Mentalisierungsbasierte Therapie mit Adoleszenten (MBT-A) Univ. Prof. Dr. phil. Svenja Taubner Institut für Psychologie Abteilung Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse [email protected] Mentalisierung als bindungsbezogene Theory-ofMind •Fähigkeit, sich innerpsychische (mentale) Zustände in sich selbst und in anderen Menschen vorzustellen, weil das Selbst und der Andere als intentionale Wesen aufgefasst werden, deren Verhalten auf Gründen im Sinne psychischer Befindlichkeiten basiert. (Fonagy et al. 2002) Mentalisierungsprofile Mentalisierung als dynamische Fähigkeit M E N Präfrontal/ kontrolliert Posteriore und subkortikale Kortizes/automatisch T A L I S I E R U N G Schaltpunkt Erregung/Stress - Bindungsaktivierung 7 Ungleichgewicht zwischen limbischer und kortikaler Entwicklung in der Adoleszenz (Casey et al. 2008) Maturierung 4-25 Jahre 8 Wie entsteht Mentalisierung? • „Das psychische Selbst taucht auf, wenn sich das Kind als denkendes und fühlendes Wesen in der Psyche einer anderen Person wahrnehmen kann.“ (Fonagy et al. 2002) 9 Selbstentwicklung Gelingen der frühen Affektregulation Integration des dualen Modus zwischen dem 3.-5.Lebensjahr Integration: Mentalisierung Modus der Äquivalenz • • Gefühle und Gedanken sind Teil der physikalischen Realität Realitätsorientiert aber nicht mentalisierend (keine Metakognition, keine Repräsentationalität) „Als-Ob“ Modus • • Abkoppelung von Repräsentation und Realität Mentalisierend aber nicht realitätsorientiert Was passiert, wenn es schiefgeht? • Wenn Eltern die inneren Zustände des Kindes missinterpretieren, z. B. wenn ein Elternteil durch den Stress des Kindes Angst hat, dann sieht und erlebt das Baby diese Angst im Elternteil und verinnerlicht folgende Erfahrung: “Ich bin beängstigend”. Fremdes Selbst • Zu einem gewissen Grad in uns allen präsent • Führt nur zu Fragmentierung der Psyche, wenn die innere Welt zu einem Großteil vom fremden Selbst dominiert wird • Die Erfahrung des fremden Selbsts ist vergleichbar mit einem inneren Peiniger • Kann oft als Gefühl von profundem innerem Hass erlebt werden; als Unfähigkeit, Freude an Erreichtem zu spüren; als Unfähigkeit Komplimente anzunehmen etc. Kunstinteresse Hass auf sich selbst, Wut, Wunsch andere zu verletzten Gefühl verstanden zu werden Teil, der traurig darüber ist, was ihr passiert ist 16 Nimmt an, dass andere dasselbe von ihm denken Hass auf sich selbst, Wut, Wunsch andere zu verletzten Fühlt sich isoliert, angegriffen und allein, was seinen Selbsthass verstärkt 17 Beispiel Selbstverletzung Hohes Arousal Dysregulation Mentalisierung versagt Menschen werden unverständlich Alien Self (unerträglicher Selbstzustand) Selbstverletzung Ich hasse mich Ich bin hässlich Keiner mag mich Ich bin nutzlos Mentalisierungshemmung • Brutalisierung des Bindungskontextes • Kind müsste den Eltern mörderische Lust oder Hass zuschreiben. • Hemmung der Mentalisierung als Anpassung an den Missbrauchskontext • Hypervigilanz und Seelenblindheit 19 Kinder, die keine Beruhigung und Rückversicherung in ängstigenden Situationen erfahren.. (Derryberry u. Rothbart 1997) • Werden weniger aufmerksam für angstauslösenden Informationen und lernen keine adequaten Regulationsstrategien, sondern entwickeln andere Bewältigungsformen (z. B. Zwang) • Profitieren nicht von den positiven Folgen erlebter Angst (Affektregulation, Impulskontrolle, Empathie und Bewusstheit für Angst). • Angeborene Furchtlosigkeit? 20 Aufgabe des intentionalen Standpunkts (Hill et al.2007, 2008) • Eine wütende Stimme wird dann nur noch als laut, eine drohende Handbewegung als erhobener Arm wahrgenommen • Kinder mit externalisierenden Störungen berichten signifikant weniger intentionale Geschichten im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, wenn der Protagonist ein ängstliches Kind ist. 21 (Chiesa & Fonagy, 2013, Personality & Mental Health) N=112 Patienten mit PS N= 122 Kontrollen Mentalisierung in der Adoleszenz • Kontrollgruppe • Klinische Gruppe • 98 SchülerInnen aus der • 101 PatientInnen mit 10. Klasse Störungen des Sozialverhaltens (SSV) • 4 Gesamtschulen • Stationäre Behandlung in • 15-18 J. KJP • M = 16 J. • 14–18 J. • 48 % weiblich • M= 17 J. • 68.4% weiblich Ergebnisse RF (Taubner, Zimmermann, Schröder, in prep.) Kontrollen n=98 Klinisch n=101 M (SD) 3.9 (1.4) 2.1 (1.5) Range 0 - 7.0 -1.0 - 6.0 Weiblich M (SD) Männlich M (SD) t-test n=47 4.2 (1.5) n=51 3.6 (1.4) p=.062 n=64 2.2 (1.5) n=37 2.2 (1.6) n.s. A Anovaa p .000 .000 .000 kontrolliert für Alter 24 Mentalisierung mediiert die Beziehung zwischen früher Misshandlung und Gewaltpotential (Taubner, Schröder, Zimmermann et al., im Review, Psychopathology) Mentalisierungs-BasierteTherapie (MBT) Peter Fonagy & Anthony Bateman Trudie Rossouw Indikation und Ziele von MBT • Indikation: Besonders BorderlinePersönlichkeitsstörungen, aber im Prinzip für alle PatientInnen mit niedrigen Mentalisierungsfähigkeiten und Affektregulationsproblemen geeignet (Fonagy & Bateman 2008) • Ziel: Steigerung der Mentalisierungsfähigkeit in einem Bindungskontext • Neu: MBT-A für Adoleszente (Bleiberg 2001, Asen & Bevington 2007, Rossouw & Fonagy 2012, Laurenssen et al. 2014) Setting und Indikation von MBT-A • Bei hoher Selbst- Fremdgefährdung, Substanzmissbrauch, instabilen Wohnverhältnissen und/oder fehlender sozialer Unterstützung: – 5stündig über 12 Wochen stationär – Alternierend im Einzel- und Gruppensetting – Wöchentliche Familiensitzungen • Bei stabileren sozialen Verhältnissen und weniger Risiko: – 12-monatiges ambulantes Setting – 1stündig (Einzelsitzungen) – Einmal im Monat mit der Familie Therapieplanung 1 2 3 Ziele Spezifische Prozesse Beurteilung der Mentalisierung und Gesamtpersönlichkeit, Patienten für die Behandlung gewinnen •Diagnosestellung •Psychoedukation •Hierarchie therapeutischer Ziele •Stabilisierung von Verhaltensproblemen und sozialen Schwierigkeiten •Überprüfung Medikation und Krisenplan •Schriftliche Fallformulierung („work in progress“)/ Teilnahme an einer Sitzung des Behandlungsteams (alle drei Monate wieder) Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeit •Wenn Symptome und Verhaltensprobleme kontrolliert sind, wird an interpersonalen Problemen mit dem Ziel gearbeitet, konstruktive und intime Beziehungen führen zu können. Abschluss •6 Monate vor Therapieende •Bearbeitung und Vorbereitung der Trennung •Entwicklung eines Follow-Up Programms Regression auf prä-mentalisierende Denkmodi (Vorübergehende) Einschränkung der Mentalisierung Als-ObModus Pseudo Mentalisierung Psychische Äquivalenz Teleologischer Modus Konkretes Verstehen Missbräuchliche Verwendung von Mentalisierung Impulsive Handlungen von Gewalt, Suizid, Selbstverletzung Psychotische Symptome Provokationen, Grenzverletzungen Veränderungstheorie • Durch eine verbesserte Mentalisierung entsteht ein Puffer zwischen Gefühlen und Handlung, die Möglichkeit eines kohärenteren Selbst und damit die Fähigkeit, sichere Beziehungen führen zu können. • Epistemisches Vertrauen (= von anderen lernen können) Klinisches Vorgehen • Es wird von Moment zu Moment an der Mentalisierung gearbeitet. • Bei einem Bruch in der Mentalisierung wird folgend vorgegangen: – Zurückspulen zu dem Moment vor dem Bruch – Explorieren des emotionalen Kontextes, um den es ging – Versuch der Mentalisierung, was nicht mentalisiert werden konnte – Den eigenen Beitrag am Bruch identifizieren (wenn es einen gab) Balance haltend Narrative Erzählung vs. Interventionistisch Neugierig vorsichtig, neugierig, enthusiastisch für mentale Befindlichkeiten MBTHaltung Unterbrechend Inakkurate oder nichtmentalisierende Interaktionen Verstärkend für Mentalisierung Interventionshierarchien am wenigsten Mentalisierung der Übertragung Basis-Mentalisierung Klären, Elaborieren, Fordern am meisten Validierung: Unterstützung/ Empathie Übergeordnete Prinzipien • Interventionen sind kurz und einfach zu verstehen • Interventionen sind affektfokussiert und binden den Patienten aktiv ein. • Interventionen fokussieren auf die psychischen Befindlichkeiten des Patienten statt auf dessen Verhalten. • Interventionen sind auf aktuelle Ereignisse oder Aktivitäten bezogen (Arbeitsgedächtnis). • Interventionen nutzen die mentale Realität des Therapeuten als Modell. Beispiel Sam (Taubner, Sevecke, Rossouw 2015) T: Du hast gesagt, dass du nichts mit den Freunden anfangen konntest, als du sie am Samstag wiedergesehen hast? Also wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, hätte ich mich vielleicht gefühlt, als würde ich nicht dazugehören. Aber ich weiß nicht, ob du so gefühlt hast. P: (lächelt). Ja, aber das ist nicht erwähnenswert, das begleitet mich permanent. T: Da kann ich dir nicht zustimmen. Wenn es das ist, was du fühlst, ist es wert ausgesprochen zu werden, selbst wenn du es permanent fühlst. Deine Gefühle sind wichtig. Deine Gefühle sind mir wichtig. Gab es einen Auslöser für dieses Gefühl? P: Ich weiß nicht, da gibt es mehrere Ebenen. T: Wenn wir ein Bild malen. Wir malen dich und deine Freunde und Blasen über eure Köpfe. Dann schreiben wir in die Blasen, welche Gefühle, wir denken, deine Freunde haben. Was glaubst du, haben sie am Samstagabend gefühlt? P: Dass sie auf mich herabschauen. T. Sollen wir das in die Blase schreiben? P: Ja und dass ich nicht dünn bin und dass ich nicht die gleichen Klamotten wie sie habe. Beispiel Sam (Taubner, Sevecke, Rossouw 2015) T: Ok, schreiben wir das auch in die Blasen. Was schreiben wir in deine Blase? P: Ich weiß nicht. Ich habe mich mies gefühlt. T: Haben sie etwas gesagt, die dir das Gefühl gegeben hat, dass sie schlecht über dich denken? P: Ich weiß nicht. T: Wenn ein Freund von mir ins Krankenhaus kommt, habe ich das Gefühl ihm helfen zu wollen. Ich würde mich zuständig fühlen und versuchen meinem Freund Wärme und Freundlichkeit zu vermitteln, wenn ich ihm begegne. Ich frage mich, ich kann mich auch irren, aber du sagtest, dass deine Freunde lieb und freundlich waren. Kann es sein, dass sie fürsorgliche Gefühle für dich hatten? P: Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was Leute fühlen. T: Mhm, ich mag falsch liegen, aber es wirkt auf mich, als würdest du dich gar nicht fragen, was sie fühlen. Deine Annahmen basieren auf deinen Gefühlen. Wirksamkeit von MBT-A bei Adoleszenten mit „Self-Harm“ (Rossouw & Fonagy 2012) • MBT-A vs. Standard psychiatrische Behandlung („Treatment-As-Usual“) • 80 Adoleszente randomisiert (14.7 Jahre, 85% w) • 97% Depression, 73% BPD Nach 12 Monaten Behandlung zeigten die Adoleszenten der MBTGruppe signifikant • weniger selbstverletzendes Verhalten • weniger Depressivität • verbesserte Mentalisierung • weniger Bindungsvermeidung • weniger BPS-Symptome Typische Probleme mit strukturell eingeschränkten Patienten in der stationären Behandlung • Aktivierung des “Alien self” • Agieren auf der Grundlage prämentalisierender Denkmodi: – – – – Selbstverletzung Gewalt Provokationen Grenzüberschreitungen (Rahmenverletzungen) • Auswirkungen auf das Angstniveau des Teams mit Einfluss auf – – – – Mentalisieurngsfähigkeit Flexibilität (z. B. in der Durchsetzung von Regeln) Kritikfähigkeit, Bewältigung und Abwehr Zurückweisung und Bestrafung • Junge Patienten fühlen sich missverstanden weitere Reduktion der Mentalisierungsfähigkeit Management der typischen stationären Behandlungsprobleme • Ein mentalisierendes Team aufbauen durch – Training – Supervision – Mentalisierung aller Arbeitsaspekte • Klarer Umgang mit Mentalisierungskrisen im Alltag • Mentalisierende Schichtwechsel • Mentalisierende spontan-Sessions für das gesamte Team • Klare Regeln für den Umgang mit Grenzüberschreitungen und Agieren in mentalisierender Weise – Z. B. Rupture & Repair • Tägliche Risikobesprechungen und wöchentliche Teambesprechungen, beides mit ausdrücklich mentalisierender Haltung Behandlung traumatisierter Kinder und Jugendlicher Traumatische Erfahrungen können die aktuelle psychische Erfahrung in negativer Weise organisieren… Normale, alltägliche interpersonelle Enttäuschung mit normalen Gefühlen, setzen die eingekapselten traumatischen Gefühle frei und werden subjektiv als Trauma wahrgenommen. 44 Durcheinander der Vergangenheit und Gegenwart Überwältigende Zustände Zusammenbruch der Mentalisierungsfähigkeit Psychische Äquivalenz und Dissoziation Teleologischer Modus: Ausagieren 45 Therapeutischer Behandlungsrahmen Sicheres Umfeld Psychoedukation Validierung Patienten in die Realität einbetten Selbstregulierung 46 Gerüst bauen • psychische Zustände werden als reale Ereignisse erlebt, das Trauma wird wieder erlebt und reinszeniert • der mentalisierende Modus unterscheidet zwischen Erinnern und Wiedererleben 47 Mentalisierung und Trauma • bei der therapeutischen Arbeit geht es nicht vorrangig darum am Inhalt des Traumaerlebnisses zu arbeiten, sondern eine mentalisierende Haltung in Bezug auf die Bedeutung und die Auswirkungen des Traumas zu fördern – Fokus liegt auf den psychischen Zuständen des Patienten und nicht auf dem Erlebnis • Erinnerungen können wieder eingegliedert werden • Schilderungen können eine Brücke zwischen prä- und posttraumatischen Erlebnissen schaffen 48 MENTALISIERUNGS-BASIERTE THERAPIE FÜR JUGENDLICHE MIT STÖRUNG DES SOZIALVERHALTENS Taubner, Sevecke, Bateman, Fonagy, Nolte & Rossouw Danke für die Aufmerksamkeit! 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