In: Mette, N.; Träger, G. (Hg.): Lernen mit allen Sinnen, Erträge vom Paderborner Grundschultag 1997. Münster, LIT, 1997 (35 – 42) Hans-Dieter Rinkens Wider die verkopfte Mathematik in der Grundschule ԟ für ein Lernen mit allen Sinnen Kein Lernen ohne Gedächtnis Ein Duft steigt in die Nase: Wie aus dem Nichts taucht sie auf, die Erinnerung an den wunderschönen Herbstspaziergang in der Rhön, das Flimmern der Sonnenstrahlen, das Gefühl, das damals in mir aufstieg, ... Ein paar Takte Musik im Radio: Auf einmal ist sie da, die alte Kirche in Südfrankreich, der Freund, das Gespräch, .. Mir fällt der Name der Stadt nicht ein: Ich rufe Erinnerungen wach, selbst banale wie den Cafébesuch oder den Gestank der Frittenbude, und plötzlich ist der Name wieder da. Zusammen mit den Kindern gelingt eine schöne Stunde zum Verdoppeln. Noch Wochen später erinnern sich die Kinder an ganz nebensächliche Einzelheiten. Und umgekehrt: Eine dieser Einzelheiten taucht Wochen später auf, und ein Kind stellt den Zusammenhang zur Stunde über das Verdoppeln her. Es gibt kein Lernen ohne Gedächtnis. Wie unser Gedächtnis funktioniert, ist seit jeher Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen und Theorien gewesen. George Bush, der letzte Präsident der USA, hat die neunziger Jahre dieses Jahrhunderts zur “Decade of the Brain” erklärt. Mit dieser programmatischen Etikettierung sollte das Augenmerk (und Geld) auf die Erforschung des menschlichen Gehirns gelenkt werden. Wir sind noch in den neunziger Jahren. Die Erkenntnisse, die Bücher und die wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Aufsätze über Gehirn, Gedächtnis, Lernen häufen sich. Mit jeder Erkenntnis tauchen neue Fragen auf. Wir lernen dazu, ohne zu wissen, wie das Lernen genau funktioniert. Der Wissenschaft geht es da nicht anders als der Schule. In der Schule werden neue Ansätze erprobt, verbessert, verworfen. Die Wissenschaft kann Hinweise auf neue Ansätze und auf Gründe des Scheiterns geben. 1 Lerngesetze und Strukturbeschreibung Grob gesprochen, kann man die älteren psychologischen Untersuchungen dieses Jahrhunderts, die sich mit dem Lernen beschäftigen, in zwei Lager einteilen: Solche, die den Lernenden mit bestimmtem Material konfrontierten und sein Verhalten vorher und nachher in Abhängigkeit von gewissen externen Faktoren beobachteten; sie, die Behavioristen, wollten so wenig wie nötig darüber spekulieren, "wie’s dadrin (im Lernenden) aussieht", und so viel wie möglich an empirischen Gesetzen über das Lernen herausfinden. Das andere Lager - nach dem Motto “Nichts ist praktischer als eine gute Theorie” - wandte sich bewußt dem “Innern” zu und entwarf Theorien über den Aufbau und die Entwicklung unserer kognitiven Strukturen. Piaget war ein besonders einflußreicher Vertreter dieses Lagers. Beispiele für Lerngesetze aus dem Lager der Behavioristen sind: • Der Übungszeiteffekt: Je mehr Zeit man auf Einüben verwendet, desto länger behält man. • Der Effekt der verteilten Übungen: Es ist besser, das Üben über einen gewissen Zeitraum zu verteilen als in einem einzigen Lernblock zusammenzufassen. • Die Rolle des Sinnenhaften: An Begriffe, die sich auf konkrete Objekte beziehen, von denen man sich z.B. eine optische Vorstellung bilden kann, erinnert man sich besser als an abstrakte Begriffe, für die man nur schwer ein Vorstellungsbild findet. • Der Effekt der Motivation: Die Motivation bestimmt, wieviel Zeit für das Material, das gelernt werden soll, aufgewendet wird, und das wiederum beeinflußt die Menge, die gelernt werden kann. Gleich welchem Lager man heute angehört, gleich mit welcher Theorie man heute das Lernen erklären will, sie wird ihre Tragfähigkeit auch dadurch unter Beweis stellen müssen, daß sie diese Befunde deuten kann. Ein Psychologe des kognitiven Lagers, der wie kein anderer den Mathematikunterricht der letzten Jahre beeinflußt hat, ist Jean Piaget. Seine Theorie (eigentlich sind es zwei: eine Entwicklungstheorie und eine Erkenntnistheorie) betreffen • die Entwicklung des menschlichen Denkens: Aus angeborenen Reflexen entwickeln sich sensomotorische Akti–onsmuster, die allmählich verinnerlicht werden. Damit können Teile dieser Akti–onen schon vorgedacht werden. Können sie schließlich auch mit ihrer Umkehrung vorgestellt werden, hat das Kind das “konkret-operative Stadium” erreicht. Löst sich die zunächst noch erforderliche Bindung der Vorstellung an konkretes Handeln, erreicht der junge Mensch das operative Stadium. • den Aufbau kognitiver Strukturen: Der Verstand ist auf ein Gleichgewicht mit seiner Umwelt angelegt. Er erfaßt und deutet sie mit seinen vorhandenen kogni–tiven Schemata, 2 solange er damit nicht in einen Konflikt gerät. In dem Fall paßt er seine Schemata so an, daß er die Situation wieder ohne Probleme erfassen und deuten kann. Neuronen und Informationen Neben diesen beiden Lagern, die sich mit dem Lernverhalten des Menschen beschäftigten, entwickelten sich in diesem Jahrhundert - zunächst unabhängig voneinander - zwei Forschungsrichtungen, die zwei wesentliche Komponenten des Lernens untersuchten. • Die Materie, ohne die kein Denken stattfindet, unser Gehirn, wurde mit immer feineren neurobiologischen Methoden erforscht, mit dem Ziel herauszufinden, wo und wie dort sinnliche Wahrnehmung, Sprache, Gefühle verarbeitet werden. • Die Inhalte des Denkens, um die es z.B. beim Lernen eines Stoffs geht, die Informationen, wurden in der Informatik in einer Weise modelliert, daß Computer in verblüffender, quasi intelligenter Weise damit umgehen können. “Decade of the Brain” heißt auch, daß die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der verschiedenen Richtungen Augen und Ohren öffnen für die Ergebnisse der anderen, um so ein ganzheitliches Bild der Vorgänge zu gewinnen. Oft genug wurde und wird noch immer, wenn schon nicht von den Forschern in der Euphorie der Entwickung, dann von Anhängern in leicht-fertiger Überschätzung ihres Neuwerts, ein Teilaspekt für das Ganze oder zumindest für das Wichtigste gehalten. Daraus entsteht dann ein “-ismus”, dessen sicheres Schicksal es ist, von der weiteren Entwicklung widerlegt zu werden. Auf der Ebene der Wissenschaften hat dieser Kampf der Systeme noch einen produktiven Sinn. Er gehört aber nicht auf die pädagogische oder didaktische Ebene. Solange mit Argumenten gestritten wird, können nur Ideen den kürzeren ziehen. Kinder und Jugendliche dagegen dürfen nicht als Testpersonen für zu falsifizierende Theorien benutzt werden. Didaktische Prinzipien In der Schule ist Evolution angesagt. Für sie gilt auch hier: Lernen statt Bekehrtwerden. Für den Mathematikunterricht haben wir viel von Jean Piaget und den Kognitionspsychologen gelernt. Alte didaktische Prinzipien wie Handlungsorientierung oder Entdeckendes Lernen erhielten durch sie Bestätigung und Verstärkung. Ein am behavioristischen Reiz-ReaktionsMuster orientiertes Schema des Vormachens-Nachmachens in kleinsten Schritten ist als allgemeines Unterrichtsprinzip inakzeptabel. Statt Behaviorismus nun Aktivismus? Solche Polarisierung macht nur blind. Die neuere Gedächtnisforschung ist sicher ohne die “kognitive Wende” nicht denkbar. Zugleich hat sie aber auch mit ihren neurobiologischen Methoden die Bestätigung vieler Effektgesetze der 3 Behavioristen gebracht. Und sie hat die Bedeutung affektiver Momente für das Lernen wieder ins Blickfeld gerückt, sozusagen eine “affektive Wende” eingeleitet: Es gibt kein Abspeichern von Gedächtnisinhalten ohne affektive Einfärbung. Aus der Hirnforschung wissen wir heute, daß ein Gedächtnisinhalt, sei es ein Ereignis, ein Wort oder ein Rechensatz, nicht nur an einer Stelle unseres Gehirns, sondern an vielen Orten abgespeichert wird Alle diese Orte stehen miteinander in Verbindung. Diese Verbindungen können mehr oder weniger stark sein, sie können verstärkt, aber auch gestört oder blockiert werden. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Teil des Gehirns, der das limbische System genannt wird. In dieser Region unserer Gehirns begegnen sich die Informationen über die sinnlich erfahrene Umwelt mit denen über den Binnenzustand unseres Körpers. Hier werden diese Informationen in Form von Befindlichkeit und Emotion bewertet. Hier wird unserer ganzes Denken und Handeln mit positiven oder negativen Gefühlen eingefärbt. Dabei wirken Affekte wie Filter, die darüber entscheiden, was überhaupt gespeichert oder abgerufen wird. Es ist faszinierend, was wir über den Aufbau und die Funktionsweise unseres Gehirns bereits wissen. Vor allem aber wissen wir um deren Komplexität und, daß wir am Ende dieser Dekade sicher keinen wissenschaftlich abgesicherten Weg zum Lernen z.B. des Einspluseins haben werden. Aber wir können vertraute Wege - die ja nicht erfolglos waren, sonst hätten wir sie längst verlassen - anreichern durch Momente, die nach dem heutigen Wissensstand noch besseren Erfolg versprechen. Ganzheitliches Lernen Was für den Sprachunterricht, den Sachunterricht, den Religionsunterricht selbstverständlich ist, muß auch für den Mathematikunterricht gelten: Das Kind lernt mit Sinnen und Gefühlen und Verstand. In diesem weiteren Sinne wollen wir “ganzheitliches” Lernen verstehen, nicht in dem nur auf das Stoffliche eingeschränkten Sinn, in dem es oft benutzt wird, wenn vom “ganzheitlichen Einstieg in den Zwanzigerraum” oder “ganzheitlichen Einstieg in das Einmaleins” die Rede ist. Ähnlich sieht es Helga Zitzlspergeri, wenn sie schreibt: “Dieses am Kind orientierte Wechselspiel von Hören und Sprechen, Sehen und Anfassen, Riechen, Schmecken und gestaltendem Hantieren in Verbindung mit Phantasie, mit Plänen usw. in einem emotional entspannten Klima kann man als ganzheitliches Lernen bezeichnen” (S. 20) Überschriften wie “Wie der Körper beim Denken hilft” oder “Wie Liebe klug - und Angst dumm machen können” deuten ihre Intention an. Sie gibt viele anregende Beispiele für ihr Unterrichtskonzept, das sie auch "multisensorisches Lernen” nennt. (Daß sie versucht, ihre i Helga Zitzlsperger: Ganzheitliches Lernen, Welterschließung über alle Sinne; Beltz Verlag Weinheim 1995 4 Sichtweise in Karl Poppers Drei-Welten-Ontologie einzupassen, schmälert den Ertrag der Lektüre keineswegs.) Wie die meisten didaktischen Prinzipien sind auch das “Lernen mit allen Sinnen” oder das “ganzheitliche Lernen” nicht neu. Aufgrund der oben skizzierten Wirkungsgeschichte psychologischer Theorien mußten sie in der "veröffentlichten" Diskussion nur anderen Prinzipien den Vorrang lassen. Es deutet jedoch viel darauf hin, daß das “ganzheitliche Lernen” das umfassendere Prinzip ist. Der Erfolg eines handlungsorientierten Mathematikunterrichts oder einer am entdeckenden Lernen orientierten Unterrichtsorganisation wird nur zum Teil durch kognitive Theorien wie die Piagets, zum andern aber durch die Bedeutung ganzheitlicher, insbesondere affektiver Momente für das Lernen erklärbar. Zugleich findet man hier auch die Begründung für das Scheitern solcher Konzepte im “real existierenden” Unterricht, wenn nämlich das Konzept höher gehandelt wird als der Grund, warum es wirksam ist. Die Einbeziehung der Sinne zusammen mit einer positiven Gestimmtheit ist der Boden, auf dem sie wirksam werden. Ohne ihn kann die wohlgemeinte Absicht, das Kind zum Handeln oder zum Entdecken zu bewegen, zu Frust und Lernverweigerung führen. Und noch ein Phänomen des “real existierenden” Unterrichts erklärt diese Sichtweise: Eine Lehrerin, die sich intuitiv auf das ganzheitliche Lernen versteht, kann auch in Unkenntnis “moderner” Prinzipien nachweislich große Lernerfolge erzielen. Mathematik fächerübergreifend Eine Konsequenz aus dem Prinzip des ganzheitlichen Lernens besteht darin, den Mathematikunterricht in das Leben in der Klasse einzubeziehen. Er darf nicht das Kontrastprogramm darstellen, wenn die Klasse ein Projekt bearbeiten, ein Spiel planen oder ein kleines Theaterstück proben will. “Wenn ihr jetzt noch etwas rechnet, dann dürft ihr auch gleich ...” ist eine sichere Methode, eine negative Einstellung zur Mathematik zu erzeugen. Auch der Mathematikunterricht kann seinen Beitragii leisten, wenn • in der Klasse oder Schule (Sommerfest, Geburtstag, Karneval, ...) gefeiert wird, • auf dem Gang durch das Jahr z.B. der Frühling thematisiert wird, • nach den Ferien von den Erlebnissen und Reisen erzählt wird. Im Prinzip des fächerübergreifenden Unterrichts wird dieser Gedanke auf den Punkt gebracht. Es ist nicht verwegen zu behaupten, daß in nahezu jedem Themenkreis mathematische Bezüge auffindbar oder herstellbar sind. So können und sollen mathematische Aktivitäten “mit dem Leben” verbunden werden. ii Anregungen hierzu findet man in der WELT DER ZAHL - Grundschulwerkstatt, Schroedel Schulbuch–Verlag. 5 Wie bei anderen Prinzipien muß man sich auch hier allerdings davor hüten, es zu verabsolutieren. Die Mathematik darf nicht nur “beiläufig” daherkommen, sozusagen in ständiger Verpackung. Der mathematische Kern muß auch als solcher begriffen, zur Sprache gebracht, geübt werden. Mathematik mit Phantasie "Die Welt der Phantasie im Unterricht” beschreibt Helga Zitzlsperger eindrucksvoll in ihrem Buch. Teil der kindlichen Erlebniswelt sind fantastische Figuren; “sie dienen zum Spielen, Phantasieren, Dramatisieren, für Identifikationen und Projektionen” (S. 41) In diese Welt gehört auch die Zahl. Kleine Drachen mit Namen wie Zahlix und Zahline können sie bevölkern. Mit ihnen kann man sprechen; sie können bei schwierigen Rechenaufgaben helfen, bei Fehlern trösten; ihnen kann man Aufgaben stellen, ihnen helfen, sie trösten, sich mit ihnen freuen. Die Welt des Kindes, der Phantasie und der Zahl lassen sich auch in Spielsituationen und Liedern, in Wort- und Bild-Geschichten miteinander verbinden. "Auf dem Bauernhof", "beim Straßenfest", "in der Ufo-Welt" ... gibt es viel zu erleben, zu erzählen - zu "er-zählen": Rechen-Geschichten werden in die Situationen hineingesehen, Rechnen hat dienende Funktion. Die Welt des Kindes, der Phantasie und der Zahl lassen sich auch in thematischen Einheiten miteinander verbinden. So kann man das Einmaleins mit dem Zirkusleben verknüpfen. Im Zirkus Einmaleins gibt es Clowns mit riesengroßen Füßen (Zweierreihe) oder Riesenhänden (Fünfer-, Zehnerreihe); Akrobaten bilden Sechser-Pyramiden; Jongleure, Artisten, ... Im Zirkuszelt wächst zusehends die Einmaleins-Tafel als Zeichen und Herausforderung für die zunehmende Fertigkeit. Mathematik mit allen Sinnen Kein Mensch hat je den Begriff Drei wahrgenommen, höchstens drei Bälle gesehen, drei Töne gehört, drei Knoten gefühlt, drei Schritte gemacht. Wie aus den sensorischen Informationen das wird, was wir einen Begriff nennen, darüber gewinnen wir allmählich bessere Einsichten. Eins ist allerdings schon heute sicher: Die sensorischen Informationen bilden den Ausgangspunkt in der Entwicklung unseres Denkens. Material gehört sei jeher in den mathematischen Anfangsunterricht, vor allem Material zum haptischen und visuellen Erfassen von Zahlen (Kastanien, Perlen, Plättchen, Zahlbilder, ...). Über Vor- und Nachteile einzelner Materialien, über den “richtigen” Gebrauch (z.B. viel oder wenig) wird in schöner Regelmäßigkeit viel und Gegensätzliches geschrieben - ein Zeichen 6 dafür, daß wir viele Vermutungen, aber noch keine klaren Einsichten in diese Fragen haben. Unstrittig ist die Sinnhaftigkeit des Einsatzes von Lernmaterial. Wichtig ist es dabei, allen Sinnen Stoff zu geben, mehr noch Sinne bewußt einzeln anzuregen, indem die anderen ausgeschaltet werden, und bewußt zu verbinden, indem sie synchron geschaltet werden: • Töne hören lassen, • Klopfzeichen geben oder auf dem Rücken spüren lassen, • Knoten bei verbundenen Augen fühlen lassen, • Schritte gehen lassen • usw. usw.. Wie viele sind es jeweils - und wenn man es mehrmals hintereinander macht, wie viele sind es zusammen? Wir wissen, daß Kinder am Schulanfang schon beachtliche Fertigkeiten im Umgang mit Zahlen mitbringen. (Wir beobachten allerdings auch, daß die Schere immer weiter auseinanderklafft.) Es soll nicht angezweifelt werden, daß die Kinder "schon bis drei zählen können”. Darum geht es nicht. Die sensorischen Kanäle sollen verstärkt werden, mit der Zahl sollen sich viele sinnliche Aspekte verbinden und wechselseitig aufrufen. Eingekleidet in eine Geschichte oder ein Spiel macht es Spaß, selbst wenn man schon bis ... zählen kann. Mathematik und das ganze Kind Das ganze Kind anzusprechen, sein Denken, sein Fühlen, sein Wünschen, ist das zentrale Anliegen, das hier vertreten wird. Ein wirksames methodisches Mittel ist das Rollenspiel. Mit ein wenig Phantasie kann man zu jeder Einstiegssituation in ein mathematisches Thema eine Geschichte erfinden, die die Kinder im Rollenspiel darstellen und weiterentwickeln. (Das heißt nicht, daß man jeden Einstieg mit einem Rollenspiel machen soll!) Natürlich kommen Sachen aufs Tapet, die nicht zum mathematischen Thema gehören, die aber für die Situation und damit für die Gestimmtheit von Bedeutung sind. Übrigens, daß sie nicht zum Thema gehören und was infolge dessen der mathematische Kern ist, diese Erkenntnis ist für das Lernen nicht weniger wichtig als der Kern selber. Es gibt noch einen anderen Ort im Mathematikunterricht, für den das Rollenspiel eine wichtige Funktion hat: das Sachrechnen. “Meine Kinder haben vor allem Probleme mit dem Sachrechnen” ist eine vielgehörte Klage im Lehrerkollegium. Es ist auch ein häufig untersuchtes Phänomen in der Literatur, das einer eigenen Darstellung bedarf. Hier nur soviel: Eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für das Lösen von Sachaufgaben 7 ist das vollständige Eintauchen des Kindes in die jeweilige Situation. Mitunter findet es im Rollenspiel die Lösung “aus der Situation heraus”, eben weil auf diese Weise eine Fülle von subjektiven Erinnerungen, Gefühlen, Erfahrungen "ins Spiel kommen”, die es bei der Aufforderung, lediglich den Worttext in einen Rechentext zu übersetzen, nicht aktivieren kann. Mit Sinnen und Verstand (oder anders: mit Kopf, Hand, Herz und Bauch) die Welt der Zahl entdecken: Das ist ein angemessenes Motto für den Mathematikunterricht. Es gibt kein Lernen ohne Gedächtnis, es gibt kein Speichern ohne affektive Einfärbung, die Affekte steuern in hohem Maße unsere Erinnerung. Ob wir wollen oder nicht, wir lernen ganzheitlich. Literatur zum Thema Gehirn, Gedächtnis, Lernen Baas, Bernard J.: The Cognitive Revolution Psychology; Guilford, New York 1986 Baddeley, Alan: So denkt der Mensch: Unser Gedächtnis und wie es funktioniert; Droemer Knaur, München 1986 Brüggelmann, Hans; Balhorn, Heiko (Hrsg.). Das Gehirn, sein Alfabet und andere Geschichten; Fande, Konstanz 1990 Ciompi, Luc: Die Hypothese der Affektlogik, in: Spektrum der Wissenschaften 2/93, S. 76-87 Dörner, Dietrich; van der Meer, Elke (Hrsg): Das Gedächtnis; Hogrefe Göttingen 1995 Eccles, John C.; Robinson, Daniel N.: Das Wunder des Menschseins - Gehirn und Geist; Piper, München 1985 Oeser, Erhard, Seitelberg, Franz: Gehirn, Bewußtsein und Erkenntnis; Wiss. Buchges., Darmstadt, 1988 Popper, Karl R.; Eccles John C.: The Self and Ist Brain; Springer, Berlin 1981 Restak, Richard M.: Geist, Gehirn und Psyche: Psychobiologie: Die letzte Herausforderung; Umschau, Frankfurt 1981 Vester, Frederic: Denken, Lernen, Gedächtnis; DVA Stuttgart 1975 8