346w31/2 Meine sehr geehrten Damen und Herren!

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Meine sehr geehrten Damen und Herren!
„Alle Lehrer sind nämlich verrückt“, sagt der alte Stechlin. Und Rex, sein Gesprächspartner, pflichtet ihm bei: „Das sind sie alle. ... Alle Lehrer sind ein Schrecknis. Wir im
Kultusministerium können ein Lied davon singen.“
Seit es Schule gibt, wird sie belagert von Lehrerschelte und meist hitziger öffentlicher
Debatte über ihre Einrichtungen und Verfahren. Die deutsche Literatur ist voll von
Schüler- und Lehrerschicksalen, in denen sich die Gesellschaft wie in einem Spiegel
wiedererkennt, häufig schmerzlich, selten heiter, immer verrückt.
Die Schule, die ihren Namen herleitet von dem griechischen Wort für Muße und damit so etwas wie gesellschaftliche Exterritorialität suggeriert - gehobenes, anspruchsvolles Nichtstun eben -, ist in der Wirklichkeit auf das Beengendste verstrickt
in ein Geflecht staatlicher Regelungen, ökonomischen Prozessen der Wertschöpfung
unterworfen - es geht um Humankapital und die Ressource Bildung; sie ist Gegenstand bildungspolitischer Kontroversen, womöglich wahlentscheidend, ein Tummelplatz gesellschaftlicher Interessen und Forderungen und nicht zuletzt ein Schicksalsort für Lehrer und Schüler.
Nein, der Muße pflegt die Schule nicht, im Gegenteil: Sie verbreitet wohl eher Hektik
im Empfinden aller Beteiligten.
„Wovon man spricht, das hat man nicht“, sagt Novalis.
„Eigenständigkeit und Ergebnisverantwortung - Schule der Zukunft gestalten“, so lautet das Leitmotiv des 2. Kieler Schulleitungssymposiums. Es bezeichnet ein Feld des
gegenwärtigen Streits um die Schule, den Streit um die angemessene Art der Schulgestaltung und der Schulverwaltung. Auf fünf Foren wird dies Leitmotiv entfaltet. Ein
Forum ist für die ethische Dimension von Eigenverantwortung eingerichtet worden.
Die zahlreichen semantischen Bezüge zwischen den Begriffen der Eigenständigkeit
und der Ergebnisverantwortung einerseits und den ethischen Themen von Mündigkeit und Verantwortung andererseits haben es wohl geraten erscheinen lassen, auch
Philosophie auf den Markt und in den Streit zu ziehen, auch wenn ihr Auftritt im programmatischen Gesamtzusammenhang der Foren wohl eher etwas kapriziös erscheint.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bitte vorweg um Nachsicht: Bei dem
Versuch, mich dem mir aufgegebenen Thema zu nähern und Philosophisches auf
dem Markt feilzubieten, werde ich mich auch des Repertoires der Marktschreier bedienen müssen: Vereinfachen, verkürzen, vergröbern, provozieren. Die alteuropäische Ware Philosophie, die das Verfallsdatum schon fast überschritten hat und die
begrenzte Zeit der Kunden machen dies unausweichlich.
Zur Sache:
Eigenständigkeit, Ergebnisverantwortung, Eigenverantwortung - mit diesen Leitworten präsentiert sich ein neues Paradigma der Schulentwicklung, das die Zukunft für
sich beansprucht.
In anderen Zusammenhängen ist auch von Autonomie oder doch Teilautonomie der
Schule die Rede. Fremdständigkeit, Fremdverantwortung und Heteronomie wären
die Gegenbegriffe des bisher praktizierten und nun abzulösenden Paradigmas, die
ihm in polemischer Absicht vorzuhalten wären. Gedacht wird dabei in kritischer Abkehr und Abwehr an ein Konzept, in dem Schulgestaltung schulfremd, zumindest
schulextern, durch eine Zentrale, in der Regel die Bildungsbürokratie im Detail vorgenommen wird. Lehrpläne, Stundentafeln, etc. eine Flut von Erlassen jedenfalls
sind das Steuerungsinstrument, dessen sich die hierarchisch verfasste Bürokratie
bedient und deren Einhaltung sie aufsichtlich überwacht im Wege des Eingriffs und
Durchgriffs einer umfassenden fachlichen Zweckmäßigkeitskontrolle, der alles schulische Geschehen, jede schulische Maßnahme uneingeschränkt unterworfen ist. Diese Bürokratie verfügt auch über die Ressourcen, weist sie den Schulen zu, regelt
ihren Einsatz und kontrolliert wiederum die Einhaltung ihrer Regeln, steuert auch hier
im Detail. Sie besitzt die Personalhoheit und weist die Lehrerinnen und Lehrer, im
Einzelfall auch die Schülerinnen und Schüler einer Schule zu.
Die Stärke dieses Steuerungsparadigmas ist die Realisierung einer ununterbrochenen Legitimations- und Verantwortungskette vom Wahlvolk über seine Repräsentanten im Parlament, die parlamentarische Verantwortung der Ministerin und die beamtenrechtlich verankerte Weisungsgebundenheit der Bürokratie. Wer einmal Schulaufsicht betrieben hat, ja wer auch nur die Zeitung liest, weiß, wie häufig Eltern und
-3auch Schüler diese Legitimationsleiter oder die Treppe der Hierarchie beschreiten,
kein Ereignis an einer Schule kann so klein sein, dass es nicht Gegenstand parlamentarischer Interpellation oder der Beschwerde bei der Ministerin werden könnte.
In dieser Hierarchie, oder um den religiösen Bezug zu vermeiden, in dieser Verantwortungs- und Legitimationskette ist der Schulleiter das letzte Glied, verantwortlich
für die Umsetzung der bürokratischen Vorgaben und dazu ausgestattet mit einem
Weisungsrecht gegenüber den Lehrerinnen und Lehrer. Die Stärke dieses Steuerparadigmas ist zugleich seine Schwäche: Die Impulse, die der Schule und dem Unterricht in der Schule in der Legitimations- und Verantwortungskaskade von oben nach
unten zufließen, scheinen sich auf ihrem Weg zu verdünnen, ja zu verflüchtigen. Die
Wirksamkeit z.B. der Lehrpläne für den Unterricht, für das Handeln der Lehrerinnen
und Lehrer wie für den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler ist denkbar gering.
die empirische Bildungsforschung hat dies untersucht. Im gänzlich misslingendem
Fall ist der Lehrplan nurmehr die Ausgangstür aus der pädagogischen Verantwortung
des Lehrers: „Wir müssen dies jetzt machen, das steht im Lehrplan“, lauten die gelegentlich vernommenen Abschiedsworte. Die Hierarchisierung der Verantwortung minimiert ihre Wirksamkeit und portioniert die Teilhabe daran in so kleine Stücke, dass
sie mitunter nur noch zum Feigenblatt für Unverantwortlichkeit taugen.
So lautet jedenfalls im Groben die Kritik der Befürworter eines Paradigmenwechsels
und so erklärt sich die Emphase im Gebrauch des Begriffs der Eigenverantwortung,
der ansonsten ja trivial, weil tautologisch wäre: Verantwortung ist schließlich immer
die jeweils eigene. Verantwortung will zurückgeholt werden von einer schulexternen
und in diesem Sinne fremden Hierarchie in das Eigene der Schule. Das Steuerungskonzept manifestiert sich nicht mehr im geometrischen Bild der Linie, sondern im
Bild von Kreisen, Regelkreisen, die einander berühren oder überlagern: Der Regelkreis der Administration fixiert Ziele von Erziehung und Bildung an den Schulen,
sorgt für Verfahren externer Evaluation der Zielerreichung, stellt die Ressourcen bereit und begleitet die Schulen im Übrigen beratend.
Der Regelkreis der Einzelschule transformiert die externen Zielvorgaben durch interne Verständigungs- und Abstimmungsprozesse in Konzepte zur Unterrichtsgestaltung, Grundsätze des Ressourceneinsatzes usw.
-4Durch interne Evaluation vergewissert sich die Schule des Erfolgs ihrer Konzepte
und legt darüber Rechenschaft ab.
Für die Bildungsadministration bedeutet dieser Paradigmenwechsel Delegation eines
Teils ihrer Verantwortung für das Gelingen schulischer Bildung und Erziehung,
Selbstbeschränkung und Deregulierung, Verzicht auf Detailsteuerung und Eingriffsverwaltung.
Der einzelnen Schule wächst damit ein größeres Maß an Verantwortung und Freiheit
zu; freilich wird sie auch in größerem Maße als bisher mit Komplexität belastet: Sie
muss Konzepte ihres pädagogischen Handelns, Grundsätze effektiven Mitteleinsatzes, Perspektiven der Personalentwicklung etc. entwerfen und die Prozesse der Verständigung darüber organisieren, Beschlüsse herbeiführen, ihre Einhaltung überwachen, ihre Erfolge und Misserfolge dokumentieren und publizieren.
Das Gesamtsystem Bildung - so die Erwartung - profitiert von diesem Paradigmenwechsel: Die Chancen der maßgeblichen Gestaltung des Bildungs- und Erziehungsauftrages steigen für die einzelne Schule, ja die einzelne Lehrerin und den einzelnen
Lehrer. Die Wirksamkeit ihres Handelns erhöht sich, das Bewusstsein größeren Einflusses steigert die Innovationsbereitschaft und Innovationsfähigkeit aller am Schulleben Beteiligten. Die Schule kann schneller und angemessener auf die Bedingungen gerade ihrer Situation reagieren, als dies die Zentrale könnte, sie kann autonome Beziehungen zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt unterhalten, diese offen und
zugleich profiliert gestalten.
Es verwundert nicht, dass sich im Zuge dieses Paradigmenwechsels auch das Leitbild für die Tätigkeit besonders des Schulleiters nachhaltig verändert: Im Linienparadigma agiert der Schulleiter als Verwaltungsbeamter, verantwortlich für die Umsetzung der Maßgaben aus der vorgesetzten Behörde und dazu ausgestattet mit einem
Weisungsrecht gegenüber den Lehrerinnen und Lehrern der Schule. Kenntnis der
Rechts- und Verwaltungsvorschriften qualifiziert ihn für sein Amt. Er überwacht die
Rechtmäßigkeit und die Zweckmäßigkeit des pädagogischen Handelns in seiner
Schule und wirkt im Übrigen als hervorragender Lehrer durch sein Vorbild.
Anders im Zirkelparadigma: Der Schulleiter ist Führungskraft in dem Betrieb Schule,
der Bildungserfolge produziert. Er regelt den Ressourceneinsatz, sorgt für Effizienz,
er motiviert die Mitarbeiter, die Experten für Unterricht sind, organisiert Verständi-
-5gungsprozesse und Beteiligung, bilanziert Erfolge, kompensiert Misserfolge und erwirtschaftet Gewinn, gemessen in der Währung des Schulerfolgs der Schülerinnen
und Schüler. Managementkompetenz qualifiziert ihn für seine Führungsaufgabe. Wo
ist die Zentrale geblieben? Wo ist die Linienhierarchie? Nun, sie agiert als Aufsichtsrat könnte man sagen, wobei den Redner leise Zweifel und Ungewissheiten beschleichen, ob er die Grenze zum metaphorischen Sprechen schon überschritten hat
oder ob er die Wirklichkeit der Schule endlich im klaren Licht der Betriebswirtschaft
sieht. Soviel jedenfalls steht fest: Das Zirkelparadigma ist ganz wesentlich ökonomisch inspiriert, Sprache, Begriffe und gestaltende Eingriffe in die Schule zeigen dies
überdeutlich. Und ob es nun bloß metaphorisch gemeint ist oder als Entdeckung der
wahren Rationalität der Schule, man sieht verwundert, dass der Paradigmenwechsel,
wie sich dies für einen Paradigmenwechsel gehört, sogleich eine Fülle neuer Einsichten produziert. Was hindert uns z. B. die Eltern als shareholder zu sehen - oder sind
sie doch eher Kunden -, die Schulen als konkurrierende Anbieter auf dem Bildungsmarkt usw. usw.? Der Paradigmenwechsel entpuppte sich als ein Teil der Entwicklung, die Heribert Prantl, der freilich kritisch die Verbetriebswirtschaftlichung der Gesellschaft nennt. Das bleibe dahingestellt. Mir ist es aufgegeben, die ethische Dimension dieser Verantwortungskonzepte zu erschließen, einen ethisch geleiteten
Blick auf sie zu werfen, den ethischen Kommentar zu ihnen einzuholen, wo möglich,
wo nötig das ethische Paradigma von Verantwortung neben - gegen? - das administrative und das ökonomische zu stellen.
Und wieder bin ich genötigt, mich marktschreierisch zu betätigen: Ich muss verkürzen, vergröbern, vereinfachen, wenn ich die kurze Zeit, in der ich das Gehör meiner
Kunden, Ihr Gehör, besitze, effektiv nutzen will. Dass ich damit Widerspruch provozieren werde, ist unvermeidlich, ja willkommen. Der ethischen Konzepte und Begründungsbemühungen sind nämlich viele, und um es nur gleich zu sagen: Sie werden nichts von Werten hören, obwohl dieser Begriff zurzeit den öffentlichen Diskurs
über ethische Fragen prägt und leitet, und darum zur Standpunktnahme einlädt.
Ich werde auch nicht die utilitaristische Ethik zur Erhellung heranziehen, obwohl
- oder weil? - sie dem ökonomischen Verantwortungsparadigma denkbar nahe steht
und sich darum unter dem Namen Verantwortungsethik zur Auskunft geradezu an-
-6bietet. Ich werde vielmehr die Orientierung bei Kant suchen. Warum? - Nun, der kategorische Imperativ, allen bekannt, aber von den meisten vergessen, ist der denkbar
entlegenste Ort, von dem aus man auf das hier zu traktierende Problem schauen
kann. Er gestattet den fremden Blick, die Papalagiperspektive. Die aber verspricht
die meisten Enttäuschungen und Überraschungen, und deren Ausmaß wiederum ist
identisch mit dem Informationsgehalt - übrigens auch mit dem Unterhaltungswert der ethischen Botschaft. Das prominente und provokante Beispiel für ethisches Denken und moralisches Handeln nach Kant ist das Verbot, unter welchen Umständen
auch immer zu lügen. - Lügen heißt das Sprechen in der Absicht zu täuschen, allein
dadurch wird sie definiert. Ich kann also z. B. auch mit dem, was nach meiner Einsicht wahr ist, gleichwohl lügen, wenn ich nämlich annehmen muss, dass meine Mitteilung den anderen in die Irre führt; ebenso kann ich umgekehrt in Täuschungsabsicht etwas Wahres sagen, das nur nach meinem irrigen Verständnis unwahr ist, es
bleibt dennoch eine Lüge.
Dabei ist die Unverbrüchlichkeit und Unbedingtheit des Wahrheitsgebotes die ratio
essendi der Lüge, d. h. die Lüge muss, um erfolgreich zu sein, als Wahrheit genommen werden wollen. Die Lüge ist nur als Ausnahme von einer Regel möglich, deren
Ausnahmslosigkeit sie zu ihrem Gelingen nachdrücklich voraussetzen muss. Die Lüge ist e contrario eine Bekräftigung des Gesetzes, das sie verletzt. Sie ist ein Widerspruch in sich, das Unvernünftige schlechthin. „Handle jederzeit nach derjenigen Maxime, deren Allgemeinheit als Gesetz du zugleich wollen kannst; dies ist die einzige
Bedingung, unter der ein Wille niemals mit sich selbst im Widerstreit sein kann, und
ein solcher Imperativ ist kategorisch“, so sagt es Kant. Nicht im Widerspruch mit sich
zu sein, ist Voraussetzung des Sprechenkönnens, die Verpflichtung auf Vernunft die
Bedingung der Mündigkeit. Sie ist zugleich auch die Bedingung der Toleranz, der
Anerkennung des anderen als eines vernünftigen Subjekts, dem denkend, sprechend
und handelnd Allgemeinheit zugänglich ist.
Den Kantischen Verantwortungsbegriff durchzieht eine tiefe Ironie: Ich bin nur mir
verantwortlich, keinem Vorgesetzten, keinem staatlichen Gesetz, keinem Richter,
keinem Effizienzprinzip, keinem fremden Macht- oder Rechtsanspruch. Es herrscht
der krasseste Subjektivismus, den jede gesellschaftliche Ordnung nur als Bedrohung
durch Anarchie empfinden kann. (Hegel hat Kant dies vorgeworfen). Ethik treibt den
-7Subjektivismus auf die Spitze, sie lässt den Menschen völlig mit sich alleine. Das ist
die eine Seite. Auf der Spitze seiner Subjektivität freilich, in der Einsamkeit der Frage
„Was soll ich tun?“ beginnt erst die Vernunft zu sprechen, und sie antwortet mit dem
allerallgemeinsten Gesetz der Logik und der Ontologie: Handle widerspruchsfrei,
handle so, wie du wollen kannst, dass immer und überall
l und von jedem gewollt werde. Das ist die andere Seite der Ethik. Im Reich der Ethik
gibt es nur einen Gesetzgeber, und das bin ich, aber die Ethik nimmt mich eben als
Gesetzgeber in Anspruch. Sie installiert mich in einem absoluten Recht, weist mir
eine absolute Freiheit zu, aber zugleich damit legt sie mir eine absolute Pflicht auf
und gebietet meine Unterwerfung unter die Notwendigkeit vernünftigen Denkens und
Handelns.
Ethisches Denken und das davon geleitete Handeln sind unkonventionell. Ethik erfasst das, was ich als unbedingt verbindlich für das Gelingen meines Lebens erkenne
und anerkenne und was sich damit der Beliebigkeit einer Konvention schlechthin
entzieht. Ethik ist insofern unabdingbar personal, sie verbürgt die Identität und Integrität des denkenden und handelnden Subjekts.
Ethische Reflexion richtet sich ausschließlich auf die eigene Person, der andere ist
nie Gegenstand ethischer Beurteilung. Der moralisch erhobene Zeigefinger ist immer
eine unmoralische Geste. Der ethische Anspruch an den anderen, die Aufforderung
an ihn, sich in einer bestimmten Situation in einer bestimmten Weise zu verhalten, ist
Pharisäismus, der zeigt, dass man entweder den anderen zu schwere Lasten auferlegt oder sich zu leichte.
Ethik kennt mithin auch keine sozialen Sanktionen gegen das Verfehlen des durch
sie Gebotenen: Die Hoffnung auf Belohnung wie die Furcht vor Bestrafung sind der
Vernunft fremd, beides tangiert sie nicht einmal. Interpersonale Wirkung und damit
soziale Geltung entfaltet die Ethik allein durch das Wort und durch das Argument.
Es liegt auf der Hand, dass angesichts der Unberechenbarkeit und Zerbrechlichkeit
menschlicher Überzeugungen Ethik nie das verlässliche Fundament für die Steuerung des Verhaltens in sozialen Systemen legen kann, in gesellschaftlichen, transpersonalen Zusammenhängen taugt sie allenfalls zur Utopie.
Niklas Luhmann sagt es so: „Soziale Systeme“ - und Schule ist auch ein soziales
System - „soziale Systeme gewinnen eine über die Situation hinausreichende, die
-8Systemgrenzen definierende und stabilisierende Systemstruktur durch Generalisierung der Erwartungen für systemzugehöriges Verhalten. Durch Generalisierung der
Verhaltenserwartungen wird die konkrete Abstimmung des sozialen Verhaltens mehrerer erleichtert, indem schon vorher typisch festliegt, was etwa erwartet werden
kann und welches Verhalten die Grenzen des Systems sprengen würde.“
Wer sich in einem sozialen System bewegt, muss die in ihm gültigen Normen befolgen, die Rollen, die es bereit hält, willig spielen und die Institutionen, in denen es sich
ausprägt, anerkennen. Tut er das nicht, gehört er nicht mehr zu dem sozialen System, seine Stimme wird in ihm gar nicht mehr vernommen, sie ist nurmehr diffuses
Rauschen in der Systemumwelt, deren Komplexität das System bedroht. Sie wird
entweder als Gefahr oder als Belanglosigkeit aufgefasst. Die soziale Generalisierung
von Verhaltenserwartungen ist damit etwas durchaus anderes als die Selbstverpflichtung des ethisch abwägenden und moralisch handelnden Menschen auf die Vernunft, die Allgemeinheitsfähigkeit seiner Handlungsmaximen. Das sittlich Gebotene
mag im gegebenen Fall mit dem sozial Erwarteten übereinstimmen, notwendig ist
diese Übereinstimmung weder für Erfolg und Legitimität des sozialen Systems noch
für die Moralität einer Gewissensentscheidung. Vielleicht tut man sogar gut daran,
beides strikt voneinander getrennt zu halten: Ein soziales System, das sittliche Autorität und die Verfügung über die Gewissen seiner Akteure beansprucht, wird totalitaristisch, und ein Gewissen, das die Grenze der Selbstverpflichtung überschreitet und
soziale Geltung beansprucht, wird terroristisch.
Aus all dem folgt: Es gibt kein Steuerungskonzept für das System Schule, das ethisch fundiert werden könnte. Im bürokratisch-hierarchischen Paradigma entzieht
sich das Gewissen jeder Weisung, es ist nicht auf Linie: im ökonomischkybernetischen Paradigma entzieht es sich jedem Kalkül, das Gewissen gehört nicht
zu den Ressourcen, über die das System verfügen könnte, um die Effizienz seiner
Prozesse zu optimieren und seinen Ertrag zu maximieren. Freilich steht auch kein
Steuerungskonzept dem Gewissen im Wege: Sowenig das Gewissen durch eine
Weisung oder ein Kalkül eingefangen werden kann, sowenig kann es sich auch
durch eine Weisung oder ein Kalkül als entlastet betrachten, mit seiner uneingeschränkten Unverfügbarkeit bleibt auch seine allumfassende Verantwortung.
-9Ethik, Kantische Ethik, ätzt alle empirischen Bedingungen, unter denen wir handeln,
hinweg; das ist keine Schwäche der Theorie, sondern die simple Entfaltung des moralischen Anspruchs, der gebietet, der Vernunft unabhängig von, ja gegen alle Erfahrung Kausalität für mein Wollen und Handeln zu verleihen: Es gibt keine Ausrede,
keine Entschuldigung, Freiheit und Verantwortung sind unbegrenzt. Ethik und Moral
verbleiben in der Abgeschiedenheit des Gewissens, im Solipsimus des sich der Allgemeinheitsfähigkeit seiner Maximen vergewissernden Subjektes. Nur so finde ich
meine Freiheit, nur so finde ich einen Zugang zur Anerkennung fremder Freiheit.
Dieser ethische Purismus und Rigorismus verbietet es auch, irgendeinem, gleich
welchem, empirischen Motivations-, Handlungs- oder Steuerungskonzept ein moralisches Unbedenklichkeitstestat auszustellen, ethische Dimensionen oder Affinitäten
zu zertifizieren. Sie sind nämlich alle nicht durch das Säurebad subjektiver Reflexion
gegangen, über die kein empirisches Konzept verfügen kann. So lässt sich nur feststellen, dass Eigenverantwortung nach Maßgabe eines Steuerungsparadigmas für
Schule buchstabiert und Eigenverantwortung im Kontext ethisch-moralischer Reflexion buchstabiert reine Äquivokationen sind, derselbe Name für zwei völlig verschiedene Dinge.
War die Kantische Ethik also der falsche Schlüssel, um die ethische Dimension von
Eigenverantwortung der Schule und in der Schule aufzuschließen? Sie verweigert ja
spröde eine Auskunft zu der auf diesem Forum anhängigen Frage. Vielleicht wäre
doch die Verantwortungsethik auskunftsfreudiger gewesen, in der ich mir nicht nur
die Absichten meines Wollens, sondern auch die Folgen meines Handelns zurechnen lassen muss? oder die Wertethik, die einen gefälligen Himmel von Wünschbarkeiten über der Wirklichkeit aufspannt, der allseits Beifall findet, aber außer zu Beifall
vielleicht zu nichts verpflichtet? Wir haben etwas übersehen: Zwar erleuchtet die Kantische Ethik nicht die Diskussion über das angemessene Steuerungsparadigma für Schule, aber sie lässt an einer
anderen Stelle ein helles Licht fallen auf das, was in der Schule geschieht, was aber
weder auf diesem Forum noch auf diesem Symposion überhaupt Thema ist. Lassen Sie mich darum nur für einen Moment die Grenzen der mir gestellten Aufgabe überschreiten!
- 10 Der ethische Augenblick - Ich frage mich: Was soll ich tun? Ich suche nachdenkend
die Antwort auf diese Frage und prüfe alle Antworten, ob sie dem mit der Frage mir
vorgeworfenen Anspruch genügen. Ich vergewissere mich; der Weg des Gewissens
ist der Weg der Vergewisserung, der Selbstbelehrung und der Selbsterziehung, kurz:
Der ethische Augenblick ist der Augenblick des Lernens und des Lehrens und des
einen durch das andere. Lernen ist von derselben Rigorosität wie sittliches Handeln:
Ich muss es tun, eine Stellvertretung findet dabei nicht statt; ich muss es tun, es widerfährt mir nicht; es ist eine sittliche Pflicht, ich muss es tun, es gibt keinen anderen
Weg in die Freiheit und in die Verantwortung. Was ich sagen möchte: Ethik vermag
zwar nicht ein Steuerungskonzept von Schule vor dem anderen auszuzeichnen, aber
sie normiert unmittelbar und ausschließlich den pädagogischen Bezug. Ethik und
Pädagogik sind identisch, ihr Unterschied ist allenfalls so fein wie der Unterschied
zwischen dem moralischen Verbot einen Menschen zu belügen und dem pädagogischen Gebot, dem Schüler immer die Wahrheit zu sagen, so gut man sie eben weiß.
„Sapere aude!“ sagt Kant. „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
Es ist der Grundsatz der Aufklärung, ethisch wie pädagogisch. - Vieles wäre jetzt
noch zu sagen; vor allem über die Größe dieser Aufgabe in der Schule, über die Höhe der Aspiration des Lehr- und Lernberufs, auch über seine Würde. Aber damit
würde ich nicht nur die Grenzen meiner Aufgabe überschreiten, sondern vor allem
auch die Grenzen Ihrer Geduld. Meine sehr geehrten Damen und Herren, alle Lehrer sind verrückt; mit diesem Diktum des alten Stechlin habe ich Sie am Anfang überfallen, zugegeben in der Absicht,
möglichst schnell in den Besitz Ihrer Aufmerksamkeit zu gelangen. Bei diesem Verdikt über alle Lehrer hat Dubslav von Stechlin jedoch einen bestimmten Lehrer vor
Augen, und das Bild dieses Lehrers soll am Ende meiner Ausführungen stehen: „Da
hab’ ich doch noch diese letzten Tage von einem armen russischen Lehrer gelesen,
der unter die Soldaten gesteckt wurde, und dieser Mensch, der Lehrer, hat sich geweigert, eine Flinte loszuschießen; weil das bloß Vorschule sei zu Mord und Totschlag, also ganz und gar gegen das fünfte Gebot. Und dieser Mensch ist sehr gequält worden, und zuletzt ist er gestorben.“
Dieser Lehrer handelte offensichtlich moralisch.
Ich danke Ihnen.
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