HORIZONT Deutscher Medienkongress, Frankfurt 21. Januar 2015 Keynote Manfred Bissinger „Die große Printkrise und die Folgen für unsere Demokratie“ _________________________________________ Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, unter „Content Marketing“ versteht bekanntlich jeder etwas anderes, deshalb will ich zum Auftakt meiner Bemerkungen erst mal eine Definition wagen: Content Marketing ist Qualitätsjournalismus plus Marketing plus Technologie. Über Technologie will ich lieber nicht sprechen, davon verstehe ich nicht so viel wie meine Mitstreiter, aber zumindest eins weiß ich: Ohne ein tiefes Verständnis von Technologien sind alle Content-Marketing-Strategien undenkbar. Es geht nicht nur um die alte Tugend des Storytellings, die jeder gute Werbespot im Fernsehen oder jede wirksame Printanzeige erfüllen muss. Es geht darum, den Konsumenten mit begehrenswerten Inhalten zu faszinieren, zu involvieren und zu mobilisieren. Das ist in meinen Augen das Ziel von modernem Marketing, dem zweiten Wortbestandteil des von uns heute zu erörternden Phänomens. Dabei will ich nicht anmaßend sein. Ich zähle mich zur Spezies Journalist, was im Umkehrschluss bedeutet, von Markenführung verstehen die meisten hier im Saal wesentlich mehr. Bitte erlauben Sie mir zu Beginn einige Sätze zum Qualitätsjournalismus, denn nach meiner festen Überzeugung ist der Erfolg von Content Marketing zuallererst von der Qualität des Contents abhängig. Umgekehrt ist mein Eindruck, dass der Qualitätsjournalismus dabei ist, in Agonie zu verfallen. Manfred Bissinger: Die große Printkrise und die Folgen für unsere Demokratie 2 Die Institutionen, die in den vergangenen Jahrzehnten den Qualitätsjournalismus gepflegt und beherbergt haben – unsere Verlage also – zerbröseln gerade in atemberaubender Geschwindigkeit. Dabei wären doch gerade sie prädestiniert, den neuen Markt des Content Marketings mit ihrem über Jahrzehnte gelebten Qualitätsbewußtsein zu beflügeln. Doch neben den Verlegern scheitern an dieser Herausforderung auch die angestellten Manager. (Von Axel Springer einst gerne als „Flanellmännchen“ geschmäht.) Sie finden kein Geschäftsmodell für das digitale Zeitalter. Sie wissen nur, es war ein schwer wieder gutzumachender Fehler, über den neu entstehenden Vertriebskanal Internet den Content zu verschenken und darauf zu vertrauen, er würde Werbung für ihre Print-Produkte machen. Als ob die User einmal kostenlos Geliefertes beim nächsten Mal bezahlen wollten. Wir alle aber wissen auch, es gibt Ausnahmen: Mathias Döpfner ist so eine, wobei längst nicht klar ist, ob er in zehn Jahren noch einen Verlag führt oder einem Handelskonzern mit angegliedertem Pressehaus vorsteht. Zu den Ausnahmen könnte noch Hubert Burda gerechnet werden, von dem allerdings erst kürzlich zu lesen war, daß er inzwischen mit Tierfutter mehr erlöst als mit der journalistischen Durchschlagskraft seines FOCUS. Vorausschauend war auch Rudolf Augstein, der seinem Magazin sehr früh eine eigenständige Online-Ausgabe ermöglichte, die heute – nach immerhin zwanzig Jahren – noch ‚state of the art’ ist und die seine Nachfolger gerade in idiotischen Machtkämpfen zu zerstören drohen. Hier muss noch angefügt werden, dass auch SPIEGEL ONLINE ohne die Ressourcen des Mutterblattes nicht wirklich profitabel wäre. Ich weiß, ich bin polemisch, aber außer Döpfner, Burda und Augstein müssen wir dem Rest der Branche grandioses Systemversagen attestieren. Wenn wir die innere Krise des SPIEGEL oder den für mich besonders schmerzvollen Niedergang des einst so glanzvollen Verlagshauses Gruner + Jahr beobachten, dann kommen wir nicht umhin, die Opferrolle, in die sich manche so gerne flüchten, in Frage zu stellen. Denn in Wahrheit ist das digitale Zeitalter für unseren Berufsstand kein Fluch, sondern ein Segen. Manfred Bissinger: Die große Printkrise und die Folgen für unsere Demokratie 3 Mathias Müller von Blumencron, der erste Chefredakteur von SPIEGEL ONLINE und heute für den digitalen Auftritt der FAZ verantwortlich, hat das zum Jubiläum von SPIEGEL ONLINE treffend beschrieben: Ich zitiere: „Die digitale Revolution ist ein Segen für die Journalisten ...Noch nie konnten sie so schnell, gründlich und vernetzt recherchieren, hunderttausende Dokumente durchforsten wie bei den Wikileaks-Veröffentlichungen. Noch nie konnten sie komplexe Zusammenhänge so vielfältig veranschaulichen: mit Grafiken, Bildern, Animationen, Videos.Noch nie gab es so viele Möglichkeiten zum Meinungsmacher aufzusteigen, über Blogs, Twitter, Facebook.Und noch nie waren sie so nah am Leser...“ Zitatende. Nur, und das ist eben das Elend, diese Chancen haben bislang nur sehr Wenige erkannt. Dabei tut der digitale Kapitalismus doch nur das, was der Kapitalismus schon immer getan hat. Er entledigt sich, er zerstört überholte Strukturen, wie es Marx und Engels im Kommunistischen Manifest hellsichtig vorhergesehen haben. Der Kapitalismus zeichne sich, so ist dort zu lesen, durch „die fortwährende Umwälzung der Produktion ... aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst.“ Ja, genau das ist es, was wir bei den Medien gerade erleben. Spätestens hier möchte ich noch ein Wort zu Gruner + Jahr einschieben: Für mich ist das anschwellende Jäkel-Bashing mehr als wohlfeil. Denn Julia Jäkel ist für den traurigen Zustand der Hamburger Bertelsmann-Tochter nicht verantwortlich zu machen. Ihre Vorgänger haben ihr einen Scherbenhaufen hinterlassen, den sie gerade zu sortieren sucht, um ihn in mühsamer Kleinarbeit wieder funktionsfähig zu machen. Aber auch das gehört zur Wahrheit – nicht alles lohnt noch den Kleber, für manches ist es zu spät. Ganz bestimmt lohnt sich jede Anstrengung für den Stern, der – back to the roots – im Schatten der SPIEGEL-Krise angefangen hat, wieder Geschichten zu erzählen und damit ganz offenbar gut fährt. Aber auch der STERN ist digital noch lange nicht da, wo er sein könnte. Im übrigen und davon bin ich fest überzeugt, gilt noch für lange Zeit: Die großen Marken unserer Branche werden so schnell nicht verschwinden; dafür sind sie viel zu stark, das gilt selbst für den suizidalen SPIEGEL. Manfred Bissinger: Die große Printkrise und die Folgen für unsere Demokratie 4 Als Fazit können wir festhalten: Unsere Verlage haben ein Jahrzehnt der Managementfehler und Versäumnisse hinter sich. Sie haben das Neue gefürchtet und sich am Alten zu lange festgekrallt: Es war doch immer so erfolgreich!! Mit dieser bequemen, aber rückständigen Beharrungskraft haben sich viele Verlagshäuser der Modernisierung verweigert und stehen nun vor den Trümmern ihrer eigenen Unterlassungen. Um es plastischer zu formulieren, die verantwortlichen Manager gerierten sich zu lange wie kleine Kinder, die voller Wut und Trotz die Dinge in die Ecke schmeißen, deren Komplexität sie schwer begreifen und schon gar nicht beherrschen können. Die Folge waren und sind immer noch unbedachte sogenannte „Befreiungsschläge“. Das gilt im übrigen auch für Gruner + Jahr. Doch glauben sie mir, Filetieren, Entlassen, Zerteilen schafft keine neuen Werte, schon gar keine überlebensfähigen Produkte. Der viel zu früh verstorbene Frank Schirrmacher hat in einem seiner letzten Interviews mit Jürgen Scharrer von HORIZONT darauf hingewiesen, dass mit der Print-Krise auch geistige Arbeit und Inhalte enteignet werden. Er sagte – und das ist in meinen Augen sein Vermächtnis: Ich zitiere: „Wir müssen verhandeln, welchen im wahrsten Sinne des Wortes Wert Qualitätsjournalismus in unserer Gesellschaft hat.“ Und er fügte hinzu: „Wir geraten in der Daten-Ökonomie zunehmend in die Rolle eines reinen Zulieferers. Die Medien liefern Inhalte, die User liefern ihre Daten und werden dadurch selbst zum Produkt, und das Geschäft machen einige wenige globale Riesenkonzerne.“ Schirrmacher war gewiss kein Schwarzmaler, aber seine Analyse ist wahr und bitter zugleich. (Und lassen Sie mich bitte an dieser Stelle persönlich hinzufügen: Schirrmachers Tod offenbarte eine weitere Krise unserer Branche. Wir haben zu wenig Köpfe, die bereit sind schonungslos zu denken und die Ergebnisse auch ohne Rücksicht öffentlich zu machen.) Mich bewegen in der Print-Krise auch die Auswirkungen auf unsere Demokratie: Die Abrissbirne der Verlage zerstört ja nicht nur Traditionen und Lebensläufe von kreativen Menschen, sondern gefährdet auch die Grundlagen unserer Demokratie. Manfred Bissinger: Die große Printkrise und die Folgen für unsere Demokratie 5 Denn die Aufklärung, als Ergebnis der Überwindung des Absolutismus hat eine bürgerliche Gesellschaft geboren, die ihrerseits eine bürgerliche Öffentlichkeit hervorgebracht hat. Diese bürgerliche Öffentlichkeit ist für das Funktionieren unserer Demokratie unerlässlich. Sie zu verteidigen ist unser aller Verantwortung und Auftrag. Mich haben die Millionen Demonstranten, die auf aller Welt das Massaker von Paris verurteilt haben, nachhaltig beeindruckt. Vor allem eine junge Französin, die den bemerkenswerten Satz sprach: „Wenn wir die Freiheit verlieren, sind wir keine Menschen mehr.“ Was wichtig war, stand früher in der Zeitung. Und als Staatsbürger wussten wir, das wir unsere Aufmerksamkeit auch Dingen zuwenden müssen, die fern der eigenen Lebenswelt liegen, aber dennoch Beachtung wie Empathie verdienen. Das aber ist in der schönen neuen digitalen Kommunikationswelt nicht mehr vorgesehen. Hier wird die Wirklichkeit nur nach den eigenen Bedürfnissen und Informationsprofilen gefiltert. So lebt jeder von uns zunehmend in seiner eigenen „bubble“ gemeinsam mit vermeintlich Gleichgesinnten. Das Fremde, das Andere – also das gesamte Gesellschaftliche – wird dadurch nur allzu leicht ausgeblendet. Zugegeben, es ist lange her: Aber für mich und meine Kolleginnen und Kollegen bedeutete Qualitätsjournalismus, dass wir auch für Haltungen eingestanden sind. Die einen konservativ, die anderen progressiv, manche rechts, manche links. Journalisten waren auch Täter, die die Welt verbessern wollten. So wie mein Lehrmeister Henri Nannen für die Ostpolitik Willy Brandts eingestanden ist oder mein Vorbild Rudolf Augstein für eine modernere, liberalere und tolerantere Gesellschaft gekämpft hat. Heute hat der Journalismus nicht nur seine Täterrolle eingebüßt, er ist dabei, auch noch seine Wächterfunktion aufzugeben. Dem Journalismus droht seine Qualität als Seismograph und Frühwarnsystem verloren zu gehen. Medien werden – oft nicht zu Unrecht – als gleichgeschaltet (ja, das ist ein schreckliches Wort) empfunden. Denken Sie nur an den Fall des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff. Da sind einige Kollegen erst nach dem Freispruch wieder zu sich gekommen. Manfred Bissinger: Die große Printkrise und die Folgen für unsere Demokratie 6 Haben wir in den vergangenen Jahrzehnten immer öfter die sogenannte Politikverdrossenheit beklagt, haben wir es inzwischen mit einer weitverbreiteten Medienverdrossenheit zu tun. Pegida lässt grüßen. Ein Ausweg aus dieser Krise ist die Besinnung auf die zentrale Funktion des Qualitätsjournalismus bei der sozialen, kulturellen und politischen Synchronisation der Gesellschaft. Oder, um noch einmal Frank Schirrmacher zu zitieren: „Was wir Journalisten tun können, ist Relevanz schaffen, also Preisbildung in sozialen, kulturellen und politischen Märkten erreichen.“ Meines Erachtens wird der Journalismus das nur schaffen, wenn er zu seiner wahren Stärke zurückfindet: der Kraft der Erzählung, der Macht der Narration, des Storytellings. Und damit wäre ich wieder am Ausgangspunkt: Was kann Content Marketing aus den beschriebenen Fehlern der Medien lernen? Zuallererst müssen wir begreifen, dass Content keine lästige Notwendigkeit ist und schon gar kein günstiger Füllstoff. Content darf nicht wie Beton sein, der in Verschalungen und Schablonen eingegossen wird und somit völlig beliebig ist. Er muss eine Inspirationsquelle für Leser, User und Konsumenten sein. Offen, mutig, informativ. Es sind diese ganz klassischen journalistischen Kriterien, die aus Content begehrenswerte und erfolgreiche Inhalte machen: Dazu darf er ruhig auch orientierend, nutzwertig, gerne auch entertainig sein. Bei Content Marketing kommt dann noch hinzu: Es soll, es muss auf die Marke einzahlen. In komplexen Kommunikationsstrategien entwickeln nur hochwertige journalistische Inhalte ein relevantes Momentum. Nur die narrativen Methoden und der Einsatz journalistischer Techniken machen diese Kommunikation anspruchsvoll und bringen – beispielsweise – der Unternehmenskommunikation Reputation und der Markenkommunikation Aufmerksamkeit und Reichweite. Die Geschichte des Menschen beginnt mit der Erfindung des Erzählens. Damit meine ich, dass sich das Menschsein zentral über die Fähigkeit des Erzählens definiert. Manfred Bissinger: Die große Printkrise und die Folgen für unsere Demokratie 7 Der Mensch ist in seinem Verhältnis zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen ein Erzähler. Indem er erzählt, gibt er dem Leben Sinn, schafft einen Zusammenhang in der chaotischen Wirklichkeit und findet seinen Platz in der Gesellschaft. ➤ Erzähler tragen die Ereignisse, Mythen und Genealogien weiter. ➤ Erzählungen bilden das soziale Gedächtnis der Menschheit. ➤ Erzählen ist ein prinzipielles Bedürfnis des Menschen. ➤ Erzählen hat somit eine soziokulturelle Funktion und vermittelt den Menschen Leitplanken und ein Gefühl für ein soziales System. Menschliches Erleben findet in der Welt der Bedeutungen, der Konversation und des Erzählens statt. Das Individuum ist konzipiert als Erzähler, der sich durch Erzählungen Wirklichkeit erschafft, verständlich macht und seine Stellung in der Gesellschaft bestimmt. Erst damit, erst dadurch entwickeln wir Identität. Der Wert von Geschichten liegt in der Bedeutung, die sie generieren.Medien haben seit jeher eine ausgesprochen narrative Qualität. In Form von erzählten Geschichten, berichten sie in den unterschiedlichsten Genres, Formaten und Sprachen. Auch Marken sind kommunikative Phänomene, die sich über Gespräche und Geschichten von Konsumenten konstituieren. Erzählungen geben Marken ein Gesicht. Gute Geschichten möchte man teilen und weitererzählen. Sie machen Markenversprechen glaubhaft. Unsere Kollegen vom Handelsblatt haben dafür einen kongenialen Claim gefunden: „Substanz entscheidet.“ Wie überhaupt Gabor Steingart neben Kai Diekmann von BILD zu den letzten Tätern im Medium Print gehört. Konsumenten lesen keine Positionierungsstatements, sondern binden Marken in ihre sozialen Kontexte ein. Gute Geschichten wirken emotional, also tiefer und überzeugender als Daten und Fakten allein. Manfred Bissinger: Die große Printkrise und die Folgen für unsere Demokratie 8 Udo Jürgens, der begnadete Entertainer, der uns gerade verlassen hat, er hat mal gesagt, dass seine Stimme eigentlich gar nicht geeignet sei für die Musikbranche. Dass er so gerne eine andere Stimme gehabt hätte, die sich leichter in Pop-Produktionen einmischen ließe. Aber am Ende ist aus seinem vermeintlichen Makel eine Riesen-Tugend geworden. Ich zitiere Udo Jürgens aus dem ZEITmagazin: „Ich musste also einen Weg finden, damit ich mit meiner Stimme Geschichten erzähle. Sie haben nur das Manko, dass die Leute von Anfang bis Ende zuhören müssen. Das ist für die Karriere eines Popsängers das Schlechteste.“ Und auf den Einwand des ZEITmagazins: „Mit diesem Manko sind Sie aber weit gekommen!“ antwortete er: „Wissen Sie, warum? Die Leute haben meine Lieder wie ein Buch gelesen oder wie den Soundtrack zu einem Film wahrgenommen. Das ist heute noch so, auch in meinen Konzerten, dass die Lieder mit Geschichten die Leute am tiefsten berühren.“ Besser als Udo Jürgens kann man die Kraft und die Magie des Storytellings nicht erklären. Lassen Sie uns von ihm lernen: „Aber bitte mit Sahne!“ Danke für Ihre Aufmerksamkeit! [Es gilt das gesprochene Wort!] Kontakt: BISSINGER[+] GmbH An der Alster 1 20099 Hamburg Telefon +49 (0) 40–44189-660 Fax +49 (0) 40–44189-306 E-Mail [email protected] Geschäftsführer Manfred Bissinger, Kim Alexandra Notz, Dr. Andreas Siefke www.bissingerplus.de