Feller_Massnahmenfähigkeit aus juristischer Sicht

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Kanton Bern – canton de Berne
Staatsanwaltschaft – Ministère public
UPK Basel
Interdisziplinäres Kolloquium vom 30. August 2016
Massnahmenfähigkeit aus juristischer Sicht
Klaus Feller, Staatsanwalt
Kanton Bern – canton de Berne
Staatsanwaltschaft – Ministère public
Massnahmenfähigkeit
Medizinische Sicht
Der forensisch-psychiatrische
Experte bestimmt das
Behandlungssetting.
Juristische Sicht
Die Strafjustiz bestimmt das
passende «rechtliche Gefäss».
Es braucht beides
Zwischen der medizinischen Sicht (forensische Psychiatrie) und der
juristischen Sicht (Strafjustiz: Staatsanwaltschaft und Strafgerichte)
bestehen keine Widersprüche.
Zusammenwirken: Wir sind gegenseitig auf einander angewiesen.
Die Vollzugsbehörden orientieren sich sowohl an den medizinischen
(gutachterlichen) als auch an den juristischen (Gerichtsurteil)
Vorgaben.
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Verhältnis Strafen - Massnahmen
Geldstrafen, gemeinnützige Arbeit und Bussen werden unabhängig
von angeordneten Massnahmen vollzogen.
Freiheitsstrafen werden immer zu Gunsten von stationären
therapeutischen Massnahmen aufgeschoben (Art. 57 Abs. 2 StGB).
 Wenn erfolgreich: bedingte Entlassung mit Probezeit (Art. 62 StGB),
danach endgültige Entlassung (Art. 62b StGB), Strafe wird nicht mehr
vollzogen.
 Nichtbewährung während Probezeit: Art. 62a StGB.
 Aufhebung trotz Erfolglosigkeit (wegen Aussichtslosigkeit, Erreichen
Höchstdauer, keine geeignete Institution): Art. 62c StGB.
Der Vollzug einer Freiheitsstrafe geht dem Vollzug der Verwahrung
voraus (Art. 64 Abs. 2 StGB).
Der Vollzug einer Freiheitsstrafe kann zu Gunsten einer ambulanten
Massnahme aufgeschoben werden (Art. 63 Abs. 2 StGB).
Die Anordnung einer ambulanten oder stationären Massnahme schliesst
eine bedingte oder teilbedingte Strafe aus (Massnahmenbedürftigkeit
impliziert ungünstige Prognose).
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Regelung der Massnahmen im StGB
Grundsätze: Art. 56 – 58 StGB
Stationäre therapeutische Massnahmen: Art. 59 – 62d StGB
- Behandlung von psychischen Störungen (Art. 59 StGB)
- Suchtbehandlung (Art. 60 StGB)
- Massnahmen für junge Erwachsene (Art. 61 StGB)
Ambulante Behandlung: Art. 63 – 63b StGB
Verwahrung: Art. 64 – 64c StGB
Änderung der Sanktion: Art. 65 StGB
Unklarheiten im Gesetz, Beispiel für eine echte Lücke
Die Umwandlung von einer ambulanten Massnahme in eine stationäre
Massnahme ist in Ergänzung zu Art. 63b StGB auch dann möglich,
wenn keine Reststrafe mehr zu vollziehen ist (BGer 6B_253/2015 vom
23.07.2015, E. 2.3.1).
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Kompetenzverteilung Strafgerichte - Vollzugsbehörden
Grundsätzlich muss eine therapeutische Massnahme zuerst
rechtskräftig durch die Vollzugsbehörde aufgehoben worden sein,
bevor das Gericht eine andere Massnahme anordnen kann.
Ausnahme in Art. 62c Abs. 6 StGB: Das Gericht kann direkt eine laufende stationäre
therapeutische Massnahme aufheben und an deren Stelle eine andere stationäre
therapeutische Massnahme anordnen, wenn damit der Gefahr weiterer Delikte besser
begegnet werden kann (i.d.R. geschieht dies auf Antrag der Vollzugsbehörde).
Ebenso Art. 65 Abs. 1 StGB: Umwandlung der Verwahrung in eine stationäre Massnahme
nach Art. 59 StGB, allerdings ist die Verwahrung keine therapeutische Massnahme.
Dies gilt insbesondere auch dann, wenn eine stationäre Massnahme
nach Art. 59 StGB wegen Aussichtslosigkeit aufgehoben werden soll
und nur noch eine Verwahrung nach Art. 64 StGB in Frage kommt
(BGer 6B_227/2014 vom 11.02.2015).
Konsequenzen für alle beteiligten Behörden und Institutionen, insb.
für die Gutachter:
Wie eindeutig können Sie sich festlegen in Bezug auf vorhandene
oder fehlende Erfolgsaussichten einer Behandlung?
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Keine Massnahme ohne geeignete Institution
Art. 56 Abs. 3 lit. c StGB: Die Gutachter äussern sich über die
Möglichkeiten des Vollzugs einer Massnahme.
Art. 62c Abs. 1 lit. c StGB: Massnahme wird aufgehoben, wenn eine
geeignete Institution nicht oder nicht mehr existiert.
Weitere Aspekte der Schnittstellenproblematik Justiz / Vollzug
Gericht (und nicht Vollzugsbehörde) ist zuständig für die Beurteilung
eines Haftentlassungsgesuchs vor dem Antritt einer rechtskräftig
angeordneten Massnahme.
(BGer 6B_1055/2015, E. 2.1 ff, vom 18.11.2015).
Nachträgliche gerichtliche Verfahren gemäss Art. 363ff StPO
(aktuelle Themen bei der Revision von kantonalen Justizvollzugsgesetzen):
 Vor Hängigkeit beim Gericht: Sicherheitshaft sui generis.
Danach: Sicherheitshaft gemäss StPO.
 Vollzugsbehörde stellt Antrag in der Sache (z.B. auf Verlängerung
einer Massnahme), hat aber keine Parteistellung. Soll ihr eine
solche eingeräumt und gesetzlich verankert werden?
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Diagnose als Voraussetzung für eine Massnahme

Schwere psychische Störung für eine stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB und
für eine ambulante psycho-therapeutische Massnahme nach Art. 63 StGB.

Sucht/Abhängigkeit für eine stationäre Massnahme nach Art. 60 StGB und für eine
ambulante Suchtbehandlung nach Art. 63 StGB.

Persönlichkeitsentwicklungsstörung für eine stationäre Massnahme für junge
Erwachsene nach Art. 61 StGB.
Fallbeispiel: 21-jähriger Täter, mehrfacher Raub, Körperverletzung, weitere Delikte.
Diagnosen:
 Regelmässiger Alkohol- und Cannabismissbrauch.
 Ausgesprochene Reifungsstörung der Persönlichkeit mit Auffälligkeiten in der
psychischen und sozialen Entwicklung.
 Auf Grund des Alters des Täters und wegen seinem Reifezustand zwar (noch) keine
Persönlichkeitsstörung, aber das Risiko steigt mit zunehmender Zeit, dass eine
solche eintritt.
 Also «nur» Persönlichkeitsentwicklungsstörung, die allerdings so ausgeprägt ist,
dass sie zu einem von der Norm deutlich abweichenden Verhalten führt.
 Hyperkinetische Störung verbunden mit einer Störung des Sozialverhaltens.
Welche Massnahmen sind auf Grund der Diagnose möglich?
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Diagnose → Kombination von Massnahmen
Art. 56a Abs. 2 StGB:
Sind mehrere Massnahmen notwendig, so kann das Gericht diese zusammen anordnen.
Kombination von stationären Massnahmen
- Art. 59 und Art. 60: kann sinnvoll sein, i.d.R. aber nicht notwendig, weil im Rahmen
des Vollzugs von Art. 59 auch die Sucht behandelt werden kann (also nur Art. 59
anordnen).
- Art. 59 und Art. 61: kann notwendig sein (vgl. Fallbeispiel).
- Art. 60 und Art. 61: i.d.R. nicht notwendig, weil im Rahmen des Vollzugs von Art. 61
auch die Sucht behandelt werden kann (also nur Art. 61 anordnen).
Kombination von stationärer Massnahme mit ambulanter Massnahme (Art. 63 StGB)
-
Wenn ambulante Massnahme der Suchtbehandlung dient: Nicht notwendig, weil im
Rahmen des Vollzugs von Art. 59 und Art. 61 auch die Sucht behandelt werden kann.
-
Wenn ambulante Massnahme der Behandlung von psychischer Störung dient:
Kombination mit Art. 60 oder Art. 61 kann notwendig sein, weil diese stationären
Massnahmen nur beschränkt verlängert werden können, eine psychotherapeutische
ambulante Massnahme kann demgegenüber so oft wie nötig um weitere 5 Jahre
verlängert werden (Art. 63 Abs. 4).
Kausalität zwischen diagnostizierter Störung/Krankheit und Straftat
Voraussetzung für jede stationäre oder ambulante Massnahme:
Art. 59 Abs. 1 lit. a, Art. 60 Abs. 1 lit. a, Art. 61 Abs. 1 lit. a, Art. 63 Abs. 1 lit. a StGB.
Fallbeispiel: Stalker mit Alkoholproblem, Stalking unabhängig vom Alkohol.
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Legalprognose
Ungünstige Legalprognose als Voraussetzung für eine Massnahme
Art. 59, 60, 61 und 63 StGB, je Abs. 1 lit. b:
Es braucht die Gefahr von weiteren Straftaten, die im Zusammenhang stehen
- mit der psychischen Störung des Täters (59)
- mit der Abhängigkeit des Täters (60)
- mit der Störung der Persönlichkeitsentwicklung des Täters (61)
- mit dem Zustand des Täters (63).
Dieser Gefahr muss mit der Massnahme begegnet werden können.
Prognoseinstrumente
Grundsätzlich gut verständlich und nachvollziehbar.
Achtung!
Fallbeispiel: BGer 6B_424/2015 vom 04.12.2015
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Empfehlung Massnahme
Gutachter bestimmt Behandlungssetting
empfiehlt Institution bzw. Art der Institution
empfiehlt Massnahme (inkl. ob offener oder geschlossener Vollzug).
Justiz bestimmt «rechtliches Gefäss» (ordnet Massnahme an).
Vollzugsbehörde vollzieht Massnahme nach dem Vorgaben von Gutachter und Justiz.
vgl. zur Massnahmenempfehlung auch die Folien
«Diagnose als Voraussetzung für eine Massnahme»
und «Diagnose → Kombination von Massnahmen»
Ambulante Massnahme mit Weisungen gemäss Art. 63 Abs. 2 StGB
oder Stationäre Massnahme gemäss Art. 59 StGB? Fallbeispiel
Behandlungssetting / Empfehlungen im Gutachten:
 Ambulante Behandlung der diagnostizierten schweren psychischen Störung(en).
 Medikamentöse Behandlung muss sichergestellt sein (Kontrollmöglichkeit).
 Abstinenzkontrolle.
 Regelmässige Arbeit wichtig (entweder in der Vollzugsinstitution selbst oder später
im Rahmen eines Arbeitsexternats, sobald ein solches durchgeführt werden kann.
 Wohnexternat in einem Heim, wo eine Betreuung von 24 Stunden an 365 Tagen im
Jahr durch geschultes Personal garantiert ist.
→
Art. 59 StGB
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Aufschub Freiheitsstrafe zu Gunsten einer ambulanten Massnahme?
Art. 63 Abs. 2 Satz 1 StGB
Fragestellung im Gutachtensauftrag der SSK
(SSK = Schweizerische Staatsanwälte-Konferenz, früher KSBS = Konferenz der
Strafverfolgungsbehörden der Schweiz)
Frage 4.5. Kann die ambulante Behandlung auch während oder erst nach dem Vollzug
einer Freiheitsstrafe durchgeführt werden bzw. würde der vorausgehende oder
gleichzeitige Vollzug einer Freiheitsstrafe diese Behandlung verunmöglichen oder
erheblich beeinträchtigen oder nicht. Aus welchen Gründen?
Bundesgerichtliche Vorgaben
(vgl. u.a. BGer 6B_107/2011, E. 5.2, und BGE 129 IV 161 E. 4.1 ff)
 Je höher die Strafe, desto strenger sind die Voraussetzungen für einen Aufschub.
 Ein Aufschub ist nur angezeigt, wenn der therapeutische Erfolg der Massnahme
durch den gleichzeitigen Vollzug der Freiheitsstrafe ernsthaft gefährdet würde.
 Gewisser Ermessensspielraum.
Umsetzung in der kantonalen Gerichtspraxis
Ausschöpfung des Ermessensspielraums.
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Massnahmenfähigkeit aus juristische Sicht
Allgemeine Voraussetzungen (u.a. Art. 56 StGB)
 Diagnostizierte Störung / Krankheit.
 Straftat steht damit im Zusammenhang.
 Ungünstige Legalprognose.
 Strafe genügt nicht, um der Gefahr weiterer Straftaten begegnen zu können.
 Behandlungsbedürftigkeit oder öffentliche Sicherheit erfordern Behandlung.
 Verhältnismässigkeit.
Spezifische Voraussetzungen für bestimmte Massnahme
gemäss den Vorgaben von Art. 59 – 61, 63 oder 64 StGB.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!
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