Rückschau auf die Chorsymphonie WELTETHOS

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31.10.11
Rückschau auf die Chorsymphonie WELTETHOS
Hans Küng
Als »musikalisches Abenteuer sondergleichen« erschien sie mir von Anfang an, und
als »Küngs Kühnheit« (so titelte Barbara Eckle im »Tagesspiegel«) erschien sie manchen im nachhinein: die großdimensionierte Komposition »Weltethos« von Jonathan
Harvey, uraufgeführt in der Berliner Philharmonie am 13./15. Oktober 2011 von den
Berliner Philharmonikern, dem Berliner Rundfunkchor und den Kinderchören des
Händel-Gymnasiums. Ein mächtiges chorsymphonisches Werk, aufgeführt in einem
der bedeutendsten musikalischen Zentren der Welt, in Auftrag gegeben von der Stiftung Weltethos. Diese einzigartige Vertonung ethisch-religiöser Texte in zeitgenössischer Musik wirft natürlich viele Fragen auf. Im Rückblick auf die Uraufführung will
ich daher einige davon zu beantworten versuchen.
Worum es in der Komposition WELTETHOS geht
Was ist mit diesem Auftragswerk bezweckt? Das gemeinsame ethische Erbe der Menschheit zum Bewusstsein und zur Erfahrung zu bringen, wie es sich auf den Traditionslinien der großen Religionen und Philosophien findet und heutzutage sowohl von
glaubenden wie nichtglaubenden Menschen mitgetragen werden kann und soll. Es
war also gerade nicht beabsichtigt, wie manche Agenturmeldung titelte, »die Theologie Hans Küngs zu vertonen«. Es ging um Vertonung von Originaltexten aus den
großen Traditionen, die Zeugen eines bereits bestehenden Menschheitsethos sind,
wie es sich in kulturübergreifenden ethischen Werten, Maßstäben und Haltungen
manifestiert. Aus meiner Feder stammen das Gesamtkonzept der sechs Sätze, die
einführenden Rezitative des Sprechers und der jeden Satz abschließende Refrain des
Kinderchors. Alles in allem also eine Klangvision von einem globalen Bewusstseinswandel.
Wo war mir die Idee dazu gekommen? Nein, nicht im Konzertsaal, sondern im konkreten
Leben mit seinen Problemen und Konflikten, die nicht nur nach einer rechtlich ordnenden Weltorganisation verlangen, sondern zugleich nach einem moralischen Fundament: einem Weltethos mit dem Ziel einer Kultur der Ehrfurcht vor dem Leben,
der Gerechtigkeit, der Wahrhaftigkeit und der Partnerschaft von Mann und Frau.
Alle individuellen und gesellschaftlichen Lebensbereiche haben eine ethische Dimen-
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sion. Die 1995 gegründete Stiftung Weltethos konzentrierte sich von Anfang an nicht
nur auf den interreligiösen Dialog, sondern auch auf Fragen von Erziehung und
Schule, von Politik und Wirtschaft, ja sogar von Weltsport und Weltethos. Bisher
aber fehlte die Umsetzung des Themas in den Künsten. Weltethos soll ja nicht nur
den Kopf ansprechen, sondern auch das Herz, die Gefühle. Dafür eignet sich die Musik als spirituellste aller Künste in besonderer Weise. Seit sieben Jahren hatte ich
mich mit der Frage beschäftigt, wie das Weltethos musikalisch zur Darstellung gebracht werden könnte.
Warum war ein Komponist so schwer zu finden? Nicht weil Angefragte einfach »abgewunken« hätten, wie es ein uninformierter Rezensent tatsächlich behauptete, sondern weil das Konzept dieser Komposition eine enorme Herausforderung darstellt:
sowohl die interkulturelle wie die weltethische Dimension musikalisch ernstzunehmen und sechs grundverschiedene religiöse und musikalische Traditionen in einer
Komposition zu vereinen. Zwei bedeutende deutsche Komponisten hatten den
Kompositionsauftrag zunächst mit Begeisterung aufgenommen, mussten ihn dann
aber vor allem wegen dieser außergewöhnlichen interkulturellen Herausforderung
zurückgeben.
Warum habe ich für die sechs verschiedenen Sätze nicht einfach sechs Komponisten gewählt?
Weil es so nur zur Aneinanderreihung von sechs sehr unterschiedlichen Kompositionsstücken gekommen wäre. Das Weltethos aber will die Religionen nicht äußerlich
zu einer einzigen Einheitsreligion zusammenzwingen, wohl aber Frieden zwischen
den Religionen und damit auch zwischen den Staaten anstreben. Deshalb sollte ein
Potpourri vermieden werden, das aus einer bunten Folge von ursprünglich nicht zusammengehörendem Melos und Stil zusammengesetzt und mit Überleitungspassagen geschmückt wäre. Es sollte vielmehr ein Werk aus einem Guss sein, das allerdings die heutigen Möglichkeiten des Transponierens, Verfremdens und vielstimmigen Übereinanderschichtens nicht ausschließt.
Wie konnte dieser ungewöhnliche Kompositionsauftrag finanziert werden? Jedenfalls nicht
aus meiner privaten Tasche, wie auch fälschlicherweise behauptet. Auch nicht aus
dem relativ kleinen Etat der Stiftung Weltethos. Es war die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die mit
ihrer großzügigen Förderung dieses Musikprojekt möglich machte. Für die DEZA
war dieses Projekt ein – durchaus außergewöhnlicher – Beitrag zur Verständigung
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und Zusammenarbeit zwischen den Kulturen. Die Anwesenheit der dafür zuständigen schweizerischen Außenministerin und Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey,
zusammen mit dem deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff, bei der Uraufführung hat dies zum Ausdruck gebracht.
Anmerkungen zur Musik
Was für eine Musik wünschten wir uns? Jedenfalls nicht nur gehobene musikalische
Unterhaltung, nicht ein rein ästhetisches Vergnügen, kein amüsantes Musical. Aber
auch keine Folklore und keine Verkitschung der Musiktraditionen anderer Kulturkreise. Vielmehr, wie im Werktitel klar angekündigt, eine den ethischen Texten angemessene Musik. Allerdings kein romantisierendes, sondern ein modernes Werk
auf heutigem Niveau. Doch auch kein »l’art pour l’art«, keine bloß intellektuell konstruierte Musik. Vielmehr eine Musik, die Formenstrenge, Konstruktivität mit Emotionalität, Gefühl und Stimmung zu verbinden weiß. Im Magazin der Berliner Philharmoniker (September/Oktober 2011) habe ich den Weg beschrieben, wie ich zu
den Philharmonikern, ihrer damaligen Intendantin Pamela Rosenberg und ihrem
Chefdirigenten Sir Simon Rattle und so zum britischen Komponisten Jonathan Harvey kam. Ich bin im nachhinein überglücklich über diese Wahl. Das Orchester und
die beiden Chöre, und insbesondere auch der Sprecher Dale Duesing machten ihrem
erstklassigen Ruf alle Ehre.
Der Komponist, Jonathan Harvey, hat seine eigene Handschrift. Er wollte bei aller Interkulturalität des Werks keine chinesische, indische, arabische Musik schreiben oder
sich mit simplen Zitaten bei diesen Kulturen bedienen. Er versteht sich durchaus als
europäischer Komponist des 20./21. Jahrhunderts. An Arnold Schönberg geschult,
hat er die elektronische Musik am Pariser IRCAM bei Pierre Boulez studiert, sich
aber auch von der musikalischen Spiritualität Stockhausens und Messiaens beeinflussen lassen. So fand er seine eigene Tonsprache. Und er erkannte schon bei unserem ersten Gespräch in Zürich 2007 die Größe der Aufgabe: zugleich die multikulturelle Vielfalt und die weltethischen Konstanten in diesem Opus musikalisch zu gestalten.
Harvey kennt die Klangsprachen außereuropäischer Musik, wie er es in verschiedenen früheren Werken überzeugend gezeigt hat. Die Verschiedenheit der Kulturen
wird in den einzelnen Sätzen sozusagen mit Farbakzenten und verschiedenen In-
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strumenten zum Ausdruck gebracht. Assoziationen werden hervorgerufen zum Beispiel durch die traditionell-chinesischen Klänge des Cymbalons, durch die scharfschneidenden Mahnungen des Widderhorns (Schofar) für Mose am Berg Sinai, durch
das Anklingen arabischer Akkordik.
Aber die Hauptbemühungen des Komponisten galten den ethischen Weisungen, sodass seine Komposition weniger eine emotionale als philosophisch-religiöse Musik
bietet. Der Komponist bekennt selbst: »Die fordernde Natur des Textes zwang mich,
direkt zu sein. Ich fühlte wenig Bedürfnis nach spielerischen Elementen … Die Verantwortung, die Hans Küngs Projekt abverlangt, ist Ehrfurcht gebietend.« Die ethischen Texte waren für Harvey etwas völlig anderes, als er bisher in Musik umgesetzt
hatte: »Mehr als poetisch oder mystisch sind dies pragmatische, noble und ethische
Texte; ihr Zweck ist mehr sozial als ästhetisch«. Die musikalische Umsetzung der
Weltethos-Problematik stellt eine gewaltige künstlerische Leistung dar.
Es war für mich und Dr. Schlensog, den Generalsekretär unserer Stiftung Weltethos,
eine Erfahrung ganz besonderer Art, dass wir im Oktober 2011 in der Berliner Philharmonie die ganze intensive Probenwoche miterleben durften. Nach und nach
machten wir uns dabei Gedanken über die Musik, die wir da zu hören bekommen
würden und die sicher für die Hörer auch Ansprüche aufwerfen dürfte. Nun habe
ich also Jonathan Harveys Musik sehr gut kennengelernt und kann sie in vier Gegensatzpaaren charakterisieren:
(1) Seine Musik ist keine harmlose, sondern eine herausfordernde Musik, die zu einer
direkten Konfrontation mit dem Weltethos einlädt.
(2) Sie ist keine poetische, sondern eine dramatische Musik. Es geht in der Tat darum,
»to dramatize the universal urgency« (Harvey), eines Weltethos.
(3) Sie ist keine mystisch abgehobene, sondern eine realistische Musik; gerade die
durchgängige Verwendung des riesigen Schlagzeugapparats erinnert immer wieder
an die Widersprüche in unserer Wirklichkeit; die extremen Gegensätze zeigen sich
bisweilen in gleichzeitig unterschiedlichen Tempo- und Rhythmuswelten, die einen
zweiten Dirigenten (in Berlin der Chorleiter) erfordern.
(4) Sie ist trotzdem keine aggressiv-konfrontative, sondern eine letztlich versöhnende
Musik: bei allen Unterschiedlichkeiten ist der durchgängige Cantus firmus die
Menschlichkeit des Menschen.
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Ein Werk mit »Widerhaken«
Ich war mir bewusst, dass es sich bei WELTETHOS um ein Werk mit »Widerhaken«
(Alois Koch) handelt: ethische Normen aus uralten Zeiten im Berlin des säkularen
21. Jahrhundert – und dazu noch in Musik! Eine hoffnungsvolle Perspektive trotz
aller Gewalt, Ungerechtigkeit und Elend auf unserem Globus! Von daher kann man
die Verschiedenheit der Reaktionen verstehen, wie sie sich in den Medien niedergeschlagen haben. Da gibt es von Seiten der Konzertteilnehmer zahlreiche Äußerungen
der Zustimmung, der Begeisterung, ja der persönlichen Betroffenheit. Aber natürlich
gibt es auch scharfe Ablehnung, vor allem aus jenem Teil des Abonnementpublikums, das der modernen Musik reserviert gegenübersteht. Und unter den Rezensenten gibt es solche, denen das Ganze nicht passt, aus welchen Gründen auch immer:
vielleicht weil sie das Weltethos missverstehen, oder diese Art von Musik nicht
schätzen, oder die Person des Ideengebers und Autors nicht mögen.
Doch auch wer sich über das Werk ärgert und sich negativ äußert, fühlt sich herausgefordert. Dies zeigt sich gerade in jenen Rezensionen, die schon in ihrem ersten Satz
die Stoßrichtung erkennen lassen: statt Rezension gezielter Verriss; dafür erfreulicherweise nur zwei unerfreuliche Beispiele:
– In »Die Welt« fiel ein forscher römisch-katholischer Journalist namens Lucas Wiegelmann, ausgebildet an einer kirchlichen Journalistenschule, mit seiner Eigenprofilierung selber in die mir im Titel zugedachte »Eitelkeitsfalle«. Seine sachlichen Fehler
und sein eklatantes Unverständnis gegenüber dem Projekt Weltethos und dessen
Humanitätsprinzip kulminierten in einer persönlichen Verunglimpfung des Autors
(eine Richtigstellung wurde von der »Welt« nicht veröffentlicht, dafür wurde Wiegelmanns Artikel auch noch über die Katholische Nachrichten-Agentur KNA weiterverbreitet).
– In der linksliberalen »Berliner Zeitung« wiederum traktierte Peter Uehling ausgerechnet mich Schweizer Demokraten mit Hinweisen auf »ideologischen Musikmissbrauch deutscher Diktaturen« und »HJ- oder FDJ-Liedgut«. Mit solchen Unterstellungen und einem völligen Unverständnis des Weltethos bereitet er seinem eigenen
journalistischen Ethos ein »Begräbnis erster Klasse« (dies der Titel). So präsentiert
etwa der Schlussteil des Werks das Christentum keineswegs als »Krone aller Religionen«, sondern es endet mit der »Schichtung ethischer Schnittpunkte der sechs Religionen« (so Georg-Friedrich Kühn in seiner sachlichen Besprechung in der Neuen
Zürcher Zeitung).
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Überhaupt ist mein Text nicht moralisierend, sondern schlicht feststellend, und wer
solches als Moralkeule empfindet, muss wohl das Problem bei sich selber suchen.
Dass die Hörer dieses Konzerts mit schlechtem Gewissen nach Hause gehen, ist bestimmt nicht die Absicht des Stücks. Dass man aber bestimmte Imperative der
Menschlichkeit wieder einmal für sich selber und für die Gesellschaft überlegt, ist
durchaus beabsichtigt. Dass Weltethos letztlich vor allem eine »frohe Botschaft« ist,
kommt gerade im Tutti des Schlussteils zum Ausdruck.
Erfahrungen im Konzert
Natürlich gibt es bedenkenswerte Einwände gegen ein so kühnes musikalisches Unterfangen. Librettist wie Komponist müssen ernstnehmen, dass gerade bei einem
hochkomplexen Werk wie diesem die Musik auf dem Papier anders aussieht als sie
sich dann in der Realität anhört. Das Geheimnis der Musik eröffnet sich ja erst im
Erklingen der Töne. Und erst nach dem Hören lassen sich sinnvoll kritische Rückfragen stellen.
Von seiner Erfahrung bei der Uraufführung berichtet mit großer Kompetenz Wolfgang Schreiber, jahrzehntelang Musikkritiker der Süddeutschen Zeitung, Autor von
Büchern über Mahler und Celibidache und einer umfassenden Darstellung der großen Dirigenten des 20. Jahrhunderts von Mahler bis Rattle. Anders als andere Rezensenten zeigt er nicht nur Verständnis für den »Weltethos-Appell«, sondern setzt sich
auch ernsthaft mit der Musik Harveys und dem Libretto auseinander: »Schlüsseltexte der Religionen – Chinesische Religion, Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Islam und Christentum – bilden das Gerüst der Komposition, lassen die Prinzipien des
Weltethos begreifen. Wie kann das alles in musikalische Ordnung und Klangbewegung verwandelt werden, ohne platt affirmativ zu wirken, fragt man sich zu Beginn
fast beklommen. Denn schon der Orchesterapparat, der bei der Uraufführung in der
Berliner Philharmonie Stellung bezogen hat, gibt sich massiv: dreifach besetzte Holzbläser, vierfache Hörner, Trompeten, drei Posaunen mit Tuba, große Streichergruppe, zwei Harfen, Orgel, Celesta sowie sechs Perkussionisten, Dutzende Sänger. Aber
noch beeindruckender, dass so viele Musiker den ›Weltethos‹-Appell nicht im erwartbar dickfülligen Klang ersticken müssen, sondern die Vision von der ewig darbenden, hoffenden, strebenden Menschheit im Klangaufbau differenzierter gestalten,
als befürchtet.«
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Wolfgang Schreiber resümiert: »Dass die Chorsymphonie durch ihre Idee und ihren
Verlauf zum Weckruf an alle Menschen angefacht wird, menschlich und friedlich zu
sein, wird immer dringlicher akzentuiert in den fünfundsiebzig Minuten der Aufführung.«
Doch das Problem des Weltethos liegt dem Kritiker zufolge in »seiner inhaltlichen
Allgemeinheit: Wer soll wofür gewonnen werden?« Nun gebe ich natürlich gerne zu,
dass ich mit einer Komposition für einen Kirchentag die – von vornherein kirchlich
gestimmten – Menschen konkreter, emotionaler hätte gewinnen können. Aber an
solchen – zumeist recht populären – Kompositionen fehlt es ja wahrhaftig nicht. Ich
aber wollte gerade ein weltanschaulich völlig gemischtes und zumeist ganz säkulares
Publikum ansprechen und zwar mit der hochkünstlerischen Musik unseres Jahrhunderts. Und da »häufen sich« nun in der Tat »die Begriffe des Appells« aufgrund der
Ähnlichkeit der ethischen Appelle aus den verschiedenen Traditionen; darin zeigt
sich die große Übereinstimmung der Weltreligionen in ihrem ethischen Kernbestand.
Tritt deshalb die Botschaft beschwörend auf der Stelle, wie der Kritiker meint? Man
braucht nicht die »Erklärung zum Weltethos« des Parlaments der Weltreligionen von
Chicago 1993 zu lesen, welche den konkreten Gehalt der einzelnen ethischen Weisungen für die heutige Zeit bietet, um zu erkennen, dass das Libretto unserer Komposition systematisch voranschreitet: von der Forderung der Gewaltlosigkeit (Schutz
des Lebens: »nicht morden!«) über die der Gerechtigkeit (Schutz des Eigentums:
»nicht stehlen!«) und der Wahrhaftigkeit (Schutz der Wahrheit: »nicht falsches Zeugnis geben!«) bis zur (in ihrer konkreten Ausgestaltung freilich umstrittenen) Forderung der Partnerschaft von Mann und Frau (Schutz der geschlechtlichen Beziehungen: »Sexualität nicht missbrauchen!«). Die Komposition WELTETHOS will ja gerade
keine kosmische Vision zum Ausdruck bringen wie Mahlers »monströse ›Symphonie
der Tausend‹«, an die der Kritiker erinnert.
Natürlich hätte ich im Libretto die Ambivalenz von Musik und Religion deutlicher
ausleuchten können und wohl auch sollen, wie es mir Wolfgang Schreiber unter
Verweis auf meine eigenen Texte zu Mozart, Wagner und Bruckner nahelegt. Doch
mein Thema hier ist ja nicht die Religion und ihre Ambivalenz, sondern die gemeinsame ethische Botschaft der großen Religionen zur Geltung zu bringen, eine Botschaft, die auf mehr Menschlichkeit zielt. Doch schon die einleitenden Rezitative bei
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jedem Satz zeigen die großen religiösen Identifikationsgestalten der Menschheit im
Widerspruch zu ihrer Umwelt. Und der Komponist sorgt dafür, dass manche einfachen ethischen Aussagen mit sehr harter Musik konfrontiert werden, die auf eine
Doppelbödigkeit des Menschlichen hinweist. So werden denn die vom Sprecher, Dale Duesing, ohne falsches Pathos höchst eindrücklich gesprochenen Eingangsrezitative immer wieder vom Schlagzeug begleitet.
Tatsächlich nimmt die Dramatik der Musik im Lauf der Komposition zu und erreicht, obwohl damit keine Bewertung der betreffenden Religion verbunden ist, im
sechsten Satz eine musikalische Klimax. Eine Verstärkung dieser Dramatik von Anfang an könnte womöglich durch eine Kürzung der geflüsterten Chorpassagen im
ersten und zweiten Satz erreicht werden.
Auch eine Straffung des Sprechgesanges im Refrain des Jugendchors in den späteren
Sätzen wäre vielleicht hilfreich, da dieses Ritornell nicht, wie erwartet, nach verschiedenen musikalischen Traditionen variiert wird. Eine Betonung der von mir
selbstverständlich überall vorausgesetzten Ambivalenz ließ sich wohl auch auf dem
interpretatorischen Weg erreichen. Die grundlegenden ethischen Affirmationen werden ja konterkariert durch Gegen-Sätze, die, vom Kinderchor in einem Presto unbetont gesungen, leicht überhört werden können. Gegen-Sätze zur Affirmation weisen
auf die Ambivalenz des wahrhaft Menschlichen hin, das stets bedroht ist vom AllzuMenschlichen, ja Unmenschlichen. Die Gegen-Sätze seien kurz herausgehoben:
zur Goldenen Regel: »Kein Rassismus, Sexismus, Nationalismus«;
zum Ethos der Gewaltlosigkeit: »Nicht Hass und Neid, Gewalt und Kriminalität«;
zum Ethos der Gerechtigkeit: »Gegen Egoismus und Materialismus, für soziale Solidarität«;
zum Ethos der Wahrhaftigkeit: »Nicht lügen und Betrug, Heuchelei und Demagogie«;
zum Ethos der Partnerschaft: »Nicht Diskriminierung und Ausbeutung, nicht sexuellen Missbrauch«.
Akzentuierte Kontrastierungen können verdeutlichen, dass das Ritornell der Kinder,
der »rote Faden« der Humanität, die Sätze aus den einzelnen Religionen zusammenhält.
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Damit bin ich am Ende meiner positiv-kritischen Rückschau auf das große Werk
WELTETHOS angelangt. Nun wird es zunächst auf Englisch vom City of Birmingham Orchestra unter der Leitung von Edward Gardner am 21. Juni 2012 zur Eröffnung der Kulturolympiade aufgeführt. Die Stiftung Weltethos wäre glücklich, wenn
die Partitur, hervorragend betreut von Faber Music in London, speziell von Sally Cavender, noch oft zum Leben erweckt würde – alles im Dienst an des Menschen
Menschlichkeit.
Das Werk kann auch nach seiner Aufführung in Bild und Ton erlebt werden: auf der
Website der Berliner Philharmoniker in der »Digital Concert Hall«.
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