PDF-File - Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich

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Übersicht (1927/28)
Von Ernst Manheim (Leipzig)
Transliteration von Reinhard Müller*
Der paradoxe Sinn, den der Ausdruck „konkreter Begriff“ in der Erkenntnistheorie
und im von ihr beherrschten wissenschaftlichen Gemeinbewußtsein zum grossen
Teil noch hat, macht es notwendig, der eigentlichen logischen Entwicklung des
konkreten Begriffs einen methodologischen Teil vorauszuschicken. Dieser Teil hat
die Aufgabe die Frage nach dem konkreten Begriff aus einer
erkenntnistheoretischen Perspektive zu stellen und zu beantworten. Diese lautet: wie
ist die Bildung und Anwendung konkreter Begriffe, wie ist Verstehen möglich? Dieser
erste Teil hat den Begriff des Begriffes, der Form, der Logik, die Begriffe „abstrakt“
und „konkret“ aufzuklären und damit den Horizont für den eigentlich-logischen Teil zu
gewinnen. Er hat in z.T. polemischen Ausführungen die Voraussetzungen
herauszuarbeiten, von denen aus dieser dem erkenntnistheoretischen
Gemeinbewusstsein ungeläufige Stoff sinnvoll erscheinen kann.
1.)
Um denken und begreifen zu können, muss man existieren. Existieren bedeutet in
der Wirklichkeit-Bestimmtsein und sich-Verhalten zur Wirklichkeit. Indem man ist,
setzt man oder intendiert man irgendwie die Wirklichkeit, in der man bestimmt ist.
Das Denken selbst ist nur ein Modus des Existierens, es ist ins Bewusstsein
erhobene oder begriffene Intentionalität. Der Unterschied von Denken und Sein ist
also innerhalb des Seins zu machen: das Sein ist übergreifend. Im ersten Sinne
existiert man ohne zu denken oder vor dem Denkakt; im zweiten Sinne ist das Sein
mit dem Denkakt verhaftet – man existiert und man bildet von der Existenz einen
Begriff. Wenn man die erste Tätigkeit kurz als Setzen oder Intendieren und die
zweite als den Akt (des Denkens) bezeichnet, so ist das Verstehen und der aus ihm
hervorgehende konkrete Begriff in der Deckung von Akt und Setzung begründet. (Es
ist klar, dass Intentionalität und Akt nicht in einem kontradiktorischen, sondern in
einem übergreifenden Verhältnis stehen, ebenso wie Denken und Sein sich nicht
kontradiktorisch, sondern übergreifend zueinander verhalten[.)]
2.)
Das Setzen der Wirklichkeit ist auf verschiedenen Stufen der Existenz gegeben. Wie
die Intention auf Reales, so sind auch ihre Formen: die intentionalen oder
Setzungsformen hierarchisch gegliedert. Dieser Stufenbau der Setzungsformen ist
der eigentliche Gegenstand der Logik. Die Logik also ist nicht nur Wissenschaft vom
Denken, sondern auch Wissenschaft vom Sein: die logische Gliederung des
konkreten Begriffs fällt mit der Gliederung der Existenz, der Intentionalität und deren
Formen zusammen. Sie haben einen und denselben Gegenstand.
3.)
Während die Logik die Formen der Intentionalität darzustellen hat, beschreibt die
historische Wissenschaft das Intendierte. Die historische Wissenschaft geht von der
zeitlichen Gegebenheit aus und mündet in ihrem Ergebnis in die in der Zeit
mitgegebene Intentionalität; die Logik geht von der Intentionalität aus und hat die
Zeit nicht vorauszusetzen, sondern in ihrem Entwicklungsgang als eine Form und
eine Stufe der Intention zu erklären – sie kommt erst in ihrem Ergebnis dazu, das
Zeitliche, das Intendierte mit zu erörtern. Der Gegenstand ist unterschiedslos
derselbe, unterschieden ist allein seine Darstellung oder das „Darstellungsobjekt“.
4.)
Darstellungsobjekt der Logik ist das Totalgefüge der Setzungsformen oder der
Formenbau des konkreten Begriffs, dem jene zugrunde liegen. Dem konkreten
Begriff und seiner entwickelten Form liegt jene konkrete Intention zugrunde, die die
Wirklichkeit nicht nur zum Setzungsobjekt, sondern auch zum Subjekt hat, d.i. jene
Intention, die selbst wirklich ist. Der so entwickelte und konkrete Begriff ist nicht nur
Begriff von der Wirklichkeit, sondern auch wirklicher Begriff. Sein Gegenstand ist er
selbst.
5.)
Das Erfüllungsgebiet der Logik ist nicht begrenzt, so wenig, wie die Wirklichkeit es
ist. Die Erfüllung des Begriffes auf seiner jeweiligen Stufe mit positiver Materie ergibt
den Stufenbau der Wissenschaften in genauer Übereinstimmung mit dem Stufenbau
der Setzungsformen. Diese Wissenschaftsgliederung ergibt sich also weder aus
stofflichen, noch aus technischen Grundsätzen, sondern allein aus dem
Gesamtsystem der Existenzialformen, deren stufenweise Erfüllung sie darstellen.
Der Ort einer jeden Wissenschaft im Gesamtgefüge der Wissenschaften ist
bestimmt durch die Stufen des Seins, aus der sie – in ihrem jeweiligen Verhältnis
zum Wirklichkeitsganzen – hervorgehen. Den 3 Hauptstufen: des Verhältnisses, des
Daseins und der Wirklichkeit entspricht die Gliederung: der Relationswissenschaften
(die Erscheinung der Wirklichkeit in der Kategorie des Verhältnisses), der
Wissenschaft vom Dasein und der Wirklichkeit.
*
Handschriftliches Exposé zur Dissertation „Die Logik des konkreten Begriffs“. Das Original
befindet sich im Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Graz, Nachlass
Ernest Manheim, Signatur 31/5. Zuerst abgedruckt in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte
1995. Herausgegeben von Carsten Klingemann, Michael Neumann, Karl-Siegbert
Rehberg, Ilja Srubar, Erhard Stölting. Opladen: Leske + Budrich 1999, S. 25-26; in neuer
Transliteration abgedruckt in: Ernő – Ernst – Ernest Manheim. Soziologe, Anthropologe,
Komponist. Zum 100. Geburtstag. Katalog zur Ausstellung anläßlich des 100. Geburtstags
an der Universitätsbibliothek Graz vom 3. März bis 14. April 2000. Herausgegeben von
Reinhard Müller. Graz: Universitätsbibliothek Graz [2000], S. 29-30. Anm. R.M.
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