlung nach dem Gesetz ist also die Wesensnotwendigkeit eines
guten Willens. Weil nun das Gesetz mit dem Prinzip des Wollens übereinstimmt, welches zum Wesen eines
guten Willens gehört, sind moralische Gründe bindend und motivierend zugleich19. Damit ein guter Wille
überhaupt erst gut sein kann, muss er seinem Wesen nach zu gutem Handeln (im Sinne von „in Übereinstim17 Ebd., [400].
18 C. M. Korsgaard in: Paul Guyer, Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals: Critical Essays, Auflage: New.
(Lanham: Rowman & Littlefield Publishers, Inc., 1997), 52.
19 Ebd.
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mung mit dem Gesetz“) bestimmt sein. Ein solches Müssen dürfte demnach auch psychologistisch mit
„Selbstverwirklichung des guten Willens“ übersetzt werden.
Wenn wir nun aber nach einem Vernunftgesetz handeln, so würden wir kaum auf die Idee kommen, unser
Verhalten mit Rekurs auf die Wesensnotwendigkeit eines guten Willens zu begründen. Viel plausibler wäre
es, den Obligationscharakter der Handlung mit einem Gefühl zu erklären: „We say that we feel obligated, or
are under an obligation, to express our sense that the claims of morality are claims on us.“20 Wir fühlen also
die Notwendigkeit einer Handlung nach dem Gesetz, die sich uns sinnlich-rationalen Wesen als Pflicht prä sentiert.
Das heisst wiederum, dass ein moralisches movens immer über die Neigungen obsiegt, weil es das fehlende
Glied zur Erfüllung der Wesensnotwendigkeit des guten Willens darstellt. Denn erst wenn der Wille auch
subjektiv notwendigerweise bestimmt wird, die gesetzeskonforme Handlung zu wollen, kann es so etwas wie
einen guten Willen überhaupt geben. Ohne die Achtung wäre der gute Wille nur bei rein rationalen Wesen
vorhanden, weil diese immer nach Gesetzen handeln.
Am Punkt, an dem Kant auf den Pflichtcharakter moralischer Handlungen aufmerksam macht, bleibt ihm
darum nichts anderes übrig, als ein nicht-empirisches, vernunftgewirktes Gefühl anzunehmen, um das moralische Gesetz und die emotionale Seite des Menschen in Verbindung zu bringen 21. Die Achtung füllt also
eine „Motivationslücke“22 zwischen Dijudikation und Exekution. Die Achtung ist nur bei sinnlich-rationalen
Wesen vorhanden, weil wir etwas brauchen, das unseren Neigungen entgegenwirkt und die Notwendigkeit
moralischer Handlungen subjektiv sicherstellt. Die Achtung stellt also eine „moralische Stabilität“ 23 her.
Obwohl die Achtung über die Neigungen obsiegt, sobald ein Vernunftgesetz erkannt wird, hat sie mehr mit
der sinnlichen Affektion gemeinsam, als man denken könnte. Um diese Analogien soll es im nächsten Kapi tel gehen.
Das Gesetz als Gegenstand der Achtung
Auch wenn die Achtung keinen materiellen Gegenstand haben kann, da sie sonst eine Neigung wäre, so be darf sie dennoch (analog zur Neigung) eines Gegenstandes. Dieser Umstand wird von Köhl anhand einer semantischen Analyse des Begriffs „Achtung für das Gesetz“ erläutert: „Die „interne“ Relation zwischen einem Gefühl [hier: Achtung] und einem Moralprinzip ist eine semantische Beziehung zwischen dem propositionalen Gehalt des Gefühls und dem Prinzip.“ 24 Das für, welches propositional die Haltung der Achtung gegenüber dem Gesetz ausdrückt, zeigt an, dass die Achtung „intentional auf dieses Gesetz gerichtet [ist]“ 25.
20 Ebd.
21 Vgl. Susanne Weiper, Triebfeder und höchstes Gut: Untersuchungen zum Problem der sittlichen Motivation bei
Kant, Schopenhauer und Scheler (Würzburg: Königshausen u. Neumann, o. J.), 294.
22 Steffi Schadow, Achtung für das Gesetz: Moral und Motivation bei Kant (Berlin ; Boston: De Gruyter, 2012), 214.
23 Dieter Schönecker und Allen W. Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“: Ein einführender
Kommentar, Auflage: 4., durchges. u. bibliographisch aktual. Aufl. (Paderborn; München; Wien; Zürich: UTB,
2011), 77.
24 Fink-Eitel und Lohmann, Zur Philosophie der Gefühle, 151.
25 Ebd.
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Doch warum ist die Achtung gerade auf das Gesetz gerichtet und nicht vielmehr auf eine beliebige Maxime?
Das hat einerseits damit zu tun, dass das Gesetz ein Grund für eine Handlung ist26 und andererseits mit dem
Wert des Gesetzes, welcher eng an den absoluten moralischen Wert des guten Willens gebunden ist.
Wir haben im ersten Teil der Arbeit gesehen, dass die Form des Gesetzes die eigentliche Wertträgerin einer
moralisch Handlung ist. Laut Kant richtet sich die Achtung nun auf eben diesen Wert:
„Für diese [die Gesetzesform] aber zwingt mir die Vernunft unmittelbare Achtung ab, von
der ich zwar jetzt noch nicht einsehe, worauf sie sich gründe [...], wenigstens aber soviel
verstehe: dass es eine Schätzung des Wertes sei, welcher allen Wert dessen, was durch Neigung angepriesen wird, weit überwiegt [...]“27
Achtung ist demnach ein „Wertfühlen“28 und „richtet sich intentional auf die an sich seienden Werte“29. Folglich erweist sich einzig die forma legis als achtungswürdig aufgrund ihres moralischen Wertes. Dadurch
kann „[d]ie sittliche Handlung [...] dementsprechend als diejenige bestimmt [werden], an der Werte zur
Erscheinung kommen.“30 Also kann von einer Handlung, deren Motiv die Achtung ist, auf den höchsten
moralischen Wert geschlossen werden, der ihr darum zuteil wird, weil sie gesetzeskonform ist 31. Umgekehrt
kann natürlich auch, wenn die Begründung einer Handlung das Gesetz ist, auf das Motiv der Achtung
geschlossen werden, weil diese Konzepte untrennbar verbunden sind.
Diese Untrennbarkeit vom formellen Prinzip ist nicht nur eine Eigenheit der Achtung. Ob nun Neigung oder
Achtung – das movens ist generell immer auf den Grund einer Handlung gerichtet. Handlungszwecke fallen
darum genauso wie Vernunftgesetze unter den Begriff der „Beweggründe“. Was genau damit gemeint ist,
kann man sich anhand der kategorialen Unterscheidung normativer und motivierender Gründe vergegenwärtigen: „Normative Gründe sind [...] rechtfertigende Gründe, weil sie diejenigen Gründe sind, die aus der Perspektive jeder rationalen Person als 'gute Gründe' angesehen werden.“32 „Motivierende Gründe [...] sind hingegen Gründe, aus denen sich jemand bewegen lässt.“33 Erstere haben als objektiven Charakter, während die
letzteren über einen subjektiven verfügen. Wenn man nun von jemandem gefragt wird, warum man der alten
betagten Dame über die Strasse geholfen hat, so kann man sich mit dem Rekurs auf das Moralgesetz recht fertigen. Zugleich hat man aus Achtung heraus gehandelt, was demnach das Motiv der Handlung wäre.
Das exklusive Intendieren der Achtung auf das Gesetz hängt auch damit zusammen, dass die Achtung
eigentlich das subjektive „Prinzip des Wollens“ ist. Dieses Prinzip ist eng verbunden mit dem Erkennen des
Verstandesgesetzes, wie ich im nächsten Kapitel darlegen werde.
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32
33
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 25.
Ebd., 403.
Weiper, Triebfeder und höchstes Gut, 297.
Ebd.
Ebd.
Vgl. Schönecker und Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, 77.
Steffi Schadow, Achtung für das Gesetz: Moral und Motivation bei Kant (Berlin ; Boston: De Gruyter, 2012), 50.
Ebd., 47.
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Das principium executionis der Vernunft
Als subjektives Motiv ist die Achtung ein Exekutionsprinzip (principium executionis)34 und hat damit eine
affektive Struktur, welche uns als Subjekte anspricht, eine bestimmte moralische Handlung zu wollen. In der
GMS spricht Kant deshalb von der Achtung als das „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“35,
kurz: ein moralisches Gefühl. Dieses Gefühl ist, wie oben dargelegt, auf das Gesetz gerichtet. Das Gesetz als
rechtfertigender Grund mag selbst noch nicht zu motivieren, sondern muss erst durch die Achtung «affektiv»
besetzt“36 werden. Somit könnte man den Achtungsbegriff auf einen uns affizierenden Teil der Gesetzesform
reduzieren. Diese Reduzierung wird durch Kant gestützt, indem er die Achtung als sociativ zum Erkennen
des Gesetzes gehörend verortet:
„Was ich unmittelbar als Gesetz für mich erkenne, erkenne ich mit Achtung, welche bloss
das Bewusstsein der Unterordnung meines Willens ohne Vermittelung anderer Einflüsse auf
meinen Sinn bedeutet. Die unmittelbare Bestimmung des Willens durch das Gesetz und das
Bewusstsein derselben [der Bestimmung] heisst Achtung, so dass diese [die Achtung] als
Wirkung des Gesetzes aufs Subjekt und nicht als Ursache desselben [des Gesetzes] angesehen wird.“37
Das Erkennen eines bindenden moralischen Gesetzes erweckt also das Gefühl der Achtung. Dieses Gefühl
löst seinerseits impulsiv im Zusammenwirken mit der Vernunft eine moralische Handlung aus, indem der
Wille zu ebenjener gesetzeskonformen Handlung motiviert wird. Folglich hätten wir folgende kausale Ver kettung von Ursachen und Wirkungen38:
Erkenntnis des Gesetzes → Achtungsgefühl → Willensbestimmung/Handlungsauslösung
Dadurch verkommt jegliches Wollen zu einem „kausalen Ereignis“ 39, was man jedoch nicht allzu mechanistisch verstehen darf. Denn auch wenn ein kausaler Mechanismus vorhanden ist, bleibt die Vernunft stets autonom, denn es handelt sich nicht um eine von aussen induzierte Kausalität, sondern um eine a priorische:
Die praktische Vernunft ist laut Kant selbstgesetzgebend, weil sie es ist, welche eine Maxime zum Gesetz
umformulieren kann. Zugleich ist sie auch diejenige, die einen an sich selbst guten Willen hervorzubringen
vermag40.
Denn sobald der Wille durch das Gesetz der Vernunft bestimmt wird, so wird er durch sein eigenes Prinzip
bestimmt. Die Achtung als vernunftgewirktes Gefühl ist dabei nichts anderes als unsere subjektive Reaktion
34 Hinrich Fink-Eitel und Georg Lohmann, Zur Philosophie der Gefühle: Herausgegeben von Hinrich Fink-Eitel und
Georg Lohmann, Auflage: 3 (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1993), 139.
35 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 401.
36 Hinrich Fink-Eitel und Georg Lohmann, Zur Philosophie der Gefühle: Herausgegeben von Hinrich Fink-Eitel und
Georg Lohmann, Auflage: 3 (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1993), 139.
37 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 401 (Anm.).
38 Vgl. Herbert J. Paton, Der Kategorische Imperativ: Eine Untersuchung Über Kants Moralphilosophie (De Gruyter,
1962), 68.
39 Ebd.
40 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 396.
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auf die objektive Willensbestimmung41. Und nur weil wir subjektiv Achtung empfinden, sind jene Handlungsalternativen, welche nicht gesetzeskonform sind, faktisch nicht möglich für ihn. Denn ein guter Wille
wird notwendigerweise immer diejenige Handlung wollen, welche nach seinem eigenen Prinzip (dem Vernunftgesetz) beschlossen wird, wobei der Wille dabei dennoch frei ist. Denn die Freiheit liegt nicht in der
Wahl, sondern in der Selbstgesetzgebung der Vernunft (Autonomie), und sie wird auf den Willen übertragen,
sobald er nach dieser Gesetzgebung handelt. So fügt sich alles zu einem fertigen Puzzle: Indem der Wille
dasjenige Gesetz notwendigerweise wollen muss, das autonom beschlossen wurde, wird er selbst frei.
Nehmen wir zur Illustration nochmals den Misanthropen aus dem Wohltätigkeitsbeispiel Kants zur Hand.
Dieser steht vor der Entscheidung, entweder einem Mitmenschen in Not zu helfen oder eben nicht. Sein
Menschenhass intendiert dabei auf das Leid, das er diesem Menschen zufügen würde, würde er eine Hilfestellung unterlassen. Zugleich erkennt jedoch seine Vernunft, dass die Maxime „Ich will Mitmenschen in
Not helfen“ allgemeingültig und notwendig ist. Nun gebietet der Kategorische Imperativ, dass ein jegliches
Vernunftwesen nach einer Maxime handeln muss, welche ebenjene Gesetzescharakteristika aufweist. Sobald
der Misanthrop dieses Vernunftgesetz erkennt, verspürt er für dieses Achtung, weil er sozusagen intuitiv
spürt, dass dieses Gesetz gut ist. In Ansehung dieses Wertes „zwingt“ uns die Achtung dazu, auch als
Subjekt nach dem Gesetz zu handeln. Reine Vernunftwesen würden an dieser Stelle genuin moralisch
handeln, weil sie aufgrund ihrer uneingeschränkten Rationalität immer sittlich handeln. Doch auch der
Misanthrop als teilrationales Wesen muss gute Handlungen wollen, weil ihm seine eingeschränkte
Rationalität dies gebietet. Das Vernunftgesetz ist darum auch nur für sinnlich-rationale Wesen ein Gebot,
weil bei reinen Rationalisten das gute Handeln zum Wesen gehört.
Da jedoch auch reine Vernunftwesen Subjekte sind und als solche individuell motiviert werden müssen, fragt
sich, ob die moralische Motivation nicht dem Gesetz inhärent ist. Diese These nimmt noch einmal den zweiten Lösungsansatz auf, nach dem das Gesetz auch subjektiv wirksam werden könnte.
Die Achtung als Modus des Gesetzes
Nimmt man an, reine Rationalisten seien auch Subjekte, muss ihre objektive Willensbestimmung mit der
subjektiven identisch sein. Denn sie bedürfen keines Gefühls, das der Neigung Abbruch tut, da sie gar keine
Neigungen haben. Demnach wäre die Achtung lediglich als Modus zu interpretieren, in welchem sich das
Gesetz dem sinnlich-rationalen Subjekt zu erkennen gibt 42. Die Achtung selbst hätte dabei keinen eigenen
moralischen Wert, sondern würde einzig den Wert des Gesetzes widerspiegeln 43. So gesehen bräuchte Kant
die Achtung nur als gefühlstechnischen Ausdruck dafür, dass wir den objektiven Wert des Gesetzes und des
guten Willens in uns erleben44.
41 vgl. Wood, Kant’s Ethical Thought, Auflage: First Edition (Cambridge ; New York: Cambridge University Press,
2008), 46.
42 vgl. Schadow, Achtung für das Gesetz, 218.
43 vgl. Weiper, Triebfeder und höchstes Gut, 295. und Schönecker und Wood, Kants „Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten“, 82.
44 Wood, Kant’s Ethical Thought, 46.
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Wir erkennen, dass wir nach dem Gesetz zu handeln haben und dies als teilrationale Wesen auch wollen.
Dieser Umstand äussert sich im Achtungsgefühl, das uns subjektiv an die Gesetzesform bindet. Die Vernunft
sichert sich also sozusagen selbst ab, dass jegliches Wesen, das ihrer mächtig ist, ihr auch notwendigerweise
folgt. Bei Engeln oder Gott (reine Vernunftwesen) ist diese Absicherung jedoch obsolet, da sie ihrem Wesen
nach immer moralisch handeln. Erkennen solche Wesen ein Vernunftgesetz, ist das für sie, als würde ein
vom Baum fallender Apfel das Gesetz der Schwerkraft erkennen. Ein solcher Apfel fällt schon und bedarf
nicht noch einer Erläuterung, warum er fallen soll – das Fallgesetz ist nur ein explizit Machen eines
Gesetzes, das jeglicher Handlung schon immer zugrunde liegt. Genauso werden Engel niemals gut handeln
sollen, weil sie das schon wesensnotwendig wollen.
Die Gesetzesform als Nukleus der kantischen Ethik wäre demnach notwendige und hinreichende Bedingung
für moralisch hochwertiges Handeln, da in ihr auch der gute Wille mit eingeschlossen ist. Denn das Gesetz
allein reicht schon aus, um objektiv und subjektiv gut handeln zu wollen. Menschen erkennen dabei das Ge setz mit Achtung, weil es ohne sie nichts affektives gäbe, das mit den Neigungen konkurrieren könnte und
die Vernunft sie nicht zu motivieren vermögen würde. Engel bedürften dieses Modus nicht, sondern würden
das Gesetz vielleicht im Modus des Naturgesetzes erkennen.
Was Kant damit schafft, bringt R. Brandt auf den Punkt: „[E]in sich selbst durch die Gesetzesform regulie rendes und energetisch sich selbst durch das Achtungsgefühl motivierendes Willenssystem [...]“ 45. Die Vernunft ist also letztendlich ein auto-mobile46, weil sie sich durch die Gesetzesform selbst das Prinzip gibt, wonach zu handeln ist und sich selbst durch die Achtung, bzw. das Gesetz motiviert. Damit wäre das Gesetz
letztendlich rechtfertigender und motivierender Grund. Das Vernunftgesetz hätte damit die Potenz, objektiv
genauso wie subjektiv notwendig für alle Wesen zu sein. Das würde wiederum die rationalistische Seite der
kantischen Ethik stärken und erscheint darum als bester Lösungsansatz für das Problem der moralischen Motivation.
45 R. Brandt in: Heiner F. Klemme, Manfred Kühn, und Dieter Schönecker, Moralische Motivation: Kant und die
Alternativen, Auflage: 1., Aufl. (Hamburg: Meiner, F, 2006), 45.
46 Ebd.
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Fazit
Rückblicken lassen sich die beiden Teile der Arbeit folgendermassen zusammenfassen:
Der moralische Wert einer Handlung beruht auf dem Prinzip, nach der sie beschlossen wird. Formelle Prinzipien, sog. Vernunftgesetze haben dabei einen höheren moralischen Wert als a posteriorische
Handlungszuwecke. Das Gute, welches das Gesetz auszeichnet, ist einerseits gekoppelt an dessen
allgemeingültige und notwendige Form und anderseits auf seine Gleichursprünglichkeit mit dem guten
Willen zurückzuführen.
Diese Gleichursprünglichkeit ist jedoch ihrerseits die Quelle eines Problem, welches die moralische Motivation betrifft. Denn sie ist Ausdruck dafür, dass sich das Vernunftgesetz und der gute Wille gegenseitig bedingen, wodurch es zur Pflicht wird für teilrationale Wesen, moralisch zu handeln. Denn dadurch, dass der gute
Wille nur nach Vernunftprinzipien handeln kann und diese wiederum erst durch den Willen gebildet werden
können, entsteht ebenjene Notwendigkeit einer Handlung nach dem Gesetz äussert.
Als Notwendigkeit versteht Kant die unbedingte Willensbestimmung durch das Vernunftgesetz und zwar auf
objektiver sowie subjektiver Ebene. Doch laut Kant vermag das Vernunftgesetz prima facie lediglich objektiv zu binden, weil es selbst einen objektiven (im Sinne von allgemeingültigen) Charakter hat. Darum stellt
sich die Frage, inwiefern moralisch wertvolle Handlungen, die per definitionem auf dem Vernunftgesetz
gründen, subjektiv möglich sein sollen. Denn ein sinnlich-rationales Subjekt, welches von Neigungen affi ziert werden kann, bedarf eines strukturgleichen movens, welches jedoch explizit auf das Vernunftgesetz gerichtet ist und nicht auf materielle Handlungsprinzipien.
Aus diesem Grund führt Kant den Begriff der „Achtung fürs Gesetz“ ein, welches alsdann als moralisches
Motivationsmoment dient. Dieses moralische Gefühlt teilt den affektiven Charakter der Neigungen, da es mit
diesen konkurrieren muss. Es ist jedoch notwendigerweise mit dem Vernunftgesetz verbunden und intendiert
dieses. Erst durch die Achtung ist eine vernunftgewirkte subjektive Willensbestimmung nach dem Gesetz
möglich. Diese wird dadurch erwirkt, dass wir, sobald wir das Gesetz erkennen, Achtung empfinden und
nichts anders können, als unseren guten Willen durch dieses Gesetz subjektiv mittels Achtung zu bestimmen.
Die Achtung komplementiert den Pflichtcharakter moralischer Handlungen, da die Gesetzeskonformität
durch sie nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv notwendigerweise erfolgt. Es ist auch diese kategorische
Notwendigkeit, welche dafür sogt, dass wir einem Gesetz folge leisten und unseren Neigungen zuwiderhan deln oder zumindest als movens ausschliessen.
Aufgrund der Schwäche des Konzepts, kann die Achtung jedoch auch als rein theoretischer Kniff interpre tiert werden, der auf die Stärkung der Position des Vernunftgesetz innerhalb der kantischen Ethik abzielt. Bei
genauem hinschauen, sieht man, dass Kant die Achtung als begleitend zum Erkennen des Gesetzes bestimmt.
Das legt nahe, dass die Achtung lediglich als Modus des Gesetzes gedacht werden kann, und zwar als den
Modus, in welchem das Gesetz sich teilrationalen Wesen offenbart. Dadurch wird das Gewicht der morali schen Motivation auf das Rationale gelegt, was meiner Meinung ganz im Sinne Kants ist.
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Bibliographie
Fink-Eitel, Hinrich, und Georg Lohmann. Zur Philosophie der Gefühle: Herausgegeben von Hinrich FinkEitel und Georg Lohmann. Auflage: 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1993.
Guyer, Paul. Kant’s Groundwork of the Metaphysics of Morals: Critical Essays. Auflage: New. Lanham:
Rowman & Littlefield Publishers, Inc., 1997.
Kant, Immanuel. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Stuttgart: Reclam, Philipp, jun. GmbH, Verlag,
2011.
Klemme, Heiner F., Manfred Kühn, und Dieter Schönecker. Moralische Motivation: Kant und die Alternativen. Auflage: 1., Aufl. Hamburg: Meiner, F, 2006.
Paton, Herbert J. Der Kategorische Imperativ: Eine Untersuchung Über Kants Moralphilosophie. De Gruyter, 1962.
Schadow, Steffi. Achtung für das Gesetz: Moral und Motivation bei Kant. Berlin ; Boston: De Gruyter, 2012.
Schönecker, Dieter, und Allen W. Wood. Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“: Ein einführender
Kommentar. Auflage: 4., durchges. u. bibliographisch aktual. Aufl. Paderborn; München; Wien;
Zürich: UTB, 2011.
Weiper, Susanne. Triebfeder und höchstes Gut: Untersuchungen zum Problem der sittlichen Motivation bei
Kant, Schopenhauer und Scheler. Würzburg: Königshausen u. Neumann, 2000.
Wood. Kant’s Ethical Thought. Auflage: First Edition. Cambridge ; New York: Cambridge University Press,
2008.
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