„Denk mal“ in Trümmern Gewalt als Zusammenbruch reflexiver Fähigkeiten Univ. Prof. Dr. phil. Svenja Taubner, Institut für Psychologie Abteilung Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse [email protected] Aggressionsformen Aggression ist eine natürliche Grundausstattung des Menschen überlebensnotwendig und kann eine genuine Reaktion auf Belastungen darstellen. 1. Aggression durch Frustration, wenn die Verfolgung von Zielen unterbrochen wird, zentrale Emotion: Ärger 2. Assertive Aggression im Kontext Konkurrenzbereitschaft als Teil des Autonomiesystems • Explorative Aggression: Andere provozieren als Ausdruck des Autonomieanspruchs. • Dominanz-Aggression zur Klärung des Gruppenrangs 3. Hostile Aggression mit reiner Schädigungsabsicht Aggressionsentwicklung im Lebenslauf • Höhepunkt der Aggressionsentwicklung bei 2 Jahren (Nagin & Tremblay 2001, Shaw et al. 2003) • 75% der Kinder sind aggressiv! • Danach kontinuierliche Abnahme • ca. 6% zeigen stabiles körperlich-aggressives Verhalten, keine Unterschiede im IQ aber größere Furchtlosigkeit • 25% sind nie besonders aggressiv • Gewalt wird verlernt, nicht erlernt! Gewalt markiert das Scheitern normaler Entwicklungsprozesse! Zahlen zu Gewaltverhalten • Einige Vereinfachungen: – „Gewalt ist jugendlich“ • Shell Jugendstudie 2006: 22% der Jugendlichen in letzen Jahr in Schlägereien verwickelt. – „Gewalt ist männlich“ • 2007: 83% der Körperverletzungen von Männern/ männlichen Jugendlichen – „Gewalt ist wiederholt“ • 50% aller registrierten Straftaten von 10% der jungen, männlichen Straftätern begangen – (Daten aus Wahl, 2009) Genetisch-bedingte Gewalttätigkeit? • Psychopathie (Cleckly 1941) • Unterform der antisozialen Persönlichkeit mit emotionaler Gefühlosigkeit (Hare 2000) und proaktiver Aggression (Blair 2006) • Affektlosigkeit, Egozentrismus, Reue- und Furchtlosigkeit, oberflächlicher Charme, Impulsivität, manipulierend und proaktiv aggressiv • Aufnahme ins DSM-V als Spezialfall (Moffitt et al. 2008) • Annahme: lebenslange Auffälligkeit, unbehandelbar (Hart & Hare 1997), genetische Disposition (Viding et al. 2005), aber noch keine longitudinalen Studien! • Funktionelle Psychopathie? (Fonagy 2006) Gewalttätige Aggression • Reaktive Aggression – Reaktion auf einen Angriff, Verteidigungsaggression, begleitet von Wut, „heißblütig“ • Umweltursache, belegte Zusammenhänge zu kindlichem Missbrauch • Proaktive Aggression – Aggression wird instrumentell zum Erreichen eines Ziels eingesetzt, „kaltblütig“) • Eher genetische Verursachung wird angenommen • Distinkte Gruppen (proaktiv vs. reaktiv) werden bezweifelt, ein Kontinuum wird vermutet (Edens et al. 2011). 6 Sozial-kognitive Informationsverarbeitung (Crick & Dodge, 1994) Soziale Reize Proaktiv aggressiv Sehr gute ToM, aber Störung der Empathie Kodierung Auswahl Ergebnisevaluation Reaktiv aggressiv „Theory of nasty minds“ Interpretation Zielklärung Psychoanalytische Störungsmodelle... ... als Ausdruck unbewusster Konflikte, deren Integration nicht gelungen ist und die sich deshalb behindernd auswirken Konflikt ... als Ausdruck nur eingeschränkt verfügbarer Funktionen, die den Umgang mit inneren und äußeren Anforderungen (auch Konfliktanforderungen!) erschweren Struktur Beziehungsprobleme Representations of Interactions that have been Generalized; RIGs (Stern 2007) Psychic Representations Activated Memory Memory Signal RIG 1-6 RIG 1-7 Specific Activity 7 Evoked Partner Memory Signal Evoked Partner RIG 1-8 Ongoing Interactive Experience Specific Activity 8 Mentalisierung •Fähigkeit, sich innerpsychische (mentale) Zustände in sich selbst und in anderen Menschen vorzustellen, weil das Selbst und der Andere als intentionale Wesen aufgefasst werden, deren Verhalten auf Gründen im Sinne psychischer Befindlichkeiten basiert. (Fonagy et al. 2002) Wie entsteht Mentalisierung? • „Das psychische Selbst taucht auf, wenn sich das Kind als denkendes und fühlendes Wesen in der Psyche einer anderen Person wahrnehmen kann.“ (Fonagy et al. 2002) 11 Selbstentwicklung 12 Soziales Feedback Zwischen dem 3.-5.Lebensjahr Integration: Mentalisierung Modus der Äquivalenz • • Gefühle und Gedanken sind Teil der physikalischen Realität Realitätsorientiert aber nicht mentalisierend (keine Metakognition, keine Repräsentationalität) „Als-Ob“ Modus • • Abkoppelung von Repräsentation und Realität Mentalisierend aber nicht realitätsorientiert 14 Mentalisierung als dynamische Fähigkeit M E N Präfrontal/ kontrolliert Posteriore und subkortikale Kortizes/automatisch T A L I S I E R U N G Schaltpunkt Erregung/Stress - Bindungsaktivierung “Reading the Mind in the Eyes Test” a) bestimmend c) entsetzt b) amüsiert d) gelangweilt Neuronale Korrelate des Effektes von Bindungsstress auf Mentalisierung (Nolte, Bolling, Hudac, Mayes, Fonagy & Pelphrey 2013) Baseline 2. Durchlauf Reteruytu tyurytury Reteruytu tyurytury Bindungsstress- Induktion 3. Durchlauf Reteruytu tyurytury Induktion von Allgemeinem Stress Ergebnisse: Brain Mechanisms Underlying the Impact of Attachment-Related Stress on Social Cognition Reduzierte Mentalisierung steht in Verbindung mit: • left posterior superior temporal sulcus (STS) • left inferior frontal gyrus (IFG) • Und left temporoparietal junction (TPJ) 19 Gewalttätigkeit vor dem Hintergrund gehemmter Mentalisierung • Fehlattribuierung (hostility-attribution-bias) • Kein psychischer Spielraum, im Zuge dessen sich die Zuschreibungen und Überzeugungen bei näherer Prüfung als unwahr erweisen könnten. • Körper und Motorik werden als Regulierung von Erregungszuständen genutzt. • Niedrige Hemmschwellen (Violence Inhibition Mechanism, Blair 1995) • Geschwächte Urheberschaft Kinder, die keine Beruhigung und Rückversicherung in ängstigenden Situationen erfahren.. (Derryberry u. Rothbart 1997) • Werden weniger aufmerksam für angstauslösenden Informationen und lernen keine adäquaten Regulationsstrategien, sondern entwickeln andere Bewältigungsformen (z. B. Zwang) • Profitieren nicht von den positiven Folgen erlebter Angst (Affektregulation, Impulskontrolle, Empathie und Bewusstheit für Angst). • Angeborene Furchtlosigkeit? 21 Mentalisierungshemmung • Brutalisierung des Bindungskontextes • Kind müsste den Eltern mörderische Lust oder Hass zuschreiben. • Hemmung der Mentalisierung als Anpassung an den Missbrauchskontext • Hypervigilanz und Seelenblindheit 22 Aufgabe des intentionalen Standpunkts (Hill et al.2007, 2008) • Eine wütende Stimme wird dann nur noch als laut, eine drohende Handbewegung als erhobener Arm wahrgenommen • Kinder mit externalisierenden Störungen berichten signifikant weniger intentionale Geschichten im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, wenn der Protagonist ein ängstliches Kind ist. 23 Was passiert, wenn die frühe Affektspiegelung misslingt? • Wenn Eltern die inneren Zustände des Kindes fehl-interpretieren, z. B. wenn ein Elternteil durch den Stress des Kindes Angst hat, dann sieht und erlebt das Baby diese Angst im Elternteil und daher verinnerlicht es folgende Erfahrung: Innerer Stress ängstigt den Anderen und fuehrt daher zur inneren Erfahrung: “Ich bin beängstigend”. Gewalt zur Wahrung der Selbstkohärenz • Fragile Selbststruktur führt zu interpersonellem Rollenzwang, Rigidität • Vermeintliche oder tatsächliche Demütigungen müssen abgewendet werden („alien self“) • Ohne Mentalisierung wird Beschämung existentiell vernichtend (keine Trennung zwischen physisch und psychisch). • Irrtum des Gewalttätigen: Gedanken und Gefühle könnten über physische Akte ausgelöscht werden. Kunstinteresse Hass auf sich selbst, Wut, Wunsch andere zu verletzten Gefühl verstanden zu werden Teil, der traurig darüber ist, was ihr passiert ist 27 Nimmt an, dass andere dasselbe von ihm denken Hass auf sich selbst, Wut, Wunsch andere zu verletzten Fühlt sich isoliert, angegriffen und allein, was seinen Selbsthass verstärkt 28 Gold-Standard Operationalisierung von Mentalisierung: Gesamtwertung Reflective Functioning Scale (Fonagy et al. 1998) 9 Außergewöhnlich 7 5 3 Deutlich Durchschnittlich Fraglich od. niedrig 1 -1 Abwesend Negativ Durchschnittlich bis hoch Negativ bis niedrig Mentalisierung in der Adoleszenz • Kontrollgruppe • Klinische Gruppe • 98 SchülerInnen aus der • 101 PatientInnen mit 10. Klasse Störungen des Sozialverhaltens (SSV) • 4 Gesamtschulen • Stationäre Behandlung in • 15-18 J. KJP • M = 16 J. • 14–21 J. • 48 % weiblich • M= 17 J. • 68.4% weiblich Ergebnisse (Cropp, Streek-Fischer & Taubner, in prep.) M (SD) Kontrollen Klinisch n=98 n=101 3.9 (1.4) 2.1 (1.5) Range 0 - 7.0 -1.0 - 6.0 Weiblich M (SD) Männlich M (SD) n=47 4.2 (1.5) n=51 3.6 (1.4) n=64 2.2 (1.5) n=37 2.2 (1.6) t-test p=.062 n.s. RF A Anovaa p .000 .000 .000 kontrolliert für Alter 31 Mentalisierung mediiert die Beziehung zwischen früher Misshandlung und Gewaltpotential (Taubner, Schröder, Zimmermann et al., im Review, Psychopathology) Das adoleszente Gehirn… Neue Erkenntnisse • Die Adoleszenz ist eine entscheidende Entwicklungsphase, in der über die strukturelle und funktionelle Organisation des Gehirns entschieden wird. • Während die pränatale Hirnentwicklung (u. a. Synaptogenese) vorrangig genetisch programmiert ist, wird die Hirnentwicklung in der Adoleszenz (Synapsen-Elimination) durch die Umwelt (Lernerfahrungen) beeinflusst (Huttenlocher und Dabholkar 1999). 34 Entwicklung des Gehirns Das Hirngewebe kann in zwei verschiedene Substanzen unterteilt werden, die graue und die weiße Substanz. Diese wachsen und reifen unterschiedlich schnell. Die graue Substanz sieht grau aus. Sie besteht aus Neuronen und Dendriten und Glia-Zellen. Die weiße Substanz sieht für das Auge weiß aus und besteht aus Axonen. Dies ist der durchführende Teil des Gehirns. Sie ist zuständig für den Transport von Informationen. Adoleszente Hirnreifung Graue Substanz « Pruning » Weiße Substanz « Myelination » Entwicklung des Gehirns •Proliferation (Rapide Vermehrung von Hirnsubstanz und neuen Verbindungen) •Pruning (“Ausputzen” von nicht genutzten = unwichtigen Verbindungen) •Myelination (Isolieren von Hirnverbindungen , um sie schneller und stabiler zu machen) (Sowell et al., 1999; Sowell et al., 2001) Entwicklung des Gehirns Proliferation: Ganzes Hirnvolumen Im Alter von 6 Jahren, hat das Gehirn ca. 95% seiner Maximalgröße. * * Die Maximalgröße wird bei Mädchen mit 11.5 Jahren, und bei Jungen*mit 14.5 Jahren erreicht. Jungen haben im Durchschnitt größere Gehirne als Mädchen. Lenroot & Giedd (2006) Pruning: Reifung der grauen Substanz Die Reifung der grauen Substanz ist am besten beschreibbar als ein konstanter “push and pull”. Neue Verbindung entstehen während andere zurückgeschnitten werden. Pruning wird sehr stark von der Erfahrung getrieben nach dem Motto: “use it or lose it”! Das macht das adoleszente Gehirn sehr anpassungsfähig und veränderbar in Abhängigkeit von Umweltanforderungen. Adoleszenz als 2. Chance!! Entwicklung des Gehirns Graue Substanz entwickelt sich schnell in der Kindheit und verlangsamt sich in der Adoleszenz. Das Volumen der grauen Substanz ist am größten bei Mädchen mit 11 und bei Jungen mit 13. Lenroot & Giedd (2006) Danach wird das Volumen geringer. Nur 50% der Synapsen der Kindheit bleiben erhalten Entwicklung der weißen Substanz: Myelinisierung Die weiße Substanz entwickelt sich kontinuierlich von Geburt an mit einem kleinen Zuwachs in der Pubertät. * * Lenroot & Giedd (2006) Dieser Zuwachs ist kurz nach dem größten Vorlumen der grauen Substanz messbar (ca. im Alter von 11 bei Mädchen* und mit 13 bei den Jungen*). Entwicklung des Gehirns • “Inside-out” und “Bottom-up” • Höhere/ Komplexere Areale kontrollieren die eher reaktiven/primitiveren Teile des Gehirns Macht uns weniger reaktiv, mehr Gedankengesteuert und weniger impulsiv Ungleichgewicht zwischen limbischer und kortikaler Entwicklung in der Adoleszenz (Casey et al. 2008) Maturierung 4-25 Jahre Risikoverhalten und erhöhte Sensitivität? 43 Entwicklung des Gehirns • “Windows of vulnerability” = kritische Entwicklungsphasen, in denen das Gehirn spezifische Fertigkeiten oder Funktionen entwickelt • Unterschiedliche kritische Entwicklungsfenster in Bezug auf verschiedene Hirnregionen • Wenn die Chance des Übens einer bestimmten Fertigkeit versäumt wird, so kann das Kind/ der Adoleszente dies nie lernen oder nur eingeschränkt. (Lupien et al., 2009; Teicher et al., 2008) Entscheidungs- und Risikoverhalten (Kambam & Thompson 2009) • „kalte“ Kognitionen (logisches Denken, Hypothesentestung) ist ab 14 Jahren auf dem Stand Erwachsener • „heiße“ Kognitionen in Situationen mit hoher emotionaler Involviertheit – – – – – Konformitätsdruck mit den Peers Weniger Verantwortlichkeitsempfinden Weniger langfristige Perspektive Weniger Impulskontrolle Mehr Wunsch nach „Belohnung“ oder „sensation seeking“ (Steinberg 2008) 45 Altersunterschiede im Risikoverhalten wenn alleine oder mit Freunden (Gardner & Steinberg, 2005) Risikoentscheidungen (Braid et al., 2005) • „Ist es eine gute Idee mit Haien schwimmen zu gehen?“ JA/ NEIN → Adoleszente brauchen länger um zu entscheiden, dass es keine gute Idee ist • auf Hirnebene: Erwachsene: Aktivierung der Insula und der rechten FFA Adoleszenten: Aktivierung des dorsolateralen präfrontalen Kortex • Erwachsene können Risikoentscheidungen effizienter treffen, da sie über mentale Vorstellungen möglicher Ausgänge von und automatisierte Reaktionen auf riskante Situationen verfügen . • Adoleszente verfügen über weniger gut entwickelte schlussfolgernde Fähigkeiten, deswegen kommt es zu einer Aktivierung des DLPFC. 47 Vulnerabilität bei Problemen der Affektregulation und dem Verhalten in der Adoleszenz Frühe Adoleszenz Mittlere Adoleszenz Späte Adoleszenz Pubertät erhöht die emotionale Erregbarkeit, sensation-seeking und die Belohnungsorientierung Phase der erhöhten Vulnerabilität bezogen auf Risikobereitschaft und Probleme bei der Affektregulation und im Verhalten Reifung der Frontalhirn-Bereiche, die regulierende Funktionen übernehmen “The developments of early adolescence may well create a situation in which one is starting an engine without yet having a skilled driver behind the wheel.” (Steinberg, Trends Cogn Sci: S. 70, 2005) 48 MENTALISIERUNGS-BASIERTE THERAPIE FÜR JUGENDLICHE MIT STÖRUNG DES SOZIALVERHALTENS Taubner, Sevecke, Bateman, Fonagy, Nolte & Rossouw Indikation und Ziele von MBT-CD • Indikation: Adoleszente mit SSV (12-18 Jahre) und ihre Familien • Ziele: – Steigerung der Mentalisierungsfähigkeit in einem Beziehungskontext – Bewältigung von starken Affekten ohne aggressive Verhalten – Vertrauen in Beziehungen aufbauen können (soziales Lernen ermöglichen) Regression auf prä-mentalisierende Denkmodi (Vorübergehende) Einschränkung der Mentalisierung Als-ObModus Pseudo Mentalisierung Psychische Äquivalenz Teleologischer Modus Konkretes Verstehen Missbräuchliche Verwendung von Mentalisierung Impulsive Handlungen von Gewalt, Suizid, Selbstverletzung Psychotische Symptome Provokationen, Grenzverletzungen Klinisches Vorgehen • Es wird von Moment zu Moment an der Mentalisierung gearbeitet. • Bei einem Bruch in der Mentalisierung wird folgend vorgegangen: – Zurückspulen zu dem Moment vor dem Bruch – Explorieren des emotionalen Kontextes, um den es ging – Versuch der Mentalisierung, was nicht mentalisiert werden konnte – Den eigenen Beitrag am Bruch identifizieren (wenn es einen gab) Danke für die Aufmerksamkeit! Zum Weiterlesen … 54