Philosophie der Erkenntnis

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Ao. Prof. G. Pöltner
SS 1995
Philosophie der Erkenntnis
102 026, 2st., Mi (pünktl.) 17-19, Hs. 47, VO
INHALTSVERZEICHNIS
1.
Einführung in die Problematik
2
2.
Formen der Bestreitung bzgl. der Möglichkeit einer Erkenntnistheorie
5
2.1.
2.2.
Die skeptische Bestreitung wahren Erkennens
Die These von der Unmöglichkeit einer Erkenntnistheorie
5
6
3.
Die Erkenntnistheorie als Gestalt der neuzeitlichen
Subjektivitätsmetaphysik
7
4.
Unzureichende Erklärungen des Erkennens
10
4.1.
4.2.
4.3.
4.4.
Die Kausaltheorie
Die Abbildtheorie
Die Schlußtheorie
Die evolutionäre Erkenntnistheorie
10
11
12
13
5.
Die Fragwürdigkeit der Erkenntnistheorie und der Ansatz einer
Philosophie der Erkenntnis
15
5.1.
5.2.
Der problematische Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie
Der Ansatz einer Philosophie der Erkenntnis
15
15
6.
Der Anfang des Erkennens
16
6.1.
6.2.
6.3.
Die Welt der Kenntnis
Die Dialektik der Erfahrung
Die Ursprünge des Erkennens
16
18
18
7.
Das Gespräch als Ort der Wahrheit
22
7.1.
7.2.
7.3.
Der Begriff "Wahrheit"
Wahrheitstheorie
Grundzüge und Voraussetzungen des Gesprächs
22
23
28
8.
Das personale Erkennen als Urform des Erkennens
29
8.1.
8.2.
Das Erkennen von Dingen als abkünftige Form des Erkennens
Der personale Glaube
30
31
-1-
15.3.1995
1. EINFÜHRUNG IN DIE PROBLEMATIK
Zum Wort "Erkenntnistheorie"
Die Bedeutungen sind hier ähnlich wie beim Wort "Ästhetik", es gibt nämlich weitere und engere.
Weiter ist es alles, was mit Erkenntnis zu tun hat. Im engeren Sinne sind es diejenigen Bemühungen,
die durch die Grundstellung der neuzeitlichen Metaphysik hervorgerufen worden sind.
Das Wort "Erkenntnistheorie" kommt erst im 19. Jhdt. auf. Sie galt als Teildisziplin der Philosophie
mit der Aufgabe, den Wissenschaftcharakter der Philosophie neu zu begründen.
Die Erkenntnistheorie ist vom Intersse an der Sicherstellung und an der Gründung menschlichen
Erkennens auf einem unerschütterlichen Fundament geleitet.
Traditionelle Umschreibung von Erkenntnistheorie: Es ist die Wissenschaft vom Wesen und den
Prinzipien, vom Ursprung, von den Bedingungen und Voraussetzungen der Erkenntnis. Eine zentrale
Frage bildet die Wahrheitsfrage (Adäquationsbegriff zwischen Sache und Erkanntem).
Abgrenzung der Erkenntnistheorie
1. Es handelt sich um eine philosophische Besinnung auf das Erkennen. Wir betreiben Philosophie.
2. Erkenntnistheorie ist von der formalen Logik und der Wissenschaftstheorie zu unterscheiden.
zu 1)
Erkenntnis ist auch Thema anderer Wissenschaften:
Genetische Erkenntnistheorie (Psychologie): das Erkennen gilt hier als psychisches Vorkommnis.
Rohracher: das Erkennen hat funktionalen Charakter, ist Hilfsmittel für andere psychische Vorgänge,
wie Triebe, Interessen und Willenserlebnisse. Das Denken dient zum Erreichen dieser Ziele.
Evolutionäre Erkenntnistheorie (Biologie): Denk- und Wirklichkeitsstrukturen haben teilweise
Anpassungen bzw. Übereinstimmungen, damit ein Überleben möglich wird.
Dort, wo das Erkennen fachwissenschaftlich angegangen wird, kann im strengen Wortsinn nicht von
"Erkenntnistheorie" gesprochen werden. Die Selbstanwendung der Erkenntnistheorie auf sich selbst
muß nämlich möglich sein, was bei Fachwissenschaften nicht möglich ist (die Erkenntnistheorie muß
selber erkennbar sein). "Einzig die Philosophie ist ihr eigener Gegenstand."
zu 2)
Abgrenzung zur Logik:
− Die Wahrheitsfrage macht einen Unterschied aus. Sie interessiert die Logik nicht. Logik ist die
Lehre vom folgerichtigen Denken: das garantiert noch nicht die Wahrheit.
− Logik interessiert sich am Logos im Sinne des Urteils (bestimmen von etwas als etwas). Es geht
um die innere Richtigkeit von Urteil und Schlüssen, in der Erkenntnistheorie fragt man nach der
Übereinstimmung dessen, was ist, und dessen, was gefolgert wird.
Abgrenzung zur Wissenschaftstheorie:
-2-
−
−
Die Erkenntnistheorie ist weiter gefaßt. Es geht um allgemeine menschliche Erkenntnis.
Wissenschaft ist nur eine spezielle Form menschlichen Erkennens, Wissenschaftstheorie ein Teil
der Erkenntnistheorie.
Wissenschaftstheorie ist die "Anwendung der formalen Logik". Sie präzisiert (Strukturanalyse der
Fachwissenschaften mit Hilfe formaler Strukturen; will die empirischen Strukturen der
Fachwissenschaften immer mehr erweitern) und beweist diese Präzision.
Sowohl die formale Logik als auch diese als angewandte Logik verstandene Wissenschaftstheorie
setzen etwas voraus: die Erkenntnis als Faktum. Wie Erkenntnis entspringt, interessiert hier nicht. Es
geht immer um Verhältnisse, in denen Erkenntnisse zueinander stehen. "Wie kommt es eigentlich zu
einer Erkenntnis?" ist die Frage der Erkenntnistheorie.
Vorläufige Bestimmung dessen, um was es in einer Erkenntnistheorie
gehen soll
a)
Es ist ein philosophisches Unterfangen.
Formelhaft gesprochen geht es im Philosophieren darum, menschliche Grunderfahrungen kritisch
und prinzipiell aufzuschließen. Philosophisches Fragen ist radikal - ein Weiterfragen. Es ist kein
gescheites Geplauder, sondern kritisches Argumentieren (auch seine eigenen Leitvorstellungen
sind in Frage zu stellen; nichts ist auszulassen).
Im Philosophieren wird der Mensch frei durch Selber-Denken, durch das Aufgeben vorgefaßter
Meinungen.
Die Philosophie ist die Suche nach Gründen von Gegenständlichem, die selbst ungegenständlich,
dennoch aber real sind.
b)
Das Wort "Erkenntnis" bedeutet:
1) das Resultat eines Prozesses (z.B. wissenschaftliche "Erkenntnis", Beweis)
2) der Vollzug des Erkennes, durch den wir zum Resultat gelangen.
Die Philosophie behandelt die zweite Bedeutung.
"Erkenntnis" ist nicht zu definieren (von der Sache her), weil es ein sogenanntes Urwort
(Grundwort) der Sprache ist, wenn hier eine Definition die ganze Bedeutung eines Wortes
herausstreichen soll. Die im Definiens (im Definierenden) vorkommenden Begriffe dürfen
nämlich nicht durch das zu Definierende erklärt werden. Wir können die Erkenntnis auf nichts
Bekannteres zurückführen.
"Erkennen" im fundamentalen Sinn meint - formelartig - den Vollzug des Überhaupt-zumVorschein-Kommens. In welcher Weise wir auch immer über etwas sprechen (nach etwas fragen,
etwas bestimmen, bezweifeln, ...), dieses etwas muß schon irgendwie (überhaupt) zum Vorschein
gekommen sein. Wie das vor sich geht, interessiert die Philosophie.
Allgemeines zur Erkenntnis
Alle menschlichen Vollzüge unter der Hinsicht ihres Bewußtseins sind Thema der
Erkenntnistheorie. Daß Erkenntnis ein Grundwort ist, das nicht definiert werden kann, muß
immer im Hinterkopf bleiben, sonst ist man von jeder Theorie enttäuscht.
(1) Thomas von Aquin: "Das Erkennen ist die vornehmste Art, etwas zu haben oder zu erhalten."
Auch Aristoteles sagt, daß wir beim Erkennen etwas haben. Nur was heißt "haben"? Wir
kommen in die Nähe der Tautologie.
(2) Hebräische Sprache: laut Martin Buber "in direktem Kontakt stehen" (auch geschlechtliche
Vereinigung von Mann und Frau)
(3) Erkennen heißt auch "vertraut sein", "unmittelbaren Umgang haben".
-3-
(4) Die Verengung auf einen Begriff der Wissenschaft gab es erst im Europa der Neuzeit.
(5) "Erkennen" ist auch mit "Schau" in Verbindung gebracht worden.
(6) Die Bibel bezeichnet die äußerste Vollendung des Menschen als Erkenntnis (Joh 17,3).
c)
Wir sprechen von menschlicher Erkenntis:
Auch die Reaktion der Pantoffeltierchen auf ein Hindernis wird schon mit Erkenntnis bezeichnet.
Wir tun das nicht! Ein solcher Gebrauch des Wortes ist überzogen, zu weit gefaßt. Ein Philosoph
braucht auch die Kunst des Differenzierens.
Das, was "erkennen" besagt, geht uns grundsätzlich aus dem auf, was wir selbst tun und
vollbringen. Tierisches Erkennen kann von uns nur als solches bezeichnet werden, weil es
Merkmale unseres Erkennens hat (es eine Analogie zu unserem Erkennen ist). Erkennen ist
immer auf jemanden (Mann oder Frau, der/die erkennt) bezogen. Subjektloses, frei schwebendes
Erkennen gibt es nicht.
d)
Menschliches Erkennen muß in seiner möglichst vollen Dimension umfaßt werden:
Wenn wir von den Momenten des Erkennes sprechen, müssen wir immer das Ganze des
Erkennens im Blick haben.
22.3.1995
In einer philosophischen Erkenntnistheorie ist es oberstes Gebot, Erkennen möglichst in seiner
Vollform zu erfassen. Ein Irrtum: Momente der Struktur sind nicht wie die Ziegel eines Hauses
zu betrachten.
Wir dürfen nicht von fraglosen Unterscheidungen ausgehen (z.B. Vernunft und Verstand).
Entspringt die Erkenntnis aus sinnlicher Wahrnehmung oder aus dem Verstand? Die
Unterscheidung von Verstand und Sinnen beruht auf einer anthropologischen Voraussetzung.
Diese Unterscheidung führte in der Neuzeit zu Rationalismus und Empirismus (verschiedene
Erkenntnisformen von Sinnen und Verstand).
e)
Erkenntnis ist nicht mit einzelwissenschaftlicher Erkenntnis gleichzusetzen (Szientismus):
Die Frage nach den Voraussetzungen und Bedingungen für eine Erkenntnis bleibt nämlich bei
den Einzelwissenschaften offen. Die Art der Erkenntnis bestimmt sich nicht nach einem
festgesetzten Ideal sondern nach dem zu erkennenden Gegenstand. Nicht alles ist gleich zu
erkennen.
f)
Die uralte Unterscheidung von Glauben und Wissen (entspricht Erkenntnis):
Sie ist bis heute bestimmend geblieben. "Glaube" bedeutet hier den sogenannten "daß"-Glauben
(radikal: Glaube heißt Nichtwissen). Glaube ist als Vorstufe des Wissens angesetzt.
Diese Unterscheidung ist traditionell, dennoch fragwürdig. Sie orientiert sich nämlich an der
"Dingerkenntnis" (Erkenntnis von Körperdingen). Dieser Ausgangspunkt ist nicht
selbstverständlich. Was ist mit den Dingen, die sich selbst zu erkennen geben (wir ["erkenne dich
selbst"], personales Erkennen)? Weil nicht auszuschließen ist, daß Glauben nicht eine vorläufige
Form von Wissen ist, sondern alle Formen menschlicher Vollzüge durchzieht (einen
transzendentalen Vollzug darstellt), ist dieser Ausgangspunkt ebenfalls fragwürdig.
2. FORMEN DER BESTREITUNG BZGL. DER MÖGLICHKEIT
EINER ERKENNTNISTHEORIE
"Das Unterfangen einer Erkenntnistheorie ist unmöglich."
-4-
1) Wer Erkenntnistheorie betreibt, macht die Voraussetzung, daß es wahre Erkenntis gibt. Diese
Voraussetzung muß geprüft werden.
2) Weil diese Voraussetzung nicht geprüft werden kann und somit nicht stimmt, ist eine
Erkenntnistheorie unmöglich.
2.1. Die skeptische Bestreitung wahren Erkennens
Der Skeptizismus weist darauf hin, daß wahre Erkenntnis eine bloße Annahme ist, die überhaupt
nicht haltbar ist.
(zum Wort "Skepsis" [griech.]: Zweifel, Untersuchung, lat.: conspicio)
Als philosophische Grundhaltung bedeutet Skeptizismus die Leugnung wahrer Erkenntnis überhaupt.
Gründe: Wir können uns täuschen, irren. Unser Erkennen ist von mannigfaltigen Voraussetzungen
abhängig.
1. These der Skeptiker:
Es könne wohl wahre Erkenntnis geben, aber wir können dieser niemals gewiß sein. Es kann nämlich
auch eine falsche Erkenntnis den Anschein der wahren haben. Wir können sie nicht unterscheiden.
Folge: Wir können uns immer nur mit Wahrscheinlichem befassen.
Augustinus: Die These bedenkt nicht, daß man von Wahrscheinlichem nur unter der Voraussetzung
eines Begriffes von Wahrheit sprechen kann.
Hinweis auf den endlosen Regreß: Es ist nur wahrscheinlich, daß nichts gewiß sondern nur
wahrscheinlich ist.
Wenn das Falsche wahr sein kann und umgekehrt, kann auch die These der Skeptiker falsch sein,
obwohl sie wahr erscheint. Folge: Man gibt überhaupt nichts mehr zu verstehen.
2. These der Skeptiker:
Die Unterscheidung von wahr und falsch hat einem gleichgültig zu sein.
Diese Form der Skepsis ist praktisch undurchführbar, weil diese These selbst dem Skeptiker nicht
gleichgültig ist.
Eine Form des Skeptizismus:
Der kritische Rationalismus oder konsequente Fallibilismus (Hans Albert):
Das Problem ist das Begründungsproblem (Begründung von Sätzen, von deren Begründungen, von
deren Begründungen, ...). Unternimmt man den Versuch einer Letztbegründung von Sätzen, kommt
man unweigerlich in ein Trilemma, das sogenannte Münchhausentrilemma. In einem Fall der
Letztbegründung müßte man auf diese wieder eine Begründung verlangen. So gibt es drei
inakzeptable Möglichkeiten:
1) einen infiniten Regreß
2) einen logischen Zirkel
3) den Abbruch des Verfahrens (Dogmatismus)
Vorschlag von Hans Albert: Überwindung des Dogmatismus mit Hilfe des Prinzips des kritischen
Prüfens - der konsequente Fallibilismus (Irrtumsmöglichkeit; konsequent deshalb, weil in jedem
letztmöglichen Grund ein Irrtum liegen kann [Verstand, Wille, Gefühl, ...]). Ein Archimedischer
Punkt (festliegendes Fundament, eine Gewißheit) ist immer selbstfabriziert und somit radikal
subjektiv.
Vorurteile haben ihren Wert, sie dürfen aber nicht als Dogmen stehengelassen werden. Sie sind als
Hypothesen, die prinzipiell scheitern können, zu betrachten und zu prüfen.
-5-
Einwand an den konsequenten Fallibilismus: er macht ein kritisches Verfahren, das er eigentlich
intendiert, unmöglich, weil behauptet worden ist, daß alle Gewißheit selbstfabriziert und somit
wertlos sei.
Hätte der Fallibilismus recht, wäre man sich weder des Kritisierten noch der Kritik selbst sicher.
Albert nehme etwas nicht zur Kenntnis: die Einsicht. Nicht jeder Satz hat den Status von Hypothesen
(Voraussetzungen), sondern es gibt auch Sätze mit dem Status von Einsichten. Sätze mit dem Status
von Voraussetzungen sind durch Erfahrungen falsifizierbar (Verfahren von Versuch und Irrtum).
Nicht alle Aussagen lassen sich hypothetisieren, z.B. "Ich bin mir selbst gegenwärtig". Ich kann nicht
lernen, mir selbst gegenwärtig zu sein.
2.2. Die These von der Unmöglichkeit einer Erkenntnistheorie
Erkenntnistheorie sei eine Prüfung mit einem selbst ungeprüften Prüfungsinstrument. Woher weiß
man eigentlich, daß unser Erkennen die sogenannte Wirklichkeit fassen kann? Wie kann die
Tauglichkeit unseres Erkennens überprüft werden? Ein Überprüfen ist nämlich wieder ein Erkennen.
Schluß: Wir können uns nicht außerhalb unseres Erkennens stellen, um diese Tauglichkeit zu prüfen.
Folglich ist eine Erkenntnistheorie unmöglich.
Auf Nelson (19./20. Jhdt.) geht dieses Problem zurück. Seine Überlegung: die Erkenntnistheorie hat
die bestimmte Aufgabe, ein Kriterium auszumachen, das uns erlaubt, Wahres von Falschem zu
unterscheiden (das sogenannte Wahrheitskriterium).
Dieses gesuchte Kriterium ist
1) entweder selbst eine Erkenntnis
2) oder keine Erkenntnis.
zu 1)
Wenn das der Fall ist, müßte das Kriterium selbst kriteriell abgesichert sein. Nach dem Kriterium
wird aber erst gesucht.
zu 2)
Endloser Regreß, weil das Erkennen ein Kriterium braucht, das Kriterium erkannt werden muß, usw.
Andere Einwände gegen die Möglichkeit einer Erkenntnistheorie sind z.B. biologische,
psychologische, historische, soziologische, außerbewußte Faktoren.
Zusammenfassung der Einwände:
Mit einer Erkenntnistheorie ist es wie mit einem Auge, das sich nie selbst wahrnehmen kann, oder wie
mit einem Menschen, der die Anatomie seines eigenen Gehirns nie untersuchen kann.
3. DIE ERKENNTNISTHEORIE ALS GESTALT DER
NEUZEITLICHEN SUBJEKTIVITÄTSMETAPHYSIK
Die Werkzeugtheorie:
Menschliches Erkennen wird gleich einem Filter (Werkzeug, Spiegel) vorgestellt. Vor dem Erkennen
muß man die Erkenntnismöglichkeit untersuchen, die Art seines Werkzeugs prüfen. Macht man das
-6-
so, ist man wie einer, der schwimmen lernen aber nicht ins Wasser gehen will. Die Vorstellung, daß
menschliches Erkennen eine Art Werkzeug ist, ist - laut Hegel - eine irrige Vorstellung.
Sie setzt nämlich einen Unterschied (eine Absetzung) zwischen dem Erkennen und dem Erkennenden
(eine gegenständliche Differenz). Ein simpler Einwand: Wir erfahren das Erkennen nicht als
Werkzeuggebrauch.
Das Erkennen wird verdinglicht, d. h. es hat Beschaffenheiten, die uns den Blick zur Wirklichkeit
trüben).
Mein Erkennen bin nicht ich selbst, es ist aber eine ganz spezifische Weise menschlichen
Selbstvollzugs. Ich stehe nicht in so einer Differenz zum Erkennen. Einen Unterschied zwischen zu
Erkennendem und dem Erkennen wird in der Werkzeugtheorie gesetzt. Erkennen wird etwas Drittes.
Unter dieser Voraussetzung haben weitergehende Erklärungen erst ihre Plausibilität.
Nun, die Überprüfung des Werkzeugs ist nicht wieder eine Anwendung eines Werkzeugs (wieder ein
Erkennen). Das bedenkt die Werkzeugtheorie nicht. Die Werkzeugstheorie nimmt stillschweigend für
sich in Anspruch, was sie expressis verbis leugnet, daß die Erkenntnis nämlich kein Werkzeug ist.
29.3.1995
Wie steht es also nun um diejenige Tätigkeit, in der das Erkenntnismittel überprüft wird? Geschieht
diese Prüfung des Erkenntniswerkzeuges wieder mit Hilfe eines Werkzeugs? Die Reflexion auf die
eigenen Voraussetzungen unterläßt die Werkzeugtheorie. Ein Hinweis, die Prüfung des
Erkenntnisapparates sei Sache der Naturwissenschaften, bedeutet, daß diese dann wahre Erkenntnis
haben.
Theorie des Spiegels:
Sie besagt, daß Erkenntnis wie ein Spiegel funktioniert. Dieser Spiegel entspricht dem Bewußtsein. Er
ist uneben, verbogen. Wenn jeder einen verschieden verbogenen Spiegel hat, wie ist dann der gerade
Spiegel zu finden? Der Spiegeltheoretiker kann auch einen unebenen Spiegel haben, der ihn beim
Aufstellen seiner Theorie getäuscht hat. Ein Ausweg: der Erfolg kann einen Hinweis auf den ebenen
Spiegel bringen. Das erfolgreichste Zurechtfinden in der Wirklichkeit ist der geradeste Spiegel.
Das Problem taucht nun einen Stock höher wieder auf. Wenn es nämlich um die Beurteilung dessen,
was Erfolg ist, geht, müßte diese, wenn sie zutreffend sein soll, natürlich mit einem ebenen Spiegel
geschehen.
Die Werkzeugtheorie allgemein besteht nicht den Selbstanwendungstest und scheidet so als
philosophische Erkenntnistheorie aus.
Versuche, die sogenannte Subjekt-Objekt-Spaltung zu überwinden
RATIONALISMUS
Wir werfen einen Blick auf das Bestreben von René Descartes, den Begründer des Rationalismus.
Sinneserfahrung ist hier die Quelle der Erkenntnis; diese geht allerdings aus der Vernunft hervor. Eine
geläufige aber vorschnelle Unterscheidung von Empirismus und Rationalismus dahingehend, daß
beim Empirismus die Sinne und beim Rationalismus die Vernunft Quellen der Erkenntnis sind,
stimmt nicht. Die beiden Richtungen haben allerdings Akzentuierungen in diese Richtungen.
Zur sogenannten Subjekt-Objekt-Spaltung kommt es, wenn man nach dem unerschütterlichen
Fundament des Erkennens sucht. Weitere Punkte bei Descartes sind der Vorrang der Methode und die
bewußte Absetzung von der Geschichte (Distanzierung der Tradition).
-7-
Es geht also um die Frage, wie ein sicheres Wissen gewonnen werden kann. Dahinter steht der
Freiheitsbegriff der Selbstbestimmung. Jede Fremdbestimmung ist unfrei machende Abhängigkeit.
Wenn das andere beherrscht wird, ist die Grenze hin zur Selbstbestimmung überschritten.
Absetzung von der Geschichte: Jede Erkenntnis, die nicht selbst gemacht wird, gilt nicht. Darunter
fällt auch jede Religion.
Vorrang der Methode: Das Wie (Zugangsart) bestimmt das Was (Inhalt der Erfahrung). Die
Bedeutsamkeit eines Gewußten wird bestimmt durch die Art, wie der Mensch zu diesem Gewußten
kommt.
Das Wesen des Methodischen liegt in einer vorgängigen Bindung an eine ganz bestimmte
Fragehinsicht, einen ganz bestimmten Wissensbegriff. Sicheres Wissen ist hier gemeint. Alles andere
ist - so Descartes - bloße Meinung. Alles historisch Erfahrene muß also den Sprung zum Wissen
machen. Das hat Konsequenzen bzgl. des Wirklichkeitsverständnisses. Als wirklich im strengen
Wortsinn gilt nur, was die Bedingungen der Wissensgewinnung erfüllt hat. Der Unterschied zu
Aristoteles ist, daß bei diesem verschiedene Gegenstände verschiedene Arten der Erkenntnis
benötigen.
Descartes sucht nach dem fundamentum inconcussum. Sinnliche Wahrnehmung ist fehlerhaft und
kommt so als fundamentum inconcussum nicht in Frage. Auch mathematisches Wissen ist es nicht.
"Ego sum, ego existo." ist Descartes' einzige Sicherheit.
Erkenntnis wird von der Zugangsweise bestimmt. Sie muß eine certa cognitio sein. Nur solches ist in
der Lage, ein Gegenstand des Wissens zu werden.
Problematik des Cartesianischen Ansatzes:
Zweifelsfrei ist die Existenz des zweifelnden Ich im Akte des Zweifelns. Descartes bezweifelt die
Sinneserkenntnis (es gibt Sinnestäuschungen) und auch mathematisches Wissen (es gibt kein
Kriterium zwischen Traum und Wirklichkeit; ein allmächtiger, aber betrügerischer Geist ist
theoretisch nicht ausgeschlossen). Die unbezweifelbare Instanz ist nicht der leibliche Mensch, weil
der Leib nur mit den Sinnen wahrgenommen werden kann, sondern eine leiblose, wie es Descartes
bezeichnet, Substanz.
Die sogenannte Bewußtseinsimmanenz als die letzte Sicherheit ist laut Descartes zweifelsfrei gewiß.
Ob allerdings dem, dessen ich gewiß bin, etwas in der Wirklichkeit entspricht, ist prinzipiell nicht
gewiß sondern zweifelhaft. So haben wir die Spaltung der Sphäre der zweifellosen
Bewußtseinsimmanenz und der zweifelhaften bewußtseinstranszendenten Außenwelt. Descartes
distanziert alles, sogar den eigenen Leib (Leib-Seele-Dualismus).
Dem entgegen steht unser sogenanntes "gelebtes" Weltverhältnis (Ich zweifle ja nicht tatsächlich an
meinem Leib oder anderen Gegenständen). Die Frage lautet, wie komme ich von der
Bewußtseinsimmanenz in die bewußtseinstranszendente Außenwelt?
Hier fällt Descartes in den ontologischen Gottesbeweis. Gott ist allmächtig und wahrhaftig (nicht
betrügerisch). Daher kann ich der philosophisch zweifelhaften Außenwelt dennoch trauen. Gott stellt
das Vertrauen in die radikal bezweifelte Außenwelt wieder her. Wie ist ohne dieses "missing link" aus
der Bewußtseinsimmanenz herauszukommen?
Ontologischer Gottesbeweis
Descartes unterscheidet verschiedene Vorstellungen (ideae), so z.B. von außen kommende Eindrücke
und angeborene Ideen. Eine solche ist unter anderem auch die idea dei, also die Vorstellung Gottes:
Der Sachgehalt dieser Vorstellung ist so, daß ich nicht der Ursprung dieser Vorstellung bin, weil diese
(also Gott) vollkommen und allmächtig ist, ich es aber nicht bin. So kann die Vorstellung nur bei Gott
ihren Ursprung haben. Betrügen (täuschen wollen) ist eine unvollkommene Handlung und somit nicht
gottgemäß. Dem Leib-Seele-Problem (heute: Materie-Geist-Problem) ist somit eine Lösung gegeben.
-8-
EMPIRISMUS
Hier liegt der Schwerpunkt auf der Sinneserfahrung als Quelle menschlicher Erkenntnis. Der Begriff
"Erfahrung" ist klärungsbedürftig: die sinnliche Wahrnehmung ist gemeint. John Locke und C. G.
Jung sind die bekanntesten Empiristen.
Locke sagt: "Nichts ist im Verstand, was vorher nicht in den Sinnen war." Gegenstand des Denkens
sind sogenannte ideas (engl.): die ideas of sensation (Vorstellungen der Sinneswahrnehmung) und die
ideas of reflection (alle Vorstellungen, die der Selbstwahrnehmung entstammen; nicht nur
Vorstellungen von der Art der Erkenntnis [cognitive Vorstellungen], sondern auch Gefühle [emotive
Vorstellungen]).
Für Locke gibt es keine angeborenen Vorstellungen. Der menschliche Geist gleicht einem leeren
Zimmer, das sich im Lernen füllt. Wir wachsen in den Gebrauch unserer Vernunft hinein. Idea ist
alles, was Gegenstand des Denkens ist. Als Beweis, daß es angeborene Vorstellungen nicht gibt, gibt
Locke den Säugling an, der nicht fähig ist, z.B. den Widerspruchsatz zu formulieren
(entwicklungspsychologisches Argument). Auch Schwachsinnige können das nicht.
Problem des Unterschiedes von Geltung und Genese: Genese ist das Beibringen einer Einsicht. Die
Art und Weise, wie ich zu dieser Einsicht gekommen bin, bestimmt nicht ihre Geltung.
Das Fundament der Erkenntnis sind bei Locke die sensations. Spricht Aristoteles von der Leere des
menschlichen Verstandes (tabula rasa), so meint er daß er die Möglichkeit der Fähigkeit dennoch hat
(Ich bin auch Musiker, wenn ich gerade nicht musiziere). Er meint nicht das Nicht-vorhanden-Sein.
Jung greift auf die Unterscheidung Lockes zurück. Gegenstand unseres Erkennens sind die
perceptions (Bewußtseinsinhalte). Er unterscheidet zwei Formen: impressions (Eindrücke) und ideas
(Vorstellungen). Zwischen diesen herrschen zwei Verhältnisse: ein Intensitätsunterschied und ein
Abbildunterschied.
Impressions sind die unmittelbaren Perzeptionen. Sie sind unmittelbar und intensiv. Jung zählt auch
feelings (das Emotive) dazu. Es gibt laut Jung äußere (mit den fünf Sinnen erfahrbare) und innere
(Gemütsbewegungen wie Liebe, Hoffnung, ...) impressions.
Das Abbildverhältnis besteht nicht zwischen Ding und impression, sondern zwischen impression und
idea. Das Zustandekommen der impressions ist bei Jung eine unbeantwortete Frage. Umgekehrt
müssen wir immer fragen, wo ideas auf impressions zurückzuführen sind. Wo dies nicht möglich ist,
besteht Sinnlosigkeitsverdacht.
4. UNZUREICHENDE ERKLÄRUNGEN DES ERKENNENS
Wie kommt man nun von innen nach außen, vom Subjekt zum Objekt? Weil wir im Alltag immer
schon draußen leben, muß die Philosophie diesen Vorgang erklären. Die Erkenntnistheorie versucht
diesen sogenannten Brückenschlag. Mit was wir vorphilosophisch problemlos umgehen, versucht sie
zu erklären. Folgende unzureichende Theorien werden wir behandeln: die Kausaltheorie, die
Abbildtheorie, die Schlußtheorie und die evolutionäre Erkenntnistheorie (die gegenwärtig aktuelle).
4.1. Die Kausaltheorie
-9-
Die Kausaltheorie ist historisch eine der ältesten Theorien (griechische Antike). Das Beispiel zur
Veranschaulichung der Theorie ist die Farbwahrnehmung (nach Rohracher).
Von einer wahrgenommenen Farbe wird gesagt, sie ist eine Empfindung, die wir haben, wenn die
Farbwellen ein Sinnesorgan (hier: das Auge) treffen und bestimmte Atom- und Molekülbewegungen
in diesem auslösen, aus denen diese Empfindung dann entwächst. Im Gehirn (Sehzentrum) entsteht
dann die Wahrnehmung z.B. grün. Bewußt wird nur das Endprodukt (Resultat) eines
Wahrnehmungsvorganges. Die bewußten Erlebnisse werden von den Erregungsprozessen im Gehirn
erzeugt. Reiz bedeutet "nicht mehr als die Ursache einer Empfindung".
5.4.1995
Die Kausaltheorie arbeitet also mit dem Reiz-Reaktions-Schema. Der Reiz ist die Ursache einer
Empfindung.
Dieser Ansatz erklärt nicht das, was er zu erklären vorgibt, das menschliche Wahrnehmen. Im ganzen
Reiz-Reaktions-Vorgang kommt das Wahrnehmen nie vor. Nirgendwo kommt der Gegenstand als
Wahrgenommenes und ich als Wahrnehmender, der Wahrnehmungsprozeß also, vor. Alles sind
physiologische Vorgänge, Prozesse elektrochemischer Art. Immer stößt man auf empirisch
beobachtete Reaktionen.
Die Kausaltheorie behauptet formelhaft, daß das menschliche Erkennen sich als Auswirkung von
vielen höchst komplizierten Einwirkungen ausweist.
Was ist das Positive an der Kausaltheorie? Es ist die Erfahrung, daß wir im Erkennen von den zu
erkennenden Gegenständen bestimmt werden. Der Charakter des Hinnehmens wird herausgestrichen
(das "realistische Moment" des Erkennens). Die Frage lautet: Was heißt hier "verursachen" des
Erkennens? Die sogenannte Effizienzursächlichkeit gibt es hier.
Die Selbstanwendung der Theorie ist aber nicht möglich. Die Theorie übersieht einen grundlegenden
Sachverhalt. Sie redet in Wahrheit von bereits Erkanntem. Reize sind Ursachen der Erkenntnis, die
selbst aber in Wahrheit bereits vom Kausaltheoretiker erkannte Gegenstände sind. Der gesamte
Kausalprozeß ist bereits etwas Erkanntes. Ein erkannter Gegenstand verursacht also Erkenntnis ...
Die Kausaltheorie erklärt nicht das Erkennen, sondern die Voraussetzungen, ohne die Erkenntnis
nicht möglich ist. Sie übergeht die Wahrnehmung, die Erkenntnis hat sie aus dem Blick verloren. Den
Rückschritt zum Gesamtphänomen zu erklären, ist ihr nicht möglich.
Es wird nicht erklärt, was menschliche Wahrnehmung ist. Beim Wahrnehmen bin ich ausdrücklich
auf das Wahrgenommene bezogen, unausdrücklich ursprünglich auf mein Bezogen-Sein-auf.
Die radikalen Konstruktivisten sagen, im Gehirn entsteht ein Bild. Damit man das sagen kann, muß
ein Unterschied zwischen diesem Bild und seinem Abbild (dessen, wovon es Bild ist; das
Abgebildete) erkannt sein.
Eine fotografische Platte ist nicht das, was sich auf ihr verändert. Die chemischen Veränderungen auf
ihr sind kein Bild, wie werden so interpretiert. Begreiflich gemacht werden soll: unser Erkennen. Ich
muß es als Erkennen im Blick haben und nicht als etwas anderes. Der erste Schritt ist nicht erklären.
Das Erkennen soll nicht im vorhinein stillschweigend umgedeutet werden in eine gegenständliche
Relation (Beziehung zwischen Gegenständen: ich und ein Gegenstand).
Die Kausaltheorie nimmt das Erkennen hinsichtlich seiner faktischen Voraussetzungen (als dadurch
Bedingtes) in den Blick. Bedingen ist nicht gleich Verursachen!
4.2. Die Abbildtheorie
- 10 -
Sie nimmt Elemente der Kausaltheorie und der Schlußtheorie in sich auf. Das Erkennen soll im
Abbilden der Wirklichkeit liegen.
Im Gegensatz zur Kausaltheorie sagt sie, daß die Auswirkungen in uns Abbilder sind. In uns subjektiv
Erzeugtes ist nicht Wirkliches, sondern nur Repäsentation der Wirklichkeit, Vorstellung.
Ausgegangen wird von einem solum ipse, einem in seiner Bewußtseinsimmanenz gefangenen Subjekt.
Die Befreiung daraus liegt in den Abbildern und dadurch in Rückschlüssen auf die Wirklichkeit.
Spricht man früher von Einbilden, spricht man heute von Engrammen (Einprägungen). Lenin und
Marx vertraten auch diese Theorie.
Die Abbildtheorie im engeren Sinne interpretiert die Auswirkungen als psychisches Abbild (auch als
Sinnempfindung, Sinnesdatum, etc. bezeichnet). Ein prominenter Vertreter ist Descartes. nach ihm
läßt sich nur sagen, daß den Abbildern, Empfindungen (sekundäre Qualitäten) eine gewisse, nicht
bekannte Beziehung zur Wirklichkeit zukommt. Nach der Abbildtheorie können wir nie sagen "Es ist
so ...", sondern höchstens "Es scheint so ..." . Das unmittelbar Gegebene ist nicht die Sache selbst,
sondern das Erscheinen als ob.
Die sogenannten Sinnestäuschungen, die die Abbildtheorie für sich als Argument in Anspruch nimmt,
können aber mit anderen Sinnen entlarvt werden. Kann daraus ein prinzipielles Mißtrauen gegen
Sinneswahrnehmungen abgeleitet werden? Worin besteht das Wissen vom Unterschied zwischen
Abbild und Realität? Die Abbildtheorie nimmt ein Vor-Wissen um das Original an. So können erst
Bilder als Bilder erkannt werden. Der klassische Einwand: Wie kann dieser Unterschied
wahrgenommen werden?
Ein weiterer Ansatz der Theorie ist der Ausgang vom Chaos an Sinneseindrücken. Dieses Chaos ist
aber ein Konstrukt. Eine Ordnung muß zunächst gedanklich erfaßt sein. So ist das Chaos nicht der
Ausgangspunkt, sondern das Resultat von Abstraktion. Die Abbildtheorie ihrerseits müßte auch aus
Sinneseindrücken entstehen. Das ist offensichtlich Nonsens.
Was ist ein Abbild? Zunächst läßt es ein anderes, das es selbst nicht ist, sehen (stellt es dar, vgl. das
Bild an der Wand aus Holz, Leinwand, Farbe, ...). Das abbildende Ding (genauer gesagt) bringt etwas
zum Vorschein.
Positiv ist bei der Abbildtheorie die sogenannte "Unmittelbarkeit". Wenn jemand ein Foto sieht, sieht
er unmittelbar das Abbild, nicht die Materialien (das Papier, ...). Beim Abbild halten wir uns
unmittelbar beim Abgebildeten auf. Das versucht die Abbildtheorie begrifflich zu machen.
Problematisch ist, daß wir auch das Abgebildete unmittelbar sehen. Das, was das Bild zum Bild
macht, wird gesehen. Man muß indirekt aber ebenso das Abbild sehen. Wie verhält es sich mit dem
Erkennen? Läßt sich dieses als Abbild erkennen? Die Abbildtheorie überspringt, daß das abbildende
Ding selbst wahrgenommen werden muß, um das Abgebildete zu sehen. Das Abbildende ist ebenfalls
ein Gegenstand der Wahrnehmung. Um das Abbild zu erkennen, braucht es laut Abbildtheorie wieder
ein Abbild, um dieses zu erklären ein drittes, für dieses ein viertes, ... - ein unendlicher Regreß.
Der Selbstwiderspruch der Theorie ist, daß sie einerseits meint, die Vorstellungen sind eine
verzerrende Wiedergabe des Originals, andererseits sollen die Prozesse der Wahrnehmung zutreffend
beschrieben werden. Die Abbildtheorie macht das Phänomen der Reflexion nicht begreiflich.
Wer ist diejenige Instanz, die die vielen Abbilder hat und sie so eint, daß sie auf einen Gegenstand
bezogen werden? Die Theorie macht auch nicht begreiflich, woher sie um den Unterschied von
Abbild und Gegenstand weiß. Auch sehen wir nicht Abbilder; wir haben Vorstellungen, sehen diese
aber nicht. Wir haben es nicht mit Boten der Realität sondern mit den Gegenständen selbst zu tun.
Bei einem Foto können wir eine Ähnlichkeit zwischen Abbild und Abgebildetem vergleichen. Dieser
Vergleich ist bei der Abbildtheorie nicht möglich.
4.3. Die Schlußtheorie
- 11 -
Die Schlußtheorie ist eine Reaktion auf die sensualistische Interpretation des Verstandes. Sie teilt
diesem die Aufgabe zu, zwischen den Bildern von außen auf deren Wirkungen und Ursachen zu
schließen. Wieder kommen die ersten Ansätze dieser Theorie von Descartes.
Das Problem ist das Schließen selbst. Woraus wird auf was geschlossen? Positiv ist, daß sie das
implizite Urteil in den Blick nimmt. Ausgang der Schlüsse sind die Sinnesdaten. Diese werden
interpretiert, auf deren Ursachen in der Außenwelt wird geschlossen.
Die Ursachen können prinzipiell auch andere sein als die erschlossenen. Können diese Ursachen auch
nicht außen sein? Die Unmittelbarkeit der Abbildtheorie wird aufgegeben. Das Erkennen ist Resultat
eines Schlusses, der immer Vermittlung ist - Vermittlung von Sinnesdaten.
Wir sind aber unmittelbar beim Wahrgenommenen. Wir hören nicht Schallwellen sondern Laute,
sehen nicht Lichtwellen sondern Gegenstände. Die Schlußtheorie vollzieht einen Schritt von innen
nach außen. Beim Wahrnehmen halten wir uns aber nicht innen auf. Unser Wahrnehmen ist stets
raum-zeitlich orientiert. Wir sehen nicht mit dem Auge, hören nicht mit dem Ohr, denken nicht mit
dem Gehirn. Der Mensch denkt! Woher überhaupt die Unterscheidung von außen und innen?
Allgemein (bei allen Theorien) muß das Erkennen als Erkennen betrachtet werden. Es ist viel leichter,
das schon im vorhinein zu interpretieren. Eine Erkenntnistheorie muß viele grundsätzliche Fragen
stellen (z.B. Was ist überhaupt ein Ding?). Die Fragen sind ontologisch.
10.5.1995
Die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung (Augenschein) darf nicht gegen naturwissenschaftliche
Erkenntnisse ausgespielt werden. Laut Descartes besteht eine Ähnlichkeit, wobei das sinnlich
Wahrgenommene vom Ding am weitesten entfernt ist. Ein Beispiel ist der Durchmesser der Sonne.
Beim Messen (geht vom Tastsinn aus; es kann mit Mathematik vergrößert oder verkleinert werden)
wird aber eine einzige Zugangsart zu einem Gegenstand die primäre.
Sprachgebrauch von "subjektiv" und "objektiv"
"Objektiv" sind die jeweiligen Dinge, "subjektiv" das Wahrnehmungserlebnis, sagt man.
Einen Wahrnehmungsakt ohne Wahrgenommenes gibt es aber nicht. Der intentionale Sinn des
Wahrgenommenen gehört zum Wahrnehmungsakt dazu. So haben wir zwei
Wahrnehmungsgegenstände: der wirkliche und der subjektive.
Sogenannte sekundäre Wahrnehmungsqualitäten (Farbe, Beschaffenheit, ...) gehören zum eigentlichen
Ding nicht dazu. Das rein Subjektive wird aus dem rein Objektiven herausgefiltert und diesem
entgegengestellt.
Begriffsgeschichtlich bedeutet subiectum das Zugrundeliegende, nicht das erkennende, vorstellende
Ich. Das bedeutete es erst seit der Neuzeit. Bis ins Mittelalter aber war das ein Grundzug des
Seienden.
Obiectum meinte ursprünglich das Sich-Darstellen des Seienden. Jedes sich darstellende Seiende ist
obiectum.
Ursprünglich sind also beide Begriffe allgemein ontologisch verstanden. Jedes Seiende ist gleichzeitig
subiectum und obiectum, wenn es gegründet ist und sich darstellt.
4.4. Die evolutionäre Erkenntnistheorie
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Sie vereinigt in sich alle bisherigen drei Ansätze.
Der Status der Theorie:
Hier werde auf die traditionell philosophische Frage eine naturwissenschaftliche Antwort gegeben.
Es gibt eine unterschiedliche Selbsteinschätzung der Vertreter (empirischer oder philosophischer
Anspruch). Der Basistext ist von Konrad Lorenz. Die Methode bleibt die vergleichende
Naturwissenschaft (Riedl).
Denkanstoß: Nicht alles, was zutrifft, ist auch schon eine Antwort in vollem Sinn. Nimmt das in der
Naturwissenschaft Gesagte auch Bezug auf das philosophisch Gefragte? Die einhellige Kritik der
Philosophen ist hier, daß die philosophische Fragestellung gar nicht verstanden worden ist.
Die Formel der Theorie:
Das ontogenetische Apriori wird erklärt als phylogenetisches Aposteriori.
Dahinter verbirgt sich die biologische Deutung dessen, was bei Kant das Vernunftapriori ist.
Zum Machen von Erfahrung bedarf es gewisser Leit- und Grundvorstellungen, die das Individuum
bereits mitbringt (die Anlage dazu ist angeboren). Sie sind also etwas in bezug auf das Individuum
Apriorisches (nicht durch Lernen erlangt, sondern Ermöglichungsbedingung für das Lernen).
Das für uns nun also Selbstverständliche ("ontogenetisches Apriori") sei bei unseren
stammesgeschichtlichen Vorfahren in ständiger Auseinandersetzung mit den Anforderungen der
Umwelt entstanden. Die Entstehung der Denkmuster (durch Naturmuster verursacht) wird also kausal
erklärt.
Die Ausgangslage der Theorie:
Ausgegangen wird von einer sogenannten "Tatsache", einer Passung (etwas paßt zu etwas anderem).
Die Denkstrukturen passen teilweise zu den Wirklichkeitsstrukturen (partielle Isomorphie). Diese
Passung wird als Anpassungsresultat im Laufe der Naturgeschichte erklärt (subjektive Muster passen
sich an die Wirklichkeit an).
Es wird also bereits von einem Unterschied zwischen Denk- und Wirklichkeitsmuster ausgegangen,
und das Verhältnis wird als partielle Isomorphie bezeichnet. Vernunft wird hier als Zweckrationalität
bezeichnet. Zweck ist das Überleben. Vernunft ist der Erfolg, erfolglos zu sein heißt unvernünftig zu
sein.
Die Grundannahmen der Theorie:
a) Gehirnfunktionspostulat: "Denken und Bewußtsein sind Funktionen des Gehirns, also eines
natürlichen Organs."
b) Wechselwirkungspostulat: Unsere Sinnesorgane werden von der realen Welt affiziert, d. h. die
Oberfläche unseres Körpers tauscht mit der Umgebung Energie aus. Einige solcher
Energieaustausche werden als Reize verarbeitet, im Gehirn dann weiterverarbeitet, interpretiert
als Information über die Außenwelt und bewußtgemacht.
c) Wahrnehmen und Erkennen ist Rekonstruktion. Die als hypothetisch vorausgesetzte Außenwelt
wird so durch das Gehirn rekonstruiert.
Die Kritik der Theorie:
1) Philosophieren heißt streng denken. Die Formulierung ist nicht gleichgültig. Hier wird das Gehirn
als Organ zum Wahrnehmungssubjekt. "Gehirnmythologie" wird betrieben. Das Gehirn denkt
aber nicht, sondern der Mensch ist es, der denkt. Hier wird das Subjekt also verdoppelt. Wer
könnte sagen: "Mein Gehirn denkt."? Etwa das Gehirn selbst? Wir sind nicht unser Gehirn.
Woher weiß das Gehirn um eine Außenwelt? Interpretieren heißt ein irgendwie schon
Verstandenes auszulegen. Wie macht das Gehirn etwas "bewußt"?
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2) Das ontogenetische Apriori als phylogenetisches Aposteriori zu erklären, macht nur einen
Unterschied in der Zeit. Die Kausaltheorie wird nur zeitverschoben wieder aufgestellt. Alle Kritik
an dieser trifft also auch hier wieder zu.
3) Wahrnehmen ist keine Rekonstruktion. Wenn es das wäre, bräuchte ich Rekonstruktionsmaterial.
Wie ist mir nun dieses gegeben? Wenn dieses Rekonstruktionsmaterial wahrgenommen wird,
wird es rekonstruiert. Rekonstruktion wird also rekonstruiert (infiniter Regreß).
Wenn Wahrnehmung Rekonstruktion ist, woher weiß ich dann, daß ich es eigentlich mit einer
bestimmten Person und nicht mit einer anderen zu tun habe? Es ist das gleiche Problem wie bei
der Abbildtheorie. Ein Vor-Wissen um das Original wird angenommen.
4) Ist Wahrnehmung partielle Isomorphie von Denk- und Wirklichkeitsstrukturen? Ich habe laut der
Theorie nie beide rein für sich vorliegen, um sie vergleichen zu können.
5) Alle Aussagen über die Realität sollen Hypothesencharakter haben. Die Totalisierung des
Hypothetischen hebt aber das Hypothetische auf. Die Hypothese läßt sich nicht überprüfen, nicht
falsifizieren, weil gar nichts als real erkannt und somit mit dem Hypothetischen verglichen
werden kann.
Der positive Erklärungswert der evolutionären Erkenntnistheorie ist, daß sie nicht das Erkennen,
sondern die faktischen Voraussetzungen des Erkennens im naturgeschichtlichen Aspekt erklärt.
Heidegger: Die Seinsart des beweisen-wollenden Subjektes (des Menschen) sei unzureichend, um die
Realität der Außenwelt zu beweisen. Der Skandal in der Philosophie sei, daß er dies dennoch immer
wieder versucht.
"Bedingung"
Eine terminologische Deutung auf dem Hintergrund der Subjekt-Objekt-Differenz. Bedingung ist ein
Oberbegriff. Man unterscheidet logische, ontische und transzendentale Bedingung.
logische Bedingung: Sie geht in einen Vollzug mit ein, ist im Vollzug unthematisch mitgesetzt. Sie
betrifft den Inhalt (Geltung und Berechtigung der inhaltlichen Setzung).
ontische Bedingung (faktische Voraussetzung): Sie geht nicht in den Vollzug ein. Sie ist als wirklich
vorausgesetzt, wenn der Vollzug funktionieren soll.
transzendentale Bedingung: Sie geht in den Vollzug ein. Sie ist dort unthematisch mitgesetzt, aber sie
betrifft nicht das Vollzogene (die inhaltliche Setzung), sondern den Vollzug. Eine transzendentale
Bedingung ist z.B. das Verstehen von Sein.
5. DIE FRAGWÜRDIGKEIT DER ERKENNTNISTHEORIE UND
DER ANSATZ EINER PHILOSOPHIE DER ERKENNTNIS
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5.1. Der problematische Ausgangspunkt der
Erkenntnistheorie
Wie muß eine Philosophie der Erkenntnis ansetzen?
Der problematische Ansatz liegt in der Annahme eines weltlosen solum ipse (ich). Es geht um die
Frage der Gewißheit des Erkennens, das fundamentum inconcussum. Hier kommt es zur Trennung von
Bewußtseinsimmanenz und Außenwelt. Wir müssen nach der Herkunft dieser Unterscheidung fragen.
In den neuzeitlichen Theorien bleibt diese Herkunft ungefragt.
Der Wille zur zweifelsfreien Gewißheit reißt erst die Kluft (Subjekt-Objekt-Spaltung) auf, die die
neuzeitlichen Theorien zu beantworten, überbrücken suchen. Die Frage nach der Sicherheit ist aber
erst die sachlich zweite. Zuerst muß gefragt werden, wieso überhaupt etwas erscheint.
Das Subjekt wird auf seine Vermögen (Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft) geprüft. Mit diesen geht es
dann ans Brücken Schlagen. Die Trennung von ich und Welt ist eine Voraussetzung für eine
Erkenntnistheorie (im eingeschränkten Wortsinn).
5.2. Der Ansatz einer Philosophie der Erkenntnis
Die erste Aufgabe lautet, den Weltbezug des Menschen zu thematisieren, weil es ein sogenanntes
"weltloses" Ich gar nicht gibt.
Wahrnehmen ist immer ein verstehendes Wahrnehmen, gegenwärtig Haben von etwas als etwas. Das
ist bereits eine Weise unseres Weltbezugs.
Ursprünglich ist alles menschliche Wahrnehmen geleitet von einem Verständnis der Welt und der
Dinge in ihr. Wahrnehmung (Bestimmung von etwas als etwas) ist von der Sprache abhängig. Dieses
Verständnismoment (die als-Struktur) muß unbedingt in einer Erkenntnistheorie vorkommen.
Die ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Mensch und Welt
Diese Erkenntnis wird von der Erkenntnistheorie immer schon übersprungen. Deshalb kommt man
erst zur Kluft und zum dann nötigen Brückenbauen.
Uns umgibt, begegnet eine Mannigfaltigkeit, die uns so oder so anspricht (auch das nicht menschlich
Seiende). Die Dinge kommen als so oder so bedeutende zum Vorschein und geben von sich her zu
verstehen.
Unser Verhalten ist bereits Antwort auf dieses Angesprochen-Sein. Auch die Erkenntnis hat diesen
Antwort-Charakter. Wir sind also vom uns Begegnenden so oder so bestimmt. Das personale
Angesprochen-Sein ist das erste. Die anderen haben uns zu unserer Selbständigkeit verholfen (z.B.
lernen wir Sprechen im Angesprochen-Werden). Hier können wir uns willentlich nicht hineinbegeben.
Erst wenn wir bereits angesprochen worden sind, können wir uns der Sache ausdrücklich zu- oder von
ihr abwenden.
Angesprochen-Sein ist immer eine Weise der Selbst-Gegenwart (nicht erst Reflexion). Nur der
Mensch kann sagen: "Ich bin da." (bin mir gegenwärtig, erschlossen). Nur dem Menschen ist die
Erschließung seines Seins möglich. Was Selbst-Anwesenheit, Selbst-Gegenwart besagt, ist etwas
Ursprüngliches, auf nichts mehr zurückführbar. Sie ist nicht Introspektion (Selbstbeobachtung).
Dieser ist genauso wie der Rekonstruktion als Ermöglichungsbedingung die Selbst-Gegenwart
vorausgesetzt. Was mit Selbst-Gegenwart beschrieben wird, meint nicht ein weltloses solum ipse.
17.5.1995
- 15 -
Uns ist nicht nur etwas gegenwärtig, sondern auch der Umkreis (Bezirk, Horizont), aus und in dem
uns die Dinge begegnen. (Das Problem der Welt deutet sich hier an.) Der Umkreis selbst ist kein
Gegenstand. Wir werden sehen, daß er letztlich die Welt selbst ist.
Mensch zu sein, heißt immer schon im All-Bezug zu stehen. Es handelt sich um ursprünglich
Zusammengehöriges. Es ist keine nachträgliche Zusammenstückung von selbständig Bestehendem.
6. DER ANFANG DES ERKENNES
6.1. Die Welt der Kenntnis
Die Grundstruktur menschlicher Vollzüge
Immer vollziehen wir etwas, ob mehr aktiv oder passiv. Wir haben es immer mit dem anderen unserer
selbst zu tun. Das gehört ursprünglich zu unserer Selbst-Gegenwart. Unser Hören, Sehen, etc. ist ganz
von der Gegenwart des anderen erfüllt, es ist die Gegenwart des anderen.
Bei diesem Phänomen gibt es kein davor und danach. "Etwas ist da und dann sehe ich es." gibt es
nicht. Diesen Punkt haben die bisherigen Ansätze übersprungen.
Es ereignet sich die Selbigkeit einer einzigen Vollzugswirklichkeit. Wir halten uns nicht in einer
Repräsentation der Welt auf, nicht bei Abbildern der Realität, nicht bei Wirkungen, auf deren
Ursachen wir schließen müßten. Wir haben es mit dem anderen selbst, nicht mit Stellvertretern zu tun.
Unsere Selbst-Gegenwart ereignet sich als Gegenwart des anderen. (Das gilt auch im Traum.)
Die negative Gegenprobe besagt, daß ein Sehen ohne Gesehenes kein Sehen ist, ein Hören ohne
Gehörtes kein Hören, eine Selbst-Gegenwart ohne Gegenwart des anderen keine Gegenwart. Niemals
sind wir ein solum ipse. Niemals sind wir ein weltloses "Ich denke". Wo von einem reinen Ich
gesprochen wird, haben wir es bereits mit einem Produkt der Reflexion zu tun, die nach dem
zweifelsfrei gesicherten Wissen sucht.
Es besteht eine Selbigkeit (Identität) zwischen dem Vollziehenden und dem Vollzogenem im Vollzug
(Vollzugsidentität, energetische Identität). Nur von dieser energetischen Identität (Vollzugsidentität
vom Denken und seinem Gedachten) her kann eine Verzerrung der Wirklichkeit, aber auch eine
Rechtfertigung des "Wissens" geschehen.
Wir müssen zwei Weisen von Identität unterscheiden. Die energetische Identität ist nicht ontisch zu
verstehen (das andere ist mit sich selbst identisch; ich werde das andere). Thomas: Erkenntnis
geschieht, daß das andere in irgendeiner Weise im Erkennenden ist. Denn der Erkennende ist selbst
das Erkannte als Erkanntes.
Es gibt auch nie eine ich-lose Welt. Welt meint nicht die unendliche "Raumschachtel", Welt meint
einen Raum von Gegenwart, das Ganze eines Horizonts, in dem wir begegnen, der unausdrücklich im
Begegnen immer miterfahren wird. Wir sind der Welt inne, indem wir auf Seiendes verstehend
bezogen sind. Die Offenheit der Welt geschieht als unser Inne-Sein von Welt.
Wir schaffen Welt nicht. Wir können uns eine Welt ohne uns jedoch auch denken. Die Welt ohne uns
ist aber in Wahrheit die von uns vorgestellte Welt ohne uns, also so trotzdem wieder eine Welt für
uns. Wo die Möglichkeit des Inne-Seins von Welt nicht gegeben ist (Stein, Pflanze, Tier) kommt es
nicht zur Lichtung von Welt. Das Sein des Seienden begründet nicht die Offenheit zur Welt. Der
Mensch allein kann die Welt vernehmen, ist ihr "fähig", kann dem Raum von Gegenwart inne sein.
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"Können" meint hier nicht Fähigkeit. Eine solche kann erworben werden, ist auch begrenzt, bestimmt.
Die Gegenwart von Welt ist nicht etwas Unterschiedenes von anderem gegenständlich
Unterschiedenem. Alle Fähigkeiten des Menschen sind von diesem Inne-Sein-Können von Welt
umfaßt. Die ursprüngliche Eröffnetheit von Welt können wir nicht entweder tun oder unterlassen.
Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die verbreitete Annahme, daß dem erkennenden Subjekt und dem
erkannten Objekt die gleiche Art von Wirklichkeit zukommt, zu korrigieren ist (außer es handelt sich
um zwei Menschen).
"Welt" wird auch im Plural verwendet. Es kann ein Teilbereich eines Ganzen (Welt des Handwerkers,
Künstlers, ...) oder eine Welt als Ganze (Welt Mozarts, Welt Goethes, ...) oder eine Welt als
historische Periode (Welt des Mittelalters, der Post-Moderne, ...) gemeint sein. Teilwelten sind uns
mit-gegenwärtig, erschlossen. (Wer die Welt der Kunst nicht irgendwie kennt, sieht in den
Kunstwerken nur ökonomisch verwertbare Produkte.) Diese Teilwelten sind umfangen von der Welt
einer geschichtlichen Epoche. Gewisses hat eine Bedeutung, anderes tritt in den Hintergrund. Vieles
ist nicht mehr möglich, vieles war nicht möglich.
Welt im Sinne einer geschichtlichen Epoche ist auch ein qualitativ bestimmter Raum von Gegenwart,
der den Dingen einen bestimmten Grundzug verleiht, daß sie uns so oder so bedeutsam werden. Keine
Welt ist einfachhin geschlossen. Andere (vergangene) Welten können in einem gewissen Sinn von uns
verstanden werden (wenn auch in gewandelter Weise).
Welt ist nicht fix und fertig vorgegeben, sie wandelt sich (Geschichtsgang). Wir können eine
gewesene Welt nicht einfach zur unseren machen, aber sie kann durchaus noch Bedeutsamkeit für uns
haben, Fragen an uns richten. Auch die eigene Welt kann neu werden. Die Möglichkeit des Wandels
von Welt macht uns aufmerksam, daß unsere Welt nicht der letzte Horizont aller Welt ist. Im
Verstehen des Seins sind wir der Unabgeschlossenheit der Welt inne. Welt meint die jeweils
sprachlich-geschichtliche Erschlossenheit von Sein.
Zur traditionellen Terminologie: Das, wodurch uns Menschen Sein erschlossen ist, wurde früher
psyché oder nous genannt. "Die Seele ist gewissermaßen alles Seiende." (Aristoteles) "Der Mensch
steht im Allbezug." (Thomas)
Weil der Mensch im Seinsbezug steht, begegnen uns die Dinge nicht nur als etwas zu Meidendes, in
arterhaltender Zweckmäßigkeit, im Hinblick unserer Interessen, sondern auch als Seiende im Hinblick
ihrer selbst. Die Seinsweise des Menschen beruht in der Seinserschlossenheit. Das muß in einer
Erkenntnistheorie mitbedacht werden.
Wir sind von Seiendem angesprochen und auf Seiendes bezogen. Wir stehen immer im Weltbezug.
Die Mannigfaltigkeit von Seiendem und der Raum für das Seiende (die Welt), also zweierlei Gegenständliches und die Welt - ist uns gegenwärtig.
Beiden entsprechen unterschiedliche Vollzugsweisen. Seiendes ist uns in einem ontischen Vollzug,
die Welt ist uns in einem transzendentalen Vollzug erschlossen. Sein ist ja kein Seiendes sondern
durchzieht und übersteigt so Seiendes. Es handelt sich aber nicht um zwei getrennte Vollzüge, die
nacheinander gemacht werden. Das Inne-Sein von Welt ereignet sich nur in den ontischen Vollzügen.
Der transzendentale Vollzug ist eine Ermöglichungsbedingung. Sein wird jeweils mitverstanden,
mitvernommen.
Wenn von Weltbezug gesprochen wird, so ist dieser in seiner Einzigartigkeit, in seiner
Unvergleichbarkeit zu sehen. Alles mir gegenüber ereignet sich in einem Erschließen der Welt. Die
Welt hat kein Wo. Die als-Struktur (etwas als etwas wahrnehmen) gründet im Weltbezug.
6.2. Die Dialektik der Erfahrung
Vorbemerkung:
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Welche Sprache soll gewählt werden? Wir müssen uns an die vier unzureichenden Theorien erinnern.
Die Zurückweisung dieser enthält einen Hinweis auf die Ermöglichungsbedingung der Frage nach den
Ursprüngen menschlicher Erkenntnis.
Wir sind auf zu Erkennendes angewiesen. Wie ist diese Angewiesenheit zu denken? Sicher nicht in
einem kausalen Zusammenhang. Welche Begrifflichkeit ist erforderlich für die Erklärung? Sie muß
dem Phänomen entsprechend, angemessen, passend sein.
24.5.1995
Die Dialektik der Erfahrung (nach Gadamer)
Etwas kommt von ihm selbst her zum Vorschein, erscheint, gibt zu verstehen. Nicht wir führen die
Erfahrung herbei. Das erste ist das Auf-uns-Zukommen. Was hier auffällt, ist das, was Gadamer die
Sprachlichkeit des Seienden nannte. Diese Sprachlichkeit ist nichts, was irgendwann einmal zum
Seienden dazukommt, es ist ein gleich ursprünglicher Grundzug des Seienden, auch des Seins (eine
Transzendentalie, Grundzug des Seins: das verum). Zu sein heißt immer schon zu verstehen geben.
Eine Erfahrung geschieht nicht in irgendeinem Vakuum, sondern sie ereignet sich in einem Verstehen,
sie betrifft mein Selbst- und Weltverständnis. Daraus ist die Erfahrung nicht ableitbar, rückführbar.
Erfahrung besagt Aufbruch, Einbruch von Neuem. In der Erfahrung werden wir vom Erfahrenen
bestimmt (hinnehmender Charakter des Erfahrens).
Achtung: Der Ausdruck "bestimmt sein von" meint nicht eine reine Abbildung eines fix und fertigen
Dinges. Unser Seins- und Weltverständnis ist nämlich mitbestimmend dafür, wie das Neue uns
angeht, auf welche Weise wir das Neue erfahren, welche Momente in den Vordergrund treten. Zum
Machen von Erfahrung gehört Offenheit für Erfahrung (aktives, dynamisches Moment der Erfahrung).
Diese Offenheit muß von uns vollbracht werden. Die Frage ist, ob dieses aktive Moment als
Konstruktion hinreichend begriffen werden kann (Konstruktivismus).
Wir werden bestimmt im Uns-bestimmen-Lassen ("Dialektik der Erfahrung"). In manchen Fällen kann
uns eine neue Welt aufgehen.
Gadamer: "Die Dialektik der Erfahrung hat ihre Vollendung nicht in einem abschließenden Wissen
sondern in einer durch die Erfahrung selbst freigeschriebenen Offenheit."
6.3. Die Ursprünge des Erkennens
Methodische Vorbemerkung:
Immer wenn man die Frage nach Ursprüngen stellt, hat man zuerst klarzustellen, was dasjenige ist und
welche Struktur es hat, dessen Ursprünge festgestellt werden sollen. Bei den vier neuzeitlichen
Theorien wurde das (die Vollzugsidentität) übersprungen. Bei den Ursprüngen des Erkennens geht es
um die ermöglichenden Gründe der Vollzugsidentität.
Methodisch sind jetzt einige Dinge zu beachten:
1. Es ist immer auf den Unterschied zwischen dem ermöglichenden Grund (principium) und dem
Ermöglichten (principiatum) zu achten. Ontologisch: Bei der Frage nach Gründen von Seiendem
kann nicht wieder nach Seiendem gefragt werden (ontologische Differenz). Es muß also von
ermöglichenden Gründen anders geredet werden wie vom Gegründeten.
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2. Ein ermöglichender Grund ist niemals direkt zugänglich. Direkt zugänglich ist immer nur das
Gegründete. Ein ermöglichender Grund besteht nicht für sich selbst. Er besteht nur im Gründen,
Freigeben. Von den Gründen muß auch wirklich das begreiflich gemacht werden, was dann
vorliegt, das, von dem wir ausgegangen sind.
3. Die Differenz zwischen ermöglichendem Grund und Gegründetem gibt es nur in der Vernunft, im
Denken. Die Gründe sind aber nicht nur etwas bloß Logisches sondern etwas Reales, wenn auch
ungegenständlich Reales.
4. Die Gründung selbst ist nichts, was sich zwischen Seienden abspielt. Sie ist nichts Zweites neben
dem Gegründeten. Ontologisch: Seiendes ist, indem es aus seinen Gründen hervorgeht.
5. Die Art, wie die ermöglichenden Gründe nun wirken, ist nicht zu verwechseln mit dem dem
Gegründeten zugeschriebenen Wirken.
Die Ursprünge des Erkennens:
Der Ausgangspunkt ist die Selbigkeit des Vollzugs (Vollzugsidentität). Gleichwohl weist diese
Selbigkeit zumindest zwei Ursprünge auf. Wir dürfen die Selbigkeit in unserer Theorie über sie nicht
wegbringen.
Einerseits sind wir im Erkennen auf etwas Vorgegebenes angewiesen. Andererseits ist nicht
jedwelche Beziehung (Relation) zwischen zwei Dingen eine Erkenntnis. Dieser zweite Ursprung ist
im Seinsverstehen des Menschen zu erblicken.
Denkerische Schwierigkeit: So gesehen ist die Selbigkeit ein Resultat aus zwei Ursprüngen. Das
Resultat ist aber eine Selbigkeit. Diese soll begrifflich gemacht werden. Es handelt sich offensichtlich
um ein Resultat ganz einzigartiger Art. Es ist keine Synthese. In der philosophischen Literatur treten
Begriffe wie ursprüngliche Synthesis oder ursprüngliche Einheit auf.
1. Ursprung: Wir sind angesprochen, bestimmt von dem zu Erkennenden im Erkennen.
Die Tatsache, daß wir fragen, läßt erkennen, daß wir selbst nicht der Ursprung der Bestimmtheit des
zu Erkennenden sind. Wenn wir etwas als etwas bestimmen, ist dies ein Nachvollzug einer dem
Seienden bereits zukommenden Bestimmung. Der eine Ursprung ist die dem Seienden schon
zukommende Bestimmtheit. Es ist die sogenannte Logizität ("Sprachlichkeit").
Die Vorordnung des Seins vor dem Erkennen ist etwas Grundsätzliches, da ja das Zu-verstehenGeben eine transzendentale Bestimmung des Seins ist. Diese Vorordnung kann man expressis verbis
leugnen, sie aber faktisch nicht zum Verschwinden bringen.
Aristoteles: "Nicht weil unser Urteil wahr ist, bist du weiß, sondern weil du weiß bist, ist unser Urteil
wahr."
Die von uns erkannte Bestimmtheit des Vorgegebenen ist nicht einfachhin identisch mit der
ursprünglichen Bestimmtheit des Seienden selbst. Die Logizität des Vorgegebenen ist im Grunde
unerschöpflich. Bei jeder Antwort auf eine Frage treten immer wieder neue Fragen auf. Thomas: "Die
Wesenheiten der Dinge sind uns unbekannt."
Unser Erkennen ist nicht ein Punkt-für-Punkt-Abtasten der Welt. Es handelt sich um einen
Nachvollzug der dem Seienden vorgegebenen Bestimmtheit. Bliebe man hier stehen (bei der jeweils
bestimmten Fraglichkeit), ginge man aber nicht weit genug.
2. Ursprung:
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Erkenntnis ist nicht nur Auswirkung auswärtiger Einwirkungen auf ein Subjekt. Erkennen ist nicht
eine Art Veränderung an etwas. Wahrnehmen ist z.B. kein Umgeformt-Werden.
Thomas unterscheidet eine inmutatio naturalis (die Bestimmung des Verändernden [forma] ändert
sich beim Wahrnehmen) und eine inmutatio spiritualis (die Bestimmtheit des Wahrgenommenen wird
dem esse spirituale [meint den jeweiligen Anblick, den etwas bietet] nach aufgenommen).
Voraussetzung für die inmutatio spiritualis ist eine entsprechende Seinsweise auf seiten des
Aufnehmenden. Es handelt sich nicht um eine reale Veränderung sondern um ein GegenwärtigWerden von etwas.
Der Unterschied muß deshalb getroffen werden, weil es nicht mit jeder Veränderung automatisch zu
einer Wahrnehmung kommt. In der inmutatio spiritualis kommt etwas in seine Gegenwart, erscheint
etwas.
Wie kann überhaupt etwas als etwas in je bestimmter Weise gegenwärtig werden? Der Horizont muß
unendlich, grenzenlos sein. Nur im Unterschied zu dem an ihm Unendlichen kann das Endliche
gegenwärtig (ausdrücklich) werden. Die Vernunft ist auf ihre Weise unendlich. Die Vernunft macht
das Endliche ausdrücklich (aktives Moment des Erkennens). Die Vernunft macht das Endliche aktuell
erkennbar (im Unterschied zum Unendlichen). Es ist die menschliche Vernunft, die im Zulassen der
Hinnahme der Bestimmtheit der Dinge aktiv ist.
Der zweite Ursprung des Erkennens liegt in der Unendlichkeit der seinsvernehmenden Vernunft.
Wo Unendliches eröffnet wird, ist das Endliche als Endliches ausdrücklich. Damit etwas als das zur
Sprache kommen kann, was es ist, braucht es die menschliche Vernunft. Wir schaffen nicht das
Seiende, sondern bringen es zur Sprache, lassen die Dinge zum Vorschein kommen.
Das die Dinge zur Sprache kommen Lassen liegt in der Vielfalt der menschlichen Sprachen. Diese
sind verschiedene Weisen der Aufgliederung des Seienden (eine Vielfalt, kein Nachteil).
Vorgaben, wie etwas zur Gegenwart kommt:
Die menschliche Vernunft ist durch solche Vorgaben (leiblich-naturaler wie sozio-kultureller Art)
bestimmt.
Triebstrukturen sind zur Arterhaltung da (leiblich-naturale Vorgaben). Sozio-kulturelle Vorgaben sind
geschichtlich bedingt (individuale wie epochale Geschichte). Auch z.B. die Sprache, die wir sprechen,
enthält Vorgaben, wie etwas gegenwärtig wird, obwohl wir in diese nicht "eingesperrt" sind (vgl. die
Vielfalt der Welten, keine Welt ist abgeschlossen). Wenn wir nach den Vorgaben fragen, fragen wir,
welcher Art sie sind und worin sie gründen.
Welcher Art sind diese strukturierenden Vorgaben?
a) empirisch-modifikative Vorgaben:
Sie lassen sich an einem einfachen Beispiel festmachen. "Es klopft" hat viele Vorgaben: daß
jemand vor der Tür steht und will, daß sie geöffnet wird, daß er draußen steht und ich drinnen, daß
er erwartet wird oder unerwartet kommt usw. Das Beispiel zeigt, daß es Verstehensvorgaben gibt,
die durch die Erfahrung bestätigt oder widerlegt (modifiziert) werden können. Man spricht von
empirisch-modifikativen Vorgaben, die einen hypothetischen Charakter haben. Dieses
Vorverstehen bezieht sich auf die jeweiligen Wahrnehmungsinhalte. Damit ist aber nur die eine
Seite der Vorgaben gegeben.
b) konstitutive Vorgaben:
Zum Beispiel daß die wahrgenommenen Dinge wirklich und nicht bloß ausgedacht sind. Wir
verstehen immer schon, was das heißt: wirklich sein. Ohne ausgearbeitete philosophische Theorie
verstehen wir das, was wirklich existiert. Wir verstehen auch Unterschieden-, Anders-Sein. Wir
verstehen auch Eigenschaften.
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Diese Inhalte dieses Vorverständnisses sind nicht von der Art, daß wir sie aus Lernen und
Erfahrung gewinnen können. Sie betreffen nicht den Inhalt des Wahrgenommenen sondern die Art
und Weise, wie etwas gegenwärtig wird.
Was Wirklich-Sein besagt, kann nicht so herausgearbeitet werden wie die Vorgabe, ob der HS 47
sich im Hauptgebäude der Universität befindet oder nicht. Was Wirklich-Sein heißt, ist keine
Hypothese, ist nicht empirisch. Ähnlich ist es bei Eigenschaften. Was Eigenschaft-Sein-von heißt,
ist die Ermöglichungsbedingung für das Feststellen von Eigenschaften.
Die konstitutiven Vorgaben bedingen die Möglichkeit der empirischen Vorgaben.
31.5.1995
Konstitutive Vorgaben betreffen die Art und Weise des Sich-Zeigens-von. Konstitutive Vorgaben
teilen sich in kategoriale und transzendentale Bedingungen. Diese Unterscheidung zu treffen, ist
Sache der Ontologie.
Worin gründen diese konstitutiven Vorgaben? Was es heißt zu sein, ist nichts, was wir aus Erfahrung
lernen können. Das Seinsverständnis ist nicht evolutiv zu erklären (das fiele in die Kausaltheorie
zurück). Das heißt aber nicht, daß schon jeder Mensch bei der Geburt das Seinsverständnis hat, aber
es heißt, daß der Mensch sein Sein verstehen kann.
Die Frage nach der Herkunft des Seinsverständnisses ist identisch mit der Frage nach der Herkunft
des Menschen. Daß es zur Entfaltung des Seinsverständnisses kommt, braucht es Begegnung von
Seiendem - ein umgekehrter Bezug, weil das Ermöglichende an das Ermöglichte gebunden ist.
Daß das Seinsverständnis nur im Begegnen von Seiendem wirksam wird, heißt nicht, daß es dieser
Begegnung entstammt. Es herrscht eine wechselseitige Verwiesenheit. Keines der beiden Momente
(Seinsverstehen und Begegnung mit Seiendem) kann für sich allein bestehen. Die Selbigkeit im
Vollzug kommt zum Vorschein.
Die beiden Ursprünge des Erkennens sind also von der faktischen Vollzugsidentität aufeinander
verwiesen. Diese Verwiesenheit weist auf eine ursprünglich Gemeinsames hin. Beide Momente
entstammen demselben.
Philosophiegeschichtliches zur Frage nach der Wurzel der Vollzugsidentiät:
Die Verwiesenheit der beiden Ursprünge wurde im Mittelalter als ein Partizipationsgedanke
ausgelegt. Beide haben also am selben teil. Bei Platon ist es die Teilnahme am Weltlogos. Bei
Thomas von Aquin ist die Erkennbarkeit des Seienden im göttlich-schöpferischen Erkannt-Sein der
Dinge gegründet.
Bei Kant kommt es zu einer einseitigen Betonung der Vernunft. Daß etwas überhaupt zum Erscheinen
kommt, impliziert ein Erscheinen-für (die Vernunft). Dieser Gedanke wird dahin gewendet, daß das
Erscheinen der Dinge durch die Vernunft konstituiert wird. Das Erscheinen für die Vernunft ist von
der Vernunft grundgelegt. Nun kommt alles zum Erscheinen, also ist die Vernunft transzendental
grundgelegt. Kant folgert weiter, daß das Seiende als solches an sich für uns unerkannt bleibt. Wir
haben es immer nur mit dem Erscheinen für uns zu tun. Die Selbigkeit von Sein und Erscheinen wird
bei Kant aufgelöst. Das überhaupt Erscheinen ist der Reflex der menschlichen Vernunft.
Schelling hat Kant gefragt, wie es seinerseits begreiflich ist, daß das Ding zu einem erscheinenden
Objekt für uns werden kann, es die Potentialität dazu hat. Das überspringt Kant. Der Deutsche
Idealismus fragte, wenn bei Kant die menschliche Vernunft, die ja endlich ist, Grund allen Erkennens
ist, wie dann die Dinge affizieren können. (Die Dinge sind bei Kant die affizierende Instanz.)
Der Deutsche Idealismus setzt bei der liegengelassenen Differenz zwischen transzendentalem Objekt
und erkennendem transzendentalen Subjekt an, um auf die ursprünglichen Gemeinsamkeiten zu
schließen. Was für das Subjekt ist, ist auch durch das Subjekt. Dieser Grundsatz ist neu. Das
- 21 -
transzendentale Objekt darf der Vernunft nichts Äußerliches sein. Das Ding an sich wird zu begreifen
versucht als durch die Vernunft gesetzt.
Die Vernunft ist also nicht mehr die endliche Vernunft. Nicht mehr das endliche Subjekt setzt das
Ding an sich, sondern das absolute Subjekt. Die Grundfigur des Deutschen Idealismus ist, daß das,
was für das endliche Subjekt vorausgesetzt ist, als Setzung des absoluten Subjekts zu begreifen
gesucht wird. Endlichkeit des Subjekts wird als Entzweiung des absoluten Subjekts zu begreifen
versucht. Die Frage Schellings war, warum sich dieses absolute Subjekt dauernd entzweien muß (ein
"Gott ohne Selbst").
Was macht man jetzt mit solchen historischen Ansätzen? Pöltner meint, daß die Frage nach der
Wurzel der Vollzugsidentität nicht restlos zu beantworten ist. Die plausibelste Form, mit den
Schwierigkeiten fertig zu werden, ist wohl die Ausführung des Partizipationsgedankens.
Pflichtlektüre: Pöltner, G., Evolutionäre Vernunft. Eine Auseinandersetzung mit der Evolutionären
Erkenntnistheorie (Urban-TB 449; Stuttgart 1993). Kapitel 9.2.1. zum Konstruktionismus.
7. DAS GESPRÄCH ALS ORT DER WAHRHEIT
7.1. Der Begriff "Wahrheit"
Adäquationstheorie
"Veritas est adaequatio rei et intellectus" (Thomas). Wahrheit ist die Angleichung des Intellekts und
der Sache.
Diese adaequatio kann von zwei Richtungen her angegangen werden. Sachen können Maß und
Richtschnur des Intellekts sein, der Intellekt gleicht sich also der Sache an. Darin besteht die
Wahrheit. Oder: der Intellekt kann Richtschnur und Maß für Sachen sein. Das erste ist fast wörtlich
bei Aristoteles zu finden. Kant sagt Jahrunderte später, daß die Frage der Angleichung eine Banalität
sei.
Die Schwierigkeiten der Adäquationsformel:
Vorbemerkungen: Wenn sich der Intellekt an die res angleicht, handelt es sich um die logische bzw.
Aussagewahrheit. Wenn die res sich an den Intellekt angleicht, spricht man von der ontischen bzw.
Sachwahrheit (ein "wahrer" Edelstein, Freund entspricht der Idee von Edelstein, Freundschaft und
sieht nicht nur so aus wie).
Umgangssprachlich sagen wir statt "wahr" auch "echt" oder "wirklich" (ein Metall, das nur so
aussieht wie Gold, ist aber auch wirklich). Mit "wirklich" ist noch nicht das Wahre eines Seienden
ausgesprochen. Nach Hegel ist die Sachwahrheit sogar der tiefere Sinn der Wahrheit. Dinge sind
wahr, wenn sie so sind, wie sie sein sollen.
1. Was heißt intellectus? Übersetzt wird das Wort gewöhnlich mit "Verstand". Als verständige
Wesen vollziehen wir, wenn wir schließen, urteilen. Für Thomas steht intellectus für den
urteilenden Verstand. Nur das Urteil kann wahr oder falsch sein. Nicht ist der intellectus quod
quid est wahr oder falsch. Der Verstand, Begriffe, ... sind weder wahr noch falsch.
2. Was heißt hier res? Die erste Assoziation ist ein Körperding. Das Problem tritt auf, wenn die
Nicht-Existenz behauptet wird und diese Behauptung wahr ist. Wie soll sich der Verstand einem
Nicht-Wirklichen angleichen?
- 22 -
3. Was heißt adaequatio? Übereinstimmung liegt in urteilendem Verstand und res. Etwas stimmt mit
etwas überein. Das wird festgestellt durch Vergleichen. Übereinstimmung hinsichtlich von etwas
(z.B. der Farbe) wird festgestellt. Wie ist so eine Übereinstimmung bei res und intellectus zu
verstehen? Bsp.: Das Geldstück ist rund. Das Urteil darüber hat keine Form. Die Aussage selbst
müßte ganz zum Geldstück werden, um übereinzustimmen. Das gelingt ihr nie. Die
Unmöglichkeit des Vergleichs wird festgestellt. Die Übereinstimmung kann nicht als Vergleich
angesetzt werden.
Das Objekt müssen wir so haben (d. h. es erkannt haben), wie es ist. Der Vergleich zwischen
erkanntem Objekt und Erkennen ist überflüssig. Beim Vergleich wird die Aussage zu einem zweiten
Ding gemacht. Eine gemeinsame Hinsicht, auf die hin Objekt und Aussage verglichen werden
könnten, gibt es nicht. So wurde der Adäquationstheorie in der Philosophiegeschichte der Abschied
gemacht.
Muß aber der Begriff der adaequatio nur so (als Vergleich) genommen werden? Die Unmöglichkeit
eines Vergleichs führte jedenfalls zu anderen Wahrheitstheorien.
7.2. Wahrheitstheorie
Wahrheitstheorien im Kontext der Sprachanalytik
Semantische Theorie der Wahrheit (Tharsky)
Wahrheit ist eine Eigenschaft eines Sprachgebildes. Tharsky will den Begriff "wahr" sachlich
angemessen definieren (in einer künstlichen, formalisierten Sprache). Ausgangspunkte seiner
Überlegung:
1. Der Ausdruck "wahr" kommt Aussagen zu, muß also immer auf eine bestimmte Sprache bezogen
werden.
2. Tharsky versucht mit seiner Wahrheitstheorie zu verhindern, daß Antinomien (Widersprüche, die
in einem logischen System ableitbar sind) in einem geschlossenen Sprachsystem auftreten.
Solche Antinomien treten auf bei der Selbstanwendung semantischer Ausdrücke. Ein Beispiel ist die
Lügnerantinomie (der Kreter sagt: "Alle Kreter lügen."). Tharsky sagt, die Aussage heißt genauer: "Es
ist wahr, daß alle Kreter lügen." Er schlägt vor, die Sprache in eine Objektsprache (reden in einer
Sprache) und eine Metasprache (reden über eine Sprache) zu unterscheiden. Seine Theorie der
Wahrheit zielt darauf ab, daß der Ausdruck "wahr" der Metasprache angehört. Die adaequatio wird
auf die Äquivalenz zweier sprachlicher Ausdrücke zurückgeführt.
Bsp.: "Heute scheint die Sonne." Dieser Satz (über ihn und nicht über die Sonne reden wir) zieht den
objektsprachlichen Ausdruck an. Die Aussage "p" ist genau dann wahr, wenn p. Es herrscht eine
Inhaltsgleichheit (Äquivalenz).
Bemerkung zur semantischen Wahrheitstheorie:
Die Definition des Ausdrucks "wahr" gilt für formalisierte Sprachen. Hier beginnen Anfragen an
diese Wahrheitstheorie, denn die formalisierte Sprache muß mit Hilfe der natürlichen Sprache
gedeutet werden. Wie kann die formalisierte Sprache auf interpretierbare Phänomene angewendet
werden? Die Verständigung über die formalisierte Sprache geschieht in der natürlichen Sprache, wo
immer Vieldeutigkeiten auftreten. Das heißt, die von der semantischen Wahrheitstheorie geforderte
Inhaltsgleichheit geht verloren, weil sie Eindeutigkeit fordert. Um die natürliche Sprache kommen wir
nicht herum.
Redundanztheorie der Wahrheit
- 23 -
Sie ist eine Fortsetzung der Semantischen Wahrheitstheorie. Man sagt, der Begriff "wahr" sei
redundant (Gegenbegriff zu informativ-relevant, was unentbehrlich für die Übermittlung einer
Nachricht meint). Die Grundthese der Redundanztheorie der Wahrheit (z.T. Ramsey) sagt, der
Ausdruck "wahr" bringt keine zusätzliche Information über das hinaus, was ohnehin behauptet wird.
"Es gibt kein unabhängiges Wahrheitsproblem sondern nur eine Sprachverwirrung."
Performative Wahrheitstheorie (Strawson)
Zum Begriff "performativ":
Im Zuge von Analysen der Rede hat Austin Äußerungen geortet, die wie Behauptungen aussehen,
aber keine sind. Sie wollen etwas bewirken, sind "performativ". Sie sind nicht konstativ (feststehend).
Bsp.: "ich verspreche dir", "ich warne dich", ...
Zum Ausdruck "wahr":
Er ist nicht überflüssig, weil er die Zustimmung zum Ausdruck bringt. "Es ist wahr" meint "ich
stimme zu". Es ist nicht primär die semantische Frage, sondern wie ein Aussagesatz jeweils gebraucht
wird, steht im Vordergrund.
7.6.1995
Die Kohärenztheorie der Wahrheit
Sie zieht die Konsequenz aus der Erkenntnis, daß Wirklichkeit und Erkenntnis nicht verglichen
werden können. Sie sagt, daß nicht Erkenntnis und Wirklichkeit miteinander vergleichbar sind,
sondern immer nur Erkenntnis mit anderer Erkenntnis. Wir können immer nur Sprachliches mit
Sprachlichem verleichen.
Worin besteht nun die Wahrheit einer Aussage? Sie besteht in der widerspruchslosen Integrierbarkeit
in die übrigen Aussagen eines Aussagensystems. Damit wird das Wahrheitsproblem zu einem rein
logisch-sprachlichen Problem. Man verweist in diesem Zusammenhang auf Urteile über Vergangenes
(z.B. Cäsar ist am 15. März 44 v. Chr. ermordet worden). Der Satz nimmt nicht Bezug auf eine
Tatsache (Cäsar existiert ja nicht mehr), sondern auf Urteile über eine Tatsache.
Einwände von Russel und Schlick:
Russel wendet ein, daß die Kohärenztheorie eine Voraussetzung macht (daß es nur ein kohärentes
System von Aussagen gibt), die kohärenztheoretisch nicht mehr erklärt werden kann. Gäbe es nämlich
zwei oder mehrere Systeme, müßten sie in ein darüber liegendes System integriert werden können.
Gäbe es hier zwei Systeme, ... - Man käme in einen endlosen Regreß.
Die Kohärenztheorie gehe zudem von einem nicht kohärenztheoretischen Wahrheitsbegriff aus, indem
sie die Wahrheit der Denkgesetze (z.B. des Widerspruchsatzes) akzeptiert. Sie sind nämlich
Voraussetzungen, um ein Aussagensystem überhaupt erst bilden zu können. Der Einwand von Schlick
besagt, daß die Kohärenztheorie den Unterschied von Wahrheit und Sinn eines Satzes einebnet
(nivelliert). Wahrheit und Sinn würden gleichgesetzt. Man könne ein Märchen erfinden, daß kohärent
ist.
Pragmatische Wahrheitstheorie (Nützlichkeitstheorie)
Hier wird der Ausdruck "wahr" gleichgesetzt mit "gute Auswirkungen habend", "nützlich sein". Das
"trial and error"-Verfahren wird vorgeschlagen. Sätze werden zunächst für wahr gehalten, und dann
wird geschaut, ob sich mit ihrer Hilfe befriedigende Erfahrungen ergeben. Ein Vertreter ist William
James.
- 24 -
James ging von subjektiven Erfahrungen aus und wendete sie auch im religiösen Bereich an. Sind
religiöse Überzeugungen nützlich für den Mut im Kampf? Wenn z.B. jemand, der in der Überzeugung
steht, daß der Tod nicht das Ende bedeute, besser kämpft, ist der Satz wahr.
Einwand:
Wenn das Zutreffende durch Erfolg und Mißerfolg bestimmt wird, ist die Überprüfung dieses Satzes
selbst (Selbstanwendung) ohne einen nicht-pragmatischen Wahrheitsbegriff unmöglich.
Konsensustheorie der Wahrheit
Sie konzentriert sich auf den Geltungsanspruch von Sätzen, näherhin auf die Einlösbarkeit dieses
Geltungsanspruches. Wahrheit eines Satzes besteht in der Konsensfähigkeit dieses Satzes. In einem
Diskurs (argumentierendes Miteinander-Sprechen) wird Übereinstimmung, Zustimmung hinsichtlich
eines problematischen Satzes erzielt. Berühmtester Vertreter der Theorie ist Jürgen Habermas.
Partner eines Diskurses kann nicht irgendjemand sein. Sie müssen sachkompetent, sprachkundig,
gutwillig (Sachaufgeschlossenheit wird verlangt) sein und gewisse moralische Einstellungen
mitbringen. Zudem dürfen die Partner nicht schwachsinnig sein. Zusammenfassen lassen sich alle
Eigenschaften in die Vernünftigkeit. "Vernünftig" ist ein Mensch, der aufgeschlossen ist und sein
Reden nicht durch bloße Traditionen oder Emotionen leiten läßt. Für Habermas ist die
Konsensustheorie die Basis für eine gesellschaftliche Revolution im Sinne des Neomarxismus.
Die Konsensustheorie heißt auch Transzendentalpragmatik. Die Ermöglichungsbedingung für einen
Konsens ist für Habermas ein herrschaftsfreier Diskurs. Dieser kann in unserer Gesellschaft noch
nicht geführt werden. Im herrschaftsfreien Diskurs "gilt nur der eigentümlich zwanglose Zwang des
besseren Arguments". Der herrschaftsfreie Diskurs wird in jedem Gespräch unausdrücklich als
Maßstab vorweggenommen. "Wahr" ist also jene Aussage, die unter einem herrschaftsfreien Diskurs
zu ermitteln wäre (nur in einer idealen Lebensform möglich).
Hier ist zu unterscheiden:
Theoretischer Diskurs: Aussagen über Sachverhalte. Der Terminus "Wahrheit" wird verwendet.
Praktischer Diskurs: Es geht um Normen für das Handeln. Der Terminus "Richtigkeit" (besagt
Geltungsanspruch) wird verwendet.
Das Problem der Unterscheidung im Horizont des praktischen Diskurses ergibt sich. Laut Habermas
gibt es hier kein Kriterium von außen, sondern die Form des Diskurses, die Art und Weise, wie dieser
geführt wird, liefert die Unterschiede.
Die ideale Kommunikationsgesellschaft gibt es faktisch noch nicht. Im Zusammenhang der
Konsensustheorie wird von Vorwegnahme des herrschaftsfreien Diskurses gesprochen (Antizipation).
Die faktisch geführten Diskurse sollen sich daran angleichen. Der ideale Diskurs besitzt regulative
Funktion.
Anfragen an die Konsensustheorie:
Wie steht es um die Wahrheit der Konsensustheorie selbst (Selbstanwendung)? Kann die
Konsensustheorie den Konsensus-Test bestehen? Das Problem bezieht sich auf die Ausschaltung der
Fehlerquellen. Wenn wir den herrschaftsfreien Diskurs noch nicht haben, wie sollen wir die ideale
Gesellschaft verwirklichen? Wir müssen die Fehlerquellen kennen. Die Subjekte des faktischen
Diskurses, die diese Sätze formulieren, stehen ja selbst unter den Einflüssen der noch vorhandenen
Fehlerquellen.
Wie lassen sich die transzendentalen Ermöglichungsbedingungen des idealen Diskurses erkennen?
Die Wahrheit der Konsensustheorie muß geeignet sein, über sich selbst einen Konsens zu erzielen.
Den Kriterien zu entsprechen, ist aber noch nicht die Erfüllung des Wahrheitsanspruches. Auf
konsenstheoretischem Weg ist diese Frage nicht mehr zu beantworten.
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Sätze, welche die Grundlagen, Voraussetzungen des idealen Diskurses betreffen, lassen sich ihrerseits
wiederum nicht konsensuell rechtfertigen. Die Konsensustheorie rekuriere Einsicht in die
Voraussetzungen, die transzendentalen Ermöglichungsbedingungen eines idealen Diskurses.
Problem des Adäquationsbegriffes der Wahrheit
Sämtliche bisher skizzierten Wahrheitstheorien leben insgeheim von einer impliziten Anerkennung
des adäquationstheoretischen Wahrheitsbegriffs, von dem sie sich verabschieden wollten. Sie bringen
allesamt unverzichtbare Elemente zur Sprache, aber um den harten Kern kommt man nicht herum:
Was heißt es, Aussagen treffen zu?
Definitionsvorschläge betreffend den Ausdruck "wahr" zu machen, genügt nicht. Er erhebt sich ja
wieder die Frage, ob diese Definitionsvorschläge zutreffen oder nicht, ob sie wahr sind oder nicht.
Stellte man die Frage nicht, lände man in einer Willkür von Vorschlägen.
Es stellen sich also zwei Anfragen:
1. Wir müssen erneut auf die Adäquationsformel zurückgreifen. Es wird zu fragen sein, ob nicht der
Ausdruck "Übereinstimmung" anders genommen werden kann (nicht als Vergleich).
2. Wir müssen Erläuterungen über den Unterschied zwischen Gespräch und Diskurs machen.
"Veritas est adaequatio intellectus et rei."
"INTELLECTUS" (wörtl. "Verstand") ist das erste. Gemeint ist, daß das Gesagte wahr oder falsch
ist. Nur auf eine ganz bestimmte Form des intelligere trifft die Formel zu. Intellectus heißt das
Gesagte. Das Gesagte steht in der adaequatio cum re. (Vgl.: Das Thema der Logik ist das Urteil.)
Grammatikalische Gebilde, die keine Sätze sind, sondern nur so aussehen, gibt es auch. Nur im
Modus des Behauptens ausgesprochene Sätze stehen in der Möglichkeit, wahr oder falsch zu sein. Ein
Schauspieler auf der Bühne behauptet nicht, in Sprachbüchern gibt es Sätze zu Übungszwecken, die
nichts behaupten, usw. Daß es sich mit intellectus um etwas Gesagtes im Modus des Behauptens
handelt, bringt die Frage nach der res, nach dem, mit dem das Gesagte übereinstimmen soll, hervor.
"RES" meint nicht einfachhin ein Körperding. Wie steht es mit Vergangenem, Nicht-Existierendem?
Es sind die res apprehensae. Eine Sache ist erfaßt, indem sie gemeint ist; die Sache, wie sie erfaßt ist,
ist res. Wahr ist eine Aussage, wenn sie mit dem Sachverhalt übereinstimmt. Dann ist das Gesagte
wahr, wenn es sich mit der Sache so verhält, wie es gesagt wird, wenn das Gesagte etwas Sachhaltiges
zur Sprache bringt.
Was ist ein Sachverhalt? Er ist nicht, was Wittgenstein anführt: eine Verbindung von Gegenständen
(Sachen, Dingen). In Sach-Verhalt steckt: es verhält sich so. Thomas: "Wir können nicht sagen, daß
das Laufen läuft." Ein Sachverhalt hat nicht die gleichen Bedingungen wie die Sache. Was ein
Sachverhalt meint, besteht nicht losgelöst vom sprachlichen Intendieren, Meinen. Der Sachverhalt ist
die Sache, wie sie gemeint ist, das sprachlich gegliederte Erscheinen von etwas (nicht das
Erscheinende).
Erst dort, wo das Sich-Zeigen von etwas differenziert und darin geeint wird, kommt es zu einem
Sachverhalt. Nicht dadurch, daß die Sache zerteilt wird, sondern durch die Gliederung des
Erscheinens von etwas kommt es zum Sachverhalt. Die Differenz von Sachverhalt und Sache ist nicht
gegenständlich.
In der Philosophiegeschichte hat man eine Unterscheidung durchgeführt. Das einfache Vernehmen
von etwas (intellectus incomplexus; einfaches Gegenwärtig-Haben von etwas noch vor seiner
ausdrücklichen Gliederung) wurde unterschieden vom intellectus componens et dividens (urteilender
Verstand). Die Gliederung ist vielfältig und geschieht je nach der Sprachstruktur.
Wenn also ein Sachverhalt besteht, wenn das in der Behauptung Gesagte zutrifft, haben wir es mit
Wahrheit zu tun. Worin liegt das, womit das Gesagte übereinstimmen soll, wenn es nicht existiert
- 26 -
(z.B. Einhorn, Pegasus)? Wenn ich zurecht etwas über Pegasus sage, rede ich ja nicht über einen
gedachten Pegasus. Es ist besser, den Ausdruck "Übereinstimmung" unter den Tisch fallen zu lassen,
nicht aber das Anliegen der Adäquationstheorie. Der Terminus gewinnt einen neuen Sinn: ein
Sachverhalt besteht, wenn die Intention des Gesagten erfüllt ist (Heidegger). Dieser Ansatz umgeht
das Problem des Vergleichen-Wollens.
Was ist das Intendierte (das sprachlich Angezielte)? Das Seiende selbst ist die Antwort, nicht
irgendwelche Stellvertreter in uns; auch dann, wenn über etwas nicht Aktuelles (etwas leibhaftig nicht
vor mir Habendes) gesprochen wird. Dann habe ich es im Modus des bloßen Intendierens. In beiden
möglichen Fällen (unmittelbares und mittelbares Gegenwärtig-Haben) habe ich es mit der Sache
selbst zu tun, nur in verschiedenen Modi. Die unmittelbare Gegenwart einer Sache ist die Erfüllung
einer bloßen Leerintention.
Wenn ich eine Aussage mache, erhebe ich mit ihr einen Geltungsanspruch. Woran sich das Gemeinte
ausweist, damit es nicht ein bloß Gemeintes bleibt, ist die unmittelbare Gegenwart des Intendierten.
"Das Gesagte trifft zu." heißt, der Sachverhalt ist nicht bloß gemeint, sondern besteht. Die Intention
ist erfüllt. Erfüllung meint Identifikationsmöglichkeit des Gemeinten mit dem unmittelbar Gegebenen.
14.6.1995
Heidegger hat also vorgeschlagen, den Sinn von Übereinstimmung als Erfüllung einer
Aussageintention zu verstehen. Der Begriff der Leerintention wurde eingeführt: auch wenn uns etwas
nicht unmittelbar gegenwärtig ist, ist uns die Sache selbst gegeben, allerdings eben in der Form der
Leerintention. Eine Aussage trifft für Heidegger zu, wenn das Gemeinte, Intendierte mit dem
unmittelbar Gegebenen identifiziert werden kann. Identifiziert wird das im Modus der Leerintention
Gemeinte mit dem unmittelbar Gegebenem.
Heidegger weist darauf hin, daß die Identifikation nicht äußerlich gefaßt werden darf. Ein ZurDeckung-Bringen des leer Vorgestellten und des Angeschauten ist intentional. Als intenionale weiß
die Leervorstellung um sich selbst, daß sie sich ausweist.
Das Wissen um sich selbst der Ausweisung ist meist unausdrücklich, unreflektiert. Dieses Moment
bezeichnet Heidegger als Evidenz. Dieses unthematische Wissen um sich selbst ist nichts
Nachträgliches. Es ist ein Moment der Identifizierung selbst. Nie sind wir bloß auf Gegenständliches
bezogen, sondern wir wissen auch um unser Bezogen-Sein-auf. Das zeigt sich z.B., wenn man die
Frage stellt: "Was habe ich jetzt eigentlich gemacht?"
Würden wir die Rechtmäßigkeit einer Erkenntnis erst mit einer zweiten Erkenntnis erkennen, bräuchte
es eine dritte Erkenntnis, um die Rechtmäßigkeit dieser zweiten Erkenntnis zu erkennen usw.
(endloser Regreß). Ein Kriterium der Wahrheit gibt es also nicht. Die Wahrheit ist ihr eigenes
Kriterium. "So wie das Licht sich selbst und die Finsternis erhellt, so ist die Wahrheit ihr eigenes Maß
und das des Falschen." (Spinoza)
Hier ist keine Trivialität ausgesprochen, sondern es ist die grundsätzliche Schwierigkeit, daß sich
"Zutreffen eines Gesagten" nicht von woanders herleiten läßt, uns vor Augen geführt. Der Sinn des
Ausdrucks "es trifft zu" läßt sich nicht mehr durch etwas Bekannteres ausweisen. Wenn Wahrheit
erkannt wird, wird nur das Zutreffen eines Gesagten erkannt.
Das Zutreffen des Gesagten ist das alleinige Kriterium. So ist Wahrheit ihr eigenes Kriterium. Daraus
ergeben sich zwei Konsequenzen:
1. Die Wahrheit einer Aussage hängt nur davon ab, ob etwas zutrifft oder nicht.
2. Die Wahrheit einer Aussage hängt auch nicht von meinem Erkennen des Zutreffens ab. Eine
Aussage wird nicht dadurch wahr, daß ich ihr Zutreffen erkenne. Die Wahrheit einer Sache ist
nicht die Verifikation ("Wahrmachung" - ein folglich irreführender Ausdruck). Die Wahrheit
einer Sache wird mir beim Erkennen des Zutreffens nur ausdrücklich.
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Thomas v. Aquin unterschied bei der Wahrheit erstens die Wahrheit einer Aussage und zweitens das
Erkennen der Wahrheit einer Aussage (cognoscere verum). Erst beim Zweiten kommt das Erkennen
zu seiner Perfektion (perfectio intellectus). Es kann also jemand eine wahre Aussage machen, ohne
auch darum zu wissen. (Ein blindes Huhn findet auch ein Korn.) Wie oft übernehmen wir etwas
Erkanntes auf die Autorität eines anderen hin.
Thomas sagt, daß Wahrheitserkenntnis drei Momente impliziere:
a) Es muß ein Behauptungssatz vorliegen.
b) Es muß etwas geben, auf das das Gesagte zutrifft oder nicht.
c) Das Zutreffen selbst muß erkannt sein.
7.3. Grundzüge und Voraussetzungen des Gesprächs
Wir müssen uns um den Unterschied zwischen Diskurs zund Gespräch bewußt sein. Deshalb sollte ein
Gespräch phänomenologisch analysiert werden. Bei der Konsensustheorie der Wahrheit wird dem
Diskurs ein besonderer Stellenwert gegeben. Es ist aber schon jedes Miteinander-Reden ein
Gespräch.
Unterscheidung zwischen Diskurs und Gespräch
Beim Diskurs bei Habermas werden die Formen des Gesprächs von ihm her und auf ihn hin bestimmt.
Ein Miteinander-Reden hat noch nicht die Form des herrschaftsfreien Diskurses. Es stellt sich die
Frage, ob der Diskurs der ursprünglichen Gesprächserfahrung entspricht.
Der Diskurs ist eine Art von Kampf, ein Kampf mit Argumenten. Entscheidend ist ein Gegeneinander
der streitenden Parteien, die in den Diskurs eintreten. Ziel ist ein Ausgleich, ein Konsens bei diesem
Gegeneinander. Beim Gespräch ist eine anfängliche Gemeinsamkeit die Basis. Wo diese nicht
gegeben ist, dort ist die Möglichkeit eines Gesprächs nicht gegeben. Die Gegenrede im Gespräch hat
einen anderen Status wie im Diskurs. Es wird nicht mit Argumenten Stellung bezogen. Es geht nicht
um ein pro oder contra, sondern darum, eine gemeinsame Sache weiterzubringen. Es geht darum, die
gemeinsame Sache überhaupt erst ans Licht zu bringen, sie schrittweise und gemeinsam zu entbergen.
Es geht überhaupt erst um ein Gewinnen von Verständnis über eine Sache. Beim Diskurs ist dieser
Vorgang schon abgeschlossen. Es werden nur noch Argumente für bereits bezogene Positionen
gesucht.
Beim Gespräch geht es um die Gewinnung eines sachentsprechenden Verständnisses. Das Ziel eines
Gesprächs ist also auch im Konsens. Anstelle des Kampfes tritt eine Verhandlung. Im Diskurs geht es
um Verständigung, um eine Durchsetzung des eigenen Standpunktes bis zur Grenze der Gewalt.
("Man läßt mit sich reden.") Der Unterschied zum Gespräch ist, daß die Einigkeit im Gespräch die
Teilnahme am Gespräch ist. Eine Auflistung des Ergebnisses in Punkten ist nicht das Ziel des
Gesprächs. Das ist aber kein Mangel des Gesprächs, weil es so der Unerschöpflichkeit der uns
umgebenden Wirklichkeit entspricht.
Wenn wir sagen, ein Gespräch "ergibt sich", so meinen wir, daß es sich nicht bewerkstelligen läßt.
Ebenso hat es kein festes Ende, sondern klingt aus. Das Zum-Vorschein-Kommen einer Sache entsteht
im Miteinander-Reden. Eine Sache wird im Gespräch entborgen.
Ein Gespräch gewinnt eine sehr schwer in Worte zu fassende Eigenständigkeit. Es entsteht nur, wenn
Menschen miteinander sprechen. Wir sagen: "Wir nehmen an einem Gespräch teil." Die
Eigentümlichkeit ist, daß wir an etwas teilnehmen, das nur durch unser Teilnehmen existiert. Kein
Gesprächspartner hat das Vermögen, allein das Gelingen eines Gesprächs zu bewerkstelligen. Auch
ein Fest, ein Spiel muß gelingen.
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Der Diskurs hat die Beendigung eines Konflikts zum Ziel. Das Gespräch strebt nach der Wahrheit, ist
keine Diskussion, in der auch das kämpferische Element vorherrscht. Bei einer Diskussion geht es um
den Beweis, die intellektuelle Selbstbehauptung. Im Gespräch herrscht das dialogische Moment vor,
die Diskussion ist eine Folge von kleinen, aufeinander folgenden Monologen.
Im Gespräch geht es um ein wechselseitiges Helfen. Es braucht das Wohlwollen der
Gesprächspartner. Deshalb ist das Monologische nicht abgewertet. Man muß auch oft allein
nachdenken, kann nicht immer und zu allem sofort etwas sagen. Platon: "Das Gespräch ist konstitutiv
für das Zum-Vorschein-Kommen der Sache."
Die Fähigkeit zu reden und die Fähigkeit zu hören
Was sonst im Hintergrund liegt, gewinnt im Falle des Gesprächs an Bedeutung: wir sprechen in jedem
Sprechen über etwas (auch non-verbal) uns selbst aus. Im Sachgespräch aber, wo das MiteinanderSein nicht ausdrücklich ist, steht dieses nicht im Vordergrund.
Das Wort im Gespräch hat einen Bekenntnis-Charakter. Es gehört Mut dazu, "sich in ein Gespräch
einzubringen". In der Antwort erfährt man dann, wie seine Meinung aufgenommen wird. Der Mut zu
sprechen ist ein Verzicht auf eine intellektuelle Selbstbehauptung.
Die Fähigkeit zu hören ist, die Offenheit für den anderen zu wahren. Das Sich-Einlassen auf andere ist
eine Haltung des Sich-Loslassens, des Erneuerns bzw. Ausbesserns der eigenen Anschauungen. Hören
ist nicht ein bloßes Unterbrechen des eigenen Redens. Vielmehr ist Hören im Horizont des VerstehenKönnens und Verstehen-Wollens angesiedelt.
Hören impliziert Schweigen, ein Sich-Offenhalten für den anderen. Hören ist nicht das Gegenteil von
Sprechen, sondern beides gehört untrennbar zusammen. Sprechen ist ein Hören, wenn es ein EntSprechen der Sprachlichkeit des Seienden ist.
Ob der Logizität des Seienden Raum gegeben wird oder nicht, ist von der Haltung der
Gesprächspartner abhängig. Es gibt auch ein Mißtrauen als Grundhaltung zum Seienden selbst. Es ist
eine Art Selbstimmunisierung, daß man von nichts mehr berührt wird, weder von Negativem noch von
Positivem.
Die Sprache als Machtmittel einzusetzen, ist auch möglich (z.B. Schmeichelei mit dem Ziel, etwas
vom Partner zu bekommen). Hier wird das Wort mißbraucht.
8. DAS PERSONALE ERKENNEN ALS URFORM DES
ERKENNENS
Es ist darauf aufmerksam zu machen, daß das Erkennen von Dingen nicht ursprünglich ist, sondern
das personale Erkennen. Dem Glauben und Vertrauen wird traditionell nur eine Vorstufe zum Wissen
zugebilligt.
Die Urform des Erkennens ist das personale Erkennen. Hier geht es um das Miteinander-Sein selbst.
Die Miteinander-Redenden geben einander als Personen zu erkennen. Sie teilen einander mit.
8.1. Das Erkennen von Dingen als abkünftige Form des
Erkennens
- 29 -
Das Erkennen von Dingen stellt eine abkünftige Form des Erkennens dar (was allerdings kein
Werturteil ist). Abkünftigkeit meint, daß etwas, was ursprünglich ein Moment ist, nun in den
Vordergrund gestellt wird.
Wir sind die primär Angesprochenen. Das ist das Ursprüngliche. Unser Bestimmen von Dingen (etwas
als etwas) bedingt das Sprechen-Können. Sprechen lernen wir im Angesprochen-Sein von jemandem.
So wachsen wir in die Weltoffenheit, in das Welt- und Selbstverständnis hinein.
Im sogenannten Sachgespräch ist immer ein personales Erkennen impliziert. Etwas als nicht
menschlich zu erkennen, basiert auf dem Erkennen des Menschlichen. Auch dort, wo wir etwas allein
erforschen, lebt das personale Erkennen. Im Allein-Sein habe ich mich bereits von anderen her
verstanden. Der fundamental dialogische Charakter des Erkennens kommt zum Vorschein.
21.6.1995
Wo wir Nicht-Menschliches zur Sprache bringen, ist zu bedenken, daß unser Sprechen gegründet ist
im Angesprochen-Sein von anderem. Was heißt das Uns-angesprochen-Haben? Es ist eine SelbstMitteilung des anderen. Aufgrund des Sich-zu-erkennen-Gebens des anderen sind wir ins Erkennen
gewachsen. Das Erkennen des personalen Angesprochen-Seins ist die ursprüngliche Form des
Erkennens.
Sich zu erkennen zu geben, in der höchsten Form sich einander zu erkennen zu geben, wird zurecht
mit "Glaube" bezeichnet.
Der Glaube
Die Philosophiegeschichte orientierte sich am apersonalen Daß-Glauben, der hier als Vorstufe des
Wissens gilt, von dem her er interpretiert wird. Diese Vorstufe hat überholt zu werden. Bis heute hat
sich hier nichts geändert. Das ist nicht ursprünglich! Glauben hat im Deutschen eine zweiteilige
Bedeutung:
1. "Ich glaube, daß p." (etwas eintrifft, einer recht hat, ...)
2. "Ich glaube dir."
Die erste Form bezieht sich auf Sätze. Die zweite Bedeutung (personaler Glaube) bezieht sich auf
Personen. Beide Bedeutungen sind allerdings oft nicht ganz zu trennen.
Formen des apersonalen Daß-Glaubens
− Glaube als bloße Meinung (Nicht-Wissen)
− Glaube als Vermutung, Annahme (Noch-nicht-Wissen)
− Glaube im Sinne des sogenannten Autoritätsglaubens (Glauben auf die Kompetenz eines anderen
hin): Die Sachkompetenz des anderen kann man wieder wissen oder nur glauben. Ausdruck findet
der Autoritätsglaube bei jeglicher Frage nach Auskunft, beim Lernen der Kinder,... Ein Fortschritt
in der Wissenschaft wäre ohne Autoritätsglauben nicht möglich. Wissen heißt hier, eigene
Einsicht in den Sachverhalt zu haben.
− Glaube als praktische Vorwegnahme
Der Glaube des Für-wahr-Haltens von Sätzen ist prinzipiell überprüfbar. Die Personen, die den zu
glaubenden Inhalt (die Sätze) vermitteln, sind austauschbar. Wenn ein Richter die Sätze eines Zeugen
glaubt, ist z.B. der Grund die Konkordanz der Aussagen. Es ist ebenfalls eine Form des apersonalen
Glaubens.
- 30 -
Die Gemeinsamkeiten des Daß-Glaubens:
1. Der Glaube bezieht sich auf Sätze, die prinzipiell von jedem überprüft werden können.
2. Der Adressat des Daß-Glaubens ist prinzipiell austauschbar. Wer die Annahme überprüft, ist
gleichgültig. Der Daß-Glaube ist "apersonal".
Der Glaube wird erst einem Einer-Bestätigung-Bedürfendem gleichgesetzt. Grund der
Glaubwürdigkeit ist etwas Außer- bzw. Vorpersonales.
3. Auch der Glaubende bringt sich nicht voll und ganz als Person ein. Die Personalität sowohl des
Glaubenden als auch dessen, dem geglaubt wird, bleibt im Falle des Daß-Glaubens im
unthematischen Hintergrund. Daher erweist sich der Daß-Glaube als abkünftige Form des
personalen Erkennens.
8.2. Der personale Glaube
In der Literatur wird er auch als "Du-Glaube" bezeichnet. Es ist der Glaube, in dem Personen einander
inne werden. Er ist einerseits die Basis zwischenmenschlicher Beziehungen und andererseits die
höchste Form menschlichen Miteinander-Seins.
Das Verstehen von personalem Sein (das Verstehen dessen, was "du" heißt), ist unableitbar. Bei der
Theorie der Erkenntnis des Fremd-Psychischen wurde das erkannt:
Wenn mich jemand anblickt (-lächelt, -starrt, etc.), wird dies bei dieser Theorie als Resultat einer
Zusammensetzung zwischen erstens der Wahrnehmung von Physischem und zweitens einem
Analogieschluß auf ein Fremd-Psychisches gesehen. Der Schluß wird aufgrund von Handlungen und
Äußerungen eines anderen gezogen.
Grund dafür ist die Selbstbeobachtung. Nach der Wahrnehmung von etwas Ähnlichem bei einem
anderen (z.B. ein Grinsen) schließe ich auf einen Gemütszustand des anderen. Zweifelsfrei gewiß ist
allerdings nur das Ich.
Kritik: Warum kann ein Schluß von Physischem auf Psychisches gezogen werden? Ein Übergang von
Physischem auf Psychisches basiert auf der Kenntnis mitmenschlichen Seins. Der Grund für den
Schluß ist also schon der Schluß selbst. Also kann die Erkenntnis von Fremd-Psychischem kein
Schluß sein.
Zudem ist das Erkennen meines Spiegelbildes erst etwas Nachträgliches. Das Kind weiß schon lange
bevor es sich im Spiegel erkennt, wer das ist: Mutter, Vater.
Die Erkenntnis des "du" ist ursprünglich, gleich ursprünglich wie die Selbst-Gegenwart. Das Problem
des Übergangs vom "ich" auf das "du" haben wir gar nicht. Welte: "Wir sehen von vornherein nicht
die Physiologie eines sehenden Auges sondern einen uns anschauenden Menschen. Wir verstehen das
Du nicht aus dem Blick sondern den Blick aus dem Du."
Hier ist auch der Antwortcharakter zu bedenken. Der wesentliche Antwortcharakter des personalen
Glaubens liegt im Vertrauen, das uns zuerst von anderen geschenkt wurde, im Glauben, den zuerst
andere an uns hatten. Nicht ich treffe die Initiative. Der Glaube hat seinen Grund in der unableitbaren,
nicht erzwingbaren Vertrauensvorgabe seitens der anderen. Die anderen setzen den ersten Schritt.
Diese Einsicht ist in ihrer ganzen Tragweite zu nehmen, weil sie zurückreicht in die ursprüngliche
Annahme durch die anderen, der wir unser Hier-Sein überhaupt erst verdanken.
Die Grundannahme des personalen Glaubens liegt in dessen Liebe. Eine menschliche Beziehung, der
Glaube, Hoffnung auf andere etc. entsteht in Freiheit. Wir "schenken" Vertrauen. Unser antwortende
Glaube ist der Dank, in dem sich die Vertrauensvorgabe der anderen ihrerseits wieder entfaltet.
Worin liegt die Glaubwürdigkeit des anderen? Wir müssen auf die höchste Form blicken und sagen:
"Glaubwürdig ist die Liebe." Die Liebe ist der Grund für den Glauben. Sie ist nicht nur der Grund für
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unseren Glauben, sondern in gewisser Weise auch die Folge unseres Glaubens. Menschen können
"über sich hinauswachsen", wenn man ihnen nur vertraut. Mit unserem eigenen Glauben sichern wir
den Grund für unseren Glauben.
Die auf dem Wege eines bloßen Sich-Versicherns zustandegekommene Glaubwürdigkeit ist eigentlich
dem apersonalen Daß-Glauben zugeordnet. Dennoch ist das Sich-Vergewissern durchaus auch
legitim. Wird es allerdings zur Grundhaltung, betreibt man die Zerstörung dessen, was man eigentlich
erreichen will, nämlich die Glaubwürdigkeit des anderen. Die radikale Hypothetisierung
menschlichen Vertrauens ist dessen Vernichtung. Mit dem "trial and error"-Verfahren kann man nie
erfahren, was Freundschaft, Vertrauen etc. ist.
Wo wir jemandem Glauben schenken, teilen wir uns selbst mit, bezeugen wir uns selbst. Worte und
Taten des anderen werden dort auch als Selbst-Mitteilung begriffen.
Selbst-Mitteilung ist kein Bericht über Introspektion. Bei der Introspektion ist der Daß-Glaube im DuGlauben beinhaltet. Wo ich über mich berichte, habe ich mich bereits gegenständlich erfahren. Bei
der Selbst-Mitteilung gibt es nicht den Unterschied zwischen Sachverhalt und nachträglicher Rede.
Der Redende drückt im Reden über eine Sache sich selbst aus.
Selbst-Mitteilung drückt sich in der Weise des Zeugnis-Gebens aus. Einzig in der Weise des
personalen Glaubens kann sie aufgenommen werden. Bei allen anderen Formen des Glaubens wird
nämlich von der Person abstrahiert. Nur im personalen Glauben kann ein personales Zeugnis
vernommen werden.
An dieser Stelle ist von der Sicherheit des personalen Glaubens zu sprechen. Ob das personale
Glaubenswissen sicherer oder gleich sicher ist wie das empirisch erlangte Wissen, ist eine falsche
Frage, weil sie von außen kommt. Eine gleich geistreiche Frage: "Ist diese Mathematik-Aufgabe oder
meine Tasche schwerer?"
Das personale Glaubenswissen erfüllt nicht ein Sicherheitsbedürfnis. Heimlich sind wir wohl alle seit
der Aufklärung größere Cartesianer als wir zugeben wollen. Jemandem zu glauben hat eine
Sicherheit, die aus sich selbst entwächst. Diese Sicherheit hat keine Abstufungsmöglichkeit. Sie
besteht schlicht und einfach, nicht mehr oder weniger.
Die Sicherheit basiert zwar auf einer Vertrauensvorgabe, die aber nicht den Charakter einer
Hypothese hat. Die Sicherheit des personalen Glaubenswissen hat einen präsentischen Charakter
("jetzt schon bin ich mir sicher"). Vertrauen entspringt nicht dem Nicht-Vertrauen.
Grundzüge der personalen Erkenntnis
1. Die personale Erkenntnis ist die tiefste Erkenntnis.
Sie hat es mit dem freien Selbstvollzug zu tun. Wir werden der Unerschöpflichkeit der Person
inne.
2. Die personale Erkenntnis ist die reichste Erkenntnis.
Es wird uns die Daseinsrealität dessen, dem wir glauben, erschlossen.
3. Die personale Erkenntnis ist die vollste Erkenntnis.
Es ist ein gesamtmenschlicher Vollzug.
4. Die personale Erkenntnis ist die erste Erkenntnis.
Das Ersterkannte sind die Mitmenschen; nicht nur in einem zeitlichen sondern auch im sachlichen
Sinn.
Der Glaube als Grundvollzug menschlichen Lebens
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Ein simples Beispiel: Ich frage jemanden um eine Auskunft. Die Frage würde nie in Gang kommen,
hätten wir nicht das Vertrauen, daß uns der Gefragte nicht belügt. Wir vertrauen in einer anfänglichen
Weise. Das vertrauende Sich-Wenden-an ist das erste. Es ist kein Resultat des Sich-näherKennenlernens. Wir "leben" dieses Vertrauen. Dieses hat seine präreflexive Helle. Mißtrauen bleibt
allemal etwas Zweites.
Im ausdrücklichen Vertrauen verwirklichen, aktualisieren wir, was wir implizit schon gemacht haben.
Zu begründen ist auch immer das Mißtrauen. Wahres zu sagen, ist das Selbstverständliche; ein Lügner
hat sich zu rechtfertigen. Vertrauen nährt sich aus anderem Vertrauen. Das Positive ist niemals nur die
Negation des Negativen. Radikales Mißtrauen negiert sich selbst.
Ein zweites Beispiel: Ich sitze hier, er steht dort. Wir vertrauen darauf, daß uns der Erdboden trägt.
Ob er dies auch in Zukunft tut, wissen wir nicht, wenn mit "wissen" experimentell gewonnenes,
empirisch abgesichertes Wissen gemeint ist.
Beide Beispiele machen darauf aufmerksam, daß alles, was wir tun, in dem Vertrauen, daß alles, was
da ist, uns gewährt bleibt, geschieht. Wir "leben" das Vertrauen in die Daseinsgewähr. Dadurch wird
menschliches Leben erst ein menschliches. Die radikale Ausmerzung dieses Vertrauens wäre einer
Selbstvernichtung gleich. Folge: das Vertrauen durchzieht sämtliche unsere Vollzüge. Der Glaube
kann nicht nicht vollzogen werden.
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