Handreichung zu RSO CLASSIX afterWork 17. Juli 2013 18.30 Uhr Liederhalle Stuttgart, Beethovensaal Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Leitung: Michael Sanderling Darius Milhaud Le Boeuf sur le Toit, Ballettszene nach Cocteau für Orchester op. 58 Empfohlen ab Klasse 5 erstellt von Siegfried Schmollinger Außerdem im Konzert: Camille Saint-Saëns Le Carnaval des animaux, Große zoologische Fantasie mit den Texten von Loriot Andreas Grau und Götz Schumacher, Klavier Malte Arkona, Moderation 2 Darius Milhaud (1892 – 1974) — ein produktiver Komponist Mit 443 Werken ist der französische Komponist Darius Milhaud einer der produktivsten im 20. Jahrhundert. Auch an Vielseitigkeit fehlt es bei ihm nicht. Im ›Guiness Book of Music‹ ist Milhaud vermerkt mit sechs kammermusikalisch gehaltenen Miniatursinfonien (1917/1923), die jeweils keine vier Minuten dauern, sowie mit den kürzesten Opern, u.a. ›Deliverance of Theseus‹ (1928), mit unter 8 Minuten. Für fast jedes Instrument schrieb er Solokonzerte, darunter eine ›Suite für Mundharmonika und Orchester‹ (1943) und ein ›Konzert für Schlagzeug und kleines Orchester‹ (1929/1930). Er widmete sich auch der Gebrauchs- und Unterhaltungsmusik. Sein erster großer Erfolg gelang ihm mit der Ballett-Farce ›Le Boeuf sur le Toit‹, ein Gemeinschaftsprojekt mit dem Schriftsteller Jean Cocteau. Dieses Werk steht im Mittelpunkt der Handreichung. Milhaud war begeisterter Jazz-Fan, eine Musik, die er in London und den Pariser Bars häufig hörte. In ›La création du monde‹ (1920), einem weiteren erfolgreichen Ballett, zu dem er die Musik komponierte, verarbeitete er Jazz- und Barockklänge, spielte mit Klangfarben und gab dem Schlagzeug eine wichtige Funktion. Bei der Aufführung seiner Werke blieben auch Skandale mit Tumulten und Handgreiflichkeiten nicht aus. Obwohl Milhaud dies in seinen Kompositionen nicht beabsichtigte, reagierte das Pariser Publikum 1920 bei der Aufführung der ›2. Symphonischen Suite‹ (1919) oder bei der Erstaufführung von ›Cinq Etudes‹ für Klavier und Orchester äußerst aggressiv gegen Milhauds Stil mit bi- und polyphonalen Klängen, die den mehr konventionellen Hörgewohnheiten des Pariser Publikums entgegenstanden. Ein Katalog aus einer landwirtschaftlichen Maschinenausstellung inspirierte 1919 Milhaud zu einer ungewöhnlichen Suite für einen Sänger und sieben Soloinstrumenten ›Machines agricoles‹, mit Überschriften wie ›Mähmaschine‹, ›Egge‹, ›Sämaschine‹ oder ›Heuwender‹. Kurz danach inspirierte Milhaud der Katalog eines Blumengeschäfts zu ›Catalogue de fleurs‹ (1920) mit Gedichten von Lucien Daudet in der gleichen Besetzung. Milhaud komponierte nicht nur viel, sondern auch sehr schnell. Ungern bearbeitete er seine Werke oder nahm Umarbeitungen vor, viel lieber schrieb er ein neues Werk. Besondere Opus-Zahlen wurden von ihm mit entsprechenden Werken regelrecht gefeiert. Milhaud wuchs in Aix-en-Provence in einer wohlhabenden und musikalischen Familie auf. Sein Ausspruch: ›Je suis un Francais de Provence et de religion israélite‹ zeigt seine Verwurzelung in der Landschaft und in der Religion, was auch in seinen Kompositionen immer wieder zum Ausdruck kommt. In Paris studiert Milhaud bei Henri Berthelier Violine und absolviert anschließend ein Kompositionsstudium bei Charles-Marie Widor, Xavier H.N. Leroux und André Gédalge, außerdem absolviert er eine Ausbildung in Orchesterleitung bei Paul Dukas. In dieser Zeit trifft er auf Arthur Honegger, Jacques Ibert und Arnold Schoenberg und lässt sich von Igor Stravinskijs Pariser Ballett-Aufführungen begeistern. In der durch Jean Cocteau ins Leben gerufenen ›Groupe des Six‹ wurde Milhaud zum Vorreiter einer neuen französischen Musikkultur. Von 1919 bis 1930 unternimmt Milhaud umfangreiche Konzertreisen als Dirigent und Pianist seiner Werke. In Zusammenarbeit mit Paul Claudel entsteht 1928 eines seiner wichtigsten Werke, die Oper ›Christophe Colombe‹. Eingesetzt werden zwei Orchester – eines hinter der Bühne –, ein großer Chor, verschiedene Schauspieler und 45 Gesangssolisten. Ergänzt wurde das Spektakel mit eingespielten Filmsequenzen. Das mit polyrhythmischen Chorpartien und entfesselnden Schlagwerkaktionen, mit polytonalen Strukturen, Verfremdungen und 3 aggressiven Geräuschen versehene Werk provozierte bei den Aufführungen in Berlin und wurde von Störtrupps der Nationalsozialisten attackiert. Diese Musik passte nicht in die ästhetischen Vorgaben durch die damalige Politik. Milhaud wollte Beethoven sowohl in der Anzahl seiner Sinfonien als auch in seinen Streichquartetten übertreffen. Mit 18 Streichquartetten, die Quartette 14 und 15 lassen sich auch als Oktett aufführen, und 12 umfangreichen Sinfonien hat er dies erreicht. Ab 1930 wandte sich Milhaud vermehrt den Medien zu und schrieb Filmmusik (über 30 Titel) und Musik für den Rundfunk. Von Hindemith inspiriert entstanden Kinderlieder, ein ›Cours de solfège-Papillon‹ sowie ein Spiel für Kinder. Von Milhaud wurde auch beim Verleger Durand eine Reihe ›Musik für die Familie und für die Schule‹ herausgegeben. Der Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich veranlasste Milhaud in die Vereinigten Staaten zu fliehen. Am Mills College in Kalifornien erhielt er einen Auftrag als Kompositionslehrer. In dieser Zeit widmete sich Milhaud intensiv seinen Sinfonien. Nach dem Krieg kehrte Milhaud nach Paris zurück, dort übernahm er neben dem Mills CollegeAuftrag eine Professur am Konservatorium. Zu seinen bekanntesten Schülern gehören der Jazzpianist Dave Brubeck und der amerikanische Komponist Steve Reich. Überhäuft wurde Milhaud mit Auftragsarbeiten, u.a. komponierte er für die Pariser Weltausstellung 1937, für die Untermalung von son-et-lumière Veranstaltungen oder zu Vernissagen. Eine Trauermusik schrieb er 1963 auf die Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Milhaud wurden viele Ehrungen zuteil. Darius Milhaud gilt als einer der führenden französischen Komponisten im 20. Jahrhundert. Sein musikalisches Markenzeichen war die Polytonalität, ohne dass diese den tonalen Raum verlassen hat. Auffallend ist in seinen Werken eine ausgeprägte Melodik u.a. mit folkloristischem Material und einem Reichtum an Klangfarben. An einem strengen Tonsatz war er weniger interessiert. Nur wenige seiner Werke haben sich im Konzertsaal durchgesetzt. ›Le Boeuf sur le Toit‹ op. 58 (Der Ochse auf dem Dach) oder ”The Nothing-Doing Bar” Milhauds Gesundheitszustand war zeitlebens angegriffen. Im Ersten Weltkrieg wurde er ausgemustert und versah humanitäre Aufgaben. Nachdem sein enger Freund, der Dichter Paul Claudel, Leiter der französischen Botschaft in Rio de Janeiro wurde, erhielt Milhaud 1917/18 dort die Aufgabe eines Botschaftsattachés. In dieser Zeit setzte sich Milhaud mit der brasilianischen Kultur, den Volksliedern und Tänzen, den vielfältigen Klangfarben und exotischen Rhythmen Südamerikas auseinander und wurde damit geprägt für sein zukünftiges kompositorisches Schaffen. Wieder in Paris, schloss sich Milhaud mit fünf weiteren Komponisten – Georges Auric, Louis Durey, Arthur Honegger, Francis Poulenc, Germaine Tailleferre – unter der Bezeichnung ›Groupe des Six‹ zusammen. Der Schriftsteller Jean Cocteau war hierzu der Initiator. Diese lose Freundesgruppe wollte eine Erneuerung der französischen Musik mit klaren Strukturen und einer Betonung der Melodik. Romantische Musik (insbes. Richard Wagner) und musikalischen Impressionismus (Claude Debussy) lehnten sie ab. Verstärkt wollten sie sich den Formen der Unterhaltungsmusik (z.B. Jazz- oder Varietémusik) widmen. Die Bezeichnung ›Groupe des Six‹ entstand in Anlehnung an die russische ›Gruppe der Fünf‹, dem sogenannten ›Mächtigen Häuflein‹ (Mili Balakirew, Alexander Borodin, César Cui, Modest Mussorgski, Nikolai Rimski-Korsakow). Regelmäßig traf sich die ›Groupe des Six‹ mit Malern, Schriftstellern und Interpreten Samstagabends in Milhauds Pariser Wohnung am Boulevard de Clichy. Nach Cocktails begab man sich in ein nahegelegenes Restaurant zum ausgiebigen Essen. Oft besuchte der 4 Freundeskreis anschließend Varietés und Revues, oder man schlenderte über den Jahrmarkt am Montmartre. Der Abend wurde in Milhauds Wohnung beschlossen. Die Schriftsteller und Komponisten stellten mit Rezitationen, Lesungen und musikalischen Aufführungen ihre neuesten Werke vor. Eines der populärsten und immer wieder gespielten Musikstücke bei den Zusammenkünften war Milhauds 1919 komponierte Farce ›Le Boeuf sur le Toit‹, das von Milhaud, Auric und Artur Rubinstein am Klavier zu sechs Händen gespielt wurde. ›Noch immer verfolgten mich die Erinnerungen an Brasilien, und so unterhielt ich mich damit, ein paar populäre Melodien – Tangos, Maxixes, Sambas und sogar einen portugiesischen Fado – zusammenzuschreiben; zwischen jede fügte ich ein rondoartiges Thema ein. Ich benannte diese Phantasie: Le Boeuf sur le Toit – der Titel eines populären brasilianischen Liedes. Ich glaubte, dass der Charakter dieser Musik sie zur geeigneten Begleitung für einen Film von Chaplin machen würde.‹1 Milhauds Idee, ›Le Boeuf sur le Toit‹ zur Untermalung einer Stummfilmkomödie von Charlie Chaplin zu verwenden, lehnte Jean Cocteau ab. Für die Pariser Uraufführung 1920 in der Comédie des Champs-Èlysées 2 , einem ›spectacle-concert‹, verwendete er die Musik zu einer Ballett-Pantomime-Inszenierung. Als Untertitel benutzte er ”The Nothing-Doing Bar”, die „Tu-NichtsBar”. Cocteau verlegt die Handlung in eine amerikanische Bar zur Zeit des staatlich verordneten Alkoholverbots. In der Bar befinden sich ganz unterschiedliche Typen: u.a. ein schwarzer Boxer, ein Zwerg, eine rothaarige Frau in Männerkleidern, ein Buchmacher, ein Herr in Abendgarderobe, ein Wunderknabe mit Geige, ein Akrobat mit Assistentin und ein Barkeeper. Ungewöhnliche Dinge passieren. Der Barkeeper versucht die Zigarre des Boxers mit einem Pistolenschuss zu kürzen. Der Boxer fällt zu Boden. Ein ungezogenes Wunderkind mit Geige tritt auf und streckt den Gästen die Zunge heraus. Eine Artistengruppe bietet einige Kunststückchen zum Besten (Mitwirkung der drei Fratellinis, berühmte Music-Hall Darsteller). Plötzlich tritt ein Polizist auf, der das Lokal in Augenschein nimmt. Schlagartig verwandelt sich die Bar zu einer Milchbar. Ein Ventilator wird herabgelassen und schlägt dem Polizisten den Kopf ab. Der Barkeeper setzt dem Polizisten wieder den Kopf auf und präsentiert ihm eine drei Meter lange Rechnung. Cocteau verstärkt in seiner avantgardistischen Ballett-Farce den überrealen Charakter der Handlung durch Einsatz von überdimensionalen Requisiten. So liegt auf dem Tisch eine Zigarre in der Größe eines Torpedos, die Champagnerflasche des Barkeepers ist riesig. Daneben tragen die Personen Kartonmasken in dreifacher Größe. Neben sprunghaften Übergängen der Szenen werden im Gegensatz zum lebhaften Tempo der Musik die pantomimischen Bewegungen in Zeitlupe ausgeführt, wodurch das Unwirkliche noch verstärkt wird. Die Kostüme wurden vom französischen Maler Guy-Pierre Fauconnet entworfen, das Bühnenbild stammte von Raoul Dufy. Unrealistisch wirkt auch Cocteaus Verlagerung des Schauplatzes in eine amerikanische Bar, ›eine amerikanische Farce eines Parisers, der nie in Nord-Amerika war‹. Für sein Ballett benutzte Cocteau die Originalfassung des Werks. 1 2 Darius Milhaud, Noten ohne Musik, S.81 Weitere Werke des Konzerts: Georges Auric:›Adieu New York‹, Francis Poulenc: ›Concardes‹, Eric Satie: ›Trois petites pièces montées‹ 5 Obwohl Cocteaus Ballett positiv aufgenommen wurde, blieb ein dauerhafter Erfolg aus. Die Orchesterfantasie von Darius Milhaud hat sich jedoch als eines seiner populärsten Werke in den Konzertprogrammen bewährt. In der Konzertfassung (1919) von ›Le Boeuf sur le Toit‹ verwendet Milhaud ein Kammerorchester mit 2 Flöten, 1 Oboe, 2 Klarinetten, 1 Fagott, 2 Hörner, 2 Trompeten, 1 Posaune und Schlagzeug. Gleichzeitig erschienen Bearbeitungen für Klavier zu vier Händen sowie eine ›Cinéma-Fantasie‹ für Violine und Orchester. Zudem gibt es noch ein Stück aus dem Werk, den ›Tango des Fratellinis‹ für Klavier und Kammerorchester. ›Le Boeuf sur le Toit‹ war im Paris der damaligen Zeit in aller Munde. Die Gaya Bar, in der sich der Freundeskreis Milhauds immer wieder aufhielt und den Jazz-Interpretationen von Jean Wiéner lauschte, holte bei Cocteau und Milhaud die Erlaubnis sich in ›Le Boeuf sur le Toit‹ umbenennen zu dürfen. Es wurde in den 20er Jahren eines der erfolgreichsten Künstlerlokale und besteht noch heute, allerdings ohne die damalige Künstler-Atmosphäre. Eine Vielzahl von Restaurants und Cabarets folgten dem Vorbild. Über den Titel wurde viel gerätselt. Milhaud wurde wahrscheinlich vom Titelblatt eines Tangos dazu inspiriert (siehe oben). Nur wenige der Melodien in ›Le Boeuf sur le Toit‹ (1919) konnten identifiziert werden. Deshalb ist anzunehmen, dass bei vielen Melodien Milhaud der Autor ist. Hierzu gehört die immer wiederkehrende Rondomelodie. In der Literatur wird immer wieder darauf verwiesen, dass Milhaud das brasilianische Lied ›O boi no telhado‹ für diese Melodie verwendet habe. Eine Ähnlichkeit mit diesem Lied konnte nicht festgestellt werden. Zwischen dem 15mal wiederkehrenden Thema (+ 2mal teilweise) setzt Milhaud collageartig 24 in sich abgeschlossene Zwischenspiele. Es ergibt sich eine Phantasie in Form eines Rondos. Diese Reihung von einzelnen Teilen ist eines der Kompositionsprinzipien Milhauds. Die Melodien der einzelnen Teile werden nicht kompositorisch verarbeitet, sondern sie erscheinen in anderen Tonarten, werden verändert oder erfahren eine rhythmische Abwandlung. Die einzelnen Teile sind leicht herauszuhören, vor allem da man sich am Rondothema orientieren kann. Die für die einzelnen Teile gewählten Buchstaben sind nicht mit den Buchstaben in der Partitur identisch. Thema des Barkeepers (A1,wiederkehrender Refrain) NB 1 TB 1 Ein weiteres musikalisches Stilmittel sind die fortwährenden, vielfältigen Modulationen. Das eingängige Hauptthema verwendet Milhaud in allen 12 Dur-Tonarten. Das Tongeschlecht moduliert zur gleichnamigen moll-Tonart, mit der dann im nächsten Zwischenteil weiterverfahren wird. Milhaud beginnt in A1 mit C-Dur, moduliert nach c-moll, mit dem der erste Zwischenteil beginnt. Der nächste Rondoteil steht in Es-Dur, eine kleine Terz höher. Dies wiederholt sich. Nach dem vierten Mal (A4 in A-Dur) wird die Tonart des Rondothemas um einen Ton herabgesetzt, d.h. die Haupttonart in A5 ist G-Dur. Das Werk beginnt und endet in C-Dur. Eine ausführliche Darstellung des Schemas hierzu findet sich auf dem Arbeitsblatt 2. Angegeben ist jeweils nur die Haupttonart. 6 Vor allem in den Zwischenteilen überlagert Milhaud die Haupttonart gleichzeitig mit weiteren Tonarten. Im Zwischenspiel H führt Milhaud die Melodie im Sextabstand - G-Dur und EsDur – parallel, dabei entsteht ein bitonales Klangbild. Diese harmonischen Reibungen verlassen nie den Rahmen der Tonalität. TB 2 Ausschnitt aus dem Zwischenspiel H In der ›Danse du Policeman‹ (O) treffen D-Dur, B-Dur, Fis-Dur und weitere Tonarten aufeinander und verbinden sich zu einer polytonalen Klangstruktur. In den Begleitstimmen finden sich u.a. H-Dur, C-Dur, Cis-Dur, Es-Dur. Durch Überlagerung verschiedener Tonarten entstehen Verfremdungseffekte, die das gesamte Werk durchziehen. Teilweise haben diese Überleitungsfunktion, doch beherrschen sie auch ganze Zwischenteile. Die Polytonalität findet sich auch in anderen Werken Milhauds und ist ein Kennzeichen in seinem kompositorischen Schaffen. TB 3 Ausschnitt aus ›Danse du Policeman‹ (O) In ›Le Boeuf sur le Toit‹ übernimmt Milhaud auch Melodien aus Tänzen (zumeist Tangos) bekannter brasilianischer Komponisten. Milhaud verwendet folgende Werke: ›CariocaTango‹ von Ernesto Nazareth (Teil G, N), ›Tango Brasileiro‹ von Alexandre Levy (Teil E,T,Y) und ›Galhofeira‹ von Alberto Nepomucéno (Teil S). Die Herkunft weiterer Melodien in dem Stück ist noch nicht geklärt, doch wird ein großer Teil auch von Milhaud selbst stammen. Besonderen Gefallen hatte Milhaud am ›Carioca-Tango‹, den er vier Mal in den Zwischenspielen eingearbeitet hat. TB 4 ›Carioca Tango‹ (G) Trotz der tonalen Reibungen kommt dem Werk Unterhaltungscharakter zu. Die mitreißenden brasilianischen Melodien kennzeichnen Milhaud als einen Komponisten, der sich in besonderem Maße mit der Melodie beschäftigt, dabei zeigt er sich auch als ein Meister in der Instrumentation. Die Oboe ist ein von Milhaud bevorzugtes Instrument. Die rhythmischen Grundmuster sind einfach gehalten und gehen auf den Tango zurück, so z.B. im ›Tanz der Buchmacher‹ (J), oder beim Auftritt der Männer (E) Weitere zahlreiche Werke Milhauds entstanden unter dem Eindruck des Brasilienaufenthalts: ›L’Homme et son désir‹ (1918), ›Saudades do Brazil‹ (1921), ›Carneval d’Aix‹ (1926) und 7 ›Scaramouche‹ (1937) für zwei Klaviere um nur einige zu nennen. Diese Werke haben sich in den Konzertsälen durchgesetzt. Hinweise für den Unterricht Einen guten Einstieg für die Lehrkraft ermöglicht der YouTube Film ›Pantomime (surrealistisches Kabaret): Le Boeuf sur le Toit‹ http://www.youtube.com/watch?v=GkV6nYgg5L4 Adrian Marthaler hat 2004 mit dem Radio Sinfonie Orchester Berlin Auszüge aus Cocteaus Ballett nachgestaltet. Milhaud hat die Musik ursprünglich ohne Gedanken an eine Handlung geschrieben. In Cocteaus Pantomime-Bearbeitung wird die Musik einzelnen Szenen zugeordnet, wobei sie eine inhaltliche Bedeutung erhält. Cocteau hat Milhauds Musik ohne Abänderungen übernommen. Zur Vorbereitung für den Konzertbesuch sollen die Schüler/innen Kenntnisse über den Aufbau des Werks erhalten, sie sollen einzelne Themen und Melodien aus der brasilianischen Folklore wiedererkennen und Milhauds Kompositionsprinzipien kennenlernen (Reihung, Rondoform, Verwendung der Tonarten nach einem Schema, vielfältige Modulationen, Biund Polytonalität, Verwendung brasilianischer Folklore-Musik). Hervortretende Instrumente sollen benannt werden. Mehrmaliges Anhören von Teilen verstärkt das Wiedererkennen von Themen und Melodien, was für den Konzertbesuch wichtig ist. Außerdem sollen sie Informationen über Cocteaus surrealistisches Avantgarde-Theater erhalten. Hinweise zu dem Radio-Sinfonieorchester sowie dem Gastdirigenten sollten nicht fehlen. An dem Hörbeispiel (Ausschnitt A1 – A2) können die Schüler/innen erste Erfahrungen mit dem Musikstück machen: z.B. verschiedene Teile erkennen (A1/A2 - B/B’ – Thema in B’ rhythmisch verändert); Instrumente (z.B. Oboe) benennen; Art der Musik (tänzerisch, südamerikanisch); befremdliche Klänge (Einwürfe der Flöten); Informationen über den französischen Komponisten (Aufenthalt in Brasilien) und den Titel des Stücks könnten folgen (ein verrückter Titel, will provozieren, ohne tiefere Bedeutung). Ursprünglich war die Musik für einen Stummfilm von Charlie Chaplin geplant. Den Titel des Stücks bildnerisch umsetzen, bzw. Material über Brasilien sammeln; brasilianische Musik anhören und Kennzeichen benennen, evt. auch Karnevalsschlager. Das empfehlenswerte Schulliederbuch ›Sing & Swing‹ aus dem Helbling-Verlag3 enthält einige brasilianische Lieder und Tänze mit Tanzvorschlägen, die im Unterricht gut realisierbar sind: ›Samba Lélé‹ (S. 108/109), ›Vitamin Cha-cha-cha‹ (S. 72/73) und ›Kriminal-Tango‹ (S.171 – 173). Der Schriftsteller, Jean Cocteau, benützt Milhauds Musik für ein musikalisches Theater (Pantomime, Ballett, Avantgarde-Theater) und verlegt die Handlung in eine amerikanische Großstadt-Bar zur Zeit des Alkoholverbots. Die Bar auf der Bühne nennt sich ›Le Boeuf sur le Toit‹ und das Geschehen ist unrealistisch. Ein kurzer Überblick über das Theatergeschehen wäre sinnvoll. (Inhalt, Szenenbild, Darsteller haben übergroße Köpfe aus Karton, unrealistische Utensilien, ausgefallene Typen – Neger, Buchmacher, Zirkuskünstler…) Erstellen von Figurinen von den auftretenden Personen. Der Hörausschnitt sollte nun bis A3 erweitert werden (ein Teil kehrt immer wieder → Rondo; Auftritt der Personen A Barkeeper, B Neger, C Frauen), B1’ abgeändert, auf die Hörauffälligkeiten zwischen B1' – A2 (Chromatische Skalen), C – D (reibende Einwürfe der Trompeten) und D – A3 (Verfremdung durch Bläser). 3 deutsche Ausgabe, http://www.Helbling-Verlag.de 8 Am Arbeitsblatt 1 kann das Werk nachverfolgt werden, auch Arbeitsblatt 3 (Wave-Bild) gibt Anhaltspunkte das Werk überschaubar zu machen. Zum besseren Erkennen der einzelnen Teile finden sich noch Hinweise im Anhang. Eine weitere Aufgabe wäre, nach welchem Schema Milhaud in den A-Teilen die DurTonarten verwendet hat. Es kommen alle Dur-Tonarten vor. Im Arbeitsblatt 2 ist das Ergebnis dargestellt. Der A-Teil wiederholt sich 15mal, sowie 2 mal teilweise in der Schlussphase. Dazwischen gibt es 24 verschiedene Zwischenteile. Das Zwischenspiel H eignet sich, um Bi-Tonalität zu erläutern. Milhaud lässt die Tonarten GDur und Es-Dur im Sextabstand aufeinandertreffen. Auch am Zwischenspiel M lässt sich dieses Prinzip gut heraushören. Hier treffen B-Dur und Des-Dur aufeinander, gleichzeitig wird das Thema noch kanonartig verschoben. (Weitere bitonale Zwischenspiele L – As-Dur/B-Dur und R – F-Dur/f-moll). Hier könnte die Frage aufgeworfen werden, welche Absichten Milhaud damit verfolgt (Erweiterung des Hörspektrums, es ist Milhauds Stilkennzeichen). Zur Demonstration wäre möglich, ein Lied in zwei verschiedenen Tonarten gleichzeitig zu singen. Auch instrumental könnte eine Melodie mit zwei verschiedenen Tonarten musiziert werden. Im Zwischenspiel O (Danse du Policeman) treten mehrere Tonarten gleichzeitig auf. Hier spricht man von Polytonalität. Die Tango-Melodien in verschiedenen Teilen (z.B. in G, J, N, T) könnten auch zu einem Exkurs über diesen Tanz benutzt werden. Auch das Einüben von Tango-Schritten wäre denkbar. Ein gutes Beispiel um die Rhythmen von Samba, Cha-cha-cha und Tango kennenzulernen, sowie auch zu tanzen bietet der Sprech-Kanon im Liederbuch ›Sing & Swing‹, HelblingVerlag, (S.121). Zum Liederbuch gibt es Playback-CDs. Darauf finden sich Musikbeispiele mit den drei charakteristischen Tanzrhythmen, die im Wechsel gespielt werden. Auf diese ›Tanzmusik‹ lassen sich die Schrittfolgen gut ausführen. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Helbling Verlags. 9 Weitere tänzerische Spielideen zu afro-brasilianischen Rhythmen finden sich auf der CD ›Maculelê‹4. Am Beispiel von Cocteaus Theaterideen könnten die Schüler/innen einen Film entwerfen und drehen, zusammengestellt mit der Musik aus einigen Rondo- und Zwischenspielteilen. Die Szenen könnten unrealistisch mit eigenen Darbietungen gestaltet werden (Pantomimen, Sporteinlagen, Spiel mit Instrumenten, Darbietungen mit Schwellköpfen u.a.) Klärung von Begriffen wie: Fantasie, Ballett, Farce, Surrealismus, Bi-, Polytonalität, Quintenzirkel, Tango… Einen Charlie Chaplin Stummfilm mit Teilen der Musik von Milhaud unterlegen, wie ursprünglich vorgesehen. Möglich wäre auch einen Einblick in die Arbeit eines Komponisten zu geben: Seinen Unterhalt verdient der Komponist mit Auftragsarbeiten; wie die Reisen in fremde Länder sich auf die Kompositionen auswirken; welche Eigenarten seine Kompositionen aufweisen (folkloristisches Material aus Brasilien, stellt die Melodie in den Mittelpunkt und verarbeitet weniger das thematische Material kompositorisch, durch die Technik der Bi- und Polytonalität geht er an die Grenzen des Harmonischen, seine Werke haben auch Skandale ausgelöst,…). Milhaud befasste sich auch intensiv mit dem Jazz (‹La Création du monde‹) und hat sich der Gebrauchsmusik (Programm-Musik) gewidmet (Music-Hall, Variété). Rückblick auf die 20er Jahre, die für Musik, Kunst und Literatur eine Aufbruchstimmung auslöste. Information zum Dirigenten Michael Sanderling, geboren und ausgebildet in Berlin, wandte sich nach erfolgreicher Laufbahn als Cellist dem Dirigieren zu. Seit der Saison 2011/12 ist er Chefdirigent der Dresdner Philharmonie, mit der er schon seit dem Jahre 2005 eine intensive Zusammenarbeit pflegte. Von 2006 bis 2010 war Michael Sanderling künstlerischer Leiter und Chefdirigent der Kammerakademie Potsdam, mit der er die Kammersinfonien von Dmitri Schostakowitsch für SONY einspielte. Michael Sanderling hat mit namhaften Orchestern zusammengearbeitet, darunter das Tonhalle-Orchester Zürich, das Sinfonieorchester des Bayrischen Rundfunks, die MünchnerPhilharmoniker, die Sächsischen Staatskapelle Dresden, das Konzerthausorchester Berlin, das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart und das Nederlands Philharmonisch Orkest. An der Oper Köln leitete er die Neueinstudierung von Sergej Prokofjews Monumentalwerk "Krieg und Frieden". In der kommenden Spielzeiten wird er beim Gewandhausorchester Leipzig, dem WDR Sinfonieorchester Köln, den Bamberger Symphonikern, dem Yomiuri Nippon Symphony Orchestra, dem Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, dem National Philharmonic Taiwan und 4 Buch und CD sind erschienen im Fidula-Verlag. 10 dem Philharmonia Orchestra London gastieren. 2010 gründete er in Frankfurt am Main mit »Skyline Symphony« ein Orchester, in dem sich Musiker europäischer Orchester zusammenfinden, um auf dem Campus der Goethe-Universität Musik ohne Berührungsängste für ein jüngeres Publikum anzubieten. Michael Sanderling begann seine Ausbildung auf dem Violoncello. Nach mehreren Wettbewerbserfolgen holte ihn Kurt Masur als Solocellisten an das Gewandhausorchester Leipzig. Später war er in gleicher Position beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin tätig. Er musizierte mit Orchestern in Europa und den USA, darunter dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem Orchestre de Paris und dem Boston Symphony Orchestra. http://www.predanvoigt.com/de/kuenstler/dirigenten/michael-sanderling Es spielt das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR. http://de.wikipedia.org/wiki/Radio-Sinfonieorchester_Stuttgart http://www.swr.de/orchester-und-ensembles/rso/ueberuns http://www.swr.de/orchester-und-ensembles/service//id=9868958/property=download/nid=788922/2z8ckj/rso-saison12-13.pdf Quellen Barlow,H./Morgenstern, S.,A Dictionary of Musical Themes, London 1958 Häusler, Josef, Musik im 20. Jahrhundert, Bremen 1969 Maierhofer,L./Kern,W., Sing & Swing – Das Schulliederbuch, Helbling-Verlag Milhaud, Darius, Noten ohne Musik, Passau 1962 Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Personenteil 12: Darius Milhaud, 2004 Seipp, Elke, Die Ballettwerke von Darius Milhaud, Tutzing 1996 11 Notenmaterial Darius Milhaud, Le Boeuf sur le Toit, Taschenpartitur, Editions Max Eschig, 1969 (vorhanden in der Stadtbibliothek Stuttgart, Abteilung Musik, am Mailänder Platz) CD-Aufnahmen Darius Milhaud, Le Boeuf sur le Toit op. 58 (u.a.) Ulster Orchestra, Yan Pascal Tortelier, Chandos, 1992 Darius Milhaud, Le Boeuf sur le Toit op. 58 (u.a.), The New London Orchestra, Hyperion, 2004 Cinéma-Fantaisie pour violon et orchestre d’après ›Le Boeuf sur le Toit‹ mit Gideon Kremer, Violine, Teldec, 1998 Youtube 1. Pantomime (surrealistisches Kabaret): Le Boeuf sur le Toit http://www.youtube.com/watch?v=GkV6nYgg5L4 2. Version für Violine mit Chaplin-Film http://www.youtube.com/watch?v=2pPEAaUMCik 3. Pantomime mit I Musici de Montréal, Teil I http://www.youtube.com/watch?v=XJRyL2y9o4c Pantomime mit I Musici de Montréal,Teil II http://www.youtube.com/watch?v=BNkQXJwUOwQ Arbeitsblätter 1. Verlauf von ›Le Boeuf sur le Toit‹ 2. Verwendung der Tonarten in den Rondoteilen 3. Wave-Bild 4. Hinweise zu den einzelnen Teilen 12 A1 B1 B1’ E F A4 J A6 C-Dur A8 E-Dur A10 F-Dur :G: A2 C D G H A5 K L M :G: O :O: A9 R S A11 B-Dur V A-Dur Es-Dur As-Dur D-Dur T A14 W:V: A13:S: A-Dur C-Dur Arbeitsblatt 1: Verlauf von ›Le Boeuf sur le Toit‹ G-Dur A7 Des-Dur A3 Ges-Dur I N P Q UU’ A12 Y :A15:Y H-Dur C-Dur 13 Arbeitsblatt 2 Milhauds Verwendung der Tonarten in den Rondoteilen von ›Le Boeuf sur le Toit‹ Milhaud beginnt mit C-Dur und erhöht jeweils im nächsten Rondoteil um eine kleine Terz. A1 C-Dur – c-moll → Β1 c-moll A2 Es-Dur – es-moll → C es-moll A3 Ges-Dur – fis-moll → E fis-moll A4 A-Dur – G-Dur → G A-Dur Nach dem 4. Wechsel erfolgt eine Rückung der Tonart um einen Ton tiefer. A5 A6 A7 A8 G-Dur – g-moll → I g-moll B-Dur – b-moll → K b-moll Des-Dur – cis-moll → N cis-moll E-Dur – → (G) E-Dur Rückung um einen Ton tiefer. A9 D-Dur – d-moll → P d-moll A10 F-Dur – f-moll → R F-Dur/ f-moll (bitonal) A11 As-Dur – as-moll → T as-moll A12 H-Dur – → (G) H-Dur Rückung um einen Ton tiefer. A13 A-Dur – a-moll → S a-moll/D-Dur/C-Dur/d-moll Die folgenden Teile stehen jeweils in C-Dur, wie auch das Stück endet. Vermerkt wurden nur die Haupttonarten. Der wiederkehrende Teil A erscheint in allen DurTonarten: C – Des – D – Es – E – F – Ges – G – As – A – B und H. Auffallend ist, dass die Rondoteile durchweg in Dur-Tonarten stehen, die Zwischenspiele bis auf einzelne Ausnahmen in moll-Tonarten auftreten. Allerdings gibt es innerhalb der Zwischenspiele vielfältige Modulationen sowie gleichzeitige Überlappung mit weiteren Tonarten, das zu einer Verfremdung führt. Diese Polytonalität ist ein Kennzeichen von Milhauds kompositorischem Stil. 14 15 4. Hinweise zu den einzelnen Teilen A1 B1 C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U Rondothema, wiederkehrender Refrain; Thema des Barkeepers Auftritt der Neger; Oboe; Moderato; B1’ rhythmisch veränderte Melodie Auftritt der Frauen (moins animé), Oboe, Violinen animé (lebhafter), Bläser Auftritt der Männer (moins animé), mit Levys: ›Tango Brasileiro‹ animé, Trompete Thema aus Nazareth, ›Carioca Tango‹, Oboe, Flöte Klarinette Flöte Tanz der Buchmacher, Trompete, Holzbläser Posaune, Streicher Verfremdungen durch Tonartenüberlagerungen Pfiff des Polizisten, Trompete Auftritt des Polizisten, Oboe, Violinen; Thema aus Nazareth: ›Carioca Tango‹ Tanz des Polizisten, in der Wiederholung mit Verfremdungen nach J.A. da Silva Callados ›Querida par todos‹ Tanz des Negerzwergs Tanz der Salome aus Alberto Nepomuceno: ›Galhofeira‹ Levy: ›Tango Brasileiro‹, abgeändert Abgang