7 Management der Marktleistung und der Kundenbeziehung Peter Maas, Philipp Hendrik Steiner 7.1 Marktseitige Veränderungen: Überblick und empirische Erkenntnisse 7.2 Transformation der Dienstleistungsmärkte: Fokus «Customer Value» 7.3 Strategische Hebel im Marktmanagement der Versicherungsunternehmen 7.4 Zusammenfassung und Ausblick In den vorhergehenden Kapiteln 4–6 wurden wichtige interne Managementprozesse eines Versicherungsunternehmens dargestellt. In diesem Kapitel liegt der Fokus auf den Beziehungen des Versicherungsunternehmens zu seinen Kunden. Damit wird der zentrale Kernbereich der Marktbeziehungen zwischen Anbieter und Nachfrager angesprochen, in dem das sogenannte Kerngeschäft eines Versicherers stattfindet. Im Zusammenspiel der beteiligten Marktparteien wird Wert sowohl für Kunden (Customer Value) als auch für Unternehmen (Company Value) geschaffen (oder zerstört), wobei ersterer immer notwendige Voraussetzung für den Erfolg eines Unternehmens ist. Entscheidend bei dieser Betrachtung ist zunächst die Frage, wo bei der Analyse, Beurteilung und Gestaltung von Wertschöpfungsprozessen begonnen wird: Geht man vom Versicherer aus, der seine vielfältigen Produkte via «Vertrieb» auf den Markt bringt, oder startet man mit der Analyse von Kundenbedürfnissen und Werterwartungen? Hier hat in den letzten Jahren ein grundsätzliches Umdenken stattgefunden. Ausgehend von anderen Dienstleistungsbranchen wie Medien, Tourismus, Kommunikation etc., die als Erste erfolgreich Customer Value in das Zentrum ihrer unternehmerischen Ausrichtung gestellt haben, hat sich auch in den Versicherungsmärkten die Überzeugung verbreitet, dass es wichtig ist, besser zu verstehen, was Kunden – gleichgültig, ob Privat- oder Geschäftskunden – von Versicherern erwarten, was für sie Wert schafft und welche Art von Beziehungen sie zu Anbietern unterhalten wollen. Diese fundamental neue Sichtweise bringt auch radikale Herausforderungen für die Versicherungsunternehmen mit sich. Einerseits ändert sich das, was klassischerweise als «das» Versicherungsprodukt bezeichnet und verkauft wurde. Des Weiteren gilt es Abschied zu nehmen von der Vorstellung traditioneller Vertriebskanäle: Verändertes Kundenverhalten führt immer häufiger dazu, dass der Kunde bestimmt, über welchen Zugangsweg eine Versicherungsdienstleistung gesucht oder gekauft wird. Durch diese fundamentalen Veränderungen – in Kombination mit den bereits in den vorigen Kapiteln beschriebenen Gesellschaftstrends – ergeben sich für die Versicherungsunternehmen eine Reihe von Chancen und Gefahren, die im diesem Kapitel mit folgenden Kernfragen behandelt werden: • • • • Welche Veränderungen in Dienstleistungsmärkten sind relevant für Versicherer? Mithilfe welchen Modells können diese Veränderungen erfolgreich gemeistert werden? Wie verändern sich die Bedürfnisse der Kunden und die Anbieter-Nachfrager-Beziehungen? Was sind die Folgen für die Versicherungsbranche und -märkte? Wie stellt man Kunden in den Fokus seiner unternehmerischen Handlungen, gewinnt seine Aufmerksamkeit und überzeugt ihn vom Wert eines Produkts, einer Dienstleistung oder einer langfristigen Beziehung? aus: Walter Ackermann, Hato Schmeiser (Hrsg.): Versicherungswirtschaft & Versicherungsmanagement. Fachbuch des Berufsbildungsverbands der Versicherungswirtschaft (VBV). Bern 2012 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG 177 7.1 Marktseitige Veränderungen: Überblick und empirische Erkenntnisse In diesem Kapitel wird näher darauf eingegangen, was eigentlich das Produkt bzw. die Dienstleistung eines Versicherers ist, wie diese vermarktet werden kann und welche Rolle der Kunde und der Anbieter (und allenfalls ein Intermediär) dabei spielen. Das bereits im ersten Kapitel vorgestellte St. Galler Management-Modell zeigt auf, dass das Management der Marktleistung und der Kundenbeziehung neben den Geschäfts-, auch die Management- und die Unterstützungsprozesse tangiert, was die zentrale Stellung dieses siebten Kapitels hervorhebt. Bei den Anspruchsgruppen rücken neben den Mitarbeitern, der Öffentlichkeit und der Konkurrenz vor allem die Kunden in den Mittelpunkt. Traditionellerweise spielten in der Versicherungswirtschaft produktorientierte Verkaufskonzepte eine grosse Rolle, die durch eine produktionsgetriebene Inside-out-Perspektive gekennzeichnet waren (vgl. Abb. 7-1). Dabei wurde in einem ersten Schritt die Erstellung von Versicherungsprodukten – typischerweise nach Sparten – thematisiert, um anschliessend über deren Vermarktung nachzudenken. Schliesslich wurde versucht, Kunden zu finden, denen dieses Produkt verkauft werden konnte. Somit war der Kunde erst beim letzten Schritt, also dem Verkauf bzw. beim Vertragsabschluss als Käufer für die Versicherungsunternehmen interessant. [7-1] Elemente und Stossrichtung des herkömmlichen Verkaufskonzepts 1. Produktion und Verwaltung (Versicherungsprodukte nach Sparten) 2. Vermarktung (Suche von Kunden und Absatzkanälen) «hard selling» 3. Verkauf Abschluss Käufer Quelle: Haller/Ackermann, 1992 Dieses veraltete Modell wird heute immer seltener verwendet, aber die Veränderungen der damit einhergehenden Denkweise und Kultur nehmen viel Zeit in Anspruch. Erst in jüngster Zeit haben immer mehr Versicherer versucht, die Bedürfnisse, Wünsche und Probleme von aktuellen und zukünftigen Kunden ins Blickfeld der Unternehmensstrategie zu rücken. Dabei liegt die Erkenntnis zugrunde, dass sich Kunden nicht mehr grundsätzlich mit mehr oder weniger standardisierten Produkten zufriedengeben, sondern in bestimmten Bereichen zunehmend an ihre Bedürfnisse angepasste Leistungen (inkl. Beratung, Schadenmanagement etc.), in anderen aber preiswerte Commodities erwarten. Für die Unternehmen stellt sich somit die zentrale Frage: Wie kann ich mit meinen Produkten und Dienstleistungen beim Kunden Wert erzeugen (Customer Value)? Diese zunehmende Kundenorientierung ist nicht zuletzt auch Ausdruck von Trends, die einen Umbruch auf dem Versicherungsmarkt fördern. Neben generellen Strömungen, wie beispielsweise Preisdruck, Konsolidierung oder Internationalisierung, wirken andere Trends unmittelbar auf die Kunden-Anbieter-Beziehung. Dazu zählt beispielsweise die zunehmende Marktpolarisierung: Neben einem Massenmarkt mit günstigen, standardisierten Versicherungsprodukten, die häufig direkt, d. h. ohne Zwischenschaltung eines Intermediärs verkauft werden, entsteht gleichzeitig ein Premiummarkt, auf dem umfassende, beratungs- und betreuungsintensive Gesamtlösungen angeboten werden. Gerade der Zugangsweg «Direkt» hat in letzter Zeit in den europäischen Versicherungsmärken an Bedeutung gewonnen, während er in der Schweiz noch recht unbedeutend ist. Die niedrigen Eintrittsbarrieren dieses Zugangswegs locken allerdings zunehmend Anbieter aus anderen Branchen und Vergleichsplattformen, sog. Aggregatoren an. Auch die internetba- 178 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG sierten Applikationen wie Web 2.0 und Social Media und die Weiterentwicklung von Apps auf Smartphones weisen ein erhebliches Potenzial für die Neugestaltung der Prozesse vom, zum und mit dem Kunden auf. Diese Marktpolarisierung lässt sich heute für die Mehrheit der europäischen Versicherungsmärkte nachweisen. Aus Managementsicht interessiert dabei vor allem, wie Kunden im Lichte dieser Marktentwicklungen ihre Beziehungen zu Versicherern beurteilen, welche Erwartungen sie an die Anbieter haben und welche Innovationen sie sich in diesem Bereich vorstellen können. In einer repräsentativen Kunden-Studie wurde diesen Fragen nachgegangen (vgl. Maas/Graf/Bieck 2008) und z. T. überraschende Ergebnisse ermittelt: • Die Befragten aus sechs europäischen Ländern – darunter die wichtigsten Märkte UK und D – bringen der Versicherungsbranche im Durchschnitt nur ein sehr geringes Vertrauen entgegen. In einer Industrie, die im Wesentlichen mit Vertrauensgütern handelt, ist das fatal. So verwundert es nicht, dass in den Augen vieler Kunden Versicherer als austauschbar angesehen werden. • Für die meisten Konsumenten stellt der persönliche Kontakt zu einem Versicherungsberater nicht den wichtigsten Werttreiber dar. Viele sind bereit, diesen für eine 20-prozentige Verbilligung der Versicherungsprämie aufzugeben, um dann nur noch via Telefon oder Internet mit dem Anbieter zu kommunizieren. • Viele Versicherungskunden wünschen sich zudem eine Versicherungspolice, mit der sie gegen alle möglichen Schäden versichert sind (All-risk-Police), um Lücken zu vermeiden. • Werden Personen nach dem Versicherungsunternehmen gefragt, mit dem sie ihre Hauptbeziehung unterhalten, ändert sich ihre Einstellung. Das Vertrauen in diese Gesellschaft ist bereits höher als das in die Branche, aber am höchsten ist – aus psychologischer Sicht durchaus verständlich – das Vertrauen in den eigenen Berater. • Auf die Frage, was am meisten Wert aus Sicht der Kunden schafft, taucht an erster Stelle eine unkomplizierte und kulante Schadenabwicklung, an zweiter Stelle Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit des Unternehmens auf. Der Preis wird (im Durchschnitt der Länder) erst an fünfter Stelle als Werttreiber aus Kundensicht genannt. Dies ist umso überraschender, als häufig aus Anbietersicht der Preis generell als das entscheidende Kaufkriterium genannt wird. Auf Basis dieser Einstellungen auf der Nachfrageseite überrascht es nicht, dass sich weitere Veränderungen im Markt abzeichnen: • Eine wichtige Nachfrageveränderung hat sich in den letzten Jahren bei den Kundenzugangswegen ergeben. Interessenten und Kunden suchen heute viel aktiver nach Informationen zu Versicherungen als früher. Für einen Grossteil der befragten Kunden sind Freunde und Verwandte die ersten Ansprechpartner, nicht der Berater. Zudem wird das Internet immer beliebter: Mittlerweile informieren sich sehr viele Versicherungskunden auch online und nutzen neben den Webseiten der Versicherungsunternehmen zunehmend Angebote von unabhängigen Beratern oder Vergleichsportalen wie Comparis.ch. • Auch die Funktion der Versicherung verändert sich: So erwartet eine Mehrheit der Befragten eine möglichst schnelle und zuverlässige Schadenregulierung bei möglichst niedrigen Preisen (Kernfunktion: finanzieller Schadenausgleich und Schadenabwickler). Parallel dazu äussern über 40% der Befragten den Wunsch, dass der Versicherer neben der o.g. Funktion zusätzlich bei der Schadenvermeidung und dem Risk Management unterstützend tätig sein sollte (Kernfunktion: umfassender Lösungsanbieter). 179 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Auch hier zeigt sich die Polarisierung der Märkte in einen günstigen Massenmarkt und in einen qualitativ und preislich höher positionierten Premiummarkt. 7.2 • Hinzu kommt, dass individualisierte und innovative Versicherungsprodukte an Beliebtheit gewinnen und in deutliche Konkurrenz zu den klassischen Produkten treten. Ein Beispiel dazu liefert die sogenannte Usage-based-Versicherung, die sich derzeit vor allem im MFZ-Bereich verbreitet. Über die Hälfte der Befragten der erwähnten Studie würde ein individualisiertes Modell wählen, in dem die Prämie auf der Basis des effektiven Fahrverhaltens berechnet wird. Dabei wird die Beeinflussbarkeit der Prämie durch das eigene Verhalten und die daraus abgeleitete grössere Fairness als Hauptwerttreiber für diese innovative Variante gesehen (vgl. dazu auch Bühler/Graf/Bieck 2009). Weitere Beispiele für angewandte Innovationen in der Assekuranz sind der Einbau eines GPS-Geräts zur schnelleren Ortung des Fahrzeugs bei Diebstahl oder die Installation von Sensoren im Haus zur automatischen Alarmierung der Feuerwehr in einem Brandfall. Allen Beispielen ist aber eines gemeinsam: Für die Hergabe persönlicher Daten wird grundsätzlich eine wertvolle Gegenleistung erwartet. • Schliesslich wächst auch die Nachfrage zweifach: Einerseits nach einfachen, andererseits nach umfassenden Versicherungslösungen, wie beispielsweise einer Versicherung, die alle möglichen Schäden bzw. jede Person in einem Haushalt abdeckt. Gleichzeitig wünschen sich Kunden aber auch mehr Flexibilität, beispielsweise eine Versicherung, die jederzeit kündbar ist oder bei der flexibel einzelne Bausteine hinzu- oder herausgenommen werden können. Transformation der Dienstleistungsmärkte: Fokus «Customer Value» Die skizzierten marktseitigen Trends wie auch die Entwicklungen bei Kundenerwartungen und -verhalten verändern die Struktur der Märkte insgesamt und die Rollen, die Kunden und Anbieter zukünftig einnehmen werden. Erfolgsentscheidend für Unternehmen wird es daher sein, sich mit der zentralen Frage zu beschäftigen: Was schafft eigentlich Wert aus Kundensicht? Um diese grundlegende Frage beantworten zu können, benötigen wir ein umfassendes Konzept, das in der Lage ist, die Wertwahrnehmung des Kunden in seiner Komplexität und Dynamik abzubilden, um daraus Gestaltungsoptionen für das Management und konkrete Massnahmen ableiten zu können. Daher werden in Kapitel 7.2.1 zunächst Grundzüge der Customer-Value-Perspektive dargestellt, um anschliessend ein umfassendes Modell zur systematischen Integration der Kundensicht (Kapitel 7.2.2) zu präsentieren. 7.2.1 Auf dem Weg zum Customer Value Die Entstehung eines umfassenden Customer-Value-Verständnisses datiert nur wenige Jahre zurück, sodass hier noch einige Pionierarbeit geleistet werden kann (Kap. 7.2.1 A). Diese neue Haltung prägt Unternehmen immer stärker und konfrontiert sie mit ganz neuen Anforderungen (Kap. 7.2.1 C), die nicht zuletzt durch neue, wesentlich aktivere Rollen von Kunden bedingt sind (Kap. 7.2.1 B). 180 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG A Die Entwicklung des Customer Value Bis vor wenigen Jahren stand – vor allem für börsennotierte Unternehmen – die Generierung von Shareholder-Value im Zentrum des unternehmerischen Handelns. In dieser Inside-out-Perspektive wurde der Kunde meist nur als Ertragsfaktor gesehen. Kundenwert aus der Sicht des Unternehmens bestand folglich aus der Frage, wie viel Wert der Kunde für die entsprechende Organisation generiert (später Customer Equity genannt). Dieser wird über messbare Grössen ermittelt, wie beispielsweise Umsatz pro Kunde, der Kundendeckungsbeitrag oder – unter Einbezug des Faktors «Zeit» – der Customer Lifetime Value (CLV). Im Laufe der Zeit wurde versucht, den Kunden in der ganzen Komplexität von Verhaltensweisen wahrzunehmen und diese in entsprechenden (Berechnungs-)Modellen zum Kundenwert abzubilden. Allerdings zeigte sich bald auch die Begrenztheit dieser Perspektive darin, dass hier zum einen nur Ergebnisse vergangenen Verhaltens dargestellt werden konnten, zum anderen die verhaltensbeeinflussenden Faktoren auf Kundenseite im Dunkeln blieben. Rasch entwickelte sich eine gegenläufige Perspektive im Sinne des Customer Value, die die Wertvorstellungen des Kunden in den Mittelpunkt rückte. Diese Outside-in-Perspektive stellt die Frage, welchen Wert das Unternehmen durch seine angebotenen Produkte bzw. Dienstleistungen beim Kunden erzeugt. Zunächst wurde nur untersucht, wie sich die Erwartungen des Kunden auf seine Zufriedenheit auswirken, später wurden weitere Faktoren wie beispielsweise Transaktionskosten oder Kosten-Nutzen-Erwägungen berücksichtigt.[34] Beispielsweise definiert Matzler (2000) den wahrgenommenen Kundenwert als das Verhältnis der wahrgenommenen materiellen und immateriellen Kosten zum wahrgenommenen materiellen und immateriellen Nutzen dieser Austauschbeziehung. Das Ergebnis dieses Vergleichs wird in Beziehung gesetzt zu den wahrgenommenen Kosten und Nutzen einer potenziellen Alternative. Bei einer solchen Betrachtung ergeben sich zwei Möglichkeiten zur Generierung von Customer Value aus Kundensicht: In einem ersten, eher traditionellen Ansatz liegt der Ausgangspunkt bei der Leistung eines Unternehmens, d. h., das Produkt wird bis hin zu Leistungs- und Nutzenpaketen für den Kunden erweitert (sog. P-System[35]). Hier nimmt das Unternehmen die eigene Wertschöpfungskette als Grundlage der Wertbetrachtung, um darauf aufbauend Verbesserungen, also Mehrwerte für den Kunden zu generieren. Als Beispiele könnten eine Anreicherung der Marktleistung mit weiteren Produktfeatures (erweiterter Deckungsumfang) oder Eröffnung neuer Zugangswege für die Kunden (digitale Kommunikation) genannt werden. Der zweite Ansatz ist konsequent durch die Kundenperspektive gekennzeichnet und beschäftigt sich mit den folgenden Fragen: • • • Wie gehen Kunden – heute und in Zukunft – in Märkte und suchen wertvolle Angebote? Welche Anbieter versprechen dabei die für die Kunden wertvollsten Leistungen? Welche Rolle spielen in diesem Kontext die Finanzdienstleister? Diese Perspektive berücksichtigt neuere gesellschaftliche Trends und versucht völlig neue Lösungen aus dem Blickwinkel der Kunden zu entwickeln (C-System). Dazu müssen die [34] [35] Mehr zur Entwicklung des Begriffs Customer Value bei Maas (2001) und Matzler (2000) Auch als L-Ansatz bekannt (Belz/Bieger 2006) 181 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Unternehmen aber die Erlebniswelt (Erwartungen; Erfahrungen) des Kunden mit seinen Vernetzungen (Familie, Communities, Gesellschaft) besser verstehen lernen. Nur so ist es möglich, dass durch eine nachhaltige Erhöhung des Customer Value auch der Wert des Unternehmens gesteigert wird (Abb. 7-2). Beispiel Die Interaktion mit den Community-Systemen wird zu einem Erfolgsfaktor für Versicherungsunternehmen, da die Empfehlungen von Peers auch beim Versicherungskauf erheblich an Bedeutung gewinnen. Da Communities in hohem Masse selbstgesteuert sind, d. h. durch deren Mitglieder gesteuerte Systeme sind, muss das Versicherungsunternehmen verstehen, wie in solchen Kontexten kollektives Wissen geschaffen wird und zu einer Meinungsbildung führt. [7-2] Verschiedene Ansätze zur Generierung von Kundenwert C-System Communities Customer Communication Werte Märkte Produkte (Dienst-)Leistungen P-System Quelle: Maas 2001; Maas/Graf 2003 B Neue Rollen des Kunden Neue Kommunikations- und Informationstechnologien haben im gesamten Dienstleistungsbereich eine Beschleunigung und Innovationsdynamik ausgelöst, die Unternehmen zu einer grundsätzlichen Überprüfung ihrer eigenen Fähigkeiten bzw. Ressourcen zwingen (Schmid 2000). Dies bedeutet konkret, dass nicht mehr nur Unternehmen als Wettbewerber oder Netzwerk- bzw. Kooperationspartner gesehen werden, sondern zunehmend die eigenen Kunden. Wenn Kunden dank neuer Technologien von passiven Konsumenten zu aktiven Spielern werden, können auch ihr Wissen, ihre Fähigkeiten und ihre persönlichen Erfahrungen zur wichtigen Ressource für die Leistungserstellung im Unternehmen werden. Gerade im Dienstleistungsbereich finden sich eine Vielzahl an Möglichkeiten, Kunden in den Wertschöpfungsprozess mit einzubinden, da die Interaktion von Kunde und Unternehmen eine bedeutende Rolle bei der Leistungserbringung (prosumer[36]) spielt (Maas/Graf 2003). Dabei kann der Konsument neben seiner eigentlichen Konsumentenrolle verschiedene andere Rollen übernehmen (Maas 2001 vgl. auch Prahalad/Ramaswamy 2000 und Maas/Graf 2004): [36] Wortschöpfung aus den englischen Begriffen «producer» und «consumer» 182 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG • • • • Mit-Entwickler: Kunde trägt über Feedback- und Beschwerdemanagement-Systeme zur Weiterentwicklung von Versicherungsprodukten bei Mit-Wertschöpfer: Kunde besucht ein Fahrtraining und verursacht dadurch zukünftig weniger Unfälle Mit-Arbeiter: Erstellung einer webbasierten Schadenmeldung und Versand per E-Mail Wettbewerber: Kunde ist gleichzeitig Mitarbeiter einer anderen Versicherungsgesellschaft Das Spektrum an Rollen, die Kunden in solchen Prozessen einnehmen, kann von einer aktiven, fast vollständigen Eigenerstellung der Leistung bis hin zu einer passiven Bereitstellung von Informationen und Objekten reichen. Konkret kann sich das individuelle Prosumer-Verhalten beispielsweise durch das Zurverfügungstellen von Zeit oder im Übernehmen einzelner Teilbereiche im Leistungserstellungsprozess (ähnlich dem E-Banking oder dem Web Check-in) äussern. Ebenso kann der Kunde helfen, die Leistungsqualität eines Versicherers zu verbessern, indem er vor, während oder nach der Interaktion mit seinem Anbieter Feedbacks gibt und seine Erfahrungen teilt. Allerdings muss es dem Management gelingen, den Kunden dazu zu bewegen diese neue, aktive Kundenrolle zu übernehmen. Erfahrungen aus der Assekuranz zeigen, dass es derzeit noch aufseiten beider Marktteilnehmer Hürden gibt, die einen stärkeren Einbezug von Kunden erschweren. Auf Unternehmensseite fehlt häufig die geeignete Infrastruktur, aber auch die entsprechende Interaktionskultur; auf Kundenseite mangelt es noch an Interesse und konkreten Möglichkeiten, die Erfahrungen aus anderen Branchen adäquat auf Versicherungen zu übertragen (Maas/Graf 2003). C Anforderungen an die Unternehmen Der systematische Einbezug der Kundenperspektive führt zu einer wachsenden Zahl an möglichen, unterschiedlichen Kundenwünschen und verlangt nach integrierten Leistungsbzw. Produktsystemen. Diese haben zum Ziel, Problemlösungen für Kunden so zu gestalten, dass diese zunehmend individuellen und umfassenden Kundenbedürfnisse befriedigt werden können. Beispiele aus anderen Branchen zeigen, dass hierdurch verstärkt sogenannte Value Webs[37] entstehen, in denen mithilfe moderner Informationstechnologie branchenübergreifend innovative Marktleistungen und Prozesse kreiert werden können. Mit steigender Komplexität der Kundenwünsche erhöht sich gleichzeitig die Komplexität dieser Systeme. Bei jedem Produkt oder jeder Dienstleistung wird neben einem individuellen auch ein Nutzen auf sozial-kollektiver Ebene für den Kunden generiert. Denn das Individuum stellt keine autarke Einheit dar, sondern ist stets in verschiedene Systeme integriert. So werden in der Community, welcher der Kunde angehört, bestimmte Werte und Normen «hochgehalten», die zur Bewertung von Produkten und Dienstleistungen dienen. Dadurch wird ersichtlich, dass der soziale Wert des Produktes bzw. der Leistung zu einem grossen Teil von anderen Personen aus den Communities, d. h. über (Kunden-)Netzwerkeffekte, mindestens mitbestimmt wird. Für die Unternehmen wird daher die Interaktion mit Communities zu einer Schlüsselaufgabe. [37] Wertschöpfungsnetzwerke 183 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Fallbeispiel: Die Nutzung des Community-Gedankens hat das Berliner Start-up «Friendsurance» neu interpretiert, indem es Social Media und Versicherung miteinander kombiniert. Wie in den bekannten Communities vernetzen sich verschiedene Nutzer miteinander, um nun aber im Schadenfall, beispielsweise bei Verlust oder Beschädigung eines Smartphones, eine kleine, gegenseitige Unterstützung zu bestimmen. So springen bei kleineren Schäden die Freunde ein. Dafür müssen sie nur einen niedrigeren Beitrag als bei anderen Versicherungen leisten. (Rönisch, 2011) Bewegt man sich von der produktorientierten Ausrichtung hin zum Problemlösungsansatz (im Sinn des C-Systems), wird schnell erkennbar, dass die traditionellen Geschäftsmodelle der Versicherer an Grenzen stossen, da ihnen häufig die Flexibilität und Innovationskraft für zukünftige Anforderungen fehlen. Konkret kann es für ein Versicherungsunternehmen schwierig werden, sich konsequent auf den Kunden auszurichten, da sich dessen Erwartungen häufig als zu komplex erweisen und eine handfeste Deutung seiner Bedürfnisse oft nur schwer möglich ist. Nimmt man das Beispiel einer Mfz-Police, so kann das Bedürfnis des Kunden lediglich darin bestehen, eine minimale (obligatorische) Absicherung für sein Fahrzeug zu haben. Erweitert man aber diese Perspektive, so könnte es aus Sicht des Anbieters und des Kunden Sinn machen, weitere Leistungen in diesem Bereich anzubieten (z. B. Assistance). Geht man noch einen Schritt weiter, könnte die Frage lauten: Welchen Beitrag kann ein Versicherer leisten, um die (umfassenden) Mobilitätsbedürfnisse eines Kunden zu befriedigen? Im Lichte der aktuellen Marktentwicklungen werden die Versicherungsunternehmen dennoch gezwungen, ihren Fokus weg vom Produkt hin zu den Kundenbedürfnissen zu verschieben. Dieser Perspektivenwechsel beeinflusst das Wertschöpfungssystem des Unternehmens fundamental. Zu erwarten ist eine verstärkte Konzentration auf die eigenen Kernkompetenzen bei einem gleichzeitigen Ausbau der Outsourcing-Aktivitäten. Dabei dürften vermehrt Kooperationen und Netzwerkbeziehungen entstehen. Insgesamt unterstreicht dieser Gedanke die Erfahrung, dass zur Realisierung von Wettbewerbsvorteilen nicht nur die Positionierungsüberlegungen («What business are we really in?»), sondern ebenso sehr auch die Wertschöpfungsstrategien beitragen («What business are we capable of?») (siehe Abb. 7-3). [7-3] Gegenseitige Ergänzung des Funktionen- und des Kernkompetenzendenkens Marktleistung Kernkompetenzen eines Unternehmens (heutige + zukünftige) Kundenbedürfnisse erfüllbare Funktionen «what business are we capable of?» Quelle: Maas 2001 184 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG «what business are we really in?» Aufgaben Wie bringen Sie die Kunden dazu, sich aktiv am Leistungserstellungsprozess zu beteiligen? 1 7.2.2 Das Modell «Customer Value» Beim bereits angesprochenen C-Ansatz wurde ersichtlich, dass hier kein einheitlicher Arbeitsprozess beschrieben werden kann, da sich die relevanten Entwicklungen ausserhalb des Unternehmens vollziehen. Hingegen kann für den P-Ansatz ein Arbeitsprozess aufgezeigt werden, der die Orientierung am Kunden integriert (Belz/Bieger 2006). Auf der Basis des sogenannten 7-K-Modells (Abb. 7-4) lässt sich der folgende Arbeitsprozess entwickeln: Mit der Diagnose von Umfeld, Markt und Unternehmen werden die Grundlagen für mögliche Lösungen – unter Berücksichtigung von Vorgaben der Unternehmensführung oder spezifischer Kundenprobleme – erfasst (Kap. 7.2.2 A). Darauf aufbauend lässt sich eine strategische Ausrichtung festlegen (Kap. 7.2.2 B). Mithilfe der im Modell verankerten 7-K wird die Gestaltung der Leistung oder des Produkts erarbeitet und im Hinblick auf seine Wirkung beim Kunden abgeschätzt (Kap 7.2.2 C – 7.2.2 I). Zum Abschluss werden Möglichkeiten der praktischen Anwendbarkeit des Customer-Value-Modells aufgezeigt (Kap. 7.2.2 J). [7-4] Customer-Value-Modell Diagnose Umfeld Diagnose Markt und Unternehmen Strategisches Leistungs- und Kundenmanagement Leistungserstellung- und Nutzungssystem Mitarbeitersystem: Mitarbeitervorteil und Ressorcen Leistungssystem: Anbietervorteil Kommunikation Kunde Konfiguration Kommerzialisierung Kompetenz Partnersystem Kooperation Kontrolle Quelle: Belz/Bieger 2006 185 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG A Externe und interne Diagnose Die Diagnose von Umfeld, Markt und Unternehmen beinhaltet drei wesentliche Schritte: Erarbeitung von Schlüsselfragen, Festlegung von Personen bzw. Quellen, mit denen die Fragen beantwortet werden können, und Festlegung der dazu geeigneten Methoden. Um eine möglichst vollständige Diagnose durchführen zu können, werden die Bereiche Marktentwicklung, Konkurrenz, Kunde, Kooperationspartner und das eigene Unternehmen näher untersucht. Hierzu sind Umfeld-, Kunden- und Leistungsanalysen unabdingbar. Typische Aufgaben in der Diagnosephase sind die Erforschung von Trends im Kundenverhalten oder die Analyse der Verfahren zur Kundenwertbestimmung. B Strategisches Leistungs- und Kundenmanagement Beim strategischen Leistungs- und Kundenmanagement wird der Frage nachgegangen, welche Produkte bzw. Leistungen ein Versicherer in welchen Märkten anbieten soll. Für die strategische Ausrichtung stehen grundsätzlich folgende Optionen zur Verfügung: Das Unternehmen kann sich weiterentwickeln, indem es neue Produkte in den Markt bringt oder ganz neue Märkte bedient. Es kann aber auch entscheiden, die jetzige Stellung zu halten oder gar verschiedene Leistungen vom Markt zu nehmen bzw. bestimmte Märkte nicht mehr zu bedienen. In jedem Fall ist darauf zu achten, dass die Leistungssysteme auf die jeweiligen Kundenbedürfnisse zugeschnitten sind. Um sich strategisch am Customer Value auszurichten, müssen zuerst Kunden segmentiert und die Kernzielgruppe ermittelt werden. In diesem Zusammenhang verliert die klassische Segmentierung nach soziodemografischen Merkmalen an Bedeutung, da sich Einstellungen, Lebensstile und Konsumverhalten von Kunden heute deutlich komplexer und hybrider darstellen als noch vor zehn Jahren. Verschiedene Studien zeigen, dass eine Segmentierung nach Lebensstilen (siehe Exkurs 7.1) oder nach kulturellem Hintergrund deutlich aussagekräftigere Daten liefern als das klassische Vorgehen (mehr zur Segmentierung in Kap. 7.3.4). Exkurs 7.1 Im Rahmen einer internationalen Studie in sechs europäischen (Dänemark, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Niederlande und die Schweiz) und fünf amerikanischen Ländern (Argentinien, Brasilien, Chile, Mexiko und USA) wurden 4 000 Kunden befragt, wie sie ihre Versicherer bezüglich verschiedener Kriterien beurteilen und welche Innovationen sie von ihren Anbietern erwarten (Steiner/Maas/Bieck 2009). Die Ergebnisse in den europäischen Ländern unterscheiden sich im Durchschnitt zum Teil deutlich, wenn man z. B. Fragen zur allgemeinen Zufriedenheit mit dem eigenen Versicherer, zur Preisgünstigkeit oder auch zur Servicequalität anschaut. Im interkontinentalen Vergleich sind die Unterschiede sogar noch grösser. Besonders interessant sind die Einschätzungen bezüglich der Funktionen, die ein Versicherer aus Sicht der Kunden erfüllen soll (siehe Abb. 7-5): Kunden, die sich einen Versicherer wünschen, der sich auf die reine Abwicklung von Schäden konzentriert, und solche, die sich ein umfassendes Risk-Management-Angebot (inkl. Prävention) wünschen, unterscheiden sich nicht durch soziodemografische Merkmale wie Einkommen oder Alter, sondern vor allem aufgrund von Einstellungen, Werterwartungen und kulturellen Faktoren. 186 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Von Kunden gewünschte Funktionen eines Versicherers (Schadenabwickler vs. Lösungsanbieter): Gesamtdarstellung und unterteilt nach Ländern [7-5] 56% 44% 35% CH D UK F NL DK ARG CHI MEX BRA USA 68% 20% 80% 46% 54% 30% 70% 30% 70% 68% 32% 61% 39% 68% 32% 50% 50% 31% 0 ■ Versicherung als Lösungsanbieter ■ Versicherung als Schadenabwickler 65% 32% 20% 69% 40% 60% 80% 100% ■ Versicherung als Lösungsanbieter ■ Versicherung als Schadenabwickler Quelle: Steiner/Maas/Bieck 2009 Im Bereich von Innovationen können sich Kunden insbesondere Versicherungsangebote vorstellen, die ein grösseres Mass an Flexibilität (z. B. automatische Anpassung an veränderte Lebenssituation, jederzeitige Kündbarkeit) und Einfachheit aufweisen. Schliesslich hängt die Bereitschaft von Versicherungskunden, dem Versicherer auch verhaltens- oder situationsspezifische Daten zur Verfügung zu stellen, ebenfalls stark von Einstellungen und Lebensstilkomponenten ab. Daher verwenden Unternehmen für ihre Segmentierungen zunehmend eine Kombination aus verhaltensbezogenen, soziografischen, psychologischen und geografischen Merkmalen (Kurtenbach/Kühlmann/Kässer-Pawelka 1995). Dadurch ist eine viel gezieltere Ansprache der Kunden möglich. Auf dieser Basis müssen die eigenen Leistungssysteme daraufhin strategisch begutachtet werden, ob sie zur Positionierung des Unternehmens passen. Zur Generierung von Customer Value stehen einem Unternehmen modellhaft sieben Gestaltungsbereiche (sog. 7-K) zur Verfügung: Kunden(-orientierung), Konfiguration, Kommunikation, Kommerzialisierung, Kompetenz, Kooperation und Kontrolle. C Kundenorientierung Basis der Anwendung des Customer-Value-Ansatzes ist die Kundenorientierung in einem Unternehmen, d. h. die grundlegende Haltung gegenüber Kunden, die in einer Organisation zu beobachten ist. Dabei spielt die Frage eine wesentliche Rolle, wie der Kunde in der Organisation (unterschiedlich) gedacht wird, welches seine vermuteten Anliegen, Erwartungen und Interaktionsbedürfnisse sind. Schaut man in die Praxis, wird schnell klar, dass in einem Versicherungsunternehmen sehr unterschiedliche Kundenbilder zutage treten, abhängig davon, ob man Aktuare, Verkäufer, Produktentwickler oder Schadenleiter befragt. Diese Heterogenität führt aber regelmässig auch zu unterschiedlichen Arten der Kommunikation und Interaktion mit Kunden, die wiederum das Unternehmen divers wahrnehmen, je nachdem mit welchem Bereich sie gerade Kontakt haben. Im Fokus dieses Gestaltungsbereiches stehen zwei wesentliche Säulen: der Kundenvorteil und der Kundenwert. Um Kunden ein vorteilhaftes Angebot machen zu können, muss man zunächst verstehen, was Kunden wertschätzen, welche Werterwartungen sie haben und welche Faktoren letztendlich ihr Verhalten beeinflussen. Dabei ist es nicht ausreichend, 187 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG den eigentlichen Kaufprozess des Kunden z. B. anhand des Zusammenhangs zwischen Buying- und Selling-Cycle (vgl. Mauch 1990) zu analysieren. Vielmehr geht es darum, besser zu verstehen, was Kunden rational, emotional und kommunikativ antreibt und zu einem bestimmten Handeln führt. Zu diesem Zweck werden eine Vielzahl von Methoden angewandt, deren Spektrum von der klassischen Verhaltensforschung über Einstellungs- und Wertanalysen bis hin zu qualitativen Verfahren wie Tiefeninterviews oder Storytelling reicht. Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Kundenvorteil, also der seitens des Kunden wahrgenommene Mehrnutzen eines Produktes oder einer Dienstleistung gegenüber vergleichbaren Alternativen. Je abstrakter ein Produkt ist – und Versicherungen sind hier ein gutes Beispiel –, umso schwieriger ist es für den Käufer, die potenziellen Kundenvorteile zu antizipieren. Kundenvorteile können sehr unterschiedlicher Natur sein, verschiedenen Quellen entspringen (wie in Abb 7-6 dargestellt) und werden kundenseitig nicht nur zur Beurteilung der Marktleistung, sondern häufig auch des gesamten Unternehmens herangezogen (siehe Fallbeispiel). [7-6] Kundenvorteile: Mögliche Quellen Beziehung Emotion Erklärung Individualisierung Koordination Identifikation und Vertrauen Geschwindigkeit Entlastung und Sicherheit Wirtschaftlichkeit Qualität Innovation Quelle: Belz/Bieger 2006 Die genannten Kundenvorteile können auch negative Konsequenzen für den Kunden haben, z. B. wenn eine höhere Qualität auch mit einem höheren Preis verbunden ist oder bei einem individuell auf den Kunden zugeschnittenen Produkt Intransparenz bezüglich der Preisfestsetzung herrscht. Je nach Phase des Kundenprozesses können die genannten Kundenvorteile auch eine unterschiedliche Gewichtung erfahren. Letztendlich entscheidet der wahrgenommene Nutzen (jeder Phase) über die Fortführung der Beziehung. Fallbeispiel: Ein Beispiel für erfolgreiche Kundenorientierung bildet die Kooperation des Versicherungskonzerns AXA und TMobile. So ist über den «Schutzbrief Premium» direkt beim Kauf eines Smartphones oder Netbooks der Erwerb einer Versicherung für Beschädigung oder Diebstahl des Geräts möglich. Darin ist zusätzlich eine Verlängerung der Garantie von 12 auf 24 Monate inbegriffen, die gerade bei amerikanischen Produkten, wie beispielsweise dem iPhone, von zusätzlichem Nutzen ist. Aber gerade die Einfachheit des Kaufs mit anschliessender kurzer Anmeldung über das Internet ohne die Angabe weiterer Daten zeugt von gelebter Kundenorientierung. 188 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Aus Unternehmenssicht ist – neben der Kenntnis der Werttreiber aus Kundensicht – wichtig zu wissen, welche Kunden dem Unternehmen den grössten Wertbeitrag liefern. Um wirtschaftlich erfolgreich zu sein, muss ein Unternehmen seine Strategie auf attraktive Kundensegmente ausrichten und die Zahlungsbereitschaft der Kunden optimal abschöpfen. Für Unternehmen ist der Wert von Kunden entscheidend. Die Berechnung des Wertes einer Kundenbeziehung (Customer Equity) kann mithilfe verschiedener Verfahren erfolgen: • • • Customer Lifetime Value ist der Wert, der einem Unternehmen über die Gesamtdauer einer Kundenbeziehung entsteht, abdiskontiert auf die Gegenwart. Bei der Kundendeckungsbeitragsrechnung werden Ausgaben und Einnahmen mit Bezug auf einzelne Kunden gegenübergestellt und saldiert. Im Rahmen einer ABC-Analyse werden Kunden z. B. anhand ihrer Umsatzgrössen (hier: Prämienvolumen) bewertet und klassifiziert: A-Kunden haben eine hohe Bedeutung für Unternehmen, sind aber häufig am aufwendigsten zu betreuen. B-Kunden generieren einen mittleren Umsatz und sind häufig das profitabelste Segment. C-Kunden bringen relativ wenig Umsatz, tragen in der Menge aber trotzdem zum Erfolg bei. Im Versicherungsbereich macht es natürlich mehr Sinn, jeweils auch die Schadenzahlungen mit einzubeziehen, um Aussagen über die Profitabilität treffen zu können. Wichtig zu beachten ist, dass Customer Equity und Kundenvorteil eng zusammenhängen. Nur wenn ein Kunde mit Produkten oder Leistungen des Unternehmens zufrieden ist bzw. er daraus einen Vorteil für sich ziehen kann, ist er bereit, seine Beziehung zum Unternehmen fortzusetzen oder sogar weitere Produkte desselben Anbieters zu erwerben. Damit steigt auch sein Wert aus Sicht des Unternehmens und es können weitere spezifischere Angebote gemacht werden, die den wahrgenommenen Kundenvorteil wiederum verbessern. Einem solchen idealtypischen positiven Wirkungskreislauf steht stets eine Negativspirale gegenüber, wenn es nicht gelingt, dauerhaft Customer Value zu schaffen. Dieser Zusammenhang betont zugleich die Wichtigkeit, sich auf Unternehmensseite regelmässig ein Bild der Kundenwahrnehmung zu machen, die im Wesentlichen die Differenz zwischen Erwartungen des Kunden und wahrgenommener Leistung widerspiegelt. Hierzu stehen eine Reihe von Messverfahren zur Verfügung wie beispielsweise Analyse des Beschwerdeverhaltens, Wiederkaufsrate, Kündigungsverhalten und Messung der Zufriedenheiten. D Konfiguration Die Aufgabe der Konfiguration liegt darin zu bestimmen, in welchen Geschäftsfeldern ein Unternehmen tätig sein will (und in welchen nicht), d. h. seine produktbezogenen, geografischen und/oder vertikalen Grenzen festzulegen (vgl. Müller-Stewens/Lechner 2001, S. 210). Dadurch wird erkennbar, dass die Konfiguration bereits bei strategischen Überlegungen eines Unternehmen wichtig ist, da durch sie das Geschäftsfeld näher beschrieben und die Leistungen des Unternehmens determiniert werden. Andererseits müssen diese Leistungen eine einzigartige Positionierung im Markt aufweisen und Kunden mit ihren individuellen Erwartungen ansprechen. Ziel der Konfiguration ist es daher, spezifische Leistungsbündel eines Unternehmens möglichst passgenau auf individuelle Anforderungen und Erwartungen bestimmter Kundengruppen abzustimmen und damit Wert für die Kunden und Wert für das Unternehmen zu stiften. Typischerweise werden Varianten der Konfiguration danach unterschieden, inwieweit sie am Kunden oder am Unternehmensinteresse ausgerichtet sind (Abb. 7-7), d. h., ob sie eher angebots- oder eher kundenorientiert gestaltet wurden. 189 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG [7-7] Ansätze für die Konfiguration Konfiguration (C-Ansatz) Kunde Konfiguration (P-Ansatz) Produkt+ Leistungswirkung Wertekette und Kanäle Kundenprozess Kundennutzen Quelle: In Anlehnung an Belz/Bieger 2006 Produkt+: Bei dieser Konfigurationsvariante steht das Produkt oder die Leistung im Mittelpunkt und wird mit zusätzlichen Serviceelementen gezielt angereichert. Diese Leistungen können kontinuierlich mit weiteren produktnahen Services erweitert werden, bis ein komplettes Leistungssystem für ein bestimmtes Marktsegment oder einen speziellen Kundenkreis geschaffen wurde. Der Vorteil dieser Inside-out-Perspektive ist, dass das Kernprodukt mit den zusätzlichen Leistungen meist als Einheit wahrgenommen wird. Leistungswirkung und -stufen: Um die für den Kunden oft komplexen Systeme zu vereinfachen, werden Leistungssysteme einfach unterteilt. So unterscheidet Rudolph (2005) in seinem Profilierungsansatz drei Zonen. (1) In der Sicherheitszone befinden sich Leistungen, die vom Kunden als zwingend notwendig erachtet werden und die auch die Konkurrenz anbietet. (2) Leistungen der Profilierungszone bietet nur das eigene Unternehmen an, werden vom Kunden honoriert und verschaffen dem Unternehmen ein besseres Image. (3) In der Früherkennungszone liegen Leistungen, die latente Bedürfnisse von Kunden ansprechen. Diese Leistungen sind einzigartig am Markt und werden unter Umständen auch von den eigenen Kunden noch nicht wahrgenommen. Ähnliche Abstufungen lassen sich auch vornehmen, indem man z. B. Grund- und Wahlleistungen oder integrierte und verrechnete Leistungen oder gar verschiedene Leistungsstufen unterscheidet. Bei der Konfiguration nach Werteketten und -kanälen bilden die Werteketten des Marktes und der Partner die Grundlage für das Leistungssystem. Nach genauer Analyse können diese Ketten anders zusammengestellt werden, damit neue Formen der Arbeitsteilung zwischen den Marktpartnern (z. B. Anbieter und Vermittler) möglich werden. Die Auswahl der Partner hat für alle beteiligten Parteien eine strategische Bedeutung, da der Erfolg der Partner auf gegenseitiger Abhängigkeit beruht. Bei der Konfiguration nach Kundenprozessen liegt bereits eine stärkere Kundenorientierung zugrunde. Der Buying Cycle der Kunden mit den Phasen Information, Evaluation, Kaufentscheidung und Nutzung muss von Unternehmen durch den Sales Cycle begleitet werden. So kann das Unternehmen beispielsweise seine Services bzw. auch das Marketing gezielt auf die Phasen vor, während und nach dem Zeitpunkt eines Kaufs einsetzen. 190 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Durch die Konfiguration nach dem Kundennutzen werden durch die grössere Kundennähe die Kommunikation und die Vermarktung der Leistung vereinfacht. Die in Abbildung 7-6 erwähnten Kundenvorteile lassen sich so gezielter mit den Lösungen der Anbieter und entsprechenden Nutzenpaketen verknüpfen (z. B. Image-, Beziehungs- oder Innovationspakete). Beispielsweise erhalten Kunden im Imagepaket durch Marken eine gewisse Orientierung und Anerkennung. Das Marketing kann mit verschiedenen Aktionen Emotionen und Einstellungen zur Marke weiter positiv beeinflussen. Der Vorteil dieses Konfigurationsansatzes ist, dass die Kundenorientierung im Mittelpunkt steht und Ausgangspunkt der Kunde selbst ist. So kann sich das Unternehmen gegenüber der Konkurrenz einen bedeutenden und eigenständigen Auftritt erarbeiten. Eine klare Trennung zwischen den fünf erläuterten Konfigurationsvarianten ist nicht immer möglich, vielmehr lassen sich diese auch miteinander kombinieren. E Kommunikation Die Kommunikation nimmt eine herausragende Position im Customer-Value-Ansatz ein. Leistungs- und Kundensysteme sind häufig komplex, dynamisch und vielfältig, sodass die Kommunikation von Lösungen oft sehr anspruchsvoll ist. Unternehmen können bereits daran scheitern, ihren durch (innovativen) Leistungen generierten Wert für die Kunden nicht kommunizieren zu können. Daher ist es entscheidend, einerseits wirksam nach innen und aussen mit den entsprechenden Anspruchsgruppen zu kommunizieren, andererseits (neue) Wege zu finden, wie mit den Kunden in Dialog getreten werden kann. Kunden und Mitarbeiter als wichtigste Bezugsgruppen, aber auch Kapitalgeber und weitere Anspruchsgruppen erwarten eine zeitgerechte, bedürfnisorientierte und verständliche Kommunikation. Die besondere Stellung der Kommunikation wird auch dadurch deutlich, dass sie eng mit den anderen «Ks» (Konfiguration, Kommerzialisierung, Kompetenz und Ressourcen, Kooperationsfähigkeiten, Kontrolle und Kunden(orientierung)) verknüpft ist. Beispielsweise unterstützt die Kommunikation die Kompetenz des Unternehmens durch spezielle Schulungen oder innovative Informationssysteme. Gleichzeitig sind diese Informationssysteme aber auch nicht aus der Kommunikation mit Anspruchsgruppen wegzudenken. Kommunikation bei Produkten ist häufig einfacher als bei Leistungs- und Kundensystemen, da bei Inseraten oder Prospekten meist das Produkt selbst in der Kommunikation dominiert. Leistungssysteme hingegen beinhalten neben Produkten weitere Dienstleistungselemente und werden aufgrund ihrer Intangibilität zu Erfahrungsgütern, die gerade in der Kommunikation mit neuen und unerfahrenen Kunden Probleme bereiten können, weil der Kunde sie erst nach dem Kauf beurteilen kann. Am Beispiel der Versicherung lässt sich zeigen, dass der «Moment der Wahrheit» häufig erst im Schadenfall kommt. Das bedeutet für die Kunden, dass sie erst relativ spät erfahren, ob der Versicherer sein Versprechen einhält oder nicht. Dieses subjektive Kaufrisiko ist für Versicherungskunden erheblich. Kunden können versuchen, dieses durch verschiedene Massnahmen zu kompensieren, sei es beipielsweise durch persönliche Kommunikation mit einem Berater, sei es durch Erfahrungsaustausch mit glaubwürdigen Bezugspersonen aus dem privaten Umfeld, sei es durch bestimmte Leistungsgarantien oder Qualitätssiegel. Aus Unternehmenssicht ist es wichtig, zunächst die entscheidenden Kundenzielgruppen zu bestimmen, um diese unter Berücksichtigung ihrer Erwartungen, Bedürfnisse und Probleme gezielt ansprechen zu können. 191 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Fallbeispiel: Früher meist nur unter den Marken «Hamburg-Mannheimer», «Victoria» oder anderer Marken bekannt, wurde 2010 beschlossen, die Dachmarke «ERGO» in den Vordergrund zu stellen und die bisherigen Markennamen nicht weiter zu nutzen. Gleichzeitig wurde das Unternehmen restrukturiert. Im Mittelpunkt der dazugehörigen Werbekampagne steht der Slogan «Versichern heisst verstehen». Damit soll verdeutlicht werden, dass die Bedürfnisse des Kunden in den Vordergrund gestellt werden. Die Kampagne ist zudem auch darauf ausgerichtet, auf allen benutzten Kundenzugangswegen konsequent einheitliche Marken- als auch Produktbotschaften zu kommunizieren. Nach dieser Anfangskampagne setzt Ergo ihren neuen Claim konsequent um. So gibt es heute beispielsweise einen Kundenanwalt, der sich um die Kunden kümmert, die sich von der Versicherung ungerecht behandelt fühlen, um eine gerechte Lösung aus Sicht des Kunden zu entwickeln. Anschliessend muss geklärt werden, wie das Unternehmen mit dem Kunden in Kontakt treten kann. Dies kann mit allgemeiner Medienwerbung wie Inseraten in Fachmedien oder Prospekten bis hin zu spezifischen Alternativen wie Kundenworkshops, Kundenberatungen oder Mitarbeiterschulungen geschehen. Um Mehrwert zu schaffen und sich stärker von der Konkurrenz abzuheben, versuchen immer mehr Unternehmen, Kunden in den Kommunikationsprozess mit einzubeziehen und in einen echten Dialog zu treten. Dabei ist es wichtig, eine konsistente Gesamtkommunikation zu entwickeln, mit der die richtigen Kunden glaubhaft angesprochen werden können. F Kommerzialisierung Die Kommerzialisierung zielt auf die Frage, wie es Unternehmen gelingt, angebotene Produkte und Dienstleistungen in Erträge für das Unternehmen umzusetzen. Im Kern geht es darum, die Bedürfnisse und Werterwartungen sowie die damit verknüpften Zahlungsbereitschaften von Kunden zu kennen, um daraufhin ein geeignetes Angebotspaket zu schnüren und mit einem angemessenen Preis zu versehen. Es ist einsichtig, dass Kommunikation, Leistungen und Preise hier eng miteinander verknüpft sein müssen, um eine für Kunden erbrachte Leistung auch adäquat monetarisieren zu können. Die Leistungen mit den einzelnen Bausteinen wurden bereits in der Konfiguration gebildet. Bei der Kommerzialisierung müssen für die einzelnen Posten die richtigen Preise gefunden werden. Dabei spielen die eigenen Kosten und der Nutzen des Kunden aus der Leistung bei der Preisgestaltung eine wichtige Rolle. Zudem muss bei dieser Entscheidung auch auf die Konkurrenz mit deren Preis- und Leistungsspektrum sowie deren Verhalten auf dem Markt geachtet werden. Bei der Preisgestaltung von Dienstleistungen müssen Anbieter häufig auf eine situative Kommerzialisierung zurückgreifen, die Besonderheiten im Marktumfeld berücksichtigt. So gibt es Einflussfaktoren, die eine Verrechnung vereinfachen oder erschweren können. Beispielsweise fällt es einem Anbieter leichter, einen adäquaten Preis zu verrechnen, wenn der Kunde eine Leistung als differenziert, hochwertig und professionell wahrnimmt. Erschwert wird ein adäquates Pricing, je grösser der zeitliche Abstand zwischen Kaufentscheidung und wahrgenommener Leistung ist. Häufig gelingt es Anbietern nur mit Innovationen, sich zumindest temporär einem wettbewerbsinduzierten Preisdruck im Markt zu entziehen. Dabei können auch unterschiedliche Ertragsmodelle zum Einsatz kommen, wie beispielsweise eine Verrechnung einzelner Leistungsbausteine oder kompletter Leistungspakete. 192 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG G Kompetenz Organisatorische Fähigkeiten und Ressourcen bestimmen im Wesentlichen das Potenzial von Unternehmen, Kunden geeignete Problemlösungen anbieten zu können. Neben finanziellen Ressourcen, Systemen und Prozessen kommt in Dienstleistungsindustrien den Mitarbeitern eine entscheidende Bedeutung zu. Deshalb muss überlegt werden, welche Kompetenzen und Ressourcen das Unternehmen und seine Mitarbeitenden benötigen, um die gewünschte Leistung für den Kunden zu erbringen. Eine Reihe von Studien hat gezeigt, dass Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit positiv korrelieren, d. h., dass ein direkter Zusammenhang zwischen dem Involvement der Mitarbeiter und der von Kunden wahrgenommenen Qualität der Leistung besteht. Um neue Ansätze in den Leistungssystemen zu entwickeln, muss deshalb regelmässig in Förderung, Schulung und Teamfähigkeit investiert werden. Daneben spielen weitere Ressourcen wie die (eingesetzte) Technologie und die Finanzen eine wesentliche Rolle. So müssen sich Unternehmen genau überlegen, welche Investitionen getätigt werden sollen, um neue, kundenorientiertere Leistungssysteme zu schaffen und bestehende weiterzuentwickeln. Neue Technologien ermöglichen heute ganz andere Formen der Interaktion mit dem Kunden, der Integration des Kunden in die Wertschöpfungsprozesse des Unternehmens, aber auch der Individualisierung der Leistungselemente. Zudem helfen sie, flexibler auf Veränderungen im Marktumfeld reagieren zu können, indem beispielsweise bessere und aussagekräftigere Daten generiert werden können, die als Grundlage für Management-Entscheidungen dienen. Neben den beschriebenen «internen» werden zukünftig auch die Kompetenzen anderer Marktteilnehmer entscheidend, allen voran die der Kunden und der Wertschöpfungspartner. Je stärker sich die Wertschöpfungssysteme vernetzen, umso bessere Lernmöglichkeiten eröffnen sich für alle Partner, um wertvollere Leistungs- und Kundensysteme zu generieren. H Kooperation Wenn ein Unternehmen mit seinem Leistungssystem an die Grenzen der eigenen Ressourcen und Fähigkeiten stösst, lassen sich durch die Integration weiterer Wertschöpfungspartner umfassendere oder bessere Lösungen für Kunden entwickeln. Durch das Zusammenwirken der Partner sollen innovative Ideen effizient umgesetzt werden (siehe Fallbeispiel). Dabei helfen auch die neuen Informatiklösungen. Unternehmen müssen dabei entscheiden, welche Leistungen dem Kunden angeboten werden sollen, welche selbst bereitgestellt bzw. welche von Partnern bezogen werden sollen («make or buy»). Kooperationen haben im Vergleich mit dem Aufbau eigener Kompetenzen und Ressourcen den Vorteil, dass sie häufig weniger risikoreich und anspruchsvoll sind, da sie schneller revidiert und verändert werden können. Zudem besteht die Chance, in den Augen der Kunden eine höhere Glaubwürdigkeit und Qualität zu signalisieren, die wiederum bessere Kommerzialisierungsmöglichkeiten bieten. 193 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Fallbeispiel: Im Versicherungsbereich kooperieren die Schweizer Versicherung SWICA und die deutsche Krankenversicherung (DKV). Beide Versicherer zählen zu den führenden Versicherungsunternehmen im Bereich der Krankenversicherung in ihren jeweiligen Ländern. Die Kooperation wurde für eine bestimmte Kundengruppe eingegangen. Diese umfasst Personen, die täglich bzw. wöchentlich von Deutschland in die Schweiz pendeln (Grenzgänger), die sich häufig in beiden Ländern aufhalten und die in die Schweiz übersiedeln, aber gerne weiterhin zu ihrem deutschen Arzt gehen möchten bzw. eine umfassendere Absicherung bei der Krankenversicherung haben oder behalten wollen. Eine der häufigsten Lösungen dabei ist, dass die Personen die obligatorische Krankenversicherung (KVG) in der Schweiz bei der SWICA abschliessen. Zusätzlich nehmen sie private Zusatzleistungen der SWICA, z. B. die Möglichkeit der Nutzung der Krankenhäuser in der ganzen Schweiz, in Anspruch. Darauf aufbauend werden bei der DKV noch weitere ergänzende Leistungen gebucht, wie beispielsweise eine private stationäre Behandlung oder eine umfassende Zahnbehandlungsversicherung. Aufgrund dieser Versicherung ist der Kunde in beiden Ländern bzw. teilweise sogar auf der ganzen Welt versichert und kann sich seinen Arzt persönlich aussuchen. Kooperationen machen immer dann Sinn, wenn Partner komplementäre Fähigkeiten für ein gemeinsames Ziel einbringen, in der Erwartung, dass keiner opportunistisch nur individuelle Vorteile sucht und jeder bereit ist, seine Stärken in vollem Masse im Sinne der Optimierung des gemeinsamen Unternehmens einzubringen und nutzbar zu machen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist eine Vertrauensbasis, die nicht durch Verträge ersetzt werden kann. Weiterhin spielt die Auswahl der Kooperationspartner und das regelmässige Monitoring der gemeinsamen Arbeit eine entscheidende Rolle. Um die Qualität des Leistungssystems und den Nutzen für alle beteiligten Partner hochzuhalten, müssen die Kooperationsprozesse ständig überprüft und verbessert werden. Unternehmen, die gewöhnt sind, in kooperativen Verbünden mit anderen zusammenzuarbeiten, sind häufig Wertschöpfungspartner in verschiedenen Netzwerken. Dabei kann es vorkommen, dass ein Unternehmen in einem Netzwerk der Partner, in einem anderen Markt aber der Konkurrent eines anderen Unternehmens ist. Ziel solcher Netzwerkverbünde ist es, eine möglichst integrierte, für den Kunden Nutzen stiftende, Leistung zu erbringen, die vom Kunden als einheitliches Produkt oder Dienstleistung wahrgenommen, aber von verschiedenen Netzwerkpartnern arbeitsteilig erstellt wird[38]. Beispiele solcher Unternehmen finden sich vor allem im Konsumgüterbereich (Nike, Puma etc.), in der Automobilindustrie und in der Tourismusbranche. Die wichtigsten strategischen Eckpunkte bei einer Kooperationsentscheidung sind in Abbildung 7-8 dargestellt: [38] Vgl. dazu Bieger, der das virtuelle Unternehmen anhand von Tourismusdestinationen erläutert (2006 und 2008). 194 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG [7-8] Das magische Siebeneck der Kooperation Ziel des Leistungskonzepts onsKooperationsprozesss Kooperationsinhalt Auftritt der Kooperationspartner Eigener Le Leistungsbereich Wahl der Kooperationspartner Kooperationsintensität Quelle: In Anlehnung an Belz/Bieger 2006 • • • • • • • Zu Beginn muss das Ziel des Leistungskonzepts festgelegt werden. Neben dem horizontalen und vertikalen Geschäftsfeldbereich muss auch der Zielmarkt definiert werden. In einem nächsten Schritt muss sich das Unternehmen überlegen, welche Ressourcen es selbst bereitstellen kann und in welchem Bereich die eigenen Kernkompetenzen liegen. Für die übrigen Kompetenzen müssen Partner gefunden werden. Dabei ist die Auswahl der richtigen Partner ausschlaggebend. Deshalb sollten diese über die «fehlenden» Ressourcen, ausreichende Finanzkraft, um auch in das Netzwerk investieren zu können, und ähnliche soziale Ansichten sowie Verhaltensweisen «verfügen». In einem nächsten Schritt muss überlegt werden, wie eng mit diesen zusammengearbeitet und welche Kooperationsform gewählt wird. Ausserdem muss die Entscheidung gefällt werden, mit wie vielen Partnern gearbeitet werden soll. Auch die Absichten des Konkurrenten mit der Kooperation sind zu eruieren. In diesem Zusammenhang ist auch die Stellung der Konkurrenten, beispielsweise deren Marken und die Wirkung auf die Kunden zu beachten. Ein weiterer Punkt, über den die Partner Gespräche führen müssen, sind die Inhalte der Kooperation, die sich meist aus den fehlenden bzw. notwendigen Kompetenzen ergeben. Schliesslich muss über die Kooperationsprozesse festgelegt werden, wie die Zusammenarbeit zwischen den Partnern arrangiert wird. Dabei stehen beispielsweise Fragen über die Länge des Projekts, die Intensität des Austausches und die Weiterentwicklung des Netzwerks im Mittelpunkt. Die Überwachung der Zielerreichung sowie des Ertrages aus der Kooperation sollte neben klassischen Controlling-Grössen auch soziale Faktoren umfassen wie beispielsweise das Vertrauensverhältnis zwischen den Partnern, die Dauer der Kooperationsbeziehung oder auch die Kreativität bei der Entwicklung neuer Ideen. I Kontrolle Die Generierung von Customer Value (Wert für Kunden) ist für Unternehmen kein Selbstzweck, vielmehr muss dem auch der eigene Erfolg (Wert von Kunden) gegenüberstehen. Die regelmässige Überprüfung der eigenen Ziele und Leistungen ist daher genauso essenziell wie das laufende Feedback von der Kundenseite. Während das klassische Controlling mit Kennzahlen wie Gewinn, Umsatz oder Deckungsbeitrag meist auf der Anbieterseite ansetzt, muss die Messung des Customer Value direkt auf der Kundenseite beginnen. Allerdings sind die Messinstrumente hier noch nicht so ausdifferenziert wie auf der Anbieterseite. Der Wert für Kunden setzt sich – wie bereits erwähnt – im Allgemeinen aus dem wahrgenommenen Nutzen und den entsprechenden 195 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Kosten zusammen. Das Problem ist, dass der Nutzen von Person zu Person und von Situation zu Situation verschieden sein oder von anderen externen Faktoren beeinflusst werden kann. Gleiches gilt auch für die Kosten. Direkt ist dieser Kundenwert somit nur über den erwähnten Kosten-Nutzen-Zusammenhang erkennbar. Indirekt kann der Wert für den Kunden aber beispielsweise über die Zahlungsbereitschaft, die Qualität oder die Loyalität gemessen werden. Die Qualität kann beispielsweise über eine Analyse der Reklamationen bzw. Beschwerden oder über die Critical-Incidence-Methode erfasst werden. Der Vorteil der direkten Methode liegt darin, dass das Unternehmen feststellen kann, wie wahrgenommener Nutzen und Kosten im Verhältnis stehen. So können dementsprechend durch verschiedene Massnahmen entweder der Nutzen erhöht oder die Kosten gesenkt werden. Steht die indirekte Methode der Zahlungsbereitschaft im Vordergrund, kann das Unternehmen beispielsweise über verschiedene Arten der Conjoint-Analyse Sensitivitätsschwellen beim Kunden erkennen und nutzbar machen. Die genannten Methoden widerspiegeln aber häufig nur die Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt. Deshalb gilt es zukünftig dynamische Verfahren zu entwickeln, die in der Lage sind, den Wert für Kunden in regelmässigen Zeitabständen zu messen und Veränderungen abzubilden. J Anwendung des 7-K-Modells Mithilfe der einzelnen «Komponenten» des vorgestellten 7-K-Modells lassen sich Marktstrategien gestalten. Dabei ist zu beachten, dass die verschiedenen Gestaltungsbereiche (teilweise sehr eng) miteinander verbunden sind und aufeinander abgestimmt werden müssen. Das beschriebene Customer-Value-Modell bietet aber nicht nur einen konzeptionellen Rahmen, sondern findet auch in der Praxis Anwendung. Fallbeispiel: Das Institut für Versicherungswirtschaft der Universität St. Gallen richtet jährlich einen Wettbewerb zur Kundenorientierung in Deutschland aus, bei dem die Dienstleistungsqualität branchenübergreifend verglichen wird. Ziel ist es dabei, den teilnehmenden Unternehmen auf der Basis des 7-K-Ansatzes Vergleichsmöglichkeiten zu bieten, um von den Besten lernen zu können. Der 2011 zum bereits sechsten Mal durchgeführte Wettbewerb hebt sich von der klassischen Marktforschung gerade durch das Erhebungsverfahren ab (siehe Abb. 7-9). 196 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG [7-9] Unterschied zwischen dem branchenübergreifenden Dienstleistungswettbewerb und klassischer Marktforschung (in Anlehnung an Bühler/Maas 2009) Dienstleistungswettbewerb Klassische Marktforschung • Durch den Wettbewerb sollen hauptsächlich der Know-how-Austausch zwischen den teilnehmenden Unternehmen gefördert und Ideen zur Optimierung des Kundenwerts generiert werden • Der Gewinn von Erkenntnissen des aktuellen bzw. potenziellen Absatzmarkts und die eigene Positionierung stehen bei der klassischen Marktforschung im Vordergrund • Folgende Determinanten sind für den Wettbewerb grundlegend: • Die klassische Marktforschung beinhaltet Folgendes: - Ermittlung der Kunden- und Unternehmenssicht - Branchen- und unternehmensgrössenübergreifend - Nicht an die eigene Sichtweise gebundene Aussensicht • Mit dem Ergebnis des Wettbewerbs können durch die damit verbundenen Kontakte der verschiedenen Experten aus diversen Unternehmen eine Vielzahl von Lernimpulsen generiert und die eigenen Denk- und Sichtweisen hinterfragt werden VS. - Ermittlung der Kundensicht - Begrenzung auf einen spezifischen Markt - Fokussierung auf vordefinierte Zusammenhänge • Das Ergebnis der klassischen Marktforschung besteht in der Ermittlung von Daten, durch deren Analyse die Marktbearbeitung angepasst oder neu konzipiert werden kann Dabei wird die Kundenorientierung der teilnehmenden Unternehmen auf der Grundlage des 7-K-Modells untersucht, und zwar aus Kunden- und aus Managementsicht. Die Analyse der Unterschiede zwischen interner Selbsteinschätzung und externer Kundenbeurteilung bietet den Unternehmen die Möglichkeit, sich branchenintern und -extern zu benchmarken. Die fünfzig besten Teilnehmer dürfen dann ein Jahr ein Siegel tragen und können sich so durch ihre Servicequalität gegenüber den Kunden auszeichnen. Im Wettbewerb 2011 belegte Carglass® GmbH, ein Spezialanbieter für Glasreparatur bei Autos und damit ein enger Kooperationspartner der Versicherungsindustrie, den ersten Platz. Bester Versicherer wurde zum dritten Mal in Folge CosmosDirekt, ein Tochterunternehmen der Generali-Gruppe in Deutschland. Ein Ziel des Wettbewerbs besteht darin, das branchenübergreifende Lernen bezüglich Kundenorientierung zu fördern. Abbildung 7-10 gibt einen Überblick bezüglich der vom Kunden wahrgenommenen Dienstleistungsqualität der wichtigsten Dienstleistungsbranchen entlang der zuvor erläuterten 7-K-Dimensionen. Der zeilenweise Vergleich macht deutlich, dass die Versicherer in jeder Kategorie durchschnittlich abschneiden, während Energieversorger in allen Kategorien unterdurchschnittlich und Finanzproduktvermittler überdurchschnittlich rangieren. 197 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG [7-10] Von den Besten lernen: Branchenübergreifender Vergleich der Kundenorientierung bei Dienstleistungsindustrien in Deutschland Kundenorientierung Management Konfiguration Kommunikation Kommerzialisierung Kompetenz Kooperation Kontrolle Medizinaldienstleister Krankenkassen Versicherer Banken und Sparkassen Finanzproduktvermittler Handel Logistik und Transport Personaldienstleister Energieversorger Telekommunikationsdienstleister = Positionierung der Branche im Vergleich zum Gesamtdurchschnitt (Grün: Gesamtschnitt +5%, Rot: Gesamtschnitt –3%) Fazit nach sechs Jahren: Auch die Versicherungsbranche in Deutschland hat das Thema Kundenorientierung für sich entdeckt: So finden sich bereits 13 Versicherungsunternehmen bzw. Krankenkassen unter den Top 50 dieses Wettbewerbs. Insbesondere in den Bereichen Konfiguration und Kontrolle finden wichtige Aktivitäten statt: So werden beispielsweise Beschwerden und Reklamationen genau erfasst und die Auswertung des Beschwerdeanlasses führt zur Qualitätssicherung im Service. Ferner bestätigt sich nicht das schlechte Bild, was häufig mit der Assekuranz in Verbindung gebracht wird. So beurteilen (nur) noch 16% ihr Versicherungsunternehmen als schlecht; über 60% empfinden die Mitarbeiter als sehr freundlich und würden sehr wahrscheinlich wieder bei ihrer Versicherung einen Vertrag abschliessen. Ausserdem fühlen sich über 90% von den Versicherungsmitarbeitern ernst genommen und in fast 90% der Fälle werden die Kundenanliegen fehlerfrei behandelt. Allerdings besteht vor allem bei der Kommerzialisierung Handlungsbedarf, weil diesem Thema branchenweit keine grosse Aufmerksamkeit geschenkt wird. (Für weitere Detailergebnisse vgl. Bühler/Maas 2009) Aufgaben 2 Was muss eine Versicherungsgesellschaft bei der Umsetzung des Customer-ValueModells beachten? 3 Wo ergeben sich in der Generierung von Customer Value Unterschiede zwischen einem Versicherungs- und einem Konsumgüterunternehmen? 198 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG 7.3 Strategische Hebel im Marktmanagement der Versicherungsunternehmen In den letzten Jahren ist die Versicherungsbranche in Bewegung geraten. Hauptveränderungstreiber waren einerseits die verstärkten staatlichen Regulierungsanstrengungen sowie ein intensiverer Wettbewerb, andererseits grundlegende Veränderungen auf der Nachfrageseite. Bedürfnisse, Einstellungen und Rollen von Versicherungskunden im Markt haben sich teilweise fundamental verändert – ähnlich wie in anderen Dienstleistungsmärkten auch. Kunden bewegen sich aktiver in den Märkten, suchen Informationen, vergleichen, lassen sich beraten, empfehlen, kritisieren und fordern stärker für sie wertvolle Leistungen von ihren Anbietern ein (Maas/Graf 2008). Dadurch verändern sich die Anforderungen an Produkte und Dienstleistungen, nicht zuletzt auch durch neue Kommunikationsmöglichkeiten. Der Wandel in der Assekuranz betrifft damit auch traditionelle Informations- und Vertriebswege, die den vielfältigen Anforderungen von Kunden nicht mehr gewachsen sind. Schaut man sich aktuelle strategische Stossrichtungen von Versicherern an, fällt auf, dass fast ausnahmslos der Kunde ins Zentrum der Management Attention gerückt ist. Damit ergibt sich die Notwendigkeit für Versicherer, ihre marktbezogenen Prozesse und Strukturen im Sinne einer verstärkten Kundenorientierung zu überdenken, um damit die Wettbewerbsfähigkeit für die Zukunft zu sichern. Mithilfe des Customer-ValueAnsatzes können Versicherungsunternehmen Produkte und Dienstleistungen erstellen, die den veränderten Kundenwünschen besser gerecht werden (Kap. 7.3.1), die Kundenzugangswege entsprechend gestalten (Kap. 7.3.2) und die Kundenbeziehung auf eine tragfähigere Basis stellen (Kap. 7.3.3). Die dadurch entstehenden Chancen und Gefahren ergeben wichtige Konsequenzen für das Marktmanagement von Versicherungsunternehmen (Kap. 7.3.4). 7.3.1 Produkt und Dienstleistung Ein Versicherungs«produkt» ist eine (Finanz-)Dienstleistung, die – wie alle übrigen Dienstleistungen auch – durch das Merkmal der Intangibilität gekennzeichnet ist. Das Produkt hat also keinen stofflichen, sondern einen virtuellen Charakter und ist aufgrund seiner Abstraktheit auch nur schwer erschliessbar. Hinzu kommt – je nach Produktkategorie – ein gewisses Mass an Komplexität, das die Verständlichkeit zusätzlich einschränkt und die Kommunikation zwischen Anbieter und Nachfrager erschwert. Bei Versicherungen kommt – wie bei allen persönlichen Dienstleistungen – das sogenannte Uno-actu-Prinzip zur Anwendung, d. h., die Dienstleistung entsteht in der Interaktion mit dem Kunden, sodass Produktion und Konsum zeitlich zusammenfallen. Aus Kundensicht erschliesst sich der Wert der Versicherungsdienstleistung aufgrund der geringen Erlebnisqualität beim Abschluss häufig erst im Schadenfall. Das Gefühl, versichert zu sein und eine Deckung für allfällige Schäden zu besitzen, löst – wie viele Studien zeigen – beim Kunden noch keine positiven Emotionen aus. Im Schadenfall, also in einem für den Kunden mit negativen Erlebnissen verbundenen Moment, besteht für den Versicherer – häufig erstmals – die Gelegenheit, den Wert des «Produktes» zu demonstrieren und dem Kunden eine sichtbare Gegenleistung zu bieten. In jüngster Zeit beginnen einige Versicherer zusätzlich den Bereich der Prävention zu bewirtschaften, indem sie ihre Schadenerfahrung nutzen und den Kunden helfen, Schäden zu vermeiden oder das Risikobewusstsein zu stärken. Die Voraussetzungen für einen Versicherer, seine Leistungen zu vermarkten, unterscheiden sich daher fundamental von Branchen, die physische Produkte anbieten. Zerlegt man den Vermarktungsprozess eines Anbieters in zwei grundlegende Teile (Abb 7-11), so lässt sich zum einen ein Prozess identifizieren, der sich mit der Ergründung von Kundenbedürf- 199 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG nissen beschäftigt, zum anderen ein Prozess, der sich auf das Anbieten von Produkten und die Erbringung von Marktleistungen konzentriert. Im ersten Fall (oranger Pfeil) steht die Frage im Zentrum, welches Wissen über Kunden an welcher Stelle in der Organisation vorhanden ist, für wen es zugänglich ist und wie es genutzt wird. Dieses kundenbezogene Wissen basiert zum Teil auf expliziten Marktforschungsdaten und Studien, die prinzipiell für jeden Mitarbeiter zugänglich sind, vor allem aber auf persönlichen Kontakten und Erfahrungen mit Kunden, die häufig nur unsystematisch und als implizites Wissen bei wenigen Personen gespeichert sind. Der zweite Prozess (blauer Pfeil) fokussiert die Entwicklung von Produkten, deren Verkauf über unterschiedliche Zugangswege und die Erbringung von Dienstleistungen für den Kunden abläuft. Fragt man Versicherer, welcher Anteil an Zeit, Management Attention und Budget in einem Unternehmen insgesamt durchschnittlich in den orangen im Verhältnis zum blauen Prozess investiert wird, so erhält man Schätzwerte, die zwischen 10 zu 90 und 20 zu 80 Prozent liegen. Das bedeutet – vereinfacht gesagt –, dass man der Ergründung von Kundenbedürfnissen nicht die gleiche Aufmerksamkeit schenkt wie den Produkten. [7-11] Marketingkonzept: Der Kunde und dessen Bedürfnisse stehen im Vordergrund Ergründung der Kundenbedürfnisse Was würde mein Kunde wollen, wenn er wüsste, was er bräuchte? Versicherer (mit Problemlösung) Kunde/Kundin (mit Bedürfnissen) Marktleistung zur Erfüllung der Bedürfnisse Quelle: Haller/Ackermann 1992 Ein Grund dafür liegt sicher auch in der Tatsache, dass Kundenbedürfnisse mit Bezug zur Versicherung häufig latenter Natur sind. Die Beschäftigung mit potenziellen Gefahren im Leben, also negativen Ereignissen wie Krankheit, Unfall und Tod, wird häufig vermieden, um sich nicht mit den eigenen Ängsten und Befürchtungen auseinandersetzen zu müssen. So werden lieber (scheinbar) rationale Argumente gesucht, warum eine Versicherung gekauft werden soll. Ein weiterer Grund liegt darin, dass es auch für den Versicherungsanbieter schwierig ist, an die unterschwelligen Bedürfnisse des Kunden heranzukommen. Hierzu bräuchte es neben ausgeprägter Menschenkenntnis und kommunikativen Fähigkeiten sicher auch die Sensibilität, sich mit Lebensgeschichten von Kunden auseinanderzusetzen und gemeinsam eine bestmögliche Lösung zu entwickeln. Im Folgenden wird ein Marketingkonzept vorgestellt, das den Anforderungen einer kundenorientierten Sichtweise im Sinne des Customer Value besser gerecht werden soll (Kap. 7.3.1 A). Um die Bedürfnisse von Kunden und deren Änderung adäquat analysieren zu können, wird anschliessend das sogenannte Drei-Ebenen-Modell des Produktes (Kap. 7.3.1 B) und das damit verknüpfte Funktionendenken eingeführt (Kap. 7.3.1 C). Dadurch wird der 200 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Entstehungsprozess von Customer Value besser verständlich und eine Verknüpfung mit dem bereits erläuterten P- und C-Ansatz möglich. Schliesslich wird die Beziehung zwischen Kunde, Anbieter und weiteren Anspruchsgruppen in das Zentrum der Betrachtung gestellt, um daraus Konsequenzen für ein erfolgreiches Marktmanagement auf Basis einer möglichst passgenauen Bedürfnis- und Funktionenerfüllung für die Kunden zu ziehen (Kap. 7.3.1 D). A Kundenorientiertes Marketingkonzept In einem kundenorientierten Marketingkonzept steht natürlicherweise der Kunde am Anfang der Überlegungen verbunden mit der Frage, welche Grundbedürfnisse in diesem Markt wichtig sind (Abb. 7-12). Da es sich im ersten Schritt um eher allgemeine Bedürfniskategorien (z. B. Sicherheit, Schutz, Vorsorge) handelt, muss an dieser Stelle auch geklärt werden, welchen Teil dieser Bedürfnisse der Versicherer überhaupt erfüllen kann und will. Im zweiten Schritt können dann Überlegungen angestellt werden, welche Marktleistung der Kunde benötigt, um sein Problem zu lösen. Erst dann kann der eigentliche Produktionsprozess eingeleitet werden, in dem die Marktleistung erstellt wird. Dabei ist zu beachten, dass es sich um einen kontinuierlich wiederholenden Prozess handelt, der – auch unter Berücksichtigung weiterer Anspruchsgruppen – sich zirkulär einer bestmöglichen Lösung annähert. [7-12] Kundenorientiertes Marketingkonzept auf Basis des Funktionendenkens Funktionen für übrige Stakeholder (insb. die Öffentlichkeit) 3 Wertschöpfungskette 2a Welches Produkt? 2b Welche Dienstleistung? 2 Problemorientierung Kunde 1a Welches Grundbedürfnis? 3 Produktion und Administration für die optimale Befriedigung von 1 und 2 2 Welche Marktleistung benötigt der Kunde, um sein Problem zu lösen? 1b Welche Funktionen können wir dabei erfüllen? Funktionen für Kunden 1 Kundenorientierung Quelle: Haller/Maas 2004 Das Funktionen-Denken trägt substanziell dazu bei, die effektiven Beziehungen zwischen Unternehmen und Kunden und damit auch die Entstehung von Customer Value im zeitlichen Ablauf besser zu verstehen. Es zeigt auf, dass Customer Value aus der traditionellen, in der Marketing-Praxis üblichen angebotsorientierten Perspektive allein nicht erklärbar ist, weil die Funktionserfüllung massgeblich von den Kundinnen und Kunden selber abhängig ist: Nur sie können in Abhängigkeit ihrer jeweiligen Situation bestimmen, welche Funktionen ein Unternehmen durch seine Leistung bei ihnen erfüllt (und welchen Beitrag sie selber dazu leisten); die Funktionserfüllung kann auch indirekt erfolgen, d. h. im Rahmen des sozialen Kontexts, in welchem sich Kunde und Unternehmen befinden. 201 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Zunächst soll jedoch geklärt werden, was unter einer Funktion überhaupt verstanden werden kann. Insbesondere macht es Sinn, den Funktionen-Begriff von dem im Marketing vornehmlich verwendeten Begriff des Nutzens abzugrenzen. Unter einer Funktion wird ganz allgemein die Wirkung verstanden, welche ein System A bei einem System B auslöst. Im Funktionen-Modell bildet das anbietende Unternehmen in der Regel das System A, wohingegen der Kunde das System B bildet. Der Kundennutzen – als Begriff des traditionellen Marketings – beschreibt hingegen die Einschätzung des Kunden bezüglich der Fähigkeit einer Leistung zur Bedürfnisbefriedigung. Er steht damit in einem engen Zusammenhang mit dem Begriff der Zufriedenstellung von Kundenbedürfnissen (vgl. Kotler/Bliemel 1995, S. 10). Während ein am Kundennutzen orientiertes Marketing mit dem Zweck einer optimalen Nutzengenerierung immer noch primär die Perspektive des Unternehmens und dessen Produkte einnimmt («Welchen Nutzen erzeugt unser Produkt?»), argumentiert das Funktionen-Modell breiter und stärker aus der Sicht der Beziehungen zu den Kunden («Welche Funktionen erfüllen wir beim Kunden?»). Ersteres ist zwar für die konkrete Marketingarbeit unbestritten wertvoll, blendet aber, wie noch dargestellt wird, wichtige Tatsachen systematisch aus. B Erweitertes Produktkonzept: Drei-Ebenen-Modell Fragt man Versicherer, was das «eigentliche Produkt» der Versicherung ist, so bekommt man sehr unterschiedliche Antworten, abhängig davon, wer sich in der Organisation äussert. Typischerweise steht bei Vertriebsmitarbeitern die Police im Vordergrund, während Marketingspezialisten stärker die Dienstleistungen und die Marke betonen; Aktuare denken eher an die mathematische Konstruktion und Schadenexperten an den finanziellen Schadenersatz. Um diese Diversität von Perspektiven abbilden zu können, bietet es sich an, ein mehrstufiges Produktkonzept zugrunde zu legen, mithilfe dessen die angebotene Marktleistung in Funktionen auf unterschiedlichen Produktebenen aufgegliedert werden kann (Abb. 7-13; Haller 2000; Haller/Ackermann 1992). Auch aus Kundensicht macht eine solche Dreigliederung Sinn. Bucht ein Kunde beispielsweise ein Hotel für einen Businesstrip, ist für ihn die zu erfüllende Kernfunktion zunächst nur die Übernachtung. Reist er mit dem Flugzeug an, steht für ihn der Flug von A nach B im Vordergrund (Ebene 1). Will er sich zusätzlich auch noch über verschiedene Übernachtungs- und Reisemöglichkeiten beraten lassen, wird er auch Leistungen auf Ebene 2 in Anspruch nehmen. Möchte er schliesslich den Businesstrip auch noch mit einem privaten Wochenende mit Partner und Kulturprogramm verbinden, wird er zusätzlich erweiterte Leistungsbündel auf der dritten Ebene nachfragen. 202 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG [7-13] Das Drei-Ebenen-Modell Ebene 3 3 Erweiterte Funktionen/Marktleistungen Ergänzende Dienstleistungen, die Produkte zu Problemlösungen bündeln Ebene 2 2 Kern-Marktleistungen/Kernfunktionen Flankierende Dienstleistung im Bereich des Kernproduktes Ebene 1 1 Kernprodukt z. B. Flug von A nach B Übernachtung Versicherungsschutz Quelle: Haller 2000; Haller/Ackermann 1992 Übertragen auf die Versicherung bedeutet dies, dass sich der Versicherungsschutz der Ebene 1 aus zwei Komponenten zusammensetzt: Zum einen verfügt der Kunde über die in der Versicherung ausgehandelte Deckung (äussere Sicherheit). Doch diese allein ist aus Kundensicht nicht ausreichend. Erst wenn dem Kunden diese Deckung bewusst ist und er auf die Zuverlässigkeit des ausgewählten Versicherungsunternehmens vertraut, kann dadurch auch ein gewisses Mass innerer Sicherheit erreicht werden. Auf Ebene 2 müssen weitere Bedürfnisse des Kunden befriedigt werden. In Ergänzung zum Kernprodukt werden hier (Fach-)Beratung und weitere Dienstleistungen angeboten, wie beispielsweise die Schadenbearbeitung. Diese persönlichen Dienstleistungen werden durch technische Hilfsmittel so unterstützt, dass das Problem des Kunden optimal gelöst wird. Mit einem Bündel von weiteren ergänzenden Leistungen soll auf Ebene 3 die Kundenbeziehung vertieft werden. Mithilfe dieser Leistungen sollen vor allem auch emotionale und kommunikative Funktionen erfüllt werden, die in Verbindung mit den übrigen Leistungen der Ebenen 1 und 2 einen wertvollen Beitrag zum Customer Value leisten und helfen, die Qualität der Kundenbeziehung auf Dauer zu festigen. Beispiele für solche erweiterten Leistungen sind insbesondere im Bereich der Assistance zu finden und zeichnen sich dadurch aus, dass sie Probleme lösen, die sich erst aus der Sicht des Kunden und seiner Lebenswelt erschliessen. 203 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG [7-14] Raster zur Einordnung der Leistungen im Drei-Ebenen-Modell Ebene 1 Reiner Versicherungsschutz Ebene 2 Flankierende Dienstleistungen • Beratung • Erklärung der Policen • Bearbeitung von Schäden • Convenience Ebene 3 Ergänzende Dienstleistungen • Weiterführende Beratung (z. B. Riskmanagement, Lebenshilfe, Vermögensaufbau) • Übernahme kundenseitiger Aufgaben (z. B. Organisation der Reparatur des Autos, Naturalersatz) • Strategien zur Prävention/Schadenminderung Quelle: In Anlehnung an Haller 2000; Haller/Ackermann 1992 Wie sich aus Abbildung 7-14 entnehmen lässt, ergänzen sich diese drei Ebenen gegenseitig. Für den Kunden wird der grösste Wert dann geschaffen, wenn die einzelnen Ebenen aufeinander abgestimmt sind. Beim Drei-Ebenen-Konzept ist ausserdem zu beachten, dass Kunden und Unternehmen häufig unterschiedliche Sichtweisen haben. Während Unternehmen dazu neigen, das «Produkt» von innen nach aussen, also von Ebene 1 ausgehend in Richtung Ebene 3 zu denken, nimmt der Kunde in der Regel die entgegengesetzte Perspektive ein (von aussen nach innen), da für ihn vor allem die Leistungen wertvoll sind, die nahe an seiner Erfahrungswelt liegen, während ein einwandfreies Kernprodukt für ihn selbstverständlich ist. Daher ist die Substitutionsgefahr für Anbieter umso grösser, je stärker sie sich auf Ebene 1 (Kernprodukt) konzentrieren. Ausserdem bieten sich auf den Ebenen 2 und 3 Differenzierungsmöglichkeiten durch innovative Angebote und erweiterte Services, die auch umfassendere Funktionen für Kunden erfüllen, dadurch mehr Customer Value erzeugen und eine höhere Zahlungsbereitschaft auslösen. Dabei ist zu beachten, dass über alle drei Ebenen eine durchgehende Kundenfunktion im Zentrum steht. Da die Grenzen zwischen den Ebenen fliessend verlaufen, ist auch ein durchgehender Kommunikations- und Kulturaspekt vonnöten. Neben diesen positiven Funktionen gibt es aber auch negative. Ein einfaches Beispiel liefert das Mobiltelefon: Auf der einen Seite sind Freunde von überall zu erreichen, andererseits ist man selbst aber auch der ständigen Erreichbarkeit und gegebenenfalls auch hohen Telefonkosten ausgesetzt. Auch im Versicherungsbereich gibt es beide Richtungen von Funktionen. Dabei werden mit den Beratern fast nur die positiven und mit der Versicherungsunternehmung häufig die negativen Funktionen in Verbindung gebracht. Für die Wahrnehmung des Kunden ist aber der Gesamteindruck entscheidend. Somit kann es dem Unternehmen gelingen, negative Funktionen abzuschwächen und eine positive Wirkung beim Kunden hervorzurufen. C Funktionendenken – mit verschiedenen Bezugsebenen Bei einer genaueren Betrachtung des Funktionendenkens wird erkennbar, dass sich die Funktionen in zwei Wirkungsdimensionen unterteilen lassen. So ergeben sich eine psychologisch-soziale und eine technisch-ökonomische Dimension, die möglichst gleich stark gewichtet werden sollten. Allerdings wird die Relevanz der psychologisch-sozialen Dimension häufig nicht erkannt bzw. falsch eingeschätzt, z. B. beim aktuellen Thema der Communities. Bei der technisch-ökonomischen Dimension werden sachlich-rationale Funktionen des Kunden befriedigt, beispielsweise die Lösung des Kundenproblems (siehe Abb. 7-15). 204 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Diese wird in der psychologisch-sozialen Dimension mit einer Vielzahl von emotionalen und kommunikativen Funktionen ergänzt. [7-15] Leistungskomponenten im Funktionenmix • Identität • Integrität • Interaktion • Selbst- und Gruppenverwirklichung • Kommunikationsform • Stimmungsfeld • Art der Begegnung • Soziale Einbettung • Ort der Begegnung • «noch-mehr» Convenience • Convenience (Einfachheit, elegante Lösung) • reines Sachproblem: Lösung sachlich-rational emotional technisch-ökonomisch psychologisch-sozial kommunikativ Quelle: Haller 2000 Bei der Wirkung von Funktionen ist stets die Wahrnehmung der «Systeme» entscheidend, d. h., die Interpretation auf Kundenseite unterliegt neben individuellen auch situationsbedingten Abweichungen. Das heisst im Umkehrschluss, dass das Unternehmen nicht genau wissen kann, ob die angestrebten Leistungswirkungen mit den primär von den Kunden wahrgenommenen Funktionen übereinstimmen. Es ist erkennbar, dass der Funktionenbegriff noch viel weiter greift. So wird eine Funktion zu einer Wirkung, die bei einem anderen System ausgelöst wird, sei dies positiv oder negativ, gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst. Dies kann für Unternehmen auch Probleme aufwerfen, denn beispielsweise sind unbewusste Funktionen schwer zu erkennen, können aber von erheblicher Bedeutung sein (Haller/Maas/Ackermann 2006). Durch den Funktionenansatz wird die Sicht des nutzenfokussierten Marketings erweitert. So orientiert man sich beim Denken in Funktionen nicht am Geschäftsmodell, sondern am gesamten System. Der «Linking Pin» zwischen P- und C-Ansatz kann durch das Denken in Funktionen im dreistufigen Funktionenmodell verankert werden (Abb. 7-16). Entsprechend werden die drei Bezugsebenen des Modells im Folgenden näher erläutert. 205 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG [7-16] + – Funktionenmodell im Überblick Positive/negative Funktionserfüllung Bezugsebene: Medien Staat ge se lls Fe cha ft ed ba lich ck es Gesellschaft C C' Communities Öffentlichkeit NGOs D D' E' E C” D” E” Konkurrenz Funktionserf üllung 1:1-Beziehung A Angestrebte, bewusste Leistung Unternehmen Marketing «Nutzen» B Welche Funktion(en) erfüllt? Kunde Welchen Nutzen erzeugt? Komplexität der «Aussenwelt» Quelle: Haller/Hartmann 2004 und Haller/Maas 2004 Die Ebene der 1:1-Beziehung Auf der ersten Ebene (1:1-Beziehung) geht es um die Beziehung zwischen Unternehmen und Kunden. Die Funktionen haben auf dieser Ebene eher eine längerfristige Ausrichtung, da sie noch sehr eng mit den Bedürfnissen der Kunden verbunden sind. Diese Funktionen können sich aber im Zeitverlauf verändern, beispielsweise durch besondere Ereignisse im Lebensverlauf oder durch eine Beeinflussung der näheren sozialen Umwelt. Diese ist zwar eigentlich in der Ebene der Communities verankert, findet aber schon hier Erwähnung. In dieser ersten Ebene müssen Unternehmen beachten, dass die identischen Funktionen nicht nur von der unmittelbaren Konkurrenz auf die gleiche Art und Weise, sondern auch mit unterschiedlichen Leistungen erfüllt werden können. Damit die Bedürfnisse der Kunden befriedigt bzw. sogar Customer Value kreiert werden kann, müssen die Anbieter zwei Dinge beachten. Zum einen müssen die Unternehmen die relevanten Funktionen besser als die (mögliche) Konkurrenz erfüllen und gleichzeitig die negativen Funktionen vermindern oder sogar vermeiden. Auf der anderen Seite müssen sich Unternehmen darauf konzentrieren, Substitutionsgefahren, aber auch -chancen zu erkennen und entsprechende (Gegen-)Handlungen einzuleiten. Ein umfassender Mix aus Funktionen unterstützt die Unternehmen bei der Umsetzung grundlegend. In der Finanz- und Versicherungswelt erfährt die Komponente der Dienstleistungen immer grössere Wichtigkeit. Somit können Bedürfnisse des Kunden besser befriedigt, bzw. mehr Customer Value generiert werden, während zeitgleich die Substitutionsgefahr durch andere Anbieter verkleinert wird. 206 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Die Ebene der Communities Die Communities bilden eine weitere Ebene im Funktionenmodell. Dabei ist das Hauptaugenmerk nicht mehr auf die direkte Kundenbeziehung gerichtet, sondern auf den Einfluss der Communities bei der Funktionserfüllung und die daraus entstehenden Auswirkungen auf den Customer Value. Eine Community bzw. Gemeinschaft besteht aus verschiedenen Akteuren, die sich in einem Medium treffen (Schmid 2002). Akteure sind aber nicht nur Kunden, sondern alle Mitglieder der Anspruchsgruppen des Unternehmens. Bei den Medien sind (Tages-)Zeitungen, Börsen, Internetseiten, Blogs, Foren, Social Media, Telefone und Mobiltelefone zu nennen. Für Unternehmen sind Communities aus zwei Gründen relevant. Zum einen kann über sie Customer Value entstehen, was sich wiederum positiv auf das Unternehmen auswirkt und gleichzeitig andere (mögliche) Kunden zum Unternehmen lockt. Auf der anderen Seite kann aber auch genau das Gegenteil eintreten und Customer Value zerstört werden. Beispielsweise sind aktuell verschiedene Artikel der Marke Apple (iPod, iPhone, iMac, iPad usw.) «in». Die Medien und die Nutzer berichten Positives über die Produkte, und der Customer Value steigt. Apple-Konkurrent Dell erlebte vor einigen Jahren das genaue Gegenteil mit dem Blog «DellHell». Ausserdem ist es möglich, dass gleichzeitig «gute und schlechte» Communities für dasselbe Unternehmen existieren. So waren Nike-Produkte, vor allem im Sportschuhbereich, «die» Marke unter Jugendlichen, während gleichzeitig von anderen Communities gegen schlechte Arbeitsbedingungen bei der Herstellung der Produkte protestiert wurde. Wichtig ist zu beachten, dass die Mitglieder der Communities nicht unbedingt in einer Anbieter-Kunden-Beziehung stehen müssen, sich aber trotzdem an Diskussionen darüber beteiligen. Ausserdem gibt es auf dieser Ebene zwei Arten von Funktionen. Einerseits gibt es Funktionen, die das Unternehmen beim Kunden auslöst. Diese werden von den Communities wahrgenommen und wirken wieder auf den Kunden zurück (indirekte Funktionen). Andererseits werden Funktionen, die direkt von den Unternehmen in den Communities ausgelöst werden, als direkte Funktionen bezeichnet. Die Bearbeitung der Community-Ebene ist für Unternehmen unerlässlich. Denn neben den Kunden, die bereits über die «erste» Ebene angesprochen werden, können auch Personen angesprochen werden, die (noch) nicht Kunden sind. Gelingt es dem Unternehmen, die Leistung auch auf Ebene der Communities zu erbringen, hat dies einen positiven Einfluss auf den Customer Value und somit auch auf die Wettbewerbsposition. Für Unternehmen ist es dabei wichtig zu wissen, dass die «benötigten» Funktionen nicht immer vom Marketing geplant und umgesetzt werden können. Entscheidend für eine gute Umsetzung der Funktionen auf dieser Ebene ist die Einbeziehung von Kundencommunities in die Leistungsentwicklung und -erstellung. Die Ebene der Gesellschaft Die meisten Unternehmen erfüllen durch ihre Produkte und Dienstleistungen auch Funktionen auf der Ebene der Gesellschaft. Sie erbringen diese direkt und indirekt, sind sich aber oft nicht der Wirkung bewusst und unterschätzen daher die damit verbundenen Konsequenzen. Dies kann fatale Auswirkungen nach sich ziehen: Nach einem negativen Ereignis wird es für ein Unternehmen schwer, eine bestimmte Wahrnehmung des Unternehmens oder dessen Produkte wieder ins Positive zu kehren. Deshalb sollten Unternehmen regelmässig eine Funktionsanalyse auf der Gesellschaftsebene durchführen, um negative Funktionen zu erkennen und Gegenmassnahmen einleiten zu können. Die Analyse dient somit als Frühwarnsystem und kann so zum Risikomanagementinstrument des Marketings werden. 207 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Wirkung des Funktionendenkens Das Funktionendenken stellt eine Erweiterung des traditionellen Nutzenkonzepts dar. So wird eine Unterscheidung zwischen bewusster Leistungserstellung, Nutzengenerierung und Funktionenerfüllung möglich. Die Funktionen stellen dabei die Bestimmungsfaktoren von Customer Value dar. Dieser «Value» wird von den Kunden, Communities und der Gesellschaft bewertet – sowohl positiv als auch negativ. Mithilfe des Funktionendenkens wird es für Unternehmen durch die konsequente Berücksichtigung bei der Bewertung möglich, die sozialen und gesellschaftlichen Abhängigkeiten mit in ihre Entscheidungen einzubeziehen. Die Vorteile dieser erweiterten Sichtweise des Denkens in Funktionen wird in Abbildung 7-17 zusammengefasst dargestellt. [7-17] Erweiterte Sichtweise durch Denken in Funktionen Nutzenfokussiertes Marketing ... Denken in Funktionen ... • am Geschäftsmodell orientiert; Beobachtung: Welcher Erfolg? • am «Gesamtsystem» orientiert; Beobachtung: Was passiert? • auf Kunden im Marktumfeld gerichtet • auf alle Anspruchsgruppen gerichtet (Dritte, Gruppierungen, Gesellschaft) • auf Erwartetes gerichtet • deckt auch Unerwartetes auf • gezielte (positive) Veränderung bei Kunden • schliesst auch ungewollte und unbewusste Wirkungen ein (bei Kunden und Umwelt) • auf positive «outcomes» ausgerichtet • auch negative Wirkungen und Überwindung des Negativen (= positiv) • oft eindimensional • immer mehrdimensional (psychologisch-sozial, technischökonomisch) • enges Produktkonzept; Leistung = Produkt «plus» • weite Produktauffassung; Leistung = Was an (positiven wie negativen) Funktionen erfüllt wird • direktes Feedback durch Kunden (Marktreaktion, Kundenzufriedenheit, Absatz) • auch Wirkung indirekter Feedbackschlaufen (Systemreaktion, Systemzufriedenheit) Quelle: Haller 2000 D Bedürfnis- und Funktionenerfüllung Mit Blick auf das komplette Funktionenmodell wird deutlich, dass die verschiedenen Ebenen nicht isoliert betrachtet werden dürfen. Wie bereits in Abbildung 7-16 zu sehen war, stehen die Gesellschaftsebene und die Ebene der 1:1-Beziehung über Feedbackschlaufen in Kontakt. Dies gilt auch für die Ebene der Communities, deren Mitglieder zusätzlich häufig als «Katalysatoren» der Entwicklungsprozesse gelten. Beim Denken in Funktionen steht demnach nicht nur die direkte Kundenbeziehung im Vordergrund, sondern neben dieser auch die Funktion der Leistung, die beide in das Kontinuum zwischen Kunde – Community – Gesellschaft eingebettet werden. Arbeitet das Unternehmen häufig in Netzwerken, wird diese umfassende Sicht unabdingbar, in der die Konsequenzen für das eigene Handeln erkannt werden können. 208 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Über das Drei-Ebenen-Modell und über die Erfüllung verschiedener Funktionen kann das Unternehmen die Bedürfnisse des Kunden erfüllen. Aber nicht nur die Bedürfnisse des Kunden, sondern der Kunde selbst, verändern sich im Lauf der Zeit. Der Kunde ist heutzutage gerade durch das Internet besser informiert. Dort werden nicht nur die Seiten der Versicherungsgesellschaften, sondern auch Vergleichsportale, verschiedene Foren oder sogar soziale Netzwerke «durchforstet» bzw. befragt. Dadurch wird er unabhängiger und trifft seine Kaufentscheidung selbst. Er reagiert preissensitiver und fordernder gegenüber dem Unternehmen. Auch die Anforderungen bzw. Bedürfnisse gegenüber dem Unternehmen bzw. seiner Produkte und Dienstleistungen steigen. Eine tadellose Schadenabwicklung, digitale Informationsmöglichkeiten und konkurrenzfähige Preise werden zum Standard. Um Produkte mit der Konkurrenz vergleichen zu können, hegt der Kunde das Bedürfnis nach Transparenz und Vergleichbarkeit. Eines der wichtigsten Hauptkriterien in diesem Zusammenhang ist der Preis, der gerade in der Dimension «Kommerzialisierung» des 7-KModells eine Rolle spielt. Die Kunden wünschen sich einen «guten» Preis, wollen dafür aber nicht auf Leistung verzichten. Ausserdem werden Leistungen immer beliebter, die den Versicherten bei der Prävention von Schadenfällen helfen sollen. Dafür stellt das Versicherungsunternehmen aktiv Informationen zur Verfügung, wie sich die Versicherten schützen können. Die Versicherungsnehmer sind aber neben den zusätzlichen Informationen auch an einer monetären «Belohnung» ihres «präventiven» Verhaltens interessiert. Grundsätzlich wollen Kunden auch die Möglichkeit haben, aus einem anpassungsfähigen Produktangebot auswählen zu können, um sich nach ihren individuellen Bedürfnissen abzusichern (Dimension «Konfiguration» im Customer-Value-Modell). Es werden flexible Versicherungslösungen gesucht, die sich veränderten Lebenssituationen anpassen können. Auch Kombiprodukte und umfassende Gesamtlösungen (Stichwort: All-in-one-Versicherung) stehen laut aktuellen Studien bei Versicherungskunden hoch im Kurs. Dies nimmt die Versicherungsgesellschaften in die Pflicht, ihre Produkte verständlich und transparent zu gestalten. Nach wie vor werden auch einfache, standardisierte Produkte von bestimmten Kundengruppen nachgefragt, bei denen der Preis das ausschlaggebende Kriterium ist. Exkurs 7.2 Das Institut für Versicherungswirtschaft der Universität St. Gallen führt regelmässig die Marktstudie «I.VW-Vertriebsmonitor» durch, wobei Fach- und Führungskräfte der Versicherungsbranche aus Deutschland, Österreich und der Schweiz befragt werden. Neben einem feststehenden Panelteil wird bei jeder Befragungsrunde jeweils ein spezielles Schwerpunktthema vertieft. Unter anderem wurde dabei auch die Frage beantwortet, welche Qualitätsmerkmale aus Kundensicht den grössten Wert stiften. Für fast zwei Drittel der Befragten stand die schnelle und unkomplizierte Schadenabwicklung im Vordergrund. Eine vertrauensvolle Beziehung zum Berater, verbunden mit Merkmalen wie «Ehrlichkeit» und «Vertrauenswürdigkeit» der Versicherungsgesellschaft, ist für mehr als die Hälfte der Befragten unabdingbar. Während Kunden transparente und übersichtliche Dokumente von Versicherungen sowie auch niedrige Prämien hoch bewerten, stehen diese Kriterien bei den Fach- und Führungskräften bei nicht einmal einem Drittel der Befragten im Vordergrund. Diese (siehe Exkurs 7.2) und ähnliche Studien zeigen, dass es zwischen Anbieter- und Nachfragerperspektive noch grosse Unterschiede in der Gewichtung der Werttreiber gibt. Umso wichtiger erscheint die Notwendigkeit, dass Versicherungsunternehmen lernen, aus der Sicht der Kunden zu denken, deren Bedürfnisse zu erkennen, um letztendlich mit ihren Leistungsbündeln entsprechende Funktionen bei den Kunden erfüllen zu können. 209 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Aufgaben 4 Welche Produkte oder Dienstleistungen erwarten Sie von Ihrer Versicherung? 5 Was könnten innovative Produkte auf dem Versicherungsmarkt sein? 6 Welche Funktionen kann ein Versicherungsunternehmen noch zusätzlich erfüllen? 7 Bei welchen Produkten von Banken und Versicherungen besteht die höchste Substitutionsgefahr? 7.3.2 Kundenzugangswege Lange Jahre kannten die Versicherungskunden nur drei Zugangswege zu ihrem Versicherungsunternehmen: den Kundenberater, die Hotline oder den Briefkontakt mit dem Versicherer. Dies hat sich fundamental gewandelt; mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Interaktionsmöglichkeiten (Kap. 7.3.2 A). Dabei sind Unterschiede im Nutzungsverhalten bei der Informationsbeschaffung und dem Kauf zu erkennen (Kap. 7.3.2 B). Das hat zur Folge, dass die Versicherungsunternehmen ein exzellentes Multi-Channel-Management (Kap 7.3.2 C) aufbauen müssen und sich weiteren Herausforderungen (Kap 7.3.2 D) gegenübergestellt sehen. A Verschiedene Arten von Kundenzugangswegen Früher haben sich die Versicherungskunden meist einen Versicherungsberater ausgewählt und bei diesem (alle) ihre Verträge abgeschlossen. Ab und zu wurde eine andere Versicherungsagentur aufgesucht, um Preise und Leistungen zu vergleichen. Meist hat man mit dem Berater persönlich oder telefonisch gesprochen und ist nur selten über den Postweg in Kontakt getreten. Mit der Zentrale ist man praktisch kaum in Kontakt getreten, ausser in Notfällen, teilweise zur Abwicklung von Schäden oder wenn man Informationen brauchte, die der Berater einem nicht geben konnte. Heute existieren viele verschiedene Möglichkeiten, wie ein Versicherungskunde mit seinem Versicherungsunternehmen in Kontakt treten, sich informieren oder einen Versicherungsvertrag abschliessen kann. Abbildung 7-18 gibt einen Überblick über die verschiedenen Kundenzugangswege. [7-18] Kundenzugangswege Überblick über die verschiedenen Kundenzugangswege Persönlich Schriftlich (Brief und E-Mail) Telefonisch Internet Einfirmenvertreter (Ausschliesslichkeitsvertrieb) ja ja ja teilweise Eigene Geschäftsstellen / Büros ja ja ja teilweise Makler / unabhängige Finanzberater ja ja ja ja Banken ja ja ja ja 210 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Kundenzugangswege Persönlich Schriftlich (Brief und E-Mail) Telefonisch Internet Arbeitgeber (Worksite Marketing) ja ja ja ja Vertriebsgesellschaften (AWD, …) ja ja ja nein Telefon (Callcenter) nein nein ja nein Schriftliche Mailings nein ja nein nein Homepage der Versicherer nein ja nein ja Internetversicherer (eigene Marken) nein ja ja ja Internetportale / Vergleichsdienste nein nein teilweise ja Annex-Vertrieb nein ja ja ja ja teilweise nein nein Point of Sale / stationärer Vertrieb B Informationenquellen und Zugangswege Der Versicherungsberater oder auch eine Generalagentur in der Nähe kann persönlich, telefonisch oder schriftlich (per Post oder E-Mail) angesprochen werden. Das Gleiche gilt auch für einen Berater der (Haus-)Bank oder eines Finanzdienstleisters. Auch die Zentrale ist telefonisch, meist über eine Hotline, und schriftlich erreichbar. Sich informieren und eine Versicherung kaufen kann man meist direkt auf der Homepage des jeweiligen Versicherungsunternehmens oder auf Internetseiten von unabhängigen Anbietern. Zusätzlich wurden gerade in den letzten Jahren viele Direktversicherungen gegründet. Häufig steht eine traditionelle Versicherung dahinter, die ihr Distributionsnetz weiter ausbaut. Beispiele dafür sind Zürich Connect, smile.direct oder in Deutschland die AllSecur oder Asstel. Für genauere Informationen oder sogar teilweise zum Abschluss einer Versicherung muss häufig noch über E-Mail Kontakt aufgenommen werden. Auch Versicherungsportale werden immer beliebter, um sich über verschiedene Anbieter gleichzeitig informieren zu können. Comparis.ch dürfte das wohl bekannteste Beispiel in der Schweiz darstellen. Informationen werden auch persönlich mit Freunden oder Verwandten ausgetauscht und gleichzeitig über deren bisherige Erfahrungen diskutiert. Immer populärer werden auch die Social Media, bestimmte Foren oder Gruppen im Internet, um sich über die Erfahrungswerte anderer Versicherungskunden zu erkundigen, aber auch um selbst Informationen bzw. Erfahrungen über bisher Erlebtes zu schildern. Informationen werden zudem über Zeitschriften gesucht, beispielsweise die Stiftung Warentest, vor allem wenn Konsumententests durchgeführt wurden. Auch Werbespots oder Anzeigen im Fernsehen bzw. in Zeitungen werden von Versicherungskunden als Informationsquelle wahrgenommen. Eine gerade aufkommende weitere Möglichkeit sind Apps auf Mobiltelefonen (mobiler Vertrieb). Bei diesen kann sich der Versicherungskunde informieren und kleine Versicherungen kaufen. Auch das aus dem 7-K-Modell bekannte Thema «Kooperation» nimmt an Wichtigkeit zu. So wurde u. a. der Annex-Vertrieb in den letzten Jahren populärer. Dabei verkaufen Konsumgüter- und Einzelhandelsunternehmen bzw. Supermarktketten, die Versicherungen ihrer (Versicherungs-)Partner über die Filialen oder die eigene Homepage bzw. Bestellhotline. Bekannte Beispiele sind Tchibo in Verbindung mit Asstel oder auch ehemals die Migros in Zusammenarbeit mit dem TCS in der Schweiz. Die Versicherungen versuchen ferner über direkte Mailings die (möglichen) Kunden von der Versicherungs- 211 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG leistung zu überzeugen und zum Kauf des Produkts zu bewegen. Als weiterer Kundenzugangsweg lässt sich der stationäre Versicherungsvertrieb identifizieren, beispielsweise am Postschalter oder Tankstellen. Auch Kooperationen zwischen Versicherungen und Arbeitgebern können zum Kauf von Versicherungen durch die Angestellten führen, da sie durch einen Kollektivvertrag von günstigeren Konditionen gerade bei den Zusatzversicherungen profitieren können. In der Schweiz bieten beispielsweise Groupe Mutuel, Swica, Allianz Suisse oder Sanitas diese Möglichkeit an. Schliesslich entwickeln sich noch weitere Möglichkeiten, wie sich Versicherungskunden informieren und ihre Versicherung erwerben können, wie beispielsweise Versicherungsshops und TV-Shopping. Zu den beliebtesten Informationsquellen gehört der Preis- und Leistungsvergleich über das Internet, die Empfehlungen und Erfahrungen von Freunden und Verwandten sowie die Beratung durch einen Versicherungsberater. Aber gerade die ausgeprägte Nutzung der neuen Medien verändert die Interaktion zwischen (möglichem) Kunde und Versicherungsgesellschaft. Die Kunden haben immer häufiger das Bedürfnis, über verschiedene Formen und Wege mit dem Versicherer in Kontakt zu treten. Dabei nutzen sie die Zugangswege nicht alternativ, sondern parallel. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Versicherungsgesellschaften. Sie müssen sich den neuen Gegebenheiten anpassen und ein Multi-Channel-Management einführen, um die Bedürfnisse der Kunden zu befriedigen und für sie Nutzen zu generieren (siehe auch Kapitel 7.3.2 C). Durch die Nutzungsmöglichkeiten mehrerer Kundenzugangswege fühlen sich die Versicherungskunden besser verstanden, stellen aber auch neue Anforderungen an das Versicherungsunternehmen. So wollen die Kunden die Leistungen des Versicherers rund um die Uhr nutzen können, erwarten einen einheitlichen Auftritt über alle Zugangswege hinweg und fordern einen Preisnachlass, wenn der Versicherungsvertrag nicht persönlich mit einem Berater abgeschlossen wird und die weitere Kommunikation nur über das Internet läuft. Für eine detaillierte Unterscheidung zwischen Such- und Kaufphase vgl. Bieck / Bodderas / Maas / Schlager 2010. C Multi-Channel-Management Die meisten Versicherungsgesellschaften verfügen über mehrere Zugangswege für ihre Kunden. Die am häufigsten «angebotenen» Zugangswege sind Makler, Ausschliesslichkeitsvertrieb und Online. Neuere Formen wie Versicherungsshops und TV-Shopping wurden von Kunden bisher noch nicht so sehr angenommen. Mit dem Ausbau der bestehenden Kundenzugangswege und dem Etablieren neuer Formen muss auch das Managementkonzept angepasst werden. So haben bereits viele Versicherungsunternehmen die Relevanz eines Multi-Channel-Managements erkannt und haben konkrete Umsetzungsmassnahmen eingeleitet. Durch die Vielzahl der verschiedenen Zugangswege können zudem neue Kunden angesprochen werden, die sonst nicht hätten erreicht werden können. Durch die aktive Vernetzung der verschiedenen Kundenzugangswege im Multi-Channel-Management kann der Kundenservice und damit auch der Customer Value gesteigert werden. Gleichzeitig kann durch die Nutzung mehrerer Zugangswege der persönliche Vertrieb entlastet werden, wenn die Abwicklung von Routineaufgaben über das Internet oder die Hotline erfolgt. Bei der Auswahl eines Kundenzugangswegs ist entscheidend, welche Art von Versicherung abgeschlossen wird. So wird der Allfinanzverkauf bei Lebensversicherungen deutlich häufiger genutzt als im Nichtlebenbereich. Beim direkten Verkauf ist es hingegen genau umgekehrt. Abbildungen 7-19 und 7-20 verdeutlichen diese Unterschiede auf europäischer Ebene. 212 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG [7-19] Die Kundenzugangswege verschiedener europäischer Länder im Lebenbereich 2008 100% 90% 80% 70% 60% 50% Andere 40% Allfinanz 30% Broker 20% Vertreter 10% Direktverkäufe MT NL PL PT SI SK TR UK AT BE BG DE ES FR HR IE IT LT 0% Einschränkungen: – Bei UK ist Allfinanz in die übrigen Bereiche mit eingeschlossen – Bei Holland sind die Vertreter und Broker zusammengefasst – Die Daten für Spanien und Litauen sind von 2007 – In Deutschland und UK beziehen sich die Daten auf das Neugeschäft Quelle: CEA Insurers of Europe 2010 [7-20] Die Kundenzugangswege verschiedener europäischer Länder im Nichtlebenbereich 2008 100% 90% 80% 70% 60% 50% Andere 40% Allfinanz 30% Broker 20% Vertreter 10% Direktverkäufe UK TR SK SI PT PL NL IT LT IE FR HR ES DE BG BE AT 0% Einschränkungen: – Bei Holland sind die Vertreter und Broker zusammengefasst – Die Daten für Spanien und Litauen sind von 2007 Quelle: CEA Insurers of Europe 2010 213 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Unterschiedliche Kundenzugangswege haben auch unterschiedliche Preisstrategien, da sich auch die jeweilige Kostenbasis markant unterscheidet. So wird die Preisgestaltung (Dimension «Kommerzialisierung» im 7-K-Modell) zu einer der grössten Herausforderungen im Multi-Channel-Management. Eine noch grössere Bedeutung hat aber die Aufgabe, den Kunden über alle Zugangswege hinweg eine Gesamtsicht und parallel dazu auf der Unternehmensseite eine einheitliche Kundensicht zu ermöglichen. Deshalb sollte es ein durchgängiges Erscheinungsbild bzw. Serviceerlebnis über die verschiedenen Zugangswege hinweg geben. Dafür müssen die Prozesse innerhalb des Unternehmens durchgängig organisiert werden, damit ein erfolgreiches Multi-Channel-Management überhaupt möglich wird. Gut funktionierende IT-Systeme sind dafür unabdingbar. Auch die Koordination der Kommunikation nimmt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle ein. Ausserdem muss das Versicherungsunternehmen darauf achten, dass über alle Zugangswege hinweg die gleiche Qualität angeboten wird. Denn ein Kunde, der auf dem einen Zugangsweg gut behandelt wurde, erwartet den gleichen Service auch in anderen Bereichen. Grundsätzlich gibt es drei Strategien, wie «stark» der Multi-Channel-Gedanke verfolgt wird: • • • Integriertes Multi-Channel-Management, Aussendienst-fokussierter und Channel-Wettbewerbs-Ansatz Dabei haben alle drei Ansätze das gemeinsame Ziel, dem Kunden zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Zugangsweg bieten zu können. Dies ist nur möglich, wenn der Versicherer sich in den Kunden hineinversetzt und sich mögliche Funktionen überlegt, die er erfüllen kann. Nur so kann er auch die Beziehung intensivieren und die Wünsche des Kunden verstehen, beispielsweise über welchen Zugangsweg dieser gerade angesprochen werden möchte. Mit der Einnahme der Kundensicht sollte der Versicherer auch nicht mehr von «negativ besetzten» Absatzkanälen, sondern von «positiven» Zugangswegen sprechen. Dies vermittelt dem Kunden gleichzeitig die (neue) «Gesinnung» des am Customer-ValueModell-orientierten Versicherungsunternehmens. D Weitere Herausforderungen im Bereich der Kundenzugangswege Die genannten Veränderungen bei den Kundenzugangswegen gehen einher mit einem verstärkten Engagement im Bereich des Customer Relationship Managements (CRM). Versicherer haben erkannt, dass segmentspezifische Betreuungsmassnahmen und Kundenpflege unabdingbar sind. Im Vergleich zu anderen Branchen haben Versicherungsunternehmen hier noch grossen Nachholbedarf. Investitionen in diesem Bereich lohnen sich immer dann, wenn es gelingt, dem Kunden einen sichtbaren Mehrwert zu bieten, der ihn auch zu erhöhter Loyalität und zum Cross-Buying veranlasst. Eine der wichtigsten Herausforderungen des Multi-Channel-Managements liegt darin, die Zugangswege für die Kunden nach deren spezifischen Erwartungsprofilen aufzuteilen. So können neue Kunden gewonnen werden und gleichzeitig kann auch die Bindung von den «alten» Kunden erhöht werden. Werden die verschiedenen Zugänge miteinander verglichen, ergeben sich Unterschiede, ob man sich über eine Versicherung informieren oder eine Versicherung kaufen will. Die Internetseite des Anbieters ist dabei nur ein wichtiges Informationsmittel neben Vergleichsportalen, dem Gespräch mit dem unternehmensgebundenen oder dem unabhängigen Berater und den Empfehlungen von Freunden und Bekannten. 214 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Aktuelle Studien zeigen, dass in der Schweiz der Abschluss einer Versicherung noch traditionell über den eigenen Versicherungsberater läuft. Die Bedeutung von unabhängigen Beratern und Onlinevergleichsportalen steigt zwar an, bleibt aber immer noch deutlich hinter dem Aussendienst zurück. Neuere Zugangswege wie beispielsweise der Versicherungsverkauf über Smartphone Apps spielen vorerst vor allem in Schwellenländern eine Rolle, weniger in den etablierten Märkten. Das liegt einerseits daran, dass die Serviceanbieter dort viel aktiver und innovativer arbeiten. Andererseits bieten sich gerade in ländlichen Gebieten wegen der schlechten Infrastruktur neue Möglichkeiten über Apps. Auch in den Industrieländern werden die Versicherungskunden mit den Apps und Social Media immer vertrauter, sodass auch Apps gerade in Kombination mit den Mikroversicherungen schon in naher Zukunft ein Thema werden könnten. Eines der wichtigsten Argumente für einen Vertragsabschluss bildet das vom Kunden empfundene Vertrauen gegenüber seinem Berater oder seinem Versicherer. Dieses Vertrauen ist naturgemäss beim persönlichen Kontakt am höchsten und basiert häufig auf einer längerfristigen persönlichen Kundenbeziehung. Solche langjährigen Kunden neigen auch eher dazu, alle ihre Versicherungsangelegenheiten bei einem Berater zu konzentrieren. Internetkunden hingegen haben ihre Versicherungen meist auf mehrere Anbieter verteilt und zeigen auch eine deutlich ausgeprägtere Wechselbereitschaft als Kunden eines Ausschliesslichkeitsvertreters. Es hat sich zwar gezeigt, dass der (neue) Zugangsweg über die neuen Medien immer wichtiger wurde und auch in Zukunft sein wird. Allerdings herrscht bei den Kunden zudem der Wunsch nach Beratung für ihre persönliche Absicherung. So entsteht der Erstkontakt häufig in den neuen Medien, wo sich die Kunden über verschiedene Versicherungsangebote informieren. Zum Vertragsabschluss wird der Zugangsweg häufig gewechselt und die Police in einem persönlichen Gespräch ausgearbeitet und unterschrieben. In Exkurs 7.3 wird die zukünftige Entwicklung einzelner Kundenzugangswege aus der Sicht von Versicherungsmanagern dargestellt. Exkurs 7.4 vergleicht die Branchen- und die Kundensicht bei der Frage nach den Kundenzugangswegen in der Versicherung. 215 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Exkurs 7.3 Der I.VW-Vertriebsmonitor (siehe dazu auch Exkurs 7.2) erhebt regelmässig, wie sich die verschiedenen Kundenzugangswege in den kommenden zwei Jahren nach Meinung der Branchenexperten entwickeln werden. In Abbildung 7-21 sind die Ergebnisse aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus dem Jahr 2010 zusammengefasst. Prognostizierte Entwicklung der Kundenzugangswege in den nächsten zwei Jahren [7-21] Fragestellung: Wie wird sich in den kommenden 2 Jahren die Bedeutung einzelner Kundenzugangswege verändern? Einfirmenvertreter (Ausschliesslichkeitsvertrieb) Eigene Geschäftsstellen / Büros Makler / Unabhängige Finanzberater Banken Arbeitgeber (Worksite Marketing) Vertriebsgesellschaften (AWD, …) Telefon (Callcenter) Schriftliche Mailings Homepage der Versicherer Internetversicherer (eigene Marken) Internetportale /Vergleichsdienste Annex-Vertrieb Point of Sale / Stationärer Vertrieb Anteil der Befragten <<< am unwichtigsten –60% << –40% < –20% > 0% >> 20% 40% 60% 80% >>> am wichtigsten Quelle: Maas/Bodderas/Schlager 2010 Deutlich zu erkennen ist, dass sehr viele der Befragten die Versicherungsmakler und die Internetdienste im Aufwind sehen. Bei den Internetdiensten bleibt die Homepage des Versicherungsunternehmens nicht nur hinter den Vergleichsportalen, sondern auch hinter den reinen Direktversicherern zurück. Auf der anderen Seite sehen die Studienteilnehmer aber auch einen deutlichen Rückgang bei den angestellten Versicherungsvertretern, seien es Ausschliesslichkeitsagenten oder Mitarbeiter des Aussendienstes. Auch schriftliche Mailings haben eine negative Tendenz. Hingegen gibt es bei den Callcentern eine uneinheitliche Einschätzung. Wird der Fokus auf die Schweiz gelegt, gibt es teilweise deutliche Abweichungen. Zwar wird auch hier das stärkste Wachstum im Internetbereich erwartet, allerdings werden die Internetportale nicht so stark eingeschätzt wie in der Gesamtübersicht. Die Entwicklung der Makler wird zwar auch sehr positiv eingeschätzt, allerdings deutlich geringer als im Gesamtdurchschnitt. Dem Bankensektor wird auch nur eine leicht positive Entwicklung bescheinigt. Dafür wird in der Schweiz ein starker Anstieg des Annex-Vertriebes erwartet. Ebenso werden dem Verkauf von Versicherungen über den Arbeitgeber in der Schweiz bessere Aussichten eingeräumt als in Deutschland und Österreich. Dem Ausschliesslichkeitsvertrieb, den Mitarbeitern im Aussendienst und der Möglichkeit des Vertriebs über schriftliche Mailings werden in den nächsten zwei Jahren wie in Deutschland eine negative Entwicklung prognostiziert. Hingegen wird in der Schweiz beim stationären Vertrieb, beim Callcenter und bei den Vertriebsgesellschaften – entgegen den Prognosen für Deutschland – eine (leicht) positive Entwicklung erwartet. 216 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Exkurs 7.4 In der Studie «Assekuranz 2015 – Eine Standortbestimmung» (I.VW-HSG/Accenture 2010) ergeben sich bei der Betrachtung der Zugangswege interessante Unterschiede zwischen der Branchen- und der Kundensicht. Gerade im Bereich der Nichtlebensversicherung ergeben sich deutliche Abweichungen bei der Einschätzung der verschiedenen Zugangswege (Abb. 7-22). So messen 85% der Versicherungsmanager den Internetportalen und 75% den Internetseiten der Versicherer zunehmende Bedeutung zu. Auch alternative Kundenzugangswege, wie beispielsweise Autohändler, werden von fast 70% der befragten Führungspersonen mit wachsendem Einfluss gesehen. Bei den Agenturen bzw. dem angestellten Aussendienst sehen nur 12% der Befragten eine zunehmende Bedeutung, hingegen stellen knapp 50% sinkenden Einfluss in Aussicht. Vergleicht man diese Einschätzung der Manager mit der Perspektive der Versicherungskunden, so zeigen sich gravierende Unterschiede. Zwei Drittel der Kunden werden vermutlich beim Kauf der nächsten Sachversicherung auf die Unterstützung einer Agentur zurückgreifen. Auch die Verbände werden von den Kunden als bedeutender eingeordnet (55% Zustimmung) als die Internetseiten der Versicherungen (50%) und Vergleichsportale im Internet (44%). Alternative Zugangswege wollen nur 25% der Versicherten beim nächsten Versicherungskauf berücksichtigen. Kunden- vs. Branchensicht bei den Kundenzugangswegen [7-22] Frage: Welchen der folgenden Vertriebskanäle würden Sie zur Auswahl / zum Abschluss einer Sachversicherung nutzen? (Kundensicht) Frage: Welche Bedeutung haben einzelne Vertriebskanäle im Bereich der Nichtleben-Versicherungen? (Branchensicht) Angestellter Aussen10 dienst / Agentur Internetportale (z. B. Themenportale, Vergleichsdienste) Verbände/ Organisationen 25 12 Internetseite von Versicherungen 38 33 18 Internetportale 31 43 21 Alternative Vertriebskanäle 36 34 18 Makler / Broker / unabhängiger Finanzberater 43 32 22 Banken 26 23 23 44 20 40 2 45 10 1 69 0 13 25 10 52 Mobiler Vertrieb 14 32 7 43 Stationärer Vertrieb 12 60 25 5 1 80 Eher nicht 14 Eigene Internetseite von Versicherungen (Direktvertrieb) 4 Alternative Vertriebskanäle (z. B. Autohersteller, -händler) 1 6 Makler / Broker / unabhängiger Finanzberater 1 7 Affinity Groups / Verbände 1 11 Mobiler Vertrieb (z. B. über Handy) 2 4 Stationärer Vertrieb (z. B. Postschalter, Tankstellen) 4 Angestellter Aussendienst / Agentur 4 0 100 60 22 25 30 25 60 14 56 13 52 39 12 Banken Anteil der Befragten in % Auf keinen Fall 1 45 5 48 28 36 42 27 37 20 40 60 80 Anteil der Befragten in % Vermutlich Stark abnehmend Unverändert Sehr wahrscheinlich Abnehmend Zunehmend 3 25 1 47 47 11 22 1 11 1 100 Stark zunehmend Quelle: I.VW-HSG/Accenture 2010 Ein ähnlich divergentes Bild zeigt sich im Bereich der Lebensversicherungen. Drei Viertel der Führungskräfte sehen die Gruppe der unabhängigen Versicherungs- und Finanzberater als wichtigsten Zugangsweg bei Lebensversicherungen an. Danach folgen die beiden Möglichkeiten des Internetkaufs (Internetportale 63%; Internetseiten der Versicherer 52%). Die Bedeutung der Berater ist mit 29% höher als bei Nichtlebensversicherungen. Keine grosse Beachtung findet der mobile (16%) und stationäre (10%) Vertrieb. Für zwei Drittel der Versicherungskunden spielt hingegen der angestellte Aussendienst beim Kauf einer Lebensversicherung eine Rolle. Auch der eigene Arbeitgeber wird von knapp über 50% der Versicherten als Kundenzugangsweg beim Versicherungskauf gesehen. Der von den Führungskräften bevorzugte Makler wird nur von 40% als relevanter Zugangsweg beurteilt. Auch die eigenen Internetseiten der Versicherungsunternehmen (36%) und die Vertriebsportale (30%) sind für die Kunden weniger wichtig, als dies die Führungskräfte meinen. Hingegen sehen auch nur wenige der befragten Versicherungskunden im stationären (9%) und mobilen (5%) Vertrieb eine relevante Zugangsart. 217 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Die Diskrepanz in der Einschätzung der wichtigsten Kundenzugangswege in der Zukunft macht deutlich, dass die Kundenperspektive bzw. die Funktionen, die das Unternehmen für den Kunden erfüllen kann, noch nicht im Vordergrund stehen und hier dringender Handlungsbedarf besteht. Trotz der steigenden Bedeutung des Internets und der neuen Medien, gerade im «Nichtlebenbereich», bleibt der persönliche Kontakt der wichtigste Kundenzugangsweg, im Gegensatz zu der Meinung der Führungskräfte aus der Versicherungsbranche. Der Wunsch der Kunden nach Beratung und Betreuung bleibt weiterhin bestehen bzw. steigt in manchen Fällen. So kommt häufig, wie schon beschrieben, der Erstkontakt über das Internet zustande, bei dem sich der Kunde schon einmal informiert, die Versicherung wird aber nach einer persönlichen Beratung beim Versicherungsagenten abgeschlossen. Dabei spielt auch die Unsicherheit der Kunden im Internet eine Rolle. Deswegen haben Marken eine hohe Bedeutung bei der Informationssuche und vor allem beim Kauf von Versicherungen im Internet. Bei der Betrachtung des demografischen Wandels ist es interessant zu wissen, dass der Versicherte mit zunehmendem Alter tendenziell «beratungsorientierter» wird. Die junge Generation ist nicht nur offener gegenüber den neuen Medien, sie erwartet auch diese Möglichkeit des Kundenzugangs bei Versicherungen. Zwar können sich vor allem die jungen Leute vorstellen, mit dem Versicherer ausschliesslich über die elektronische Plattform in Kontakt zu treten, allerdings schätzt eine Mehrheit noch immer den persönlichen Kontakt zu einem Versicherungsberater. So ist der Nutzer der neuen Medien zwar tendenziell jünger, aber er lässt sich nicht genau nach demografischen Merkmalen unterscheiden (siehe auch Kap. 7.3.4). Vielmehr spielen seine Werte, Fähigkeiten und Bedürfnisse eine Rolle. So entsteht ein Konsument 2.0 bzw. ein Versicherungskunde 2.0, der über die entsprechenden Techniken verfügt, sich in der digitalen, «smarten» Welt mit entsprechenden Informationen zu versorgen und eigene Erfahrungen und Ansichten zu kommunizieren. Ausserdem gewöhnt er sich schnell an technische Innovationen oder neue Phänomene, wie beispielsweise Social Media oder Apps. Diese Kunden sind, nicht nur wegen ihrer Technikaffinität, selbstständiger, informierter und anspruchsvoller gegenüber den Versicherungsunternehmen als andere Kundengruppen. Aufgaben 8 Welche Kundenzugangswege bieten Ihre Versicherungsgesellschaften an? 9 Wie kann es ein Versicherungsunternehmen schaffen, über alle Zugangswege ein einheitliches Auftreten zu gewährleisten und eine einheitliche Qualität zu erbringen? 7.3.3 Kundenbeziehungen Der Erfolg von Unternehmen, die persönliche Dienstleistungen anbieten, hängt zumeist von der Beziehung zwischen Kunden und Mitarbeiter ab. Dies gilt auch für die Versicherungsbranche. Die Beziehung eines Kunden zu seiner Versicherung lässt sich anschaulich im sogenannten Dienstleistungsdreieck (siehe Abb. 7-23) zeigen. Dabei tragen drei unterschiedliche Beziehungen zur Entstehung von Wert für die beteiligten Partner bei. So unterhält der Kunde eine Vertragsbeziehung zu seiner Versicherung, pflegt aber möglicherweise den persönlichen Kontakt zu seinem Berater. Gleichzeitig besteht eine Beziehung zwischen dem Mitarbeiter und seinem Arbeitgeber. Alle drei Beziehungen stehen zudem in einem Interdependenzverhältnis: So muss das im Rahmen der Markenkommunikation des Unternehmens 218 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG gegebene Wertversprechen auch im persönlichen Kontakt mit dem Mitarbeiter eingelöst und erlebbar gemacht werden. Treten hier Diskrepanzen auf, schwindet die Glaubwürdigkeit des Anbieters. Empirische Studien haben immer wieder gezeigt, dass die Kundenzufriedenheit sehr eng mit der Mitarbeiterzufriedenheit zusammenhängt. Das bedeutet, dass Customer Value auf Dauer nur entstehen kann, wenn die Mitarbeiter im Kundenkontakt sich mit dem Unternehmen identifizieren können und positiv verbunden fühlen. Umgekehrt wird ein illoyaler Mitarbeiter keine dauerhafte Kundenbeziehung aufbauen können. [7-23] Dienstleistungsdreieck in der Versicherung Kunde Mitarbeiter Versicherung Quelle: In Anlehnung an Irons 1994 Wie bereits in Abschnitt 7.3.2 D beschrieben, ist der persönliche Kontakt für die Mehrheit der Versicherungskunden weiterhin wichtig. Deswegen wird in der weiteren Diskussion vor allem auf diese Art der Kundenbeziehung eingegangen, auch gerade weil bei ähnlichem Kernprodukt über die Ebene zwei und drei des Drei-Ebenen-Konzepts die Dienstleistungen den entscheidenden Unterschied in der subjektiven Betrachtung des Kunden ausmachen können. So kann es sein, dass der Berater wichtiger bzw. bedeutender für den Kunden wird, als die dahinter stehende Versicherungsgesellschaft bzw. deren Marke. Vielfach ist das Verhältnis zum Berater positiver und stabiler als die Beziehung zur Versicherungsgesellschaft. Dies äussert sich beispielsweise dann, wenn der Berater die Agentur bzw. die Versicherungsgesellschaft wechselt und den Kunden «mitnimmt». Diese persönliche Beziehung wird oft überlagert von einem negativen Branchenbild: Versicherungen werden häufig als Commodities wahrgenommen, d. h. austauschbare Standardprodukte, die sich nicht wesentlich unterscheiden. Das schlechte Image der Versicherungsbranche ist darauf zurückzuführen, dass sich viele Kunden nicht für das Thema interessieren oder es schlichtweg nicht verstehen. So entsteht das Gefühl, für etwas zu bezahlen, das – sofern kein Schaden eintritt – keinen sichtbaren Nutzen stiftet. Tritt der Schaden ein, ist dies naturgemäss mit einem negativen Erlebnis (Unfall, Verlust, Zerstörung etc.) verbunden. Umso wichtiger ist in diesem Moment der Wahrheit, wie der Versicherer den Kunden behandelt, mit ihm kommuniziert und auf seine (nicht nur finanziellen) Bedürfnisse eingeht. Die Schadenabwicklung ist in diesem Zusammenhang nur ein Thema; entscheidend ist in einem solchen Moment häufig, wie die Versicherung die emotionale Betroffenheit und das Bedürfnis nach Hilfe aufgreift und entsprechend reagiert. Solche Erlebnisse prägen die Beziehung zwischen Versicherer und Kunde sehr viel stärker als der rein finanzielle Schadenausgleich. Für den Versicherer bietet sich also hier die grosse Chance, denn neben der Beratung und dem Vertragsabschluss ist es eine der wenigen bzw. teilweise die einzige Situation, wo es zu einem (persönlichen) Kundenkontakt kommt. Wie bereits erwähnt, bildet auch der Vertragsabschluss (mit gleichzeitiger Beratung) einen Kundenkontaktpunkt. Dieser oft erste Kontakt bildet die Grundlage für die Kundenbeziehung, bei dem auch darüber nachgedacht werden muss, was für eine Art der Beziehung sich der Kunde «wünscht». Ist eine passive Beziehung sinnvoll, in der sich der Kunde bei Fragen oder Schadenfällen an das Unternehmen wenden muss? Oder ist ihm eine aktive Beziehung lieber, in der der Versicherer im Rahmen des Kundenlebenszyklus[39] regelmässig mit dem Kunden in Kontakt tritt? Die Antwort auf diese Fragen zeigt sich auf der Bezie- 219 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG hungsebene zwischen dem Berater und dem Kunden. Das Ziel muss sein, dem Kunden die (lang andauernde) aktive Beziehung «nahezulegen». Weitere Bedürfnisse sind beispielsweise eine höhere Erreichbarkeit. Das heisst, der Kunde möchte rund um die Uhr einen Ansprechpartner oder zumindest die Möglichkeit haben, sich mit der Hotline in Verbindung setzen zu können. Dies geht teilweise sogar so weit, dass die Berater ihre private Mobilfunknummer an die «besseren» Kunden für Notfälle weitergeben. Ausserdem wurde in mehreren Gesprächen mit Versicherungsberatern deutlich, dass der Berater nicht nur bei versicherungsspezifischen Fragen angesprochen, sondern auch in anderen Lebenslagen um Hilfe gefragt wird. Tritt der Kunde mit dem Versicherungsunternehmen in Kontakt, will er möglichst schnell eine Rückmeldung bzw. Antwort auf seine Frage haben, unabhängig vom Zugangsweg. Über die neuen Medien sollte deshalb innerhalb weniger Stunden geantwortet werden, der Berater sollte sich wenigstens noch am selben Tag wieder (telefonisch) beim Kunden melden. Einige wenige Versicherungskunden wünschen sich zudem einen Berater, der ein ähnliches Alter und Bildungsniveau aufweist. Kundenloyalität Auf der Beziehungsebene muss eine vertrauensvolle Partnerschaft zwischen dem Kunden und dem Berater geschlossen werden, um die Kundenzufriedenheit zu erhöhen und Kundenloyalität zu erreichen. Dabei setzt sich die Kundenloyalität aus verschiedenen «Bausteinen» bzw. Wirkungen über den gesamten Kundenlebenszyklus zusammen (Catellani/Hafner/Käslin 2004). So bildet sich die Kundenzufriedenheit aus einer kognitiven Wirkung heraus, indem der Kunde die Qualität der Dienstleistung rational beurteilt. Vor allem beim persönlichen Kontakt ist die emotionale Wirkung wichtig, denn sie entscheidet über die Beziehungsqualität, die sich im Laufe der Kundenbeziehung aufgebaut hat. Emotionale Nähe ist das Ergebnis einer hohen Beziehungsqualität und bewirkt idealerweise eine erhöhte Kundenbindung bzw. sogar Begeisterung. Mit der konativen Wirkung zeigt der Kunde, welche Bedeutung das Thema Versicherung für ihn hat, und drückt sein Involvement aus. Als Kombination aus Kundenzufriedenheit, emotionaler Nähe und dem Involvement des Kunden entlang des Kundenlebenszyklus entsteht Kundenloyalität. Diese zeigt nicht nur an, ob der Kunde (kurzzeitig) zufrieden ist, sondern inwieweit es dem Versicherungsunternehmen gelungen ist, eine echte Beziehung mit dem Kunden aufzubauen, aufrechtzuerhalten und zu vertiefen. Um die Marktpotenziale ausschöpfen zu können, muss eine genaue Analyse der Loyalität durchgeführt werden. Somit wird die Kundenloyalität zu einer zentralen Grösse bei der Steuerung des Marketings und bildet die Grundlage für langfristige Kundenbeziehungen (Catellani/Hafner/Käslin 2004): Meist wird ein Kunde für einen Versicherer erst nach einer Zeit von mehreren Jahren rentabel. Die treuen Kunden sind weniger preissensitiv, sind eher bereit, Preiserhöhungen mitzutragen und schliessen mehr Verträge ab. Ausserdem sinkt die Schadenquote im Laufe der Beziehung und die Akquisitionskosten gehen zurück, da der Kunde direkt angesprochen werden kann. Dies ist deshalb interessant, weil eine Neuakquisition fünf- bis siebenmal so teuer ist wie die Pflege bestehender Kunden. Und ein langjähriger zufriedener Kunde kauft nicht nur mehr Versicherungen bzw. Versicherungen mit höheren Deckungsbeiträgen, sondern nimmt auch weniger Zeit in Anspruch und empfiehlt den Berater weiter. Dies ist ganz entscheidend für das Cross-Selling-Potenzial des Kunden. Neukunden, die durch eine Emp- [39] Ein Instrument im Kundenbindungsmanagement, das die gesamte Kundenbeziehung vom Erstkontakt bis zur Beendigung der Beziehung in verschiedene Phasen unterteilt, in welchen jeweils speziell darauf gemünzte Massnahmen entwickelt wurden. Eine Erweiterung dieses Ansatzes nimmt den Lebensverlauf des Kunden als Grundlage, um ihn bei verschiedenen besonderen Ereignissen in seinem Leben anzusprechen, beispielsweise Beendigung der Lehre oder des Studiums, Heirat, erstes Kind, Renteneintritt etc., um gezielt spezielle Produkte an den Kunden verkaufen zu können. 220 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG fehlung auf den Berater aufmerksam wurden, sind treuer, weniger preissensitiv, haben geringere Schadenbelastungen und sind bereit, mehrere Verträge abzuschliessen, als Neukunden, die über andere Zugangswege den Weg zu dem Berater oder Unternehmen gefunden haben. Obwohl eine gute Kundenbeziehung die Grundlage bilden sollte, haben nicht alle Personen regelmässigen persönlichen Kontakt zu ihrem Berater. So kann es sein, dass ein Versicherungsnehmer nach dem Vertragsabschluss erst nach Jahren beim Schadenfall wieder mit dem Berater in Kontakt tritt. Noch seltenere Kontakte gibt es bei Lebensversicherungen, weil diese, einmal bei einer Gesellschaft abgeschlossen, dort bis zum Auszahlungstermin «liegen» bleiben. Die Folge ist, dass die Kundenloyalität und auch der share of wallet sinkt. Exkurs 7.5 zeigt die Ergebnisse einer Studie zur Kundenloyalität im Versicherungsbereich, die die Wichtigkeit des persönlichen Kontakts und der emotionalen Verbundenheit mit dem Versicherer unterstreicht (vgl. auch Catellani/Hafner/Käslin 2004). Exkurs 7.5 In einer breiten empirischen Studie wurde die Kundenloyalität in der Schweizer Versicherungsindustrie untersucht (Catellani/Hafner/Käslin 2004) und über 1500 Versicherungskunden befragt. Mit der Dauer der Kundenbeziehung findet sich ein erster Indikator dafür, wie es um die Loyalität von Versicherungskunden bestellt ist. Über die Hälfte der befragten Personen ist bereits seit über 15 Jahren bei derselben Versicherungsgesellschaft. Mehr als ein Viertel der Versicherungskunden ist sogar seit über 25 Jahren ihrem Versicherer «treu» geblieben. Durchschnittlich hält eine Versicherungsbeziehung in der Schweiz zwölf Jahre. Die Gründe für diese lang anhaltenden Versicherungsbeziehungen liegen an der im Verlauf ansteigenden Zufriedenheit und emotionalen Nähe. Dadurch ist erkennbar, dass eine hohe Servicequalität in der Schweiz auch die Loyalität der Versicherungskunden begünstigt. Hingegen nimmt das Engagement der Kunden in den ersten Jahren der Beziehung ab. Somit sind die ersten fünf Jahre einer Versicherungsbeziehung am kritischsten (in dieser Zeit ist die Chance am grössten, von einer Trennung betroffen zu sein), da einerseits noch keine starke emotionale Nähe vorherrscht und andererseits der Kunde noch aktiv nach Alternativen bei anderen Gesellschaften sucht. Ausserdem wurde bestätigt, dass eine hohe bzw. häufigere Kontaktaufnahme die emotionale Nähe und das Engagement der Versicherungskunden beeinflusst, wodurch die Kundenloyalität ansteigt. Die Kontakthäufigkeit der Schweizer zu ihren Versicherungsberatern war im Jahr 2003 höher als erwartet. So hatte fast die Hälfte der befragten Personen innerhalb des Vorjahres persönlichen bzw. zumindest telefonischen Kontakt zu ihrem Versicherungsberater. Nur bei ungefähr 11 Prozent sind mehr als fünf Jahre vergangen, seitdem sie mit ihrem Berater gesprochen haben. Bei der Befragung der Kundenbedürfnisse im Bereich der Interaktion mit dem Berater wurde aber deutlich, dass die Erwartungen der Versicherungskunden im Durchschnitt bei über 80 Punkten liegen (auf einer Indexskala von 0 bis 100). Gerade bei der Kontakthäufigkeit, die durchschnittlich bei ungefähr 82 Punkten liegt, gibt es aber auch deutliche Ausreisser nach unten, sodass eine Gesellschaft nur weniger als 70 Punkte der Kundenerwartungen in diesem Bereich «erfüllt». Gerade auf dem Gebiet der Menschlichkeit, der Freundlichkeit und dem Fachwissen der Berater werden die Erwartungen der Versicherungskunden deutlich erfüllt. Der Kunde ist auch damit zufrieden, wie der Berater auf seine Wünsche und Bedürfnisse eingeht. Auf der kognitiven Ebene wächst auch die Zufriedenheit im Laufe der Kundenbeziehung an. So sind nur 73 Prozent mit ihrer Versicherung zufrieden, die jünger als fünf Jahre ist. Die Zufriedenheit liegt bei den Personen, die schon über 30 Jahre bei demselben Versicherungsunternehmen sind, bei 88 Prozent. Hingegen wird die emotionale Ebene deutlich kritischer gesehen. Zwar wird mit fast 80 Prozent das Vertrauen in die Versicherung bestätigt, allerdings fühlen sich nur stark 60 Prozent der befragten Personen mit ihrem Versicherungsunternehmen emotional verbunden. Auf der konativen Ebene wird auf das Wechsel- und Informationsverhalten eingegangen. Dabei wurde ersichtlich, dass sich die Versicherungskunden nur bedingt bereit zeigen, sich aktiv mit Versicherungsfragen auseinanderzusetzen. Über 40 Prozent fühlen sich mit diesem Thema überfordert. Aber auf dieser Ebene kommt wieder die wichtige Bedeutung des Beraters zur Geltung: So sind über 80 Prozent der Ansicht, dass vor allem eine gute Beziehung zum Berater wichtig ist. Über die Kundenloyalität lässt sich erst durch die Kombination verschiedener Ebenen etwas aussagen. Mit der Verbindung von den beiden Dimensionen «Zufriedenheit» und «emotionale Bindung» zeigt sich, dass eine hohe Kundenzufriedenheit nicht auch gleichzeitig eine hohe emotionale Bindung bedeuten muss. So sind nur 44 Prozent der Befragten mit ihrem Versicherungsunternehmen zufrieden und haben gleichzeitig auch eine hohe Bindung zum Unternehmen (Abb. 7-24). Hin- 221 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG gegen äussern 32 Prozent eine hohe Zufriedenheit mit dem Versicherer, empfinden aber keine emotionale Nähe zum Unternehmen. [7-24] Emotionale Bindung und Kundenzufriedenheit emotionale Bindung hoch 2% 44% 22% 32% niedrig niedrig hoch Kundenzufriedenheit Quelle: in Anlehnung an Catellani/Hafner/Käslin 2004 Mit durchschnittlich fast 70 Indexpunkten ergibt sich eine hohe Kundenloyalität in der schweizerischen Versicherungsbranche, die allerdings (teilweise deutlich) zwischen den einzelnen Gesellschaften variieren. Diese äussert sich in den relativ langen Kundenbeziehungen. Durch eine «Erhöhung» der emotionalen Ebene könnte dieser Wert noch verbessert werden. Fasst man die einzelnen Kunden in verschiedene Gruppen zusammen, die anhand ihrer Loyalität eingeteilt werden, ergeben sich folgende Erkenntnisse. Ungefähr jede sechste Beziehung ist gefährdet, vom Versicherungskunden gekündigt zu werden. Dabei ist zu beachten, dass dort der Anbieter eine entscheidende Rolle spielt: So ist bei einem Unternehmen fast ein Drittel aller Kundenbeziehungen gefährdet, bei anderen sind es nur 4 Prozent. Über 30 Prozent sind zwar zufrieden, spüren aber keine emotionale Nähe zum Unternehmen. Hingegen haben über 40 Prozent eine emotionale Bindung zu ihrem Unternehmen aufgebaut. Gerade Frauen, ältere Personen, Personen mit geringem Einkommen und niedriger Schulbildung sind loyaler gegenüber ihrer Versicherungsgesellschaft eingestellt. Deshalb müssen die Versicherungsunternehmen aktiv in ihr Beziehungsmanagement eingreifen. Der persönliche Kontakt ist für die Betreuungsqualität und das Vertrauen wichtig. Grundlage dafür bildet eine gute Beratung. Deshalb kommt hierbei dem Thema «Kompetenz» aus dem 7-K-Modell grosse Bedeutung zu, in dem die Versicherungsunternehmen die richtigen Leute einstellen müssen. Ausserdem wird durch transparente und vergleichbare Produkte das Vertrauen zusätzlich gefördert (Konfiguration; Kommerzialisierung). Gerade das Vertrauen in den Berater ist wichtig, da einige Personen die Entscheidungen bei Versicherungen ihrem Berater überlassen. Ein stabiler Preis und eine reibungslose Schadenabwicklung fördern die Treue. Mit verschiedenen CRM-Methoden kann die Gesellschaft ihre Berater unterstützen, dass sie ihre Beziehung zu den Kunden wieder intensivieren können, damit die Kundenloyalität wieder steigt. So können für die Kunden produktseitig individualisierte Leistungen angeboten werden, die beziehungsseitig zu bestimmten Zeitpunkten im Kundenlebenszyklus den Versicherten angeboten werden. Erhöhung der Beziehungsintensität und des Kundenkontakts Um den Share of Wallet zu erhöhen, könnte der Versicherer Vergünstigungen bzw. Rabatte geben, wenn mehrere Versicherungen bei der gleichen Gesellschaft abgeschlossen werden. Allerdings führt dies nicht unbedingt zu einer Verbesserung der Kundenbeziehung, denn dadurch entstehen keine weiteren Kontakte. So muss der Berater in die Offensive tre- 222 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG ten und kann dabei mit Ideen bzw. monetär über «Werbegeschenke» vom Hauptsitz unterstützt werden. So kann man sich vorstellen, dass man zum neuen Jahr einen Kalender an die Kunden verschickt oder eine Postkarte versendet, auf der dem Kunden zum Geburtstag gratuliert wird. Gerade bei Geburtstagen könnte telefonischer Kontakt mit dem Kunden aufgenommen werden, um auch gleich über die Zufriedenheit mit dem Versicherer zu reden. Gute bzw. lukrative Kunden könnten an besonderen Ereignissen, wie beispielsweise einem runden Geburtstag, Heirat oder Geburt eines Kindes mit einem kleinen Geschenk, wie beispielsweise einer Flasche Wein oder einer Schachtel Pralinen, überrascht werden, sofern die Informationen darüber vorhanden sind. Ausserdem könnten solche Ideen mehr mit Versicherungen verbunden werden. So könnte der Kunde eine Kleinigkeit dafür erhalten, dass er zehn Jahre bei der Versicherung ist, oder fünf Jahre lang keinen Schaden gemeldet hat. Zusätzlich kann der Berater den Kunden zu sich einladen (oder ihn sogar besuchen, falls dieser das wünscht), um in regelmässigen Abständen (zwei bis fünf Jahre), je nachdem welche Versicherungen der Kunde abgeschlossen hat, dem Kunden seine Versicherungen aufzuzeigen und eventuell Alternativen oder Ergänzungen zu präsentieren. Auch die Versicherungsgesellschaften können versuchen, die Beziehung zwischen den Kunden und den Beratern zu verbessern. So wäre es möglich, dass das Prämiensystem verändert wird, sodass nicht (nur) die Anzahl an neu abgeschlossenen Versicherungen als Grundlage verwendet wird. Als Alternative könnte es Provisionen für jeden betreuten Kunden geben. Auch können die Kunden nach ihrer Zufriedenheit mit dem Berater befragt werden, wodurch dessen Provision je nach Zufriedenheit festgelegt wird. Bei (häufigen) Beschwerden über einen Berater kann man sich auch Provisionskürzungen vorstellen. Aufgaben 10 Wie kann der Berater den Share of Wallet noch erhöhen? Wie kann die Versicherungsgesellschaft dabei helfen? 11 Wie könnten Berater alternativ bezahlt werden? Was halten Sie dabei für ein faires System? 12 Welche Bedürfnisse könnte der Versicherungskunde noch hegen? Welche können in Zukunft noch hinzukommen? 7.3.4 Konsequenzen für die Versicherungsunternehmen Durch die Veränderungen und Trends in Wirtschaft und Gesellschaft ist auch die Versicherungsbranche betroffen. Dadurch entstehen für die Versicherungsunternehmen zugleich Chancen und Gefahren auf verschiedenen Gebieten. Veränderungen auf der Produktseite Bei den wenigen Produktinnovationen sollte von Versicherungsseite darauf geachtet werden, Customer Value zu generieren. Auch Rabattmöglichkeiten für Kunden werden bei der Produktplanung mit einbezogen. So ergeben sich Pay-as-you-drive/live-Produkte, Versicherungen mit crash box oder Helppoints usw. Dies hat auch Auswirkungen auf benötigte Daten und die Segmentierung. Ausserdem ist die Tendenz sichtbar, dass Produkte kun- 223 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG denspezifisch gebündelt werden. Das hat vor allem im Nichtlebenbereich, abgesehen von der MFZ-Sparte, grosses Wachstumspotenzial. Ausserdem kann sich der Kunde alsbald mit einer All-in-one-Versicherung absichern. Das bedeutet, er schliesst nur eine Versicherung ab und ist damit gegen alle Risiken versichert. Für Unternehmen bietet diese Art der Versicherung gleichzeitig Chancen und Gefahren. Einerseits kann so der Kunde völlig von einer Versicherung «ausgeschöpft» werden, allerdings besteht die Gefahr, dass der Kunde die Versicherung wechselt und somit das volle Prämienvolumen verschwindet. Im Allgemeinen sollten neben monetären Leistungen auch Leistungen realer Natur angeboten werden. Dabei ist beispielsweise an die Beschaffung eines Pflegeplatzes im Altenheim oder an die Organisation der Reparatur des verunfallten Kundenfahrzeugs mit Ersatzwagen zu denken. Der erfolgsentscheidende Punkt im Markt liegt in der Verfeinerung und der Verbesserung der Risikoselektion. Damit ist nicht nur an die angesprochenen Produktinnovationen zu denken, sondern auch an die Möglichkeit der Übernahme von «schlechten Risiken». Aus Kundensicht müssen sich die Versicherer an der Schadenvermeidung beteiligen und würden somit einen Wandel von einem Schadenabwickler zu einem Schadenvermeider vollziehen. Dadurch würden Kooperationen mit Drittfirmen möglich, beispielsweise mit einer Sicherheitsfirma für die Überwachung von Häusern der Versicherungskunden. Allerdings wollen die Kunden weniger Informationen darüber haben, wie sie selbst Schäden vermeiden können. Sie möchten eine Prämienreduktion für ihr «Präventionsverhalten» haben. Segmentierung und technischer Wandel Auch die Versicherer müssen auf die Verschiebungen aufgrund des demografischen Wandels reagieren und ihre Produkte entsprechend anpassen. Deshalb wurden beispielsweise dynamische Lösungen für die Krankenversicherung und Altersvorsorge entwickelt. Gleichzeitig müssen sich die Versicherungsunternehmen vor Augen führen, dass sich zukünftig weniger Personen eine umfassende Altersvorsorge leisten können. Nichtsdestotrotz bleiben Senioren aufgrund des durchschnittlich höheren Vermögens ein Wachstumssegment. Es wird ersichtlich, dass für unternehmerisches Wachstum nicht nur einwandfreie Produkte und ein erstklassiger Service nötig sind; vielmehr müssen die Produkte auch passgenau für die richtigen Zielgruppen konzipiert sein. Multioptionale Lebensstile haben soziodemografische Segmentierungsansätze weitgehend obsolet werden lassen, da die Merkmale Alter, Geschlecht, Einkommen etc. kaum noch Unterschiede im tatsächlichen Kaufverhalten erklären können. An Bedeutung gewonnen haben Segmentierungsansätze, die sich auf Einstellungen, Wertvorstellungen und konkretes Verhalten stützen. Solche lifestyleorientierten Segmentierungen werden besser der (z. T. auch widersprüchlichen) Komplexität gerecht, die in modernem Kundenverhalten zum Ausdruck kommt. In Abbildung 7-25 ist eine solche Kundentypologie beispielhaft dargestellt, die auf der Basis von Einstellungen, Werterwartungen und Verhaltensabsichten von Versicherungskunden empirisch ermittelt wurde (Maas/Graf/Bieck 2008). Sie zeigt die jeweiligen prozentualen Anteile der Typen im Durchschnitt der untersuchten sechs europäischen Länder, die Leitmotive, die Werttreiber aus Kundensicht sowie die daraus resultierenden Erfolgsfaktoren für Versicherungsunternehmen. Es wird auch klar, dass sich die einzelnen Kundentypen trennscharf unterscheiden lassen und jeweils spezifische Wertmuster aufweisen. Zudem lässt sich die obige Aussage belegen: Die einzelnen Kundentypen unterscheiden sich nicht hinsichtlich Einkommens- oder Altersverteilung, wohl aber hinsichtlich ihres kulturellen Hintergrunds (Länderzugehörigkeit). 224 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG [7-25] Empirisch basierte Segmentierung von Versicherungskunden entlang von Einstellungen, Wertvorstellungen und Verhaltensabsichten Typ Unterstützungssuchende Individualisten Produktoptimierer Desinteressierte Minimalisten Preisempfindliche Analysierer Beziehungsorientierte Traditionalisten Anteil 20.3% 26.7% 8.2% 17.6% 27.1% Leitmotiv «Ich möchte kompetente Beratung für meine persönlichen Bedürfnisse» «Ich möchte ein gutes Produkt» «Ich möchte in Ruhe gelassen werden» «Ich möchte ein gutes Geschäft machen» «Ich möchte jemanden, dem ich vertrauen kann» Was brauchen sie von Versicherungen und was suchen sie? • • • • • • • Erfolgsfaktoren stützen sich auf externe Expertise, um herauszufinden, was sie brauchen vertrauen Personen, nicht der Branche wollen klare, unkomplizierte, personalisierte Produkte und Dienstleistungen und sind bereit, sich dafür umzuschauen Vertrauen Transparenz • • haben spezielle Bedürfnisse, die sie befriedigt wissen wollen sind bereit, für Bequemlichkeit und Qualität sowohl höhere Preise zu zahlen als auch Privatsphäre aufzugeben suchen einen starken Namen hinter dem Produkt Vertrauen Technologie • wollen so wenig Kontakt wie möglich brauchen Versicherungen, die billig, schnell und transparent ist • • • wissen, was sie brauchen suchen Information, nicht Beratung «shoppen» nach dem Produkt mit dem höchsten Nutzen für ihr Geld akzeptieren auch standardisierte Produkte • • • Transparenz Technologie Transparenz Technologie stützen sich auf externe Expertise, um herauszufinden, was sie brauchen wollen transparente und unkomplizierte Dienstleistungen wollen gut abgesichert sein, am liebsten aus einer Quelle schätzen den Solidaritätsgedanken Vertrauen Transparenz Quelle: Maas, Graf, Bieck 2008 Auf der Basis dieser neuartigen Segmentierungsmodelle ergeben sich Möglichkeiten, aussagekräftige Zusammenhänge mit dem Risikoprofil eines Kunden herzustellen und den Kundenwert zu berechnen. Dieser Prozess befindet sich in den Unternehmen aber erst im Anfangsstudium. Es wird noch einige Zeit brauchen, bis diese Customer Insights adäquat genutzt werden können. Auch dies ist ein Argument zum Verlassen der alten Strukturen und zur Anwendung des 7-K-Modells. Notwendige Voraussetzung für die Anwendung solcher Segmentierungsmodelle, aber auch für die beschriebenen Marktleistungen, wie die verhaltensorientierten Tarifierungsmodelle (z. B. pay as you live), ist die differenzierte Erhebung entsprechender Daten. Dabei ist nicht nur an technische, sondern auch rechtliche Hindernisse (z. B. Datenschutz) zu denken. Die Fähigkeiten, solche Daten(mengen) zu analysieren, daraus sinnvolle und aussagekräftige Informationen zu generieren, entsprechende Produkte zu entwickeln und diese möglichst zeitnah an den Markt zu bringen, sind in der Versicherungsbranche noch nicht sehr verbreitet. Letztendlich muss auch der Kunde bereit sein, seine Daten der Versicherung zu überlassen. Dazu ist zurzeit vor allem die junge Generation im Austausch mit einer Prämienreduktion bereit. Der Marktanteil der führenden Versicherungsgesellschaften wird sich weiter erhöhen. Markteintritte und Übernahmen wird es allerdings in Europa eher durch andere im EURaum etablierten Unternehmen geben. Zunehmend gibt es Chancen für Nischenanbieter, die sich auf einzelne Kundensegmente konzentrieren bzw. sich in einzelnen Teilmärkten 225 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG positionieren und keine Produkte (mehr) für den gesamten Markt anbieten. Dadurch ist auch im Sinne des Customer Value die Erstellung einer individuelleren Marktleistung für den Kunden möglich. Ausserdem ergibt sich durch die Verwendung von Kundendaten bei der Segmentierung die Möglichkeit, Cross-Selling-Potenziale auszuschöpfen und dem Kunden nicht nur das richtige Produkt zur Verfügung zu stellen, sondern dieses auch dem richtigen Kunden, zum richtigen Zeitpunkt und über den richtigen Kundenzugangsweg anzubieten. Es finden sich mittlerweile in anderen Bereichen, wie beispielsweise im Immobiliensektor, sogenannte Prozessportale, mit denen die Sicht der Kunden integriert werden kann. Der Multi-Channel-Ansatz wird immer mehr zum Standard, nicht zuletzt durch eine Verflechtung von On- und Offline-Zugängen. Neue Medien gewinnen im Bereich des Vertriebs weiter an Boden gegenüber dem Aussendienst, wobei dieser immer noch den wichtigsten Kundenzugangsweg darstellt. Häufig werden die neuen Medien als Ergänzung zum Berater verwendet. Durch diese Veränderung bei den Zugängen wandeln sich auch die Marketingauftritte. Sie werden immer interaktiver und vernetzter, auch gerade mit Blick auf die zunehmende Verbreitung von Smartphones mit der Möglichkeit der Nutzung von Apps. Vor allem die Konsumartikelhersteller und im Speziellen die Sportartikelhersteller sind schon sehr weit auf diesem Weg. So führt mittlerweile Adidas das Gros der Kommunikation über digitale Medien, im Speziellen Social Media, wie beispielsweise Facebook und Twitter, und Videoplattformen, wie beispielsweise Youtube. Kostenwettbewerb Das ist in der Versicherungsbranche deswegen beunruhigend, da die (meisten) Versicherungsunternehmen unter Kostendruck stehen. Ausserdem leiden viele neben steigenden Kosten auch unter Profitabilitätsdruck. Deshalb sind stabile Gewinnbeiträge aus dem risikobasierten Geschäft für die Versicherer so wichtig. Allerdings ist das praktizierte Kostenmanagement aus strategischer Sicht nur eine kurzfristige bzw. eine Übergangsphase. Längerfristig gedacht, muss das ganze Unternehmen umgebaut werden. Dies umfasst die Anpassung der Backstageprozesse und des Vertriebs und zielt gleichzeitig auf eine bessere Erfüllung von Kundenwünschen und eine Verschlankung der Organisation. Um den Kunden in den Mittelpunkt stellen zu können, muss die Produkt- und Spartenorganisation überdacht und daraufhin die Organisationsstruktur entsprechend angepasst werden. Vor allem aus Kostengründen müssen interne Prozesse standardisiert und automatisiert werden. Dabei wird der Fehler-, Kosten- und Zeitfaktor «Mensch» ersetzt, weil man Teilfunktionen des Produktionsprozesses an Maschinen übertragen kann, die diese selbstständig ausführen. Bei der Integration des Kunden bildet das ausführliche Beschwerdemanagement eine gute Einstiegsmöglichkeit, um mehr über den Kunden und seine Bedürfnisse zu erfahren und entsprechende Funktionen zu entwickeln. Dabei müssen die gefundenen Ergebnisse regelmässig auf ihre Anwendung und Aktualität hin untersucht werden (Kontrolle im 7-K-Modell). Eine weitere Möglichkeit zur Senkung der Kosten bietet die Prozessoptimierung mittels der Industrialisierung der Wertschöpfung. Unter dem Begriff der Industrialisierung sind mehrere Aspekte zu verstehen: So werden bei der Konsolidierung verschiedener Prozesselemente ähnliche Aktivitäten gebündelt. Mit der Wertschöpfung werden einzelne Prozesse beschrieben, mit denen das Unternehmen Mehrwert schafft. Wird eine komplette Wertschöpfungskette abgebildet, sind damit die einzelnen Prozesse gemeint, die zur Herstellung des Produkts benötigt werden. Zur besseren Umsetzung wird zusätzlich ein standardisierter Prozess entwickelt, der von allen Wertschöpfungseinheiten einzuhalten ist, egal wer oder wo der Prozess ausgeführt wird. Beim Sourcing konzentriert sich das Unternehmen auf die eigenen Kernkompetenzen und lagert die anderen Prozesse aus. Die Auslage- 226 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG rung der Informationstechnologie bietet eine erste Handlungsmöglichkeit. Dabei ist aber nicht nur an die technische Infrastruktur zu denken, sondern auch an die Verarbeitung und Aufbereitung der Informationen bzw. Daten. Aktuell wird in Unternehmen die Digitalisierung verschiedener Daten und Prozesse vorangetrieben. Dabei werden analoge Daten mit dem Ziel in digitale Form gebracht, dass sie in einer Datenbank abgespeichert, entsprechend ausgewertet und zu weiteren elektronischen Verwertungen zur Verfügung stehen. Bei der Digitalisierung der Prozesse ist an die mobilen Kommunikationskanäle zu denken, mit denen der Kunde in die firmeneigenen Prozesse integriert werden kann. Zur Senkung der Kosten muss die Wertschöpfung aber nicht unbedingt ausgelagert werden. Es gibt auch die Möglichkeit, eigene Standorte im Ausland aufzubauen, die die Leistung kostengünstiger erbringen können als im Inland. Auch radikalere Massnahmen werden mittlerweile von den Versicherungsunternehmen in Betracht gezogen. So wird darüber nachgedacht, den Aussendienst zu reformieren und andere Vertriebsmöglichkeiten zu finden. In weiterer Zukunft wird sich für die Versicherungsgesellschaften die Möglichkeit ergeben, nicht nur die Unterstützungs-, sondern auch die Kernprozesse (oder Teile davon) an spezialisierte Anbieter auszulagern, um Kosten- und Effizienzpotenziale ausschöpfen zu können. Weitere Veränderungen in der Versicherungsbranche Auch die Regulierungstendenzen in der (Schweizer) Assekuranz verlangen nach Veränderungen. Dies können die Versicherungsgesellschaften aber als Chance sehen, ihr Geschäftsmodell zu reformieren und somit an die Bedürfnisse der Kunden anpassen zu können. Vor allem die Lebensparte wird, noch mehr als das Nichtlebengeschäft, von staatlichen Vorgaben tangiert. Neben dem Kostendruck kommt es auch zu einer Verschärfung des Wettbewerbs, weil das Versicherungsgeschäft weiterhin ein «push»-Markt bleibt. So herrscht in der Branche nicht unbedingt Innovations-, sondern eher Veränderungsdruck. Auch deshalb muss das Risikomanagement zu einem der wichtigsten Themen im Unternehmen werden. Es muss umfassend aufgebaut sein und gleichzeitig das ganze Unternehmen beinhalten. Darum wäre eine Integration des Risikomanagements in das Geschäftsmodell und die Wertschöpfungsprozesse durchaus sinnvoll. Auch der Umbau der Sozialversicherungssysteme aufgrund des demografischen Wandels führt gerade im Lebenbereich zu Veränderungsdruck. Dabei sind die Versicherer selbst von diesem Wandel betroffen. So wird in den nächsten Jahren ein «Kampf» um die besten Mitarbeiter ausbrechen, der in der Versicherung im Bereich der Vertriebsmitarbeiter deutlich ausgeprägt sein wird (Kompetenzbereich im 7-K-Modell). Schlagwörter werden Employer Branding, Unternehmenskultur, Karriereplanung usw. sein. Aus der «schlechten» Position der Versicherer heraus müssen sich diese von der Konkurrenz im (Arbeits-)Markt hervorheben. Dieses Vorhaben lässt sich am besten durch gezielte Markenbildung beeinflussen, in deren Rahmen auch Begriffe wie beispielsweise Gesellschaftsvertrag bzw. Corporate Social Responsibility Einzug finden sollten. Aufgaben 13 Welche weiteren Konsequenzen können sich aufgrund von veränderten Bedürfnissen für die Versicherungsunternehmen ergeben? 227 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG 7.4 Zusammenfassung und Ausblick Aufgrund verschiedener Einflüsse, Trends bzw. Regularien kommt es in der Versicherungsbranche zu Veränderungen. So herrschen in der Branche zunehmender Wettbewerb und Kostendruck, bedingt durch Trends, wie Globalisierung, Individualisierung und den demografischen Wandel. Gerade die beiden Letzteren haben bereits heute grossen Einfluss. Denkt man aber mal ein paar Jahrzehnte in die Zukunft, werden diese Trends auch weiterhin den Markt (mit-)bestimmen. Schon heute werden immer mehr Produkte speziell für Senioren angeboten. Ausserdem will der Kunde heute schon die Möglichkeit haben, auf ihn angepasste Produkte bzw. Dienstleistungen zu beziehen. Auch die Organisation der Versicherungsgesellschaften und vor allem die Prozesse werden sich zunehmend weiter verändern. Mit dem Internet ist bereits ein grosser Umbruch in Gang. Mit Smartphones und den dazugehörenden Applikationen kommen die nächsten technischen Neuerungen auf den Versicherungsmarkt. Je mehr der Kunde in den strategischen Fokus des Unternehmens rückt, desto mehr steht nicht mehr das Produkt, sondern die Kundenbedürfnisse im Zentrum. Somit verfügt der informierte, fordernde Versicherungskunde über wachsende Macht gegenüber den Unternehmen. Ziel muss es deshalb für die Versicherungsgesellschaften sein, sich beim Kunden Loyalität und Vertrauen zu erarbeiten, um ihn langfristig an das Unternehmen «binden» zu können. Ein ausgearbeitetes Beschwerdemanagement, gute Beratung und Service bilden dabei die Grundvoraussetzung für die Erzeugung von Customer Value. Nur so können die vom Kunden erwarteten Funktionen erfüllt werden. Weitere Trendthemen, die die Versicherung in der Zukunft (mit-)betreffen werden, sind neben den bereits erwähnten die Themen «veränderte Lebensformen», «Vernetzung» und «Identität». Bei den Lebensformen entstehen immer mehr Singlehaushalte, Ehen mit Migrationshintergrund und homosexuelle Partnerschaften. Auch Senioren leben seltener in Altersheimen, sondern in speziell für sie eingerichteten Anlagen in ihren eigenen Wohnungen. Durch die Digitalisierung und die Entstehung sozialer Netzwerke wird der Mensch immer «vernetzter». Den Mittelpunkt dieser Vernetzung bildet das Internet. Die Identitätsbildung der Menschen hat sich verändert. Die Identität bzw. Identitäten wird/werden über ständige Selbstinszenierung, Marken oder über Peergroups definiert. Dies hat Auswirkungen auf die Versicherung. Dabei rückt der Kunde immer weiter in den Mittelpunkt, sei es mit speziellen Angeboten für Senioren, Werbung für Homosexuelle, Mitgestaltung der Leistung über Blogs oder die Meinungsbildung über Peergroups. Produkte, Prozesse und ganze Organisationen müssen sich diesen neuen Herausforderungen stellen und entsprechend angepasst oder neu erfunden werden. 228 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Lernkontrolle Aufgaben 1 Was sind die zentralen Ergebnisse dieses Kapitels? Was bedeutet dies für die Versicherungsbranche? 2 Welchen Trends steht die Versicherungsbranche gegenüber? 3 Wie können Unternehmen Customer Value generieren? Welche Unterschiede sehen Sie dabei zwischen einem Lebens- und Motorfahrzeugversicherungsanbieter? 4 Beschreiben Sie das Customer-Value-Modell! Wo liegen dabei die zentralen Herausforderungen für Versicherungen? 5 Welche beiden Gestaltungsebenen sehen Sie im Versicherungskontext als die wichtigsten an? Begründen Sie Ihre Antwort! 6 Was muss ein Versicherungsunternehmen beim Funktionendenken beachten? 7 Was sind die wichtigsten Kundenbedürfnisse? 8 Was ist der Unterschied zwischen einem Kundenzugangsweg und einem Vertriebskanal? 9 Was sind die wichtigsten Informationsquellen bzw. Kundenzugangswege im Versicherungsbereich? 10 Inwieweit hat das Internet die Versicherungsbranche verändert? 11 Was für eine Rolle spielen Social Media bei der Auswahl eines Versicherungsprodukts? 12 Welche Bedeutung würden Sie Apps im Versicherungskontext beimessen? 13 Welches ist die wichtigste Ebene im Dienstleistungsdreieck einer Versicherungsgesellschaft? Begründen Sie Ihre Antwort! 14 Warum wird der Kundenloyalität eine hohe Bedeutung in der Versicherungsbranche zugerechnet? Wie kann sie erhöht werden? 15 Welche Konsequenzen ergeben sich für die Versicherungsunternehmen aufgrund der Veränderungen und Trends in der Gesellschaft und Wirtschaft? 229 MANAGEMENT DER MARKTLEISTUNG UND DER KUNDENBEZIEHUNG Literaturhinweise Belz, C. / Bieger, T. (2006): Customer-Value. Kundenvorteile schaffen Unternehmensvorteile; 2. Auflage, Landsberg am Lech, mi-Fachverlag. Bieck, C. / Bodderas, M. / Maas, P. / Schlager, T. (2010): Powerful interaction points – saying goodbye to the channel. Somers, NY. Bieger, T. (2006): Tourismuslehre – ein Grundriss; 2. Auflage, Bern, Haupt. Bieger, T. (2008): Management von Destinationen; 7. Auflage, München, Oldenbourg. Bühler, P. / Graf, A. / Bieck, C. (2009): Akzeptanz von nutzungsbasierten Versicherungen bei Kunden. In: Versicherungswirtschaft 64 (6), S. 412–415. Bühler, P. / Maas. P. 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