Volltext - Musiktheorie / Musikanalyse

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Alte Musik in der neuen Musik
Studien zur Rezeption der Musik um 1600 bei Salvatore Sciarrino und Klaus
Huber
Lovorka Ivanković
Betreuer: Univ. Prof. Dr. phil. Christian Utz
September 2013
Masterarbeit der Studienrichtung Musiktheorie (V 066 702)
Am Institut für Komposition, Musiktheorie, Musikgeschichte und Dirigieren
Kunstuniversität Graz
Inhaltsverzeichnis
Vorwort.............................................................................................................................. 4
1. Einleitung................................................................................................................... 5
1.1. Rezeption der alten Musik in der neuen Musik................................................. 5
1.2. Gesualdo in der Neue Musik........................................................................... 10
2. Salvatore Sciarrino Madrigali.................................................................................. 15
2.1. Zur Kompositionsästhetik Sciarrinos.............................................................. 15
2.2. Sciarrino und Traditionen............................................................................... 17
2.2.1. Sciarrinos Vokalstil......................................................................... 20
2.2.2. Sciarrinos Gesualdo–Rezeption...................................................... 22
2.2.3. Das Madrigal bei Sciarrino............................................................. 25
2.3. Der Zyklus 12 Madrigali................................................................................ 26
2.3.1. Form................................................ ............................................... 26
2.3.2. Textbehandlung in den Madrigali Nr. 1, Nr. 7, Nr. 2 und Nr. 8...... 27
2.4. Madrigal Nr. 1 Quante isole! / Wie viele Inseln! und Nr. 7 Quante isole!..... 30
2.4.1. Madrigal Nr. 1 Quante isole! Analyse............................................. 32
2.4.2. Madrigal Nr. 7 Quante isole! Analyse............................................. 42
2.5. Madrigal Nr. 2 Ecco mormorar l'onde / Hier das Murmeln der Wellen und Nr.
8 Ecco mormorar l'onde...................................................................................................... 45
2.5.1. Madrigal Nr. 2 Ecco mormorar l'onde, Analyse.............................. 46
2.5.2. Madrigal Nr. 8 Ecco mormorar l'onde, Analyse.............................. 51
2.6. Zusammenfassung.......................................................................................... 54
3. Klaus Hubers Lamentationes sacrae et profanae........................................................... 55
3.1. Oszillieren zwischen Politik, Mystik und Polykulturalität.............................. 55
3.2. Dritteltönigkeit und die arabische Musik........................................................ 57
3.3. Zu Hubers Kompositionsweise........................................................................ 60
3.4. Huber und Traditionen.................................................................................... 62
3.4.1. Aspekte von Hubers Gesualdo-Rezeption............................. 64
3.5. Lamentationes sacrae et profanae ad responsoria Iesualdi.............................. 67
3.5.1. Lamentationes sacrae et profanae ad responsoria Iesualdi, Analyse 69
3.5.2. Textbehandlung................................................................................ 74
3.5.3. Formübersicht................................................................................... 77
3.5.4. Harmonik und Intervallik.................................................................. 83
2
4. Zusammenfassung...................................................................................................... 92
5. Bibliografie................................................................................................................. 93
3
Vorwort
Die Frage, ob man sich mit der Tradition heutzutage noch auseinandersetzen soll oder
nicht, war bzw. ist eine der meistgestellten Fragen des 20. und 21. Jahrhunderts. Grob
gesagt könnte man in diesem Kontext über zwei Strömungen reden. Eine Strömung sind
die Komponisten und
Musikwissenschaftler bzw. Musiktheoretiker, die irgendeine
Beziehung mit der Tradition als Rückgang betrachten. Sie streben nach neuen
Entdeckungen und befürworten den Bruch mit der Vergangenheit. Die andere Strömung
sind jene, die in der Tradition eine unerschöpfbare Quelle sehen. Im Rahmen der
Vorlesungen während meines Masterstudiums wurde oft über dieses Thema gesprochen.
Ich hatte die Gelegenheit, verschiedene Ansätze - sowohl von Musikwissenschaftlern als
auch von Komponisten - kennenzulernen. Dadurch wurde mein Interesse geweckt, mich
selbst mit diesem Bereich näher zu beschäftigen. Vor allem wollte ich die Werke, die an
die alte Musik anknüpfen, analysieren, um zu sehen, wie die Auseinandersetzung von der
Gegenwart und Vergangenheit in der Praxis funktionert. Die Komponisten Salvatore
Sciarrino und Klaus Huber bzw. ihre Werke 12 Madrigali von Lamentationes sacrae et
profanae ad Responsoria Iesualdi waren im Zentrum meiner Erforschung.
Mein besonderer Dank gilt Univ. Prof. Dr. Christian Utz für seine Betreuung und
Unterstützung während des Studiums und während der Erstellung der vorliegenden Arbeit.
Mein Dank gilt auch dem Univ. Prof. Clemens Gadenstätter für seine hilfreichen
Anregungen und seine konstruktive Kritik bei der Arbeit an meinem Projekt. Schließlich
bedanke ich mich bei dem gesamten Institut für Komposition, Musiktheorie,
Musikgeschichte und Dirigieren der Kunstuniversität Graz für das gute Feedback während
des Studiums. Es war eine große Ehre für mich, hier studieren zu können.
4
1. Einleitung
1.1. Rezeption der alten Musik in der neuen Musik
Jörn Peter Hiekel unterscheidet vier Kategorien der Auseinandersetzung mit der
Musikgeschichte in der Musik des 20. Jahrhunderts:
a) Die erste Kategorie charakterisiert „die weitgehende Vermeidung oder Ausblendung
von Traditionsbezügen, wie man sie, auf der Suche nach einer unabhängigen eigenen
Sprache“1 finden kann. Diese Kategorie sieht Hiekel im Serialismus der frühen 1950er
Jahre verwirklicht.
b) Die zweite Kategorie umfasst die oft polemisch als „postmodern“ bezeichnete
„unbekümmert mit Traditionsbeständen jonglierende oder sie verklärende Form des
Umgangs mit Traditionen“.2
c) Die dritte Kategorie „steht im breiten Feld zwischen den beiden: sie ist das bewusste
Gegen-den-Strich-Lesen der Musikgeschichte.“3 Als Vertreter dieser Kategorie nennt
Hiekel Komponisten wie Nicolaus A. Huber und Rolf Riehm: „Riehm spricht selbst vom
Fehllesen, vom absichtlichen Missverstehen mit dem Ziel, gerade so ungeahnte Potenziale
eines älteren Werks zu entbinden.“4
d) Die vierte Kategorie umfasst „eine Form des kreativen Weiterdenkens, weit jenseits
von Monumentalisierung und Verklärung, dafür aber mit dem Ziel, das Sperrige vielleicht
sogar Provozierende eines vorgefundenen Elements erfahrbar zu machen.“ Zu dieser
Kategorie gehören „mit jeweils unterschiedlichen Ansätzen“ Salvatore Sciarrino, György
Kurtág, Hans Zender und Klaus Huber.5
Die letzte Kategorie steht im Zentrum der vorliegenden Arbeit. Am Beispiel der
ausgewählten Werke 12 Madrigali von Salvatore Sciarrino und Lamentationes sacrae et
profanae ad Responsoria Iesualdi von Klaus Huber wird versucht, den persönlichen
Zugang zur Tradition dieser beiden Komponisten zu zeigen. Jeder dieser beiden Künstler
knüpft auf eine andere Weise an die Tradition an, aber für beide ist die Musikgeschichte
1
Hiekel, Transformationen, S. 9.
2
Ebda.
3
Ebda., S. 10.
4
Ebda.
5
Ebda.
5
ungleich mehr als nur „tote“ Vergangenheit, aus der man keinen Nutzen mehr ziehen kann.
Sie betrachten sie als etwas Lebendiges, als etwas, was noch heute aktuell sein kann. Sie
greifen Elemente aus alten Werken auf und bauen damit ihre eigenen Werke. Die dabei
angewandten Verfahren reichen von Zitaten bis zu völlig modifizierten Passagen, in denen
man das Original nicht mehr erkennen kann.
Drei von vier Hiekels Kategorien umfassen die Komponisten, die sich mit Tradition
nicht beschäftigen möchten. Er teilt diese Komponisten stilistisch nach drei Gruppen bzw.
Kategorien. Nur die Letzte umfasst jene Komponisten, die in der Tradition das
unerschöpfbare Potenzial sehen. Nach Hiekels Aufteilung könnte man annehmen, dass er
im 20sten Jahrhundert eher die Abneigung zur Musikgeschichte sieht. Bei Cloot et al. sieht
man eine andere Denkweise. Sie sind fokussiert an diese Strömungen, die sich mit
Musiktradition intensiv beschäftigen.
Die Auseinandersetzung von Komponisten der neuen Musik mit älteren Stilen und
Kompositionsweisen wurde systematisch am Institut für zeitgenössische Musik der
Frankfurter Hochschule für Musik und darstellende Kunst erforscht. Das Institut wurde
2005 gegründet, seit diesem Zeitpunkt existiert die Reihe Rückspiegel – Zeitgenössische
Musik im Dialog, die nun durch eine gleichnamige Aufsatzsammlung ergänzt wurde. Es
handelt sich um Veranstaltungen wie Vorträge und Konzerte, wobei der Fokus auf den
Einfluss der alten Musik auf die neue Musik gerichtet wird:
Der Blick in den musikgeschichtlichen Rückspiegel beim Suchen und Erfinden neuer Klänge und das
Rückspiegeln der eigenen Arbeit durch den Dialog mit älterer Musik ist zu einem produktiven
kompositorischen Ansatz geworden, der quer durch das Spektrum neuer Musik an Anziehungskraft
gewonnen hat – nicht nur für Komponisten, sondern auch für Interpreten und Hörer. 6
Es wurde beschlossen dabei für die Herausgeber des Bandes Rückspiegel deutlich, dass
man im 20. Jahrhundert zwei Haupttendenzen in der Auseinandersetzung mit der alten
Musik finden kann. Eine bestand bis zu den 1950er Jahren, wobei „die Intention im
Vordergrund stand, strukturelle Eigenheiten des Originals zu verdeutlichen und
herauszuarbeiten“.7 Die zweite Tendenz findet sich gehäuft in der gegenwärtigen Musik,
wo „eher die Neigung der Komponierenden zu beobachten [ist], durch Bearbeitung,
6
Cloot, Saxer, Thorau, Vorwärtsgewandtes Rückspiegeln, S. 7.
7
Ebda., S. 11.
6
Rückgriff und Bezug niederzulegen, wie sie überlieferte Werke wahrnehmen, was die
Musik ihnen bedeutet und wie sie sie im buchstäblichen Sinne hören.“8 Hier wurden
Komponisten wie Hans Zender, Claus Kühnl, Johannes Schöllhorn, Heinz Holliger, Brice
Pauset, Salvatore Sciarrino, Chaya Czernowin und Rolf Riehm genannt. Sie alle
beschäftigen sich mit der Musikgeschichte auf verschiedene Weise, aber bei jedem von
ihnen „handelt es sich um ein Bewusstmachen notwendig subjektiver Anteile im
Kompositionsprozess
und
nicht
um
die
bloße
Restauration
kompositorischer
Subjektivität.“9 Im Bezug auf dieses Thema entwickelte sich ein Projekt des Freiburger
Ensemble Recherche unter dem Titel In Nomine. Das Ensemble Recherche schlug vor, eine
Gregorianische Choralmelodie als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der
alten Musik zu verwenden. Die Komponisten konnten diese Melodie auf ihre eigene,
persönliche Weise bearbeiten und dadurch ihren Zugang zur Musikgeschichte darzustellen.
Die erste Folge von In Nomine-Kompositionen entstand 1999 im Rahmen der Wittener
Tage für neue Kammermusik und war Harry Vogt, dem Festivalleiter, gewidmet. Über 50
Komponisten beschäftigten sich die folgenden zehn Jahre über mit diesem Thema und in
dieser Periode entstanden zahlreiche kurze Stücke, die aus dem gleichen Kern
herausgewachsen sind.
Ein ähnliches Projekt wie In Nomine entstand im Mozartjahr 2006. Das Frankfurter
Ensemble Modern kam auf die Idee, ein Konzertprojekt unter dem Titel Multipler Mozart
zu realisieren. Ausgangspunkt war die Auseinandersetzung mit Vergangenheit und
Gegenwart Transfers zwischen der Musik Mozarts und der zeitgenössischen Musik. Die
Aufgabe war, Kompositionen zu schreiben, die sich direkt auf Mozart beziehen. Drei auf
Mozart bezogene Werke wurden in zwei Konzerten in Berlin und Frankfurt aufgeführt: das
Ensemblestück Terzenseele (2006) von Arnulf Herrmann, Accanto. Musik für einen
Klarinettisten mit Orchester (1975) von Helmut Lachenmann und das Kammerkonzert
Intarsi (1994) von Klaus Huber. In Lachenmanns Accanto kommen die Zitate aus Mozarts
Klarinettenkonzert KV 622 vor. Es handelt sich um kurze Einschübe, die von einem
Tonband gespielt werden. Diese Einschübe treten unerwartet auf, verbinden sich aber
kompakt mit dem Ensembleklang, sodass sie letztlich doch nicht als Fremdmaterial
klingen: „Lachenmann behandelt das Tonband mithin wie eine Klangquelle mit
spezifischen Eigenschaften, analog zum restlichen Instrumentarium.“10 In das Material des
8
Ebda.
9
Ebda.
10
Böggemann, Steinbruch und stille Liebe, S. 104.
7
Ensembles integriert Lachenmann Elemente, die typisch für Mozarts Stil sind wie z. B.
Skalenbewegungen, gebrochene Dreiklänge oder „durchgehende, metrisch regelmäßige
Pulsationen.“11 Hermann nähert sich noch mehr der Tradition. Das Formprinzip, das
Hermann in seinem Stück verwendet, übernimmt er von Mozart. Es handelt sich um die
Methode, aus kleinsten Einheiten größere Abschnitte zu bauen:
Berührungspunkte ergeben sich dabei weit eher auf einer abstrakten konzeptionellen Ebene, als dass sich von
einer umstandslosen Übernahme Mozart’scher Verfahren sprechen ließe. Vielmehr verhält es sich so, dass
die
Problemstellung,
wie
sich
Großform
und
Detailebene
unter
Wahrung
größtmöglicher
Entscheidungsfreiheit miteinander vermitteln lassen, bei Mozart Lösungsätze findet, die als Möglichkeiten
heutigen kompositorischen Handelns aktualisiert werden können.12
Historische Vorläufer von Sciarrinos und Hubers Umgang mit der Tradition findet man
vor allem in Kompositionen ab den späten 1960er Jahren. Luciano Berio ist ein
Komponist, dr hier genannt werden muss. In seiner Sinfonia (1968/69) zitiert er Johann
Sebastian Bach, Debussy, Richard Strauss, Mahler, Ravel, Hindemith, Boulez,
Stockhausen und andere.13 Seine Verarbeitung des Scherzos aus Mahlers Zweiter
Symphonie im 3. Satz der Sinfonia beschreibt Berio mit folgenden Sätzen:
Wenn ich beschreiben sollte, auf welche Weise das Scherzo von Mahler in meiner Sinfonia gegenwärtig ist,
so käme mir spontan das Bild eines Flusses in den Sinn, der eine beständig wechselnde Landschaft
durchläuft, manchmal in ein unterirdisches Bett versinkt und an einem ganz anderen Ort wieder ans
Tageslicht dringt, bisweilen in seinem Lauf klar vor uns liegt, mitunter vollkommen verschwindet,
gegenwärtig ist als völlig überschaubare Form oder auch als schmales Rinnsal, das sich in der vielfältigen
Umgebung musikalischer Erscheinungen verliert.14
Die Musikzitate werden mit Textfragmenten von Samuel Beckett, Claude Lévi-Strauss,
James Joyce und anderen Autoren überlagert:
Die Idee der musikalischen Collage und Montage lag damals in der Luft. Der Purismus der 1950er Jahre
hatte sich überholt. Die Abkehr von den sklavischen Systemzwängen der Avantgarde musste offensichtlich
sein, um musikalisch überhaupt noch etwas Anderes, etwas Neues sagen zu können. Und Berio war einer der
11
Ebda., S. 106.
12
Böggenmann, Rückspiegel, S. 115.
13
Fricke, Labyrinth Musik: Luciano Berio, S. 4.
14
Berio, Sinfonia (author's note), S. 3.
8
ersten, der dies tat – mit großem Erfolg. Seine Sinfonia markiert einen wichtigen Wendepunkt in der
Musikgeschichte – ein Meisterwerk.15
Bernd Alois Zimmermann trennte die alte von der neuen Musik nie voneinander. Er
glaubte an eine Kugelgestalt der Zeit. Für ihn waren Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft eins. Einen entsprechenden Ansatz verfolgte Zimmermann im Umgang mit
Elementen unterschiedlicher Traditionen: „Er griff nicht nur die serielle Musik und [die]
Strenge der Darmstädter Avantgarde auf, sondern kombinierte diese Einflüsse in
einzigartiger Weise mit Jazz-Elementen und Zitaten historischer Kompositionen.“16 Für
Hans Zender war Zimmermann „der erste namhafte Komponist, der bewusst und explizit
Geschichte in sein Werk eingehen“17 ließ.
In der Nachkriegszeit war die Beschäftigung der Komponisten mit alter Musik mit
Skepsis betrachtet worden. Das Bedürfnis nach Entwicklung neuen Materials war stark
ausgeprägt und die Verknüpfungen mit dem Material früherer Zeiten erweckte bei einigen
Komponisten Misstrauen gegenüber potenzieller Regression in tonale Idiome. Es wurden
damals umfassende Diskussionen zu dieser Problematik geführt. Viele Werke, die mit
musikalischen Tradition verbunden sind, haben seither allerdings bewiesen, dass man aus
schon bekanntem Material sehr wohl etwas Neues erzeugen kann:
Heute, da sich die polemischen Wogen längst geglättet haben, weiß man, wie sehr auch
Transformationen ihre höchst kreative, nicht-akademische und auch nicht bloß spielerische
Seite haben können und sogar im Sinne eines generativen Prozesses verstanden werden
können.18
Wenn Hiekel über generative Prozesse schreibt, denkt er wahrscheinlich an die
Äußerung von Stockhausen über Zimmermann. Stockhausen hatte Zimmermann als
Transformator und sich selbst als Generator beschrieben: In dieser Äußerung klingen jene
oft dargestellten – und in mancher Hinsicht heiklen – Diskussionen zum Materialfortschritt
und zur Innovation an, die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten mit einiger Polemik
geführt wurden.19
15
Fricke, Labyrinth Musik: Luciano Berio, S. 4.
16
Autor unbekannt, Bernd Alois Zimmermann, S.1.
17
Zender zit. nach Hiekel, Transformationen, S. 10.
18
Ebda.
19
Ebda.
9
1.2. Gesualdo in der neuen Musik
Ein spezieller Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der Gesualdo-Rezeption im 20.
Jahrhundert.
Bezüglich
der
Rolle
Gesualdos
in
der
Musikgeschichte
waren
Musikwissenschaftler und Komponisten oft unterschiedlicher Meinung. Während die
Musikwissenschaft Gesualdos Musik „entweder als äußersten Entwicklungsstand der noch
aus dem späten Mittelalter kommenden prima pratica oder als Endpunkt einer Sackgasse
des Manierismus“20 betrachtete, erkannten viele Komponisten „in Gesualdo ein
wirkungsfähiges Modell“.21 Für sie ist Gesualdo sowohl als Künstler, der einen ganz
spezifischen Stil entwickelte, welcher unter seinen Zeitgenossen nicht akzeptabel war, als
auch als Person interessant. Doch Gesualdos Musik ist heute im Musikleben immer noch
relativ wenig präsent. Im Vorwort zu Glenn Watkins 1973 erschienener Biografie
Gesualdo. The Man and His Music befasste sich Igor Strawinski mit dieser Problematik. Er
meint, dass die Musiker noch keinen rechten Zutritt zu Gesualdo gefunden hätten:
„Musicians may yet save Gesualdo from musicologists, but certainly the latter have had the
best of it until now. Even now he is academically unrespectable, still the crank of
chromaticism, still rarely sung.”22 Den wichtigsten Gesualdo-Forscher erblickte Strawinski
in Watkins: „Further and finally, Professor Watkins newly maps the composer among the
peaks of Mannerism, and concludes this first sensible study of him with a fully
documented history of the misunderstandings of his music down to c. 1970.”23 Strawinski
beschäftigte sich ausführlich mit der Musik Gesualdos. Das Resultat seiner Analysen sieht
man im Werk Monumentum pro Gesualdo di Venosa (1960), in dem Strawinski drei
Madrigale von Gesualdo für Orchester rekomponierte:
Ich fand drei Stücke, die ich mir in instrumentaler Fassung zumindest vorstellen konnte. Ich kam bald zu der
Einsicht, daß gewisse Typen melodischer Figuren dem Charakter einer instrumentalen Bearbeitung
widersprachen, zum Beispiel Gruppen von schnellen Sechzehntelnoten. Da ich aber die Kontur der Musik
nicht verändern wollte, habe ich Madrigale dieser Art ausgeschlossen. In gewissem Sinne könnten meine
20
Zenck, Gesualdissimo, S. 78.
21
Ebda.
22
Strawinsky, Gesualdo di Venosa: New Perspectives, S. 4.
23
Ebda.
10
Instrumentationen deshalb als ein Versuch angesehen werden, den Begriff instrumental im Unterschied zu
vokal zu umreißen.24
Vor diese Bearbeitung hatte Strawinski auch drei Madrigale Gesualdos ergänzt (19571959).
Beide
Bearbeitungen
haben
entscheidend
zur
„Gesualdo-Renaissance“25
beigetragen. Neben Strawinski muss man in diesem Kontext unbedingt auch Komponisten
wie Alfred Schnittke, Ernst Křenek, Salvatore Sciarrino und Klaus Huber nennen. In der
Oper Gesualdo (1993) verarbeitete Schnittke Gesualdos Mordakt an seiner Gattin und
ihrem Liebhaber. Das gleiche Thema war der Ausgangspunkt für Sciarrinos Oper Luci mie
traditrici (1996-98), in der der Name Gesualdo nicht direkt erwähnt wird – die Personen
tragen andere Namen, aber die Geschichte basiert auf diesem Ereignis. Ernst Křenek und
Klaus Huber setzten sich mit Gesualdo als Komponist auseinander. Beide komponierten
Lamentationes, die an Gesualdos Ästhetik anknüpfen. Křenek kombiniert in seinem
Lamentationes Jeremiae Prophetae (1941-42) die Zwölftonigkeit mit dem modalem
Kontrapunkt der Renaissance. Dieses Werk war eine der Inspirationen für Hubers
Lamentationes sacrae et profanae ad responsoria Iesualdi:
Diese Lamentationen stehen zum einen in der aktualisierenden Tradition der Renaissance im mittleren 20.
Jahrhundert, in einem ausdrücklichen Zusammenhang mit Ernst Křeneks Lamentationes Jeremiae Prophetae
und in einem zweifachen Kontext mit Igor Strawinsky, mit dessen Threni einerseits, mit dessen bereits
transepochaler Auseinandersetzung mit Gesualdo andererseits.26
Die Auseinandersetzung mit Gesualdo in Hubers Lamentationes könnte man von zwei
Seiten bzw. im zweifachen Kontext beobachten. Einerseits nimmt Huber originale Stücke
von Gesualdo, die Responsorien, die er in seinen Zyklus integriert und andererseits knüpft
er direkt an Gesualdos Kontrapunktik und Harmonik an und entwickelt daraus neues
Material für seine Lamentationes. Einen ähnlichen Zugang zur Tradition zeigt Mathias
Spahlinger in seinem Werk Adieu m’amour (1982/83) für Violine und Violoncello mit dem
Untertitel Hommage à Guillaume Dufay. Obwohl das Werk auf dem gleichnamigen
Rondeau Adieu m’amour von Dufay basiert, „geht es Mathias Spahlinger in seinem Adieu
m’amour weder um Transkription, Bearbeitung oder Instrumentierung [...] Auch möchte er
weder der Künstlerpersönlichkeit Dufays huldigen noch die Erneuerung vermeintlich guter
24
Strawinsky, Monumentum pro Gesualdo di Venosa ad CD annum, S. 20.
25
Niedermüller, Gesualdo, Sp. 843.
26
Zenck, Gesualdissimo, S. 81.
11
alter Zustände beschwören.“27 Doch das ganze Tonmaterial nimmt Spahlinger von Dufay:
„Es gibt in dem Stück, was dann mein Stück ist, keinen einzigen Ton, der nicht von Dufay
stammt.“28 Der Fauxbourdonsatz „in Kombination mit einer durchbrochenen Satztechnik“
zerfällt in isolierte Einzeltöne, „die, obwohl sie von Dufay sind, nicht mehr als Dufay
gehört werden können.“29 Die Transformation im Bereich des Tonmaterials erstreckt sich
auch auf andere Ebenen. Michael Reudenbach differenziert drei Kategorien:
1. Die Transformation des Konzertraumes durch die Trennung der Instrumente.
2. Die Transformation der akustisch-mechanischen Eigenschaften der Instrumente
mittels eines anderen Saitenmaterials und einer Scordatura.
3. Die Transformation von Klängen und Klangfarben mittels ungewöhnlicher Griffund Bogentechniken.30
Durch alle drei Kategorien wird das Material stark modifiziert; sodass Dufay in den
Hintergrund tritt. Es sind nur noch die Umrisse des Originalstückes präsent: Eine überstaubte,
durchlöcherte, aufgesplitterte, in verschiedenen Zeitproportionen gesetzte Textur, geräuschhafte Restspuren,
eine wie aus weiter Ferne herüberklingende, sehr leise und zu Punkten erstarrte Musik, die in einzelnen
Passagen asynchron vorzutragen ist, erlaubt nur eine ver-rückte, merkwürdig verwackelte Sicht auf das
Dufay’sche Original. 31
Die Akustik des Raums bzw. die Transformation des Konzertraumes (siehe S. 9) spielt
auch bei Luigi Nono eine wichtige Rolle. In seiner „Hörtragödie“ Prometeo (1979-86)
knüpft er an die venezianische Schule der Mehrchörigkeit (ca. 1530-1630) an, wodurch der
Gattungsbegriff des Musiktheaters eine signifikante Erweiterung erfuhr:
Die Reflexion des Historischen als eines immer schon Vermittelten, das über verschiedene Formen der
Repräsentation in die Gegenwart hineinreicht, rührt indes auch an die zentrale Problematik von Prometeo als
radikale Infragestellung musiktheatraler Darstellung. 32
27
Reudenbach, Die Zukunft von der Vergangenheit befreien? Die Vergangenheit von der Zukunft
befreien?, S. 28.
28
Ebda., S. 30.
29
Ebda., S. 32.
30
Ebda., S. 34.
31
Ebda.
32
Elzenheimer, Dramaturigie des Raumes, S. 35.
12
Eines der Hauptmerkmale dieser Schule ist die Verräumlichung des Klangs:
Die Besonderheit der Weiterführung des mittelalterlichen antiphonalen Gesangs in der Entwicklung der
Coro-spezzato-Technik (also der Verwendung geteilter Chöre) durch Adrian Willaert, vor allem in seinen
Salmi spezzati (1550), und deren Weiterentwicklung zum mehrchörigen Concerto bei Andrea und Giovanni
Gabrieli besteht in der räumlich getrennten Aufstellung, zunächst der vokalen und später auch der
instrumentalen Gruppen.33
Die Kompositionen, die in dieser Tradition entstanden sind, beziehen sich stark auf den
Raum der venezianischen Kirche San Marco. Die eigentümlichen Klangfarben, die in
diesem Raum entstehen, haben Nono neue Ideen gegeben und zahlreiche Möglichkeiten
eröffnet:
Nono zeigte sich beeindruckt und inspiriert von den musikalischen Differenzierungsmöglichkeiten und den
räumlichen Differenzbildungen, die durch die konkrete Einbeziehung des Aufführungsraumes und seiner
akustischen Besonderheiten in die Komposition ermöglicht werden. 34
Nach dem Vorbild von San Marco verband Nono die Akustik seines Werkes mit der
Raumwirkung in der venezianischen Kirche San Lorenzo: „Er spricht davon, wie sich die
Entstehung des Stückes in seinem Kopf mit dem Hören des architektonischen Raumes so
verzahnt habe, dass sich die Richtung dieser imaginären Klangprojektion quasi aufhebe.“35
Das komplexe Verhältnis von Solo-Stimmen zur Chor- und Elektronikstimmen entwickelte
Nono dabei entscheidend weiter:
Die Verstärkung und Ausgestaltung dieses Konfliktpotentials gegenüber dem rein architektonischen Raum,
also die kompositorische Aktualisierung der Raumdynamik, die Nono von der Venezianischen
Mehrchörigkeit übernommen und komplex modifiziert hat, wird im Prometeo auf verschiedenen Ebenen
wirksam: zum einen in der räumlichen Aufstellung der Musiker- und Sängergruppen, zum anderen in der
komplexen Nutzung der
Live-Elektronik,
die
Nono
in Zusammenarbeit
Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung entwickelt hat.
mit
dem Freiburger
36
*
33
Ebda., S. 37.
34
Ebda., S. 38.
35
Ebda.,, S. 39.
36
Elzenheimer, Rückspiegel, S. 43.
13
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, auf der Grundlage der zwei Werke 12 Madrigali von
Salvatore Sciarrino und Lamentationes sacrae et profanae ad responsoria Iesualdi von
Klaus Huber zu zeigen, wie alte Musik in zeitgenössische Musik transformiert werden
kann. In den Kapiteln 2.4. Der Zyklus der 12 Madrigali und 3.5. Lamentationes sacrae et
profanae ad responsoria Iesualdi wird detailliert dargestellt, wie sich jeder der
Komponisten insbesondere dem Modell Gesualdos – bewusst oder unbewusst – annähert.
Beide Komponisten beschäftigten sich aber auch viel auch mit anderen Komponisten und
Stilrichtungen der älteren Musik. In den Kapiteln 2.2. Sciarrino und Traditionen und 3.4.
Huber und Traditionen versuchte ich, diesen weiteren Bereich und die darin entstandenen
Werke zu umschreiben und einen kurzen Überblick über die kompositorischen Strategien,
die darin angewendet sind, zu bieten. Für die Analysen habe ich außer der Textform auch
Tabellen und graphische Modelle herangezogen.
14
2. Salvatore Sciarrinos Madrigali
2.1. Zur Kompositionsästhetik Sciarrinos
Sciarrinos Beschäftigung mit bildender Kunst seit seiner Jugend reflektiert sich in der
Art und Weise, wie er seine Kompositionen anlegt. Er ist sensibel gegenüber den Farben in
seiner Umgebung und versucht, sie in seiner Musik darzustellen: „Sciarrino selbst spricht
vom elfenbeinfarbenen Licht in Palermo, das sich aus dem Schatten der Berge und dem
Reflex vom Meer her ergebe, doch er fügt an, dass ihm die Atmosphäre im Winter ohne
die grelle Sonneneinstrahlung lieber sei.“37 Für Sciarrino ist diese Verbindung mit
bildender Kunst nicht nur für die Bühnengestaltung szenisch-räumliche Konzeption seiner
Werke wichtig, sondern auch für seine musikalischen Kompositionen. Der Umgang mit
Raum bzw. Raumgefühl wird in seinen Werke deutlich: „Seine Werke sind
architektonisch-räumlich konzipiert, wobei der Begriff des Raums sich bei ihm weniger
auf die äußeren Gegebenheiten der Aufführung bezieht als auf den inneren, imaginären
Raum der Musik.“38 Oft sind die Handlungen seiner Bühnenwerke stark mit Geschehnissen
auf der Bühne verbunden, so z. B. in Infinito Nero (1998) der Austausch von schwarzem
und weißem Licht: „Diese Veränderungen sind enorm wichtig, denn auch das Stück ist so
gemacht. Es sind parallele Diskurse. Das Wichtigste dabei ist, daß die Idee der
Übereinstimmung der Gegensätze wiedergegeben wird.“39
Ein weiterer wichtiger Aspekt von Sciarrinos Musik ist die Stille: „Ökologie des Klangs
heißt sicher Rückkehr zur Stille, aber ganz besonders auch die Wiedergewinnung eines
Ausdrucks ohne Gefühlskälte und ohne Rhetorik. Wenn sich die Stimme dem Schweigen
anvertraut hat, bleiben nur noch Mund, Mundhöhle und Speichel. Die sich öffnenden
Lippen, Grenze zu einer dunklen Leere, zum Durst und zum Hunger.“40 Die Stille ist nicht
nur die bloße Abwesenheit des Klangs: Sie ist eine Welt für sich, voll von zahlreichen
Möglichkeiten. Für Sciarrino sind Stille und Klang zwei gleichberechtigte Komponenten
der Musik: „Ihn interessiert beim Komponieren, was nicht erklingt genauso sehr wie das,
was erklingt. Er ist ein Erforscher der musikalischen Antimaterie.“41 Ihn interessieren die
37
Nyffeler, Der Klang aus der Stille der Nacht, S. 3.
38
Ebda., S. 4.
39
Sciarrino/Vogt, Zu Salvatore Sciarrino, S. 22.
40
Sciarrino zit. nach Nyffeler, Das Meer, der Klang, der Spiegel, S. 7.
41
Spahn, Klang – in den Labyrinthen des Schweigens, S. 1.
15
Hörgrenzen und die feinen Übergange zwischen Schweigen und Klingen. Sein Umgang
mit dem Tonmaterial könnte man auch als Ökonomie des Klangs bezeichnen. Wenige
Elemente reichen aus, um eine Idee auszudrücken. Sciarrino beschäftigt sich geduldig mit
jedem Detail, jedem Ton: „Der Ton wird nicht als eine unspaltbare Einheit aufgefaßt, die
erst in Verbindung mit anderen Einheiten zu einer sinnfälligen Figur zusammengefaßt
wird. Er erscheint vielmehr als bewegliche Substanz, die ihr Obertonspektrum
miteinbezieht und die Grenzen zu den Nachbartönen immer wieder sprengt.“ 42 Ein für
diesen Ansatz repräsentatives Werk ist das Musiktheater Infinito Nero, in dem die Stille
eine wichtige Rolle spielt. Im Mittelpunkt dieses Stücks steht die Mystikerin Maria
Maddalena de’ Pazzi aus der Zeit um 1600, die starke Visionen erlebt. Von ihr selbst
entstanden keine Texte, aber die acht Nonnen, die bei diesen beängstigenden Ekstasen
anwesend waren, haben einige ihrer Worte notiert. Ihr Sprechen war, laut dieser
Überlieferung, ganz schnell und abrupt, die Worte folgten rasch aufeinander, ohne eine
bestimmte Logik. Auf einmal hörte sie mit dem Sprechen auf und es entstand ein langes
Schweigen. Diese Stille erzeugte eine hohe Spannung, die Nonnen wussten nicht, wann sie
wieder beginnen würde und jeder Moment ist geprägt von der intensiven Erwartung neuer
Wörter bzw. Klänge. Sciarrino selbst spricht von einem Wandel seines kompositorischen
Schaffens, das mit diesem Werk einsetzt:
Die Visionen der Mystikerin Maria Maddalena sieht Sciarrino an der Grenze zwischen Gut und Böse. Diese
Grenze kann man bei ihr nicht klar ziehen: „Im Endeffekt hätte „Infinito nero“ genauso gut „Infinito bianco“
(„das unendliche Weiß“) heißen können. Das ist kein Paradox: Wenn ich das Weiße oder das Schwarze für
eine Weile anschaue, sehe ich das Gleiche.43
Die ständige Veränderung des Materials in Sciarrinos Werken könnte man mit einem
Kaleidoskop vergleichen. Gleiche Elemente werden auf verschiedene Weisen kombiniert.
Dieser Prozess entwickelt sich langsam und dabei entstehen immer neue Bilder bzw.
Klangereignise. Diese Klangveränderungen bzw. Variationen sind ganz fein und
unmerklich:
Das ist vielleicht auch die Achse, um die sich mein ganzes Werk dreht, und wohl auch der Grund, dass meine
Stücke manchmal auch so schwierig aufzuführen sind. […] Die Schwierigkeit liegt […] darin, die lebendige
42
Borio, Der italienische Komponist Salvatore Sciarrino, S. 35.
43
Sciarrino/Vogt, Zu Salvatore Sciarrino, S. 22.
16
Logik dieser kleinen, kontinuierlichen Veränderungen zu verstehen und interpretatorisch deutlich zu
machen.44
2.2. Sciarrino und Traditionen
In den 1960er Jahren beginnt Sciarrinos Beschäftigung mit verschiedenen
Musiktraditionen, angefangen von Machaut, Gesualdo und Bach über Mozart, Beethoven
und Ravel bis hin zur populären Musik des 20. Jahrhunderts. In diesem Bereich entstanden
verschiedene Werke: von Bearbeitungen (z.B. Dodici canzoni da battello 1977, Rose Liz
1984, Le voci sottovetro 1999, Canzoniere da Scarlatti 1998) bis zu völlig neuen
Kompositionen, bei denen man nur noch „assoziative Bezüge“45 finden kann. In jedem
dieser Werke versucht Sciarrino die Traditionen wieder aufleben zu lassen. Ihn interessiert
wie man Altes und Neues verbinden kann: „Was bleibt uns von den alten Stimmen? Sehen
wir sie nur noch transparent oder können wir einen Bodensatz wahrnehmen, so winzig er
auch sein mag, der noch nicht aus dem Gefäß entwichen ist?“46
Obwohl sich Sciarrino Traditionen nähert, möchte er nicht „strukturelle Eigenheiten des
Originals transparent […] machen“.47
Für Sciarrino dagegen muss es um das Erkennen und kompositorische Herausdestillieren jenes Bodensatzes
musikalischer Erfahrung, von dem er gesprochen hat, gehen. Es gilt, diesen Bodensatz einem
zeitgenössischen Publikum wieder zugänglich zu machen. 48
Es ist deutlich, dass Sciarrino die Werke der Vergangenheit als unerschöpfliche Quelle
betrachtet. Er sieht in diesem Material noch viel ungenutztes Material, welches er
transformiert und aus dem er neue Werke schafft: „Erklingendes [wird] addiert oder
verkürzt, mit anderen Elementen überlagert, durch neues Material ergänzt oder
interpoliert.“49 Das Klavierstück Anamorfosi (1981) ist eine Synthese von zwei Werken
Ravels: Jeux d’eaux (1901) und Une barque sur l’océan (1905) und dem Refrain aus
44
Sciarrino zit. nach Nyffeler, „Es gibt zwei Arten von Fantasie“, S. 2.
45
Drees, Bearbeitung, Transformation, Allusion, S. 22.
46
Sciarrino zit. nach Saxer, Dekonstruktion und Konstruktion zugleich, S. 57.
47
Ebda., S. 58.
48
Ebda.
49
Drees, Salvatore Sciarrino, S. 42.
17
Singin’ in the rain (1929) von Nacio Herb Brown und Arthur Freed. Sciarrino legt hier alle
drei Stücke übereinander: Singin’ in the rain und Jeux d’eaux verlaufen gleichzeitig. In der
Oberstimme hört man die Melodie aus Singin’ in the rain und in der Begleitung ist das
Material von Jeux d’eaux präsent. Am Anfang klingt das Stück wie eine Parodie. Langsam
geht die Textur aber in etwas Neues über, man erkennt plötzlich das Zitat aus Une barque
sur l’océan. Man kann nicht genau sagen, wo dieses Zitat einsetzt. Es beginnt sich zu
entwickeln, noch während die Melodie aus Singin’ in the rain hörbar ist.
Auf ähnliche Weise greift Sciarrino historisches Material in zwei anderen seiner
Werken auf: Blue Dream. L’età d’oro delle canzone (Blue Dream. Das goldene Zeitalter
des Lieds für Sopran und Klavier, 1981) und Nove canzoni del XX secolo (Neue Lieder des
20. Jahrhunderts) für Stimme und Orchester (1991).50 Das Bühnenwerk Vanitas. Natura
morta in un atto (Leere. Stilleben in einem Akt) für Mezzosopran, Violoncello und Klavier
(1980/81) beruht auf dem Lied Star Dust von Mitchel Parish und Hoagy Carmichael
(1927/29), das Sciarrino mit Fragmenten aus Werken anderer Komponisten (Giovan Leone
Sempronio, Giovan Battista Marino, Robert Blair, Jean De Sponde, Martin Opitz, Johann
Christian Günther u.a.) und Textfragmenten aus Barockgedichten in mehreren Sprachen
kombiniert. Der Titel Vanitas bezieht sich auf die Leere des Bühnenraums, welche sich
zwischen den drei weit voneinander entfernten Musikern erstreckt. Die Stimme, begleitet
von Klavier, bringt eine Melodie, die aus mehreren kurzen Phrasen besteht, ähnlich einem
Rezitativ. Im Violoncello erscheint das Material des Gesangs und wirkt hier als Echo. Das
Klavier bringt Elemente aus Star Dust, nämlich die sechsstimmigen Akkorde, auf denen
dieses Lied basiert:
Sciarrino gestaltet die formale Architektur auf fast minimalistisch zu nennende Weise aus diesem
Ausgangspunkt, dessen Vorgaben immer wieder variiert und zu reicheren Figuren oder Arpeggien erweitert
werden. Doch trotz dieses augenscheinlichen materialen Zusammenhangs stehen die einzelnen Komponenten
der Musik nahezu beziehungslos nebeneinander.51
Im Stück Storie di altre storie für Akkordeon und Orchester (2005) bringt Sciarrino eine
Mozart-Bearbeitung mit Werken von Guillaume de Machaut und Domenico Scarlatti
zusammen. Die Abschnitte ergeben eine Einheit aus ganz kontrastierenden Teilen. Mozart
ist ein wichtiger Komponist für Sciarrino. Er tritt an Mozarts Werke als Komponist und
auch als Musikwissenschaftler heran. Das beweisen die zahlreichen Bearbeitungen von
50
Ebda., S. 10.
51
Ebda., S. 13.
18
Mozart-Kadenzen, zusammengefasst im Stück Cadenzario für Orchester mit Solisten
(1982/91), sowie zum Adagio KV 356 (617a) für fünf Instrumente (1994). In Cadenzario
sind beide Seiten von Sciarrinos Annäherung zur Traditionen präsent; sowohl die
Bearbeitung als auch die Transformation. Allmählich entfernt er sich von Mozarts Musik
und in den Vordergrund tritt Sciarrinos „eigenes“ Idiom:
Die Musik entfernt sich hier [Flötensolo, T. 149] motivisch gänzlich vom Vorbild Mozart, verbleibt aber
durch ihre zwischen den Perkussionsinstrumenten aufleuchtenden Klarheit in einer gestischen Nähe, in der
sich die geistige Verwandschaft beider Komponisten offenbart.52
Auch in Sciarrinos Bühnenwerken ist Mozarts Musik präsent; in der Oper Macbeth
(2001/02) erscheinen kurz die Zitate aus Don Giovanni. Unter den Bühnenwerken finden
sich einige, die in engem Bezug auf Traditionen entstanden sind. Neben Luci mie traditrici
und Infinito nero betrifft dies vor allem die Oper Macbeth. Tre atti senza nome (Macbeth.
Drei namenlose Akte), welchem der Text von William Shakespeare zugrunde liegt, die
Oper Lohengrin für Solistin, Instrumente und Stimme (1982/83; 1984) und die Oper
Perseo e Andromeda (1990), beide entstanden auf Grundlage von Texten des französischen
Symbolisten Jules Laforgue (1860-1887). Das Libretto für Macbeth hat Sciarrino selbst
verfasst. Er ist eng an Shakespeares Original angelehnt, reduziert dieses aber aufs
Äußerste: „Die alten Formen, Stoffe und literarischen Vorlagen verlieren unter seinem
künstlerischen Zugriff jede historisierende Aura und offenbaren in neuer Gestalt ihren
zeitlos aktuellen Charakter.“53 Das, was bei Shakespeare in sieben und bei Verdi in acht
Szenen entwickelt wird, komprimiert Sciarrino zu einem einzigen Bild. Dabei spielt die
Schlachtenerzählung, die Verdi überhaupt nicht verwendet, in Sciarrinos Fassung eine
wichtige Rolle. Der Fokus liegt auf der Innenwelt der Protagonistin (Lady Macbeth), alles
andere ist der Erzeugung der inneren Dramatik dieser Figur untergeordnet. Lohengrin
könnte man im gleichen Sinn als „Drama der geistigen Zerrüttetheit“54 der Protagonistin
Elsa beschreiben. Ihre seelischen Zustände äußern sich durch die expressive
Instrumentalmusik. Die Instrumente sind gleichberechtigt mit der Sängerin; sie nehmen an
der Entstehung der Dramatik teil. Dieses Verfahren, „eine antinaturalistische Aufspaltung
52
Ebda., S. 11.
53
Nyffeler, Der Geruch von Blut-Salvatore Sciarrinos „Machbeth“, S. 1.
54
Drees, Salvatore Sciarrino, S. 13.
19
der Darstellungsebenen“55, entwickelte Sciarrino erstmals in Vanitas, hier entwickelte
dieses Prinzip in den Werken der 1990er Jahre konsequent weiter. Fast in jeder seiner
Opern stehen die Frauen im Zentrum des Geschehens, „hoch empfindsame, somnabul
visionierende Hysterikerinnen, deren Stimme wie Seismografen funktionieren: Über lange
Passagen hinweg schlagen sie nur schwach aus, um urplötzlich ihrer inneren Erregung in
verdichteten, expressiv gezackten Linien Ausdruck zu verleihen.“56
2.2.1. Sciarrinos Vokalstil
Für Sciarrino ist die Stimme eine sehr wichtige Komponente der Musik, die aber in
breiten Teilen der zeitgenössischen Musik eher beiläufig eingesetzt worden sei:
Abgesehen von Nonos vocalità […] oder ein paar anderen besonders gut gelungenen Kompositionen von
Boulez – der sich nie mit Theater beschäftigte, jedoch die Entwicklung der Vokaltechnik beeinflusst hat –
sind die Beiträge in diesem Sinne sehr gering. Der Gebrauch einer Stimme, die ihr gesamtes Potential
ausschöpft, ist in der zeitgenössischen Musik vermieden worden.57
Sciarrino schrieb sein erstes Werk mit Singstimmen Aka Aka to I, II, III für Sopran und
12 Instrumente schon 1968. Seither formierte sich langsam sein Vokalstil sillabazione
scivolata (gleitende Silbenartikulation), den er in den späten 1970er Jahren entwickelte.58
Das Hauptelement dieses Stil ist eine zweiteilige Figur, die mit der Leichtigkeit des
alltäglichen Sprechens ausgeführt werden soll. Sie besteht aus einem lange liegenden Ton
„der unvermittelt in eine schnelle, oftmals barock formelhaft anmutende Figuration
übergeht.“59 Diese Figur wird sukzessiv variiert bzw. modifiziert. So entstehen zahlreiche
Gesangsmodule, die Sciarrino als Bausteine für seine Vokalkompositionen verwendet.
Sciarrino knüpft dabei an die Stimmästhetik des frühbarocken Gesangs an. Giulio Caccini
hat diese Stimmästhetik mit dem Begriff sprezzatura umschrieben:
55
Vinay, Sciarrino, Salvatore, Sp. 458.
56
Spahn, Nachts allein, S. 2.
57
“Se si eccettuano la vocalità di Nono […] o un paio di composizioni particolarmente azzeccate di
Boulez – che non ha mai fatto teatro ma ha influenzato lo sviluppo della tecnica vocale – i contribuiti in
questo senso sono molti poche. L'utilizzo della voce al pieno delle sue potenzialità nella musica
contemporanea è stato evitato.“ Sciarrino/Filotei, Un' idea fissa Riformare il teatro musicale, S. 1.
58
Saxer, Vokalstil und Kanonbildung, S. 482.
59
Ebda., S. 476.
20
Sprezzatura ist jene Leichtigkeit, die man dem Gesang dadurch verleiht, daß man ihn mit vielen Achteln und
Sechzehnteln über verschiedene Töne des Basses hinwegeilen läßt und daß man so, wenn es zur rechten Zeit
geschieht, dem Gesang eine gewisse Enge und Trockenheit nimmt und ihn angenehm gelöst und luftig
macht.60
Sciarrino hat ähnliche Anweisungen für die gesprochenen Teile in seiner Werken
gegeben und dabei den Begriff scioltezza verwendet: „Die rhythmische Notation der
gesprochenen Passagen gibt den Tonfall vor; es ist aber insgesamt notwendig, auch die
Leichtigkeit [scioltezza] des alltäglichen Sprechens zu erreichen.“ 61 Das Prinzip der
scioltezza benutzt Sciarrino aber auch für die gesungenen Abschnitte. Dabei kann die
Intonation zugunsten der Sprechgestik vernachlässigt werden. Das Ziel ist es, den
Charakter der handelnden Personen auszudrücken:
Die notierten Rhythmen müssen nicht genauestens ausgeführt werden, aber sie sind wichtig für das
Verständnis des Zögerns, der Sprechgeschwindigkeit und daher der emotionalen Reaktion der sprechenden
Personen oder für das Gewicht der Antwort in einigen Dialogen, was auch sehr stark durch die Zeit
wiedergegeben wird, die zwischen einer Dialogzeile und der Replik darauf verstreicht. Manche Dialoge
weisen ein ungeheueres Vakuum auf. 62
Die Stimme muss sehr beweglich, und ohne Vibrato eingesetzt werden. Die Ausführung
von Sciarrinos Vokalparts verlangt eine hohe Konzentration, besonders wegen der feinen
dynamischen Unterschiede zwischen piano, pianissimo und ppp, die hörbar werden
müssen. Typisch für Sciarrino ist zudem, dass er an die Belcantotechnik messa di voce
anknüpft. Es handelt sich um einen crescendierenden, lang ausgehaltenen Ton, der
dynamisch sehr leise beginnt, sich allmählich bis ins piano, mezzoforte oder forte steigert
und wieder ins pianissimo zurückkehrt. Die Tonhöhe bleibt hierbei unverändert. Für
manche Komponisten wie z. B. Giuseppe Tartini (1692-1770) war es unvorstellbar, messa
di voce mit Vibrato zu verbinden, jedoch war ein Triller erwünscht.63 Bei Sciarrino gibt es
hingegen keine Verzierungen auf der langen Note:
60
Caccini, Nuove musiche e nuova maniera di scribere (1614), Vorrede, zit. nach Palisca, Italienische
Musiktheorie im 16. und 17. Jahrhundert (= Geschichte der Musiktheorie, Bd. 7), S. 304
61
Sciarrino, Luci mie traditrici, S. X
62
Salvatore Sciarrino im Gespräch, S.38 in: Utz Sog der Zeit, S. 46.
63
Zaminer, Messa di voce, S. 563.
21
Er integriert bestimmte Züge des Belcanto in seinen Gesangsstil und „bearbeitet“ sie, um eine neue
Ausdrucksqualität des Gesangs zu erzielen. Was als crescendierende Vorbereitung einer ausgreifenden
cantablen Melodielinie anhebt, wird nicht – wie erwartet – weitergeführt. Es bleibt bei diesem einen Ton, der
übergangslos in eine schnell artikulierte, zum Teil koloraturhaft arabeske Figuration mündet, der es jedoch an
der Brillianz der traditionellen Koloraturen mangelt, da sie zu rasch zum Ende kommt. Es ist ein ‚noch nicht‘
und ein „nicht mehr“, aus dem sich die Gesangsphrasen zusammensetzen.64
2.2.2. Sciarrinos Gesualdo-Rezeption
Für Sciarrino ist Carlo Gesualdo eine der zentralen Personen der Musikgeschichte.
Sciarrino sieht in Gesualdos Schaffen die Essenz vieler späterer Entwicklungen
verweggenommen:
Der kultivierte Hörer fühlt sich von ihm [Gesualdo] in besonderer Weise angezogen: eine Unmenge an
Klangassoziationen mit den modernsten Komponisten stürzen auf ihn ein. Wir finden bei Gesualdo die
Extravaganzen von Vivaldi und Domenico Scarlatti, von Schubert oder sogar vom späten Beethoven, wir
finden den Duft der Spätromantik oder das Frankreich zu Beginn unseres Jahrhunderts, die Atmosphäre des
Expressionismus.65
Sciarrino näherte sich Gesualdo von zwei Seiten einerseits dem zukunftsweisenden
Komponisten, andererseits beschäftigte er sich mit Gesualdo als Mensch und Mörder
seiner Ehefrau Maria d’Avalos. Dieser Racheakt hat Gesualdos Leben wesentlich
beeinflusst, auch wurde dieses Geschehnis mehrmals sowohl in der Literatur als auch in
der Musik verarbeitet. Auch Gesualdos Spätstil – der sich durch eine extreme Form der
Chromatik auszeichnet – wurde bisweilen als Konsequenz dieser Tat betrachtet. Im Jahr
1999 schrieb Sciarrino ein szenisches Stück für Mezzosopran, Saxophonquartett und
Schlagzeug: Terribile e spaventosa storia del Principe da Venosa et della bella Maria in
der Tradition ds sizilianischen Marionettentheaters. Die Komposition wird durch eine
Bearbeitung von Gesualdos Madrigal Tu m’uccidi o crudele (Libro quinto, 1611) eröffnet.
Neben der Madrigaltradition integriert Sciarrino auch den italienischen Volkstanz
Tarantella, welcher ebenfalls in transformierter Form erscheint. Im gleichen Jahr (1999)
64
Saxer, Vokalstil und Kanonbildung, S. 478.
65
Sciarrino/Maurer, Le Voci Sottovetro, S. 4.
22
entstand ein weiteres Werk, das direkt an Gesualdos Schaffen anknüpft: Le voci sottovetro
für Stimme und Ensemble. Ausgangspunkt dieser Komposition sind Transkriptionen von
vier instrumentalen und vokalen Werken Gesualdos. Hier erscheinen das Madrigal Moro,
lasso (4. Satz) und eine weitere Bearbeitung von Tu m’uccidi o crudele (2. Satz). Der
Werktitel „Die Stimmen hinter Glas“ bezieht sich auf den akustischen Raum, in dem sich
die Stimme befindet:
Worauf der Titel Le voci sottovetro anspielt? Eine Stimme, die lebendige Essenz, in eine Flasche
einzusperren, das läßt einem an die Genien denken, die von Salomon eingefangen und ins Meer geworfen
wurden. Die islamische Phantasieliteratur wimmelt nur von solchen Legenden. Es kann einem auch die
barocke Lust am Monströsen und Spektakulären einfallen, die bekanntermaßen mit der Wissenschaft und
dem Bedürfnis, das unterbrochene und anatomisch sezierte Leben auszustellen, einhergeht. 66
Beide Komponenten Gesualdos – das Kompositorische und das Persönliche, an die
Sciarrino Interesse zeigt – bringt er in seine Oper Luci mie traditrici (1996-98). Der Text
basiert an den Mord Gesualdos an seiner Gattin und ihrem Liebhaber, das in der barocken
Tragödie Il tradimento per l’onore (1664) von Giacinto Andreas Cicognini verarbeitet ist.
Durch die Instrumentation werden die psychischen Zustände der Protagonisten dargestellt.
Die nervösen Figurationen der Streicher und Atemgeräusche der Bläser spiegeln die
Spannung der Protagonisten. Durch die äußerlichen/sichtbaren Elemente Musik,
Bewegung und Gesang werden die innerlichen/unsichtbaren Veränderungen präsentiert.
Auch wenn jemand ohne Kenntnis der Handlung der Oper zuhört, kann man schon von der
ersten Szene an vermuten, dass etwas Schlimmes passieren wird. Die hohe Expressivität
steht im Zentrum dieses Werks: „Sciarrinos Ästhetik ist eine Ästhetik des Unsichtbaren.“67
Das Modifikationsprinzip ist auf allen Ebenen vorhanden, sowohl in den Gesangsfiguren
als auch in den instrumentalen Intermezzi.
Die Oper beginnt mit der Elegie Qu’est devenu ce bel œuil (1608) von Claude Le Jeune
(1530-1600), einem franko-flämischen Komponist der Spätrenaissance. Ihre zwei zentralen
Gedanken – „Verlust der Geliebten und Vergänglichkeit des Lebens“68 – stellt Sciarrino in
den Mittelpunkt der Oper. Die Elegie dient aber auch als Unterlage für die drei
instrumentalen Intermezzi, die kontinuierlich transformiert werden, bis im letzten
66
Sciarrino, Le Voci Sottovetro, S. 4.
67
Borio, Der italienische Komponist Salvatore Sciarrino, S. 36.
68
Drees, Bearbeitung, Transformation, Allusion, S. 23.
23
Intermezzo Tonhöhen fast vollständig durch Geräusche ersetzt werden. Die Person, die im
Prolog diese Melodie a capella vorsingt, ist nicht sichtbar.
Damit wird die Klage um den Verlust nicht bloß dargestellt oder repräsentiert, sondern dieses Fehlen, der
Mangel wird zum realen Erfahrungsanteil für die Rezipienten. Der Bühnenraum ist nicht mehr reiner
Darstellungsraum. Das Bühnengeschehen enthält vielmehr Momente, die zur Auflösung der ästhetischen
Distanz tendieren.69
Im ersten Intermezzo ist die Elegie deutlich hörbar, es handelt sich um eine
Bearbeitung, um eine Instrumentation des originalen Textes. Im zweiten Intermezzo geht
Sciarrino einen Schritt weiter, er fügt Geräuschklänge hinzu und verzerrt das Material
durch schnelle Figurationen. Im letzten Intermezzo ist die Melodie überhaupt nicht mehr
vorhanden. Das einzige Element, das Assoziationen an die Elegie weckt, ist der
rhythmische Gestus bzw. die charakteristische Taktbetonung, die auf den Prolog
zurückverweist. Am Ende überwiegen aber die Geräusche, „in denen sich das tragische
Ende der Geschichte andeutet.“70 Während dieses Umwandlungsprozesses ändert sich auch
die Funktionder Intermezzi. Noch das erste Intermezzo könnte man als „Zwischenmusik“71
beschreiben, aber ab dem zweiten Intermezzo ist deutlich, dass diese instrumentalen
Abschnitte „ganz in den semantischen Raum des Dramas eingefügt“72 sind. Die
Transformationen in den Gesangsfiguren entwickeln sich parallel mit diesen im
Instrumentalenteil. Sie werden immer weniger gesungen und mehr ausgesprochen: „Die
Zerklüftung der Gesangsfiguren durch Pausen, in den ersten vier Szenen bereits angelegt,
nimmt zu, die Stimmartikulation geht immer mehr ins Sprechen über bis hin zum fast
tonlos gesprochenen Dialog am Beginn der Schlußszene.“73 Hier zeigt Sciarrino seiner
Tendenz nach die Verknüpfung von Altem und Neuem auf eine Weise, mit der er das
historische Material integriert, ihm seinen persönlichen Eindruck gibt und dadurch etwas
Neues entwickelt. In den Intermezzi entwickelt sich der Weg „vom historischen zum
zeitgenössischen Klangbild“.74 Dieser Prozess ständiger Modifikation, „Dekonstruktion
69
Saxer, Dekonstruktion und Konstruktion zugleich, S. 57.
70
Drees, Bearbeitung, Transformation, Allusion, S. 23.
71
Saxer, Dekonstruktion und Konstruktion zugleich, S. 58.
72
Ebda., S. 59.
73
Utz, Statische Allegorie und „Sog der Zeit“, S. 40.
74
Saxer, Dekonstruktion und Konstruktion zugleich, S. 60.
24
und
Konstruktion“75
führt
zur
Anamorphose
bzw.
Umformung.
Der
Begriff
„Anamorphose“ kommt aus der Malerei des 16. Jahrhunderts. Es bezeichnet verzerrte
Bilder, „die nur unter einem bestimmten Blickwinkel (Längenanamorphose) bzw. mittels
eines speziellen Spiegels oder Prismensystems (katoptrische Anamorphosen) erkennbar
sind“.76
2.2.3. Das Madrigal bei Sciarrino
Der Zyklus 12 Madrigali (2007) ist nicht Sciarrinos erste Begegnung mit der
Madrigalkunst. In seiner Sammlung Le voci sottovetro (Stimme hinter Glas)77 aus dem Jahr
1999 verarbeitete er einige instrumentale und vokale Kompositionen Gesualdos. Die
hauptsächlich verwendete kompositorische Technik in diesem Werk ist die Reduktion. Die
fünfstimmigen Madrigale werden so stark reduziert, dass nur der Mezzosopran als
Vokallinie übrigbleibt, während alle anderen ursprünglichen Gesangsstimmen von
Instrumenten übernommen werden. Die Solo-Stimme übernimmt so eigentlich die Rolle
des Instruments im Rennaissancemadrigal. Text kommt nur in Fragmenten vor, wobei der
tragende Gedanke (Nähe von Liebe und Tod) deutlich hervorgehoben ist. Es handelt sich
also nicht um eine bloße Verarbeitung sondern um ein neukomponiertes Stück, das auf
Gesualdos Musik basiert. „Sciarrino zufolge ist die spezifische Aufgabe des
‚künstlerischen Gedächtnisses‘, die verdrängte Vergangenheit dem Vergessen zu entreißen
und sie aus der Perspektive der Gegenwart wiederzubeleben.“78 Da seine Musik über ein
hohes emotionales Ausdruckspotenzial verfügt, konnte Sciarrino mithilfe dieser Technik
gut an die frühbarocke Madrigal-Tradition anknüpfen. Schließlich sind Gestik und
lautmalerisch dargestellte Klänge einige der Hauptmerkmale des historischen Madrigals.
Bei Sciarrino kommt diese Komponente noch stärker zum Ausdruck.
75
Ebda.
76
Drees, Salvatore Sciarrino, S. 10.
77
Drees, Bearbeitung, Transformation, Allusion, S. 23.
78
Vinay, Scarrino, Salvatore, Sp. 457.
25
2.3. Der Zyklus der 12 Madrigali
Obwohl die Tradition generell ein sehr wichtiges Element in Sciarrinos Schaffen ist,
bezieht er seine Madrigale nicht direkt auf historische Modelle:
Tatsächlich suche ich keine Verbindung mit der Tradition, sondern mit einer neuen Form des Schaffens.
Mein Blick richtet sich nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft. Stücke dieses Genres kann man
jedoch nur Madrigale nennen.79
Die 12 Madrigali sind ein Zyklus von zwölf Vokalstücken, die auf sechs Haikus des
japanischen Dichters Matsuo Bashō (1644-1694) basieren. Bereits die Auswahl von HaikuPoesie zeigt Sciarrinos Streben nach Reduktion: wenige Worte, wenige Töne. Die
Madrigale evozieren die Natur des Mediterranen und stellen dabei immer wieder Klänge
lautmalerisch dar. Sciarrino will mit diesem Werk auch eine bestimmte Sichtweise des
Komponierens im Allgemeinen vermitteln:
In der westlichen Kultur soll die künstlerische Sprache die Subjektivität des Künstlers zum Ausdruck
bringen. Er sagt: „Dies ist, was ich empfinde, und diese Empfindungen gebe ich an dich weiter.“ Aber ich
sehe das anders. Ich sage nicht: „Das sind meine Klänge, die ich aufregend finde. Und du, was geschieht mit
dir?“ Meine Klänge sind nicht einfach Klänge, sondern Signale. Es sind Signale der Kommunikation
zwischen den Menschen, sie beziehen sich auf die Umwelt, die menschliche Aktivität, den Tag und noch
mehr die Nacht – auf die Wirklichkeit ganz allgemein.80
2.3.1. Form
In Sciarrinos 12 Madrigali ist jedes der sechs ausgewählten Haiku zweimal vertont,
aber jeweils auf eine andere Weise. Es handelt sich nicht um Wiederholungen, sondern um
ähnliche Elemente (Figuren, Motive, Text, u.a.), die Paare bilden. Jedes Paar trägt den
gleichen Titel (z.B. Nr. 1 und Nr. 7 Quante isole!, Nr. 2 und Nr. 8 Ecco mormorar l’onde
79
“In realtà io non cerco un rapporto con la tradizione, ma con una nuova forma da creare. Non ho lo
sguardo rivolto al passato, ma al futuro. Pezzi di questo genere, però, non possono che chiamarsi madrigali.“
Marcello Filotei, Un'idea fissa Riformare il teatro musicale, S. 2.
80
Sciarrino zit. nach Nyffeler, Das Meer, der Klang, der Spiegel, S. 6.
26
usw.) bzw. liegt ihnen der gleiche Text zugrunde, aber das Madrigal ist in der zweiten
Version auf eine andere Weise gearbeitet. Die Paare stehen sich gegenüber wie „ungenaue
Spiegel“ („a specchio infedele“81). Die ersten sechs Madrigale „spiegeln“ sich in ihrem
jeweiligen Gegenstück, aber nicht exakt. So bemerkt man z.B. im Vergleich der Madrigale
Nr. 1 und Nr. 7 sofort eine Asymmetrie. Fast das ganze Material des Madrigals Nr. 7
besteht aus Elementen des Madrigals Nr. 1, diese Elemente treten aber nicht in derselben
Reihenfolge und in den gleichen Stimmen auf wie im Madrigal Nr. 1. Dennoch kann man
die Elemente über den gesamten Verlauf von Anfang bis Ende nachfolgen bzw.
wiederfinden. Man könnte es mit einem Bausteinsystem vergleichen. Die gleichen Steine
werden anders konfiguriert und so entstehen zwei unterschiedliche Häuser bzw. Formen.
Auch im zweiten Madrigalpaar (die Madrigale Nr. 2 und Nr. 8) bemerkt man eine
Asymmetrie zwischen den beiden Stücken: Das Madrigal Nr. 2 beginnt polyphon; die
Stimmen schließen imitatorisch aneinander an, darauf folgt ein kurzer homophoner
Moment. Die Dynamik ist durchweg leise, im piano-Bereich gehalten. Im Madrigal Nr. 8
ist es umgekehrt; der Beginn ist energisch, die Männerstimmen und Sopran 1 singen
Unisono und in lauter Dynamik eine schnelle Figuration, Mezzosopran und Sopran 2
setzen kurz danach nacheinander im pianissimo ein. Die Anzahl der Stimmen ist in meisten
Madrigale asymmetrisch; z. B. sind Madrigal Nr. 1 und Nr. 3 sechsstimmig gesetzt und
ihre Paare, Madrigal Nr. 7 bzw. Nr. 9, fünfstimmig.
2.3.2. Textbehandlung in den Madrigali Nr. 1, Nr. 7, Nr. 2 und Nr. 8
Jedes dieser vier Madrigale enthält drei Haiku-Zeilen, deren Inhalt lautmalerisch
dargestellt wird. Daneben prägen bestimmte „mediterrane“ Naturlaute (z. B. Zikaden,
Zirpen, Möwe, Wind) die Atmosphäre. Dieses Verfahren der Lautmalerei erinnert an die
Figuren- und Affektenlehre82, die in der Musik des Barock eine sehr wichtige Rolle
spielten. Die Denkweise, dass sich Emotionen bzw. Affekte durch Musik ausdrücken
lassen und dass die Musik emotionale Zustände hervorrufen kann, geht bis in die Antike
zurück. In der antiken Musiktheorie stimmten bestimmte Modi mit bestimmten
Gemütslagen überein. Auf ähnliche Weise haben sich die Komponisten in Renaissance und
81
Nyffeler, Das Meer, der Klang, der Spiegel, S. 8.
82
Thieme, Die Affektenlehre im philosophischen und musikalischen Denken des Barock, S. 37.
27
Barock, so auch Gesualdo, mit diesem Thema beschäftigt. So ist z.B. bei Gesualdo die
Chromatik Symbol für Trauer, Schmerz und Tod und Diatonik ein Synonym für Liebe,
Freude und Leben.
Für Sciarrino sind Klang und Wort zwei untrennbare Komponenten; der eine geht in das
andere über, die Grenze zwischen ihnen kann man nicht klar definieren: „Was den Gesang
betrifft, in meinen Unterlagen habe ich das folgende Schriftstück gefunden: Die
geheimnisvolle und kräftige Einheit von Klang und Wort. Wort und Klang, Klang und
Wort: Das ist Singen.“83 In Sciarrinos Madrigalen aber ist der Text der Musik
untergeordnet; ganz im Gegensatz zur textbestimmten Musik des historischen Madrigals.
Es gibt fünf verschiedene Arten, auf die Sciarrino Musik und Text kombiniert:
1) Oft endet eine Phrase und kurz vor dem Ende des decrescendo setzt eine neuer
Textlaut ein (z. B. Madrigal Nr. 1, T. 5-7, Frauenstimmen, Bsp. 1).
Bsp. 1
2) Manchmal wird eine einzige Silbe melismatisch auf mehreren Tönen gesungen (z. B.
Madrigal Nr. 7, T. 40-41, Frauenstimmen, Bsp.2).
Bsp. 2
83
„Fra le mie carte ho trovato, a proposito di canto, lo scritto seguente. L’unione misteriosa e potente fra
il suono e la parola. Parola e suono, suono e parola: questo è cantare.“ Sciarrino, 12 Madrigali, Vorrede, S. 3.
28
3) Die Worte kommen nicht in derselben Reihenfolge, in der sie im Haiku erscheinen
und damit ändert sich die Bedeutung:
Der verbale Geistesblitz der Haiku, der in musikalische Werke von größerem Ausmaß eingeführt wurde,
führt dazu, dass sich die Verse um sich selber drehen und den Sinn auf den Kopf stellen. In der Tat tritt jedes
einzelne Wort in Kontakt mit den anderen, auch entfernten und findet dadurch neue Bilder und
Assoziationen.84
4) Manchmal ist nur ein Wort auf zwei Phrasen aufgeteilt (z. B. Madrigal Nr. 1, T. 1-3,
Frauenstimmen, Bsp. 3)
Bsp. 3
5) Manchmal ist eine ganze Gedichtzeile in einer Figur verdichtet (Madrigal Nr. 1, T.
24-25, Bsp. 4). Solch ein Umgang mit dem Text ist auch eines der Merkmale von
Gesualdos Spätstil:
Im Normalfall stand die musikalische Form in direktem Bezug zur Textform; sowohl gab es eine
Entsprechung zwischen Vers und Phrase als auch zwischen Textsyntax und Kadenz. Gesualdo hielt sich in
den ersten zwei Madrigalbänden im wesentlichen [sic!] an diese Einteilungen, erlaubte sich in späteren
Madrigalen beträchtliche Freiheiten besonders bei der Gestaltung der zweiten Halbverse, die oft stark
kontrastierend vertont wurden; teilweise mit so ausgedehnter musikalischer Wortausgestaltung etwa bei
Moro, moro, e mentre sospiro oder Non t’amo, dass eher ein Wort/Phrase-Zusammenhang entsteht.
84
85
„La folgorazione verbale degli haiku, immessa in brani musicali di meno esili proporzioni, lascia che i
versi ruotino su se stessi e il senso si capovolga. Ogni parola entra infatti in contatto con l'altra, anche
lontana, trovando nuove immagini, cortocircuiti.“ Sciarrino, Partitur 12 Madrigali, S. 4.
85
Blume, Gesualdo, S. 49.
29
Bsp. 4, T. 24-25
2.4. Madrigal Nr. 1 Quante isole! / Wie viele Inseln!86 und Nr. 7 Quante isole!
Sciarrino ist vor allem ein kompositorischer Vertreter des minimalistischen
Musiktheaters. Ihm ist bekannt, wie man mit ganz wenigen Elementen eine Atmosphäre
erzeugen kann. In Madrigal Nr. 1/7 entsteht eine Atmosphäre, die an sommerliche Hitze
am Meer erinnert. Die unendliche Bläue bleibt ruhig wie ein Spiegel („lo specchio del
Mare“ / „der Spiegel des Meeres“87), manchmal berührt von einer kleinen Welle oder einer
Brise (glissandi, kurze Fragmente usw.). Hauptträger dieser Atmosphäre ist eine
symmetrische Figur (Figur 1). Ihr lang ausgehaltener Ton wirkt wie eine Fläche, die
plötzlich berührt wird (kurzes Glissando), aber danach weiter ruhig bleibt.
Diese Konstellation breitet sich durch das ganze Madrigal aus. Die Übergänge von einer
Variante zur anderen sind unmerklich. Die Natur ist die Inspiration für Sciarrinos
Variationstechnik:
Dieses Prinzip der variierenden Wiederholung einzelner klar definierter Elemente gibt es auch in der
Natur. Die Tage zum Beispiel sind sich alle gleich und doch ist jeder anders, und das gilt auch für die
86
Nyffeler, Das Meer, der Klang, der Spiegel, S. 8.
87
Bashō, Partitur 12 Madrigali, Vorwort
30
Lebewesen oder die einzelnen Zellen: Sie sind gleich und doch verschieden. Darin liegt für mich die Idee der
Kreativität, überhaupt der Schöpfung.88
Diese Atmosphäre erweckt den Eindruck langsamer, kontinuierlicher Veränderung.
Trotz der fortgesetzten Veränderung von Tonhöhe und Rhythmus hat der Hörer das
Gefühl, als ob alles stillstehen würde. Sciarrinos Musik ist Bewegung und Stillstand
zugleich, sie verfolgt ein zyklisch-statisches Prinzip.89
Die Reduktion in der Besetzung des Madrigals Nr. 7 spiegelt ist auch in seiner Länge.
.wider (Tab. 1)
Tab. 1
Madrigalnummer:
Besetzung:
Taktanzahl:
Tempo:
Madrigal Nr. 1
S. Ms. C. T. Br. Bs.
70 Takte
Tempo
d’altro
spazio
Madrigal Nr. 7
Ms. C. T. Br. Bs.
63 Takte
Tempo d’altro mare
In der graphischen Analyse von Madrigali Nr. 1 (S. 41) und Nr. 7 (S. 44) ist sichtbar,
wie die Stimmen aufeinander reagieren bzw. wie sich das Material entwickelt und
modifiziert. Mit verschiedenen Linien habe ich versucht, die Konturen bzw.
Bewegungsrichtungen der Stimmen zu präsentieren. Sichtbar ist Anzahl der beteiligten
Stimmen und der Auftritt der bestimmten Elemente wie z. B. liegende Töne, Figuren,
kurze Motive u. a. Die zwei Symbole, die aus keinen Linien bestehen, sind Kringeln und
Sechzehnteln. Die Ersten bezeichnen das Atemgeräusch vom Madrigal Nr. 7, während die
Sechzehnteln die Einzeltöne darstellen. Da das Material äußerst reduziert ist, gibt es keine
Tonhöhen oder dynamischen und agogischen Zeichen, die Spiegelform, welche zwischen
den beiden Madrigalen entsteht, ist leichter auffällig. Man merkt deutlich den Prozess der
kontinuierlichen Veränderung der Figuren (Madrigal Nr. 1, Frauenstimmen, T. 1), die
imitatorischen Momente, die zwischen den Stimmen geschehen (siehe Madrigal Nr. 1, Br.
und B., T. 9 - 13) bzw. die homophonen Abschnitte (Madrigal Nr. 7, Männerstimmen). Ein
Überblick über den Austausch von Elementen, welcher zwischen den Stimmen entsteht, ist
88
Sciarrino in: Nyffeler, „Es gibt zwei Arten von Fantasie“, S. 2.
89
Utz, Statische Allegorie und „Sog der Zeit“, S. 51.
31
- wegen der schon erwähnten Reduktion - anhand einer solchen Analyse übersichtlicher
als im klassischen Notentext.
2.4.1. Madrigal Nr. 1 Quante isole!, Analyse
Bevor ich mit der Analyse beginne, möchte ich die fünf wichtigsten Elemente bzw.
Bausteine dieses Madrigals darstellen: Die Figuren 1-4, die dem Prinzip der sillabazione
scivolata folgen (Bsp. 5) und die Fragment-Gruppe.
Bsp. 5
a) Figur 1, T. 1-3 S.
b) Figur 2, T. 44-46 T.
c) Figur 3, T. 10-12, Frauenstimmen
32
d) Figur 4, T. 22 B., sillabazione scivolata
e) Fragment-Gruppe, T. 1 T.
Figur 1 besteht aus einem langliegenden Ton h, der kurz durch ein Glissando verlassen
wird und dann wieder nach h zurückkehrt. Von Figur 1 gibt es zwei Varianten: Figur 1a
bewegt sich beim Glissando-Teil nach oben und ihre Variante Figur 1b bewegt sich nach
unten. Die Figur 1 wechselt mit Figur 2 ab, die sich von Figur 1 durch den Anfangston
(Ton b) unterscheidet. Figur 2 besitzt ebenfalls zwei Varianten, die sich in der
Bewegungsrichtung unterscheiden. Figur 3 kann man als Koppelung von Figur 1 und Figur
2 betrachten. Sie beginnt von h oder b, aber wenn sich die Linie nach dem Glissando Teil
senkt bzw. aufhebt und wenn der Anfangston h oder b wieder erreicht wird, bleibt er nicht
liegen, sondern entwickelt sich durch Glissando weiter (siehe Bsp. 5c). Vor allem Figur 4
repräsentiert die oben erwähnte sillabazione scivolata, die in verschiedenen Formen
auftritt. Der zweite Teil (rasche mehrtönige Figuration) wird immer variiert, durch weitere
Töne ergänzt oder auf ein Glissando reduziert. Alle diese Figuren erfahren während der
Entwicklung des Madrigals ständige Modifikationen. Die letzte Elementengruppe besteht
aus Fragmenten. Diese Fragmente könnte man noch nach kleineren Gruppen unterteilen.
Sie erscheinen entweder als Einzeltöne oder als kurze Motive. Manchmal sind sie Teil
einer Phrase (Bsp. 6), manchmal sind nur isolierte Signale (Bsp. 5e) und manchmal
verdichten sie sich zu einer Fläche, indem sie gehäuft nach- und übereinander auftreten
(Bsp. 8f). Es entsteht hier eine kompakte Einheit; auf einmal wird der Satz ganz dicht.
33
Bsp. 6 T. 34-35, T.
Da die Fragmente verschiedenartig kombiniert werden, ist es manchmal nicht leicht,
eine Grenze zu ziehen und zu sagen, welcher Gruppe man bestimmte Fragmente zuordnen
soll. Die Figur 1 ist jedenfalls das Hauptelement, aus dem sich das ganze Material
entwickelt. Das kann man gut am Beispiel der Glissando-Variante der sillabazione
scivolata (Figur 4) merken: Das Glissando-Element ist schon in der Figur 1 vorhanden.
Dort ist er nur ein kurzer Teil der ganzen Figur. In der Glissando-Variante von Figur 4
wird das Glissando dann zum Hauptelement und dabei deutlich ausgedehnt (Bsp. 7).
Bsp. 7
a) T. 9-11, Br.
b) T. 18-19, Br.
c) T. 22-23, B.
34
Danach folgen mehrere Varianten der sillabazione scivolata, die diesen Prozess
weiterentwickeln. Anstatt eines Glissandos treten hier nun immer bestimmte Tonhöhen
auf. Die Anzahl dieser Töne steigt allmählich (Bsp. 7b und c). Die Figur 1 wird immer von
mehreren Stimmen gesungen, die im Unisono einsetzen, sich dann beim Glissando
voneinander trennen und wieder zum Ausgangston zurückkehren.
Obwohl Sciarrino andeutet, dass er in seinen Madrigalen nicht vom RenaissanceMadrigale ausgeht, kann man doch einige Elemente bemerken, die an die traditionelle
Madrigal-Form erinnern. Insbesondere betrifft dies den Wechsel von homophonen und
kontrapunktischen Teilen. Dabei sollte man Homophonie und Kontrapunkt nicht im engen
historischen Sinn, sondern als Beispiel für den Gegensatz strukturell fester und lockerer
Formteile verstehen. Da sich die „homophonen“ und „kontrapunktischen“ Teile in vielen
Madrigalen überlappen, kann man oft keine klare Grenze zwischen den beiden Satztypen
ziehen. In Gesualdos Ecco, morirò dunque beginnen Stimmen in einem klaren akkordischhomophonen Satz, bereits im 3. Takt findet aber eine Auflockerung in Richtung einer
kontrapunktischen Satzweise statt (Bsp. 8).
Bsp. 8
a) Gesualdo, Ecco, morirò dunque (4. Madrigalbuch, )
Bei Sciarrino beginnen die Stimmen mit einem gemeinsamen Ton (h), und der so
eröffnete „homophone“ Teil dauert 30 Takte. Die Entwicklung ist langsamer als bei
Gesualdo, weil die Satztechnik der gewünschten Atmosphäre bzw. Fläche (das Meer)
untergeordnet ist.
35
Sciarrinos Disposition der Stimmen unterscheidet hauptsächlich zwei Stimmengruppen:
Frauen- und Männerstimmen, die ständig miteinander kommunizieren und sich
aufeinander beziehen. Es gibt dabei immer eine Verbindung, ein Bindeglied zwischen
diesen beiden Gruppen. Das kann man schon in den ersten Takten hören. Die
Frauenstimmen sind bis T. 44 als Einheit, fast unisono (mit geringen Abweichungen)
geführt und singen Figur 1, der Tenor singt mit ihnen nur ein kurzes Fragment – den
Anfangston von Figur 1.
Der Tenor markiert sozusagen die Eckpunkte der Phrase der Frauenstimmen (Quante
isole) durch lange Pausen zerhackt, fragmentarisiert. Während der „Homophonie“ in den
Frauenstimmen entwickelt sich durch diese Fragmentierung in den Männerstimmen
langsam eine Art Kontrapunkt, zum Tenor treten dabei Bariton und Bass hinzu (Bsp. 9).
Bsp. 9, T. 21-23
Neben den Fragmenten bringen die Männerstimmen eine neue Figur, die GlissandoVariante der sillabazione scivolata (Bsp. 9, Bariton). Langsam entwickelt sich dieses neue
Material vom Einzelton über die Glissando Figur bis zur vollständigen sillabazione
scivolata, die in weiterer Folge imitatorisch fortgeführt wird (Bsp.10).
36
Bsp. 10
a) T. 24-25
In den imitatorischen Figuren wird der Charakter der sillabazione scivolata (lange
liegender Ton und schnelle Figuration) übernommen, die abschließende Figuration bzw.
deren Tonhöhen werden aber stets verändert. Die Fläche der Frauenstimmen bleibt
währenddessen konstant und entfaltet sich durch kleine, fast unmerkliche Progressionen.
Ab T. 30 tritt im Text ein neuer Text auf (in frantumi), den der Tenor schon im T. 26
vorwegnimmt. In T. 30 setzen die Frauenstimmen nun nicht mehr synchron ein, sondern
sukzessiv.
In den Männerstimmen entwickelt sich hier nun eine „unproportionale“ Imitation; in
einer Stimme erstreckt sich eine Phrase über zwei Takte und die andere Stimme wiederholt
dieses Material verdichtet als ein kurzes Motiv (T. 31-33).
Diesen Abschnitt (T. 30-37) könnte man als „polyphon“ beschreiben. Es gibt im
Vergleich zum Beginn mehr Interaktion sowohl zwischen den Stimmen einer Gruppe als
auch zwischen den beiden Stimmengruppen. Auch das Material entwickelt sich schneller,
intensiver. Die Musik scheint sich zu „entwickeln“, kehrt dann in T. 38 aber plötzlich
wieder zum Anfangsmaterial zurück (11, vgl. Bsp. 12).
37
Bsp. 11 T. 37-39
Es handelt sich allerdings nicht um eine Wiederholung des Beginns, schon nach ein
paar Takten merkt man, dass sich die Musik im Sinne einer „Polarität von Ruhe und
Bewegung“90 ständig weiterentwickelt. Eigentlich ist schon die erste Phrase (Bsp. 11)
leicht verändert; wenn die Glissando-Linie zurück zum Anfangston kehrt, bleibt dieser Ton
nicht liegen, sondern steigt durch ein weiteres Glissando langsam einen Halbton hinauf (T.
38-40).
Die Entwicklung des Materials ist spiralförmig, nicht linear: Sciarrino bringt etwas
Neues, dann fügt er dazwischen wieder etwas schon Bekanntes ein, dann folgt wieder
Neues und auf diese Weise verläuft der Prozess kontinuierlich weiter. Dieser Vorgang wird
vor allem durch die graphische Analyse des gesamten Verlaufs gut erkennbar (siehe S. 44).
Der gleiche Vorgang findet sich auch auf kleineren Ebenen. Z. B. wird die Figur 1 in den
Frauenstimmen fortgesetzt variiert, übernimmt dann aber plötzlich Elemente einer früheren
Variante. Dieser Vorgang ist fraktalartig: das, was auf einer übergeordneten Ebene
geschieht, ist schon auf kleineren Ebenen vorhanden.
90
Nyffeler, Das Meer, der Klang, der Spiegel, S. 10.
38
Auch der Tonraum verbreitet sich allmählich. Zuerst singen nur die Frauenstimmen und
der Tenor, langsam schalten sich dann auch Bariton und Bass ein, zunächst mit
Fragmenten und der Glissando-Figur, aus welchen sich dann die sillabazione scivolata
artikuliert. Oft werden die gleichen Textzeilen gleichzeitig in unterschiedlicher Weise
gesungen. Z. B. erstreckt sich eine Textzeile in einer Stimme oft über mehrere Takte, und
während sie sich in dieser Stimme noch entwickelt, wird sie in einer anderen Stimme
schon vollständig gebracht.
Was die Form betrifft, steht dieses Madrigal „im Spiegel“ nicht nur mit seinem
korrespondierenden Stück (Madrigal Nr. 7), sondern ist auch in sich selbst spiegelförmig.
Das sieht man in T. 44, wo die Figuren 1 und 2 von den Männerstimmen aufgenommen
werden und die Fragment-Phrasen durch die Frauenstimmen übernommen werden (vgl.
dazu auch die graphische Analyse, S. 44). Den Formverlauf könnte man also in zwei große
Teile gliedern: Der erste Teil umfasst die ersten 43 Takte und der zweite Teil die restlichen
27 Takte. Im T. 31 und später dann wieder in T. 55 setzen die Frauenstimmen sukzessiv
ein. Der Abschnitt T. 30-37 ist „polyphoner“, hier sind alle drei Gedichtzeilen bzw. das
gesamte Textmaterial des Haiku vorhanden, die Aktivität der Interaktion zwischen den
Stimmen ist hoch; die Motive gehen von einer in die andere Stimme über, ebenso wie die
Text-Fragmente bzw. ganze Gedichtzeilen. Im T. 37 singen zum ersten Mal alle sechs
Stimmen zusammen das gleiche Motiv (Bsp. 11). Dies erzeugt eine Zäsur; es entsteht das
Gefühl, dass jetzt ein Abschluss erreicht ist bzw. etwas Neues folgen müsste, aber gerade
das passiert nicht.
Im zweiten Teil des Madrigals ist wieder lange Zeit nur die Gedichtzeile Quante isole!
präsent. Die anderen zwei Zeilen in frantumi und lo specchio del mare treten erst ein paar
Takte vor Schluß auf.
Das Madrigal endet mit einem kurzen, dreitönigen Motiv, das homophon gesungen
wird, wobei der Bass echoartig verzögert einsetzt (Bsp. 12). Wegen der aufsteigenden
Gestik dieses Motivs und der überraschenden Imitation des Basses erzeugt diese
Konstellation keine Schlusswirkung., sodass ein offener Schluss zur „Unendlichkeit“ hin
entsteht.
39
Bsp. 12, T. 68-70, S., Ms., C., T., Br., B.
40
Madrigal Nr. 1
41
2.4.2. Madrigal Nr. 7 Quante isole!, Analyse
Im Madrigal Nr. 7 ist das gesamte Material von Madrigal Nr. 1 vorhanden, aber neu
angeordnet. Wenn man die beiden Partituren nebeneinander legt, kann man von Takt zu
Takt gehen und sämtliche Motive von Madrigal Nr. 1 im Madrigal Nr. 7 finden. Sie treten
hier jedoch nicht in derselben Reihenfolge und nicht im gleichen Zusammenhang wie im
Madrigal Nr. 1 auf, sodass eine neue „Geschichte“ entsteht. Was im ersten Madrigal z. B.
der Bariton singt, kann hier (in seiner Lage) im Mezzosopran stehen.
Diese Asymmetrie bzw. der „ungenaue Spiegel“ ist auf allen Ebenen bemerkbar. In
Madrigal Nr. 7 sind nur fünf Stimmen beteiligt, der Sopran fehlt, sodass auch der Tonraum
insgesamt etwas enger wird.
Die Figur 1 wird hier nun von Männerstimmen exponiert und zwar verkürzt; sie beginnt
außerdem mit dem Glissando-Element, ohne zuvor einen lange liegenden Ton h zu
bringen. Sonst sind die Töne identisch mit denen aus Madrigal Nr. 1 (Bsp. 13).
Bsp. 13, T. 1-4
Die Frauenstimmen bringen in der Folge fragmentierte Einwürfe (Glissando-Motive,
Einzeltöne, u. ä.), die ebenfalls aus Madrigal Nr. 1 übernommen sind.
42
Da hier nicht die Einzeltöne, sondern die Glissando-Phrase im Mezzosopran am Beginn
steht, hat man Gefühl, dass sich der Formprozess hier schneller verläuft. Tatsächlich
verläuft der Wechsel vom homophonen und polyphonen Teilen hier viel schneller; bereits
in T. 20 beginnen Imitationsstrukturen.
Die Imitation ist (wie in Madrigal Nr. 1) nicht streng, die Elemente werden nicht exakt
wiederholt, sondern werden immer leicht verändert. So z. B. wird im Vergleich von T. 2123 (Mezzosopran) deutlich, dass nur der Gestus der sillabazione scivolata beibehalten
wird: ein lange liegender Ton, der in eine absteigende Figuration mündet (Bsp. 14).
Bsp. 14
T. 21-23
Tonhöhen und Rhythmus vom Madrigal Nr. 7 sind gegenüber Madrigal Nr. 1 deutlich
verändert. Auf einer anderen Stelle (T. 19-20, B./C.) bleiben die gleichen Tonhöhen, aber
der Text wird ein bisschen variiert. Ein neues Element, welches zum ersten Mal in diesem
Madrigal vortritt, ist das Atemgeräusch. Es wird auf verschiedene Weise gesungen,
manchmal ganz zärtlich, als Hauch und manchmal mit voller Energie, als wenn die Wellen
an die Felsen schlagen.
43
Madrigal Nr. 7
44
2.5. Madrigal Nr. 2 Ecco mormorar l'onde / Hier das Murmeln der Wellen91 und Nr. 8
Ecco mormorar l'onde
Der Text dieses Madrigals spricht über die „Murmeln der Wellen“ (Ecco mormorar
l’onde), die der Rhythmus (è ritmo) des „duftenden Windes“ (vento profumato) sind. Mit
Ecco mormorar l’onde greift Sciarrino gewiss nicht zufällig den Titel eines Madrigals von
Claudio Monteverdi nach einem Gedicht von Torquato Tasso auf (2. Madrigalbuch, 1590).
Die Fläche bewegt sich, der Spiegel (lo specchio del mare) wird zerbrochen. Das merkt
man schon beim Hören. Die Stimmen sind unruhig, sie bewegen sich schneller als beim
vorigen Madrigalpaar (Nr. 1 und Nr. 7), schon beim kurzen Blick in die Partitur bemerkt
man eine Vielzahl an Linien und Figuren. Ein neues Element ist das Schnalzen mit den
Fingern, das als eine “naturalistische” Umsetzung des Wortes “ritmo” wirkt (Bsp. 15).
91
Nyffeler, Das Meer, der Klang, der Spiegel, S. 10.
45
Bsp. 15, T. 36-37
Im Hintergrund dieses schnellen Geschehens ist ein lange liegender Ton, der von einer
in die andere Stimme übergeht, fast durch das ganze Madrigal. Er setzt nicht gleich am
Anfang an, aber ab T. 7 erscheint er immer wieder. Dieser Ton beruhigt die schnellen
Bewegungen in anderen Stimmen, er ist eine Konstante wie das Meer.
Das Taktmetrum wird oftmals gewechselt, an einigen Stellen ändert sich dies von Takt
zu Takt. Dieser Wechsel asoziieren sich ebenso wie die schnellen Figurationen mit den
kleinen Wellen, die an der Meerfläche entstehen.
Im Unterschied zum ersten Madrigalpaar (Nr. 1 und Nr. 7), vergrößert sich hier die
Besetzung; im Madrigal Nr. 8 schließt noch ein Sopran dazu. (Tab. 2)
Tab. 2
Madrigalnummer:
Besetzung:
Taktanzahl:
Tempo:
Madrigal Nr. 2
S. Ms. C. Ct. B.
53 Takte
In attesa (non troppo lento)
Madrigal Nr. 8
S. S. Ms. Ct. T. B.
40 Takte
Tempo d’attesa
2.5.1. Madrigal Nr. 2 Ecco mormorar l'onde, Analyse
Das Madrigal Nr. 2 ist fünfstimmig gesetzt (Sopran, Mezzosopran, Kontraalt,
Kontratenor und Bass); die Stimmen setzen nacheinander ein. Bei den ersten vierzehn
Takten ändert sich das Metrum fast in jedem Takt. Das Glissando Motiv, mit welchem der
Mezzosopran das Stück eröffnet, ist auch in der Phrase von Kontraalt (T. 1-2) vorhanden.
46
Das rasche zweitönige Fragment (e-f) von Kontraalt (T. 2) wird im Sopran, Kontratenor
und Bass knapp danach gesungen (T. 2). Alle drei Elemente beginnen mit Ton „e“ (Bsp.
16).
Bsp. 16, T. 1-2
In diesem Madrigal merkt man eine andere Art der Entwicklung. Im ersten Madrigal
war die Figur 1 das Zentrum, aus dem sich das ganze Material ergab und hier entwickelt
sich das Material kettenweise; die Figur 1 wird von anderen Stimmen übernommen und
allmählich weiterentwickelt. Es gibt hauptsächlich fünf Elemente, aus denen das Madrigal
Nr. 7 gebaut ist:
1) Figur 1 (T. 1, Mezzosopran, siehe Bsp. 16)
2) Figur 2 (T. 1-2, Kontraalt, siehe Bsp. 16)
3) Motiv 1 (T. 2, Sopran, Kontratenor und Bass)
4) lange liegender Ton (T. 13-16)
5) Schnalzen mit Fingern (siehe Bsp. 15)
Gemeinsam dem Madrigal Nr. 1 und Nr. 2 ist die Variationstechnik bzw. Modifikation
der Elemente, die Sciarrino in beiden Madrigalen anwendet. Die Figur 1 (siehe Bsp. 16,
47
Mezzosopran) kommt mehrmals vor, immer ein bisschen modifiziert. Entweder mit mehr
Text, oder mit kleinen Veränderungen von Tonhöhen, oder mit anderem Rhythmus.
Man bemerkt dasselbe Verfahren bei der Arbeit mit dem Material von Madrigal Nr. 1;
es kommt etwas Neues, danach wiederholt sich etwas Altes, dann erscheint wieder etwas
Neues. Die Figur 1 geht auch in die anderen Stimmen über und wird mit anderen Motiven
kombiniert.
Die Veränderungen von Tonhöhen sind gering; es wird immer nur ein Ton verändert
und zwar ein Halbton höher oder eineinhalb Ton tiefer.
Das gleiche Prinzip merkt man bei der Figur 2 von Kontraalt (siehe Bsp. 16); sie wird
mehrmals von verschiedenen Stimmen und in verschiedenen Varianten gesungen (Bsp. 17)
Bsp. 17, T. 28-29, C.
Das ganze Material könnte man in sechs Abschnitte gliedern (Tab. 3).
Tab. 3
Taktanzahl:
Abschnitt 1
T. 1-18
Abschnitt 2
T. 18-23
Abschnitt 3
T. 23-26
Abschnitt 4
T. 26-34
Abschnitt 5
T. 34-40
Abschnitt 6
T. 40-53
Die früher erwähnte kettenweise Entwicklung des Materials spiegelt sich in der
Bindung der Abschnitte wider. Gleichzeitig kommt ein Abschnitt zu Ende und die Phrase
des neuen Abschnittes beginnt. Alles fließt ineinander wie die Wellen, bei denen man nicht
sagen kann, wo eine endet und die andere beginnt.
48
Die Abschnitte unterscheiden sich durch die Elemente bzw. Motive und die
Textfragmente, die verschiedenartig kombiniert sind. So z. B. sind in Abschnitt 2 und 4
mehrere Haiku Zeilen vertont, während in Abschnitt 1 und 6 nur die erste Zeile erscheint.
Die Abschnitte 3 und 5 sind rhythmische Abschnitte, bei denen das Tonmaterial äußerst
reduziert ist. Im T. 23 tritt zum ersten Mal ein kurzer rhythmischer Einschub an, wo nur
Sopran einen lange liegender Ton a2 singt, der später in kurze Fragmente mündet (T. 2326).
Obwohl das Rhythmus-Element eine andere Ästhetik erzeugt, ist er nicht vom Rest des
Materials isoliert. Das Bindeglied ist der liegende Ton bzw. die hohe Lage von Sopran, die
auch später, wenn sich das Tonmaterial wieder einschließt, beibehalten wird.
Bei den Abschnitten, wo nur die erste Gedichtzeile (Ecco mormorar) vorkommt,
wechselt sich oft das Metrum, während die Rhythmus-Abschnitte immer in 4/4 Takt
bleiben.
Eine Überlappung von Formteilen, die Sciarrino bei sechs Abschnitten verwendet, nutzt
er auch auf Ebene der Satzstruktur. Manchmal ist das homophone Teil noch nicht fertig,
wenn schon das polyphone Teil einsetzt (Bsp. 18).
Bsp. 18, T. 12
Das Motiv, das beim homophonen Moment eintritt, erinnert an das Madrigal Nr. 1, wo
dieses Material zum ersten Mal erscheint (Bsp. 19).
49
Bsp. 39, Madrigal Nr. 2, T. 11
Während dies im ersten Madrigal nur einmal wiederholt wird, kommt es im Madrigal
Nr. 2 nach jeden paar Takten vor; es wirkt wie eine Zäsur am Ende einer Phrase. Das
zweite Motiv, das vom Madrigal Nr. 1 übergenommen ist, sind die Vogellaute, die von
Frauenstimmen gesungen werden.
Sciarrinos Umgang mit dem Text ist verschiedenartig. Die Gedichtzeilen kommen nicht
immer vollständig vor. Manchmal ändert sich die Reihenfolge der Wörter oder es
wiederholt sich mehrmals nur ein Wort.
Von drei Haiku Zeilen ist am meistens die Erste vertont. Die andere Zwei kommen
kaum zum Ausdruck. Eine ähnliche Variationstechnik merkt man auch in dem Bereich der
Motivik (Bsp. 20).
50
Bsp. 20, T. 14-16
Die Lage verbreitet sich schnell. Der Umfang vom kleinen Terz weitet sich plötzlich in
einem Takt zur Oktave aus. Dynamik bewegt sich vorwiegend im piano Bereich.
Manchmal setzt Sciarrino ein dreifaches piano und forte gleich nebeneinander.
Das Madrigal Nr. 2 endet fast auf die gleiche Weise wie das erste Madrigal. Beiden ist
der homophone Schluß gemeinsam. Der Unterschied ist, dass in diesem Madrigal alle
Stimmen teilnehmen, während im Madrigal Nr. 1 der Bass später vortritt. Obwohl hier alle
Stimmen in Unisono beteiligt sind, entsteht wegen der aufsteigenden Bewegung des letzten
Motives doch kein starker Eindruck vom Schluß.
2.5.2. Madrigal Nr. 8 Ecco mormorar l'onde, Analyse
Die sechsstimmige Besetzung des Madrigals 8 trägt zur Asymmetrie bei, die sich durch
den ganzen Zyklus erstreckt. Dieses Madrigal beginnt viel energischer und lauter von
seinem Madrigalpaar. Die Quintole-Figur, die am Anfang steht, wird von vier Stimmen
gesungen. Das Tonmaterial der Figur ist von Madrigal 2 übernommen; dort singt der
Mezzosopran die gleichen Töne (e, f, d), nur im größeren zeitlichen Abstand (siehe Bsp.
22)
Das Material von Mezzosopran bzw. Sopran 1 und 2 ist auch im zweiten Madrigal
vorhanden; es handelt sich um Figur 2, die Kontraalt singt. Hier kommt sie nicht
vollständig vor, es fehlen nämlich die letzten zwei Fragmente (siehe Bsp. 22).
51
Das dritte Bindeglied ist der langliegende Ton, der sich wie auch im zweiten Madrigal
durch mehrere Takte erstreckt und später dann in Glissando übergeht.
Am Ende des Satzes erscheinen auch zwei Elemente, die zum ersten Madrigalpaar
gehören; Atemgeräusch und Schluß-Gestus (Bsp. 21, T. 38-40).
Bsp. 21, T. 38-40
Die Form könnte man in vier Abschnitte teilen (Tab. 4).
Tab. 4
Taktanzahl:
Abschnitt 1
T. 1-11
Abschnitt 2
T. 11-21
Abschnitt 3
T. 21-33
Abschnitt 4
T. 34-40
52
Die Abschnitte 1 und 3 verbindet die erste Haiku Zeile - die in beiden Fällen vertont
wird - und die Motivik. In beiden Abschnitten verwendet Sciarrino fast identische Motive
bzw. Figuren, nur die Reihenfolge, in der sie auftreten, wird verändert. Es gibt Momente,
die auf dem ersten Blick als buchstäbliche Wiederholung erscheinen, aber dann bemerkt
man doch einige Abwandlungen.
Der Austausch von homophonen und kontrapunktischen Teilen ist viel schneller als im
Madrigal 2, fast in jedem Takt ändert sich die Satzstruktur (Bsp. 22).
Bsp. 22, T. 1-3
Ein ähnliches Verfahren findet man in Gesualdos Madrigale (siehe Bsp. 8).
Der Abschnitt 4 ist fast die identische Wiederholung vom Abschnitt 2. Alle Motive sind
vorhanden, sie treten auch in gleichen Stimmen wie im zweiten Abschnitt auf. Die
Veränderungen, die Sciarrino hier verwendet, sind gering wie z. B. ein kurzer Einschub in
der Mitte vom Abschnitt 2 oder der langliegende Ton, der zwanzig Takte lang langsam
senkt.
53
2.6. Zusammenfassung
Obwohl beide Madrigalpaare so gebaut sind, dass sich das Material vom einen im
anderen Madrigal widerspiegelt, verwendet Sciarrino nie zweimal die gleiche Technik. Bei
Madrigal Nr. 1 und Nr. 7 handelt es sich um eine asymmetrische Wiederholung, bei
Madrigal Nr. 2 und Nr. 8 eher um eine Weiterentwicklung. Es ist zwar deutlich, dass die
Motive des Madrigals Nr. 8 aus dem Madrigal Nr. 2 hervorgehen, aber im Unterschied
zum ersten Madrigalpaar (Nr. 1 und Nr. 7), wo man alle Motive unverändert finden kann,
erscheinen sie hier stark transformiert und einige von ihnen treten überhaupt nicht auf.
Im Madrigal Nr. 8 erscheint der „Rhythmus-Abschnitt“ des zweiten Madrigal nicht
mehr; überhaupt ist die zweite Gedichtzeile (è ritmo) in Nr. 8 kaum vertont, sie erscheint
nur zwei Mal. Die erste und dritte Zeile sind dagegen stark präsent, während in Madrigal
Nr. 2 deutlich die erste Zeile dominiert und mehr als die Hälfte des gesamten Madrigals
umfasst.
Gemeinsame Elemente findet man nicht nur zwischen den Madrigalpaaren, sondern
auch in allen vier Madrigalen. So z. B. der Austausch von homophonen und
kontrapunktischen Abschnitten oder das gleiche Schluß-Gestus tritt in jedem Madrigal vor.
Das Atemgeräusch von Madrigal Nr. 7 erscheint am Ende vom achten Madrigal, die
Vogellaute von Madrigal Nr. 1 findet man auch im Madrigal Nr. 2, der Text wird in allen
vier Madrigalen auf die gleiche Weise bearbeitet usw. Sciarrino pendelt zwischen Neuem
und Altem, Wiederholung und Entwicklung.
Obwohl Sciarrino behauptet, dass er in diesem Zyklus nicht an die Tradition anknüpft,
hat er sich doch - wenn auch unbewusst - zu Gesualdos Ästhetik angenähert. Die Auswahl
von Vokalstücken, die motivisch stark durchgearbeitet sind bzw. die Abhängigkeit von
Ton und Wort rufen die Assoziationen an die Madrigale der Renaissance hervor. Auch der
verschiedene Satzaufbau, der Austausch von kontrapunktischen und homophonen
Passagen, trägt zu diesem Eindruck bei.
54
3. Klaus Hubers Lamentationes sacrae et profanae
3.1. Oszillieren zwischen Politik, Mystik und Polykulturalität
Klaus Huber ist ein Komponist, den man als engagierten Künstler bezeichnen kann. Er
reagiert auf das Weltgeschehen, die Ungerechtigkeit berührt ihn tief. Eines seiner großen
Werke, das Oratorium Erniedrigt – Geknechtet – Verlassen – Verachtet ... (1975-82)
handelt von diesem Thema. Im Zentrum stehen die Bewohner der brasilianischen
Armenviertel Favelas, die täglich gegen Hunger, Durst und Gewalt kämpfen. Für Huber
muss Kunst eine neue Rolle in der Gesellschaft übernehmen.92 Sie muss auf aktuelle
Geschehnisse reagieren. Der Komponist sollte sich nicht nur in seiner eigenen Welt
verschließen, sondern sich mit seinen Kompositionen sozial-politisch engagieren. Huber
möchte durch sein Schaffen beim Zuhörer Empathie für diejenigen, die leiden, erwecken.
Jeder von uns soll in der Gesellschaft aktiv sein und auf lokale und globale Ereignisse
reagieren. Huber fordert dazu auf, Vorgänge in Politik und Gesellschaft kritisch zu
betrachten und nicht Informationen unhinterfragt zu akzeptieren: „Wenn der immer noch
medienmächtig propagierte Schwach-Sinn (im genauen Wortsinn!) weltweit zum
akzeptierten kleinsten gemeinsamen (gesellschaftlichen) Nenner werden sollte, dann ist die
Grundperspektive unserer Zukunft verloren.“93
Der Anfang von Hubers Beschäftigung mit der Musik anderer Kulturen setzte bereits im
Jahr 1942 ein, als er an einem Lehrerseminar in Küsnacht teilnahm, der aber ohne direkte
Konsequenzen blieb. Intensiver hat Huber sich erst in den frühen 1990er Jahren mit
anderen Kulturen beschäftigt. Er möchte „eindimensional eurozentrisches Denken
aufzuspüren und […] überwinden.“94 Seine Beschäftigung mit außereuropäischen
Traditionen ist immer eng mit Politik verbunden. Huber wählt Texte, die von
gesellschaftlichen bzw. politischen Problemen in bestimmten Ländern handeln wie z. B.
die Texte des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwisch,
der über die
Konfliktsituationen in seinem Land schreibt: „Es geht also um eine Bewusstmachung von
92
Nyffeler, Umsturz und Umkehr, S. 24.
93
Huber, Unterbrochene Zeichen, S. 31.
94
Hiekel, Transformationen, S. 14.
55
ästhetischen Qualitäten, die über das bloß Ästhetische hinaus auf eine bestimmte kulturelle
Identität deuten – welche dann in Korrespondenz zu bestimmten Texten stehen kann und
von bestimmten Assoziationen getragen wird.“95 Darwischs Gedicht Etat de siège hat
Huber in Die Seele muss vom Reittier steigen ... (2002) für Violoncello, Baryton,
Kontratenor und zwei Orchestergruppen als Ausgangspunkt genommen. Dies war das erste
Mal, dass Huber einen arabischen Text benutzte. Das Gedicht thematisiert die Leiden des
palästinensischen Volkes. Der Titel des Werkes ist Leitgedanke des Darwisch-Gedichts.
Neben dieser humanistischen Komponente ist für Huber auch die spirituelle Dimension
sehr wichtig: „Jene anderen, existenziellen Fragen – Wo stehe ich als Mensch und als
Künstler in der Welt? Welche Kräfte gibt es außerhalb von mir? Was passiert mit mir,
wenn ich komponiere? – bildeten immer den Kern seiner Überzeugungen.“96 Hubers
Spiritualität bezieht sich auf verschiedenste Traditionen vom Christentum über den ZenBuddhismus und Sufismus bis zum Islam. Wichtig ist es anzudeuten, „daß just die Mystik
zu einem zentralen Element für seine radikale Öffnung geworden ist, Mystik nun freilich
nicht mehr ausschließlich als Weg gegen innen verstanden, sondern gleichzeitig als Weg
nach außen, als aktive Teilhabe an Welt.“97 Balance zwischen Innerem und Äußerem,
zwischen Meditation und Aktion: „Zwischen diesen beiden Auffassungen, der
gesellschaftsbezogenen und der transzendenten, versucht er zu vermitteln.“98 Huber ist es
bewusst, dass man heutzutage unter dem Begriff „Spiritualität“ auch viele modische
Tendenzen fasst, die mit diesem Bereich eigentlich nichts zu tun haben: „Ich denke auch
an pseudospirituelle Tendenzen, in denen das Tiefe verfügbar ist, während bei den
Mystikern das Tiefste etwas Schmerzvolles ist, über das das Ich eben gerade nicht
verfügen kann.“99 Aus dieser Weltsicht entwickelt sich auch Hubers Zugang zur Musik.
Für ihn ist Musik nicht etwas homozentrisches, sie geht weit darüber hinaus. Solch eine
Darstellung der Musik ist in vielen Kulturen vorhanden: „Es gibt in den
unterschiedlichsten Kulturen Traditionen, die der Auffassung sind, daß die Musik ein
95
Hiekel, Transformationen, S. 14.
96
Wolfgang Rihm in Nyffeler / Rihm, Erziehung zur Eigenverantwortung, S. 23.
97
Keller, Klaus Huber und die arabische Musik, S. 180.
98
Nyffeler, Erziehung zur Eigenverantwortung, S. 25.
99
Huber, Von Zeit zu Zeit, S. 307.
56
Etwas ist, das widerspiegelt, was umfassend ist, etwa die Harmonie der Welt in der
griechischen Philosophie. Das reicht über den Menschen hinaus.“100
3.2. Dritteltönigkeit und die arabische Musik
Obwohl
sich
Huber
mit
verschiedenen
nicht-europäischen
Musikkulturen
auseinandergesetzt hat, beschäftigte er sich hauptsächlich mit der arabischen Musik. Einer
der Gründe war der Konflikt im Nahen Osten in den 1990er Jahren, genauer der erste
Golfkrieg: „Unmittelbar ausgelöst durch den Golfkrieg, dessen verheerende Auswirkungen
im Bewußtsein vor allem der jungen Generation ich mit Recht befürchte (umfassende
Remilitarisierung ihres Denkens und Fühlens) und der meine Kreativität beinahe zerbrach,
hatte ich das starke Bedürfnis, mich einer Kultur zuzuwenden, die in den Augen der Neuen
Weltordnung zur Vertreterin des Bösen schlechthin geworden war.“101 Huber erforschte
die klassische arabische Musik, besonders aus dem 9.-15. Jahrhundert. Er beschäftigte sich
mit den musiktheoretischen Werken von Al-Kindi, Al-Farabi, Ibn-Sina (Avicenna) und
Safi ad-Din al-Urmawi. Im Zentrum seiner Forschung stand die umfangreiche Studie La
musique arabe des Orientalisten und Musikforschers Rodolphe d’Erlanger (1872-1932).
Ihn faszinierte die Zusammenarbeit von islamischen, christlichen und jüdischen
Intellektuellen auf dem Gebiet des arabisch-mittelalterlichen Spaniens: „Die Christen
konnten Christen bleiben, die Juden Juden. In Spanien hat die Kultur lange in dieser
Toleranz überlebt. Und das hatte auch musikalische Auswirkungen auf Europa, nicht nur
über die Instrumente, sondern auch über die Musiktheorie.“102 Diese Verbindung von
verschiedenen Kulturen verarbeitet Huber in seinen Werken, in denen er Elemente aus den
arabischen Traditionen mit der westeuropäischen Tradition zusammenbringt.
Das untemperierte System der arabischen Musiktradition war eine völlig neue Welt für
Huber. Es eröffnete ihm viele Möglichkeiten, die das temperierte System ausschließt, vor
allem die Beschäftigung mit Mikrointervallen: „Das Ausspannen der arabischen
Intervallik, die als ein Grundelement die geteilte kleine Terz (Dreiviertelton) enthält, über
100
Ebda., S. 309.
101
Huber zit. nach Keller, Unterbrochene Zeichen, S. 181.
102
Meyer, „Ein Zeichen der Friedensmöglichkeit“, S. 54.
57
den ganzen Klangraum des modernen Orchesters brachte eine neue Art von Harmonik
hervor, in der sich das Verhältnis von Konsonanz und Dissonanz grundsätzlich neu stellt.
Und eben das durchzieht nun alle meine Stücke bis heute.“103 Sein erstes Werk in diesem
Bereich ist Die Erde bewegt sich auf den Hörnern eines Ochsen (1992/93), das für vier
arabische und zwei europäische Musiker und ein Tonband geschrieben ist. Das Werk
beruht auf dem Vortrag Der Sturz der Propheten (1992) des iranischen Schriftstellers
Mahmud Doulatabadi. In diesem Vortrag wurde die schwere Situation des iranischen
Volkes thematisiert: „Eingezwängt zwischen reaktionärem Fundamentalismus und neoimperialistischer ‚Neuer Weltordnung‘ bleibt der iranischen Kultur nur die Möglichkeit des
Verstummens.“104 Doulatabadi spricht über die hoffnungslosen Situationen, in denen sich
sein Volk durch die Geschichte hindurch befand. Verschiedene politische Systeme wollten
Iran für ihre Zwecke ausnutzen, auch wenn die Menschen stark unter den Konsequenzen
litten: „In solch einer Lage kann man jedem Volk jede Projektion aufzwingen.
Möglicherweise ist es für viele nicht von Bedeutung, daß unsere Menschen – und
Menschen wie unsere – gänzlich zerstört oder unter dem Druck der Hoffnungslosigkeit
verrückt werden.“105 Obwohl der Text voll von pessimistischen Aussagen ist, schließt
Doulatabadi mit hoffnungsvollen Gedanken:
Was kann nun unsere Hoffnung sein, wenn nicht die Wahrheitsliebe der Vernünftigen und das Weltgewissen
der Völker, deren Herzen – jenseits der Grenzen, Hautfarben und politischen Systeme – für Frieden,
Einigkeit und Liebe pochen? […] Trotz der Brutalität in unserer politischen Kultur ist Liebe in unserer
Sprache und unserem Denken ein großes Erbe. Unsere Sprache ist die klare Sprache der Gefühle in Geduld,
Bescheidenheit und Liebe.106
Der Titel Die Erde bewegt sich auf den Hörnern eines Ochsen ist ein Zitat aus
Doulatabadis Text: „Die Erde bewegt sich auf den Hörnern eines Ochsen. Was bei dieser
Bewegung gehört wird, ist das Geräusch vom Zermalmen eines Gleichgewichts und
gleichzeitig die Sehnsucht danach.“107 Die Auszüge des Textes sind außer auf Persisch
auch auf Arabisch, Deutsch und Französisch. Die Sätze werden gesprochen oder gesungen
und wurden zusammen mit Geräuschen und Klängen der arabischen Instrumente Quanun,
103
Huber, Von Zeit zu Zeit, S. 15.
104
Keller, Unterbrochene Zeichen, S. 182.
105
Doulatabadi, Unterbrochene Zeichen, S. 21.
106
Ebda., S. 23.
107
Ebda..
58
Ney, Riqq und Mazhar auf Tonband aufgenommen und anschließend elektronisch
verarbeitet. Zu diesem Tonband treten in einer Live-Aufführung die vier auf dem Tonband
zu hörenden arabischen Musiker noch sowie zwei europäische Instrumente hinzu: Viola
und Gitarre. Die Passagen der arabischen Musik sind dabei improvisatorisch ausgerichtet.
Huber bestimmt in der Partitur nur ihren Einsatzzeitpunkt sowie den Modus maqam und
den rhythmischen Zyklus wazn. Viola und Gitarre spielen ebenfalls verschiedene
maqāmāt; teilweise ist ihr Material in der Partitur fixiert und teilweise sollen sie auch
improvisatorisch reagieren. Gleichzeitig läuft im Hintergrund das Tonband, welches die
Basis für das ganze Geschehen ist: „Das Tonband bildet gleichsam den Klangraum und das
Zeitraster für die Live-Musik.“108
Der arabischen Musik liegen die komplexen Modi maqāmāt (Plural von maqam) und
die rhythmischen Zyklen auzan (Plural von wazn) zugrunde.109 Da die maqāmāt auf
untemperierten Stimmungen beruhen, sind sie in westlicher Notation zum Teil schwer
notierbar.
Jeder maqam wird außerdem „nicht nur durch seine Tonskala, sondern auch durch einen
semantischen Gehalt definiert, der allerdings regional etwas variieren kann.“110 Der maqam
saba drückt Schmerz und Trauer aus, der maqam hijaz Sehnsucht111, „der maqam rast etwa
ruft ein Gefühl des Stolzes, der Macht, der geistigen Gesundheit und der Männlichkeit
hervor. Der maqam bayati bringt Lebenskraft, Freude und Weiblichkeit zum Ausdruck.“112
Die maqāmāt sind traditionell einstimmig, aber sie werden von Huber harmonisiert und
mehrstimmig verwendet. Hier kann man Hubers Neigung erkennen, aus etwas Bekanntem
neues Material zu schaffen: „Nicht die nachahmende traditionell-arabische Klanglichkeit
liegt in Hubers Interesse, sondern die kreative Inspiration aus dieser Tradition heraus zur
Entwicklung neuer Klänge.“113 Die maqāmāt, die Huber in seinen Kompositionen nutzt,
verarbeitet er durch vielfältige Transformationsprozesse.
108
Keller, Unterbrochene Zeichen, S. 184.
109
Ebda., S. 185.
110
Knipper, Tonsysteme im kompositorischen Schaffen von Klaus Huber, S. 186.
111
Keller, Unterbrochene Zeichen, S. 185.
112
Touma, Die Musik der Araber, S. 71.
113
Knipper, Transformationen, S. 187.
59
Die Dreivierteltönigkeit arabischer Musik sieht Huber nicht nur als eine weitere
Möglichkeit, neue Klangräume zu erzeugen, sondern sie ist auch die Vermittlung seines
Standpunktes. Claus-Steffen Mahnkopf fragte Huber in einem Interview, ob er die
Dreivierteltönigkeit in seiner Lamentationes sacrae et profanae ad responsoria Iesualdi als
„Ausdruck der Umkehr“114 versteht. Huber antwortete: „Eigentlich auch als einen Anruf an
den Menschen, genau das [die Umkehr] zu vollziehen. Ich als Komponist vollziehe es. Ich
möchte dies weitergeben.“115
3.3. Zu Hubers Kompositionsweise
Wenn ich eine Kompostiton beginne, liegt ihr immer schon ein Anfang voraus: die Initial-Idee. Sie wächst
zusammen aus verschiedensten, oft nur punktuellen Imaginationen, die ein Zentrum umkreisen, sich
vernetzen, Zukünftiges antizipieren, Vergangenes hereintragen in ein zündendes Jetzt. Habe ich mit der
Ausarbeitung begonnen, kommt die Initial-Idee immer wieder in Bedrängnis. Sie läuft Gefahr, aus dem
kreativen Bewußtsein verdrängt zu werden: durch eingeschliffene kompositorische Gewohnheiten, bequeme
Routine oder auch umgekehrt durch die Unfähigkeit, das Äußerste, das Neue, Unbekannte zu wagen. 116
Es kann also passieren dass sich die Initial-Idee während des Schaffensprozeßes
verändert. Das Endresultat ist dann ein anderes Werk, daß aber auch als Ergebnis einer
anderen Idee zu betrachten ist: „Der Schaffensprozeß ist selber ein Zeitprozeß. Und
übrigens auch auf die Lebenszeit bezogen. Das sollten wir nie vergessen. [...] Was ich in
meiner Musik vermeiden möchte, ist, einfach zu produzieren, damit ich zu Produkten
komme. Die Routine möchte ich unbedingt vermeiden.“117
In Hubers Opera findet man viele Werke, die auf der Obertonreihe bzw. auf Dritteloder Vierteltöne beruhen. Die Obertöne sind Ausgangspunkt für alle anderen
Tonsystemen: „Die Obertonreihe erscheint immer in Verbindung mit einem der anderen
Tonsysteme, ist für Huber aber in seinem ganzen Schaffen stets eine wichtige Referenz
und wird wohl als Urbild aller verwendeten Tonsysteme erachtet.“118
114
Huber / Mahnkopf, Das Werk, S. 103.
115
Ebda.
116
Huber, Doppelpunkt: Eine Reflexion über das Beginnen, S. 27.
117
Huber / Mahnkopf, Aspekte, S. 132.
118
Knipper, Tonsysteme im kompositorischen Schaffen von Klaus Huber, S. 193.
60
Mit Dritteltönigkeit beschäftigte sich Huber seit den 1960er Jahren. Erstmals nutzte er
die Dritteltönigkeit in seinem Werk Alveare Vernat (1965) für Flöte und zwölf SoloStreicher. Die Beschäftigung mit mikrotonalen Systemen eröffnete sein Interesse für
Guillaume Costeleys (1531 - 1606) Stimmung (Teilung der Oktave in 19 Tonstufen) und
die Stimmungssysteme der arabischen Musik (Teilung der Oktave in 24 Tonstufen). Diese
Tonsysteme betrachtet Huber auch als Mittel, „um ängstliche, bedrohliche oder düstere
Gefühlslagen zu erzeugen oder darzustellen. Lediglich einmalig wurde das Mikrointervall
als Symbol für etwas sehr Kleines, eines Ursprungs eingesetzt [sic!].“119 Im Gegensatz zur
Betrachtung von Vierteltönen haben die Obertöne bei Huber auch positive Konnotationen:
„Inhaltlich werden in Hubers Musik Obertöne als Symbol für Freiheit bzw. Befreiung
(Schattenblätter, Protuberanzen), aber auch für das Alter und den Tod (Erinnere dich an G
..., Quod est pax? – Vers la raison du cœur...) verwendet.“120 Typisch für Huber ist es, dass
er oftmals zwei oder mehrere Tonsysteme oder Skalen gegenüberstellt. Er sucht die
Verbindung zwischen diesen Tonsystemen. In der Schlusskadenz des Streichquintetts Ecce
homines (1998) lässt Huber gleichzeitig fünf verschiedene maqāmāt mit verminderten
Akkorden aus Mozarts Streichquintett KV 516 zusammenlaufen. Diese Akkorde werden
zunächst als Zitate benutzt und dann transformiert bzw. drittel- und vierteltönig verarbeitet.
Die „maqamat werden nicht in ein halbtöniges oder mitteltöniges System verwandelt, was
auf Huber vielleicht anmaßend oder ‚kolonialistisch‘ gewirkt hätte“.121
In seiner Skizzenmappe für Ecce homines steht: „Interdependenzen im Mikro- wie im
Makrobereich. Anzustreben wäre, daß alles mit allem verknüpft ist, alles von allem
‚abhängig‘.“122 Die Bedeutung des Begriffs Interdependenz in seinem Schaffen erklärt
Huber am Beispiel seines Streichquintetts:
Mit der Interdependenz ist das folgende [sic!] gemeint: Wenn ich mich auf dieses oder jenes Motiv von
Mozart einlasse, etwa rhythmisch, was bedeutet das für alles Übrige? Ich konnte nicht wie in früheren
Werken das eine tun und dann das zweite, das dritte und das vierte. Statt dessen [sic!] entwickelte ich
generative Säulen oder Kolonnen von Varianten und fragte, welche von ihnen wann und warum auftreten –
und zwar hinsichtlich aller Parameter, nicht nur hinsichtlich der Intervallik. Ich arbeite hier – das war meine
Antwort auf Mozart – nicht mit einer abstrakten, intellektuellen Methodik, mittels deren sich das eine aus
119
Ebda., S. 183.
120
Ebda., S. 180.
121
Ebda., S. 191.
122
Huber / Mahnkopf, Aspekte, S. 140.
61
dem anderen berechnen ließe, sondern induktiv, wenn dieser Begriff für das, was ich gemacht habe,
überhaupt ausreicht.“ 123
Wenn sich Huber einem Werk der Musikgeschichte annäherte, beschäftigte er sich
immer detailliert mit allen relevanten Elementen. Er analysierte im Detail die Motivik,
Intervallik, Harmonik und andere Parameter des zugrunde liegenden Werks, um dadurch
seinen eigenen Weg zu diesem Material zu finden. Huber verarbeitet das andere Werk so
auf seine persönliche Weise und schuf aus Altem Neues: „Hubers Bekenntnis, beim
Komponieren‚ aus alten Wurzeln Neues sprießen lassen zu wollen“, ist für seinen Ansatz
schon seit Jahrzehnten von grundlegender Bedeutung und erstreckt sich auf fast alle
Facetten des ‚Transformativen‘ in seiner Ästhetik.“124
3.4. Huber und Traditionen
„Jedes kreative Tun muß eine innovative, schaffende Komponente haben, sonst
vermittelt es nicht eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, sondern
beschränkt sich auf sich selber, ist eine Selbstbestätigung. Man kann dann nicht mehr von
„transmission“ (Vermittlung) sprechen.“125
Die Konfrontation mit historischen Werken ist bei Huber vielschichtig; er bezieht sich
auf Musik-, Bild- und Literaturtraditionen. Er ist immer auf der Suche nach Gerechtigkeit
und Frieden. Eben der Frieden war Ausgangspunkt für sein Werk Quod est pax? – Vers la
raison du cœur... für Orchester, fünf Solostimmen und arabische Perkussion (2007). Huber
fragte sich, wo man Frieden finden könne und eine von möglichen Antworten hat er in den
Fresken „Buon governo“ und „Mal governo“ von Ambrogio Lorenzetti (1290-1348)
gefunden. In der Mitte von „Buon governo“ steht die Pax. Sie ist die einzige Figur, die ihre
Aufmerksamkeit auf das Publikum hin richtet; für Huber ist dieses Detail äußerst wichtig;
die Figur Pax richtet ihr Ohr zum Publikum: „Sie hört auf die anderen.“126
Miserere hominibus für sieben Stimmen und sieben Instrumentalisten (2006) ist ein
Werk, in dem Huber den 51. Bußpsalm Miserere mei Deus aus dem Alten Testament
vertont hat; den gleichen Psalm vertonte auch Josquin Desprez in seinem Miserere.
123
Ebda., S. 141.
124
Hiekel, Transformationen, S. 17.
125
Huber / Mahnkopf, Musikästhetischer und musikethischer Horizont, S. 312.
126
Huber / Mahnkopf, Das Werk, S. 117.
62
Desprez wiederholt zwischen den Versen des Psalms immer wieder die Bitte „miserere mei
Deus“, Huber fügt dagegen weitere Textfragmente aus verschiedenen Quellen ein.
Während der Psalmtext hauptsächlich auf Lateinisch gesungen wird, beinhaltet das Werk
noch Texte in sechs weiteren Sprachen. Es handelt sich um Textausschnitte aus El cántaro
roto von Octavio Paz (spanisch), Murale von Mahmoud Darwisch (französisch und
arabisch), Global Exit von Carl Amery (deutsch), Nous? La raison du cœur von Jaques
Derrida (französisch) und den Satz „have mercy upon me“ aus der King James Bible
(englisch). Jeder der Texstschichten, die auf insgesamt elf Sätze aufgeteilt werden, liegt
eine eigene Kompositionstechnik zugrunde. So findet man z. B. den Umkehrungskanon
zum Text von Octavio Paz, eine „Polypulsation“ bzw. einen „Motus“127 zum Text von
Mahmoud Darwisch), eine Polyphonie „Note gegen Note“ zum Text von Carl Amery),
kombiniert mit arabischen maqāmāt und ihren Dreivierteltönen. Alle Instrumentalisten
spielen verschiedene Instrumente; so spielt der Flötist sowohl Alt- als auch Bassflöte, der
Klarinettist wechselt auch zur Bass- und Kontrabassklarinette, die Gitarre zur Theorbe und
die Viola zur (dritteltönig gestimmten) Viola d’amore. Dazu spielen die Sänger
verschiedene Schlagzeuginstrumente (Tom-Tom, Guiros, kleines Sizzle Cymbal u. a.).
Das Werk Agnus Dei cum recordatione für Contratenor, zwei Tenöre, Bassbariton,
Laute und zwei Fideln (1991) bezieht sich auf die Missa prolationum Johannes Ockeghems
bzw. auf die drei Agnus Dei aus dieser Messe. Beim Komponieren lehnte sich Huber
streng an Ockeghems Agnus Dei an. Wie Huber dies des Öfteren praktiziert, fügt er auch
hier einen anderen Text ein. Neue Elemente (in Bezug auf Ockeghems Zeit) sind auch die
Instrumente Laute und Fideln und der Baryton: „Ich polarisierte somit prima und seconda
prattica als Gegensatz.“128 Ockeghem schreibt bis zur Vierstimmigkeit, Huber erreicht mit
Instrumenten Fünf- bis Siebenstimmigkeit: „Es ist eine Vorstellung der historischen Zeit,
Zeit als Kugelgestalt mit dem Unabgegoltenen im Alten, das in eine Gegenwart Strahlen
werfen kann, aber auch über diese hinaus in die Zukunft.“129
In seinem Streichquintett Ecce homines (1998) bezieht sich Huber auf Mozarts Musik,
genauer an sein Streichquintett g-Moll KV 516: „Seit über zwanzig Jahren beschäftigt
mich die Idee, für diese Mozartische Besetzung zu komponieren, wobei sein Quintett in g127
Huber, Einzelwerke, S. 162.
128
Huber, Das Werk, S. 75.
129
Ebda.
63
Moll wie ein vom Föhn durchsichtig gewordenes Gebirge in äußerster Ferne steht.“130
Huber analysierte das g-Moll Quintett bis ins Detail und hat aus Mozarts Grundstrukturen
sein Material entwickelt. Doch wendet er kaum Zitate an: „Was ich hier mit Mozart mache,
ist nicht die gewohnte Zitattechnik. Ich komponiere nirgends ihn direkt, vielmehr
rekomponiere ich seine Musik im dem Sinne, daß meine Musik der Mozarts gleichen
möge.“131
Außer an Mozart knüpft Ecce homines noch an zwei von Hubers früheren Werken an:
an das zweite Streichquartett ...von Zeit zu Zeit... (1984/85) und das Streichtrio Des
Dichters Pflug (1989). Beide Kompositionen sind von zentraler Bedeutung für Hubers
Beschäftigung mit mikrotonalen Systemen. Während im Streichquartett seine Arbeit „mit
vierteltönigen Intervallstrukturen“132 einen Höhepunkt erreicht hat, steht das Trio am
Anfang seiner Beschäftigung mit Dritteltönigkeit: „Im Streichquintett bringe ich diese
beiden Welten nicht nur in unmittelbare gegenseitige Berührung, sondern löse damit auch
eine sanfte Konfrontation ihrer immanenten Konsequenzen aus.“133
Im viersätzigen Kammerkonzert Intarsi (1994) nähert sich Huber Mozarts Ästhetik auf
eine andere Weise. Er leitet das gesamte harmonische und kontrapunktische Material aus
Mozarts Stil ab und fügt hier auch einige Zitate ein. Im Werkkommentar schreibt Huber
zum zweiten Satz: „Das ständige Pulsieren der Klänge in sich überschichtenden
primzahligen Unterteilungen wird von zwei schattenhaft vorbeihuschenden Cadenze
contrappuntistiche unterbrochen, deren raffinierte Kontrapunktik ausnahmslos aus
Mozartschen Intervall- und Rhythmusmotiven entwickelt ist.“134
3.4.1. Aspekte von Hubers Gesualdo-Rezeption
Die Lamentationes sacrae et profanae ad responsoria Iesualdi (1993) sind das Werk
Hubers, in dem sich die Gesualdo-Rezeption am umfassendesten niederschlägt. Hubers
Beschäftigung mit der bzw. Annäherung an die Musik Gesualdos kann man von zwei
Perspektiven aus betrachten. Einerseits nähert er sich Gesualdos Kompositionstechniken
130
Huber, Miserere hominibus, S. 2.
131
Huber, Aspekte, S. 143.
132
Huber, Ecce homines, S. 1.
133
Ebda.
134
Huber, Intarsi, S. 1.
64
und versucht diesen intensiv nachzuspüren; andererseits integriert er Elemente aus
Gesualdos Musik und schafft dabei Neues, Eigentümliches:
Diese komplexe Verhältnis von Distanz und Nähe, die Trennung der Weltalter des Manierismus und der
Postmoderne und die unterschiedlichen Zugangsformen zu Gesualdo bis zur dichtesten Annäherung im
„Gesualdissimo“ erzeugt erst zusammen die Trans-Epochalität, eine Nähe und Verwandschaft nicht
kontinuerlich durch die Epochen hindurch, sondern übergreifend über sie hinweg. 135
Da er sich Gesualdos Musik stärker annähern wollte, beschäftigte sich Huber mit dem
cembalo universale. Es handelt sich um ein historisches Instrument, das enharmonisch
gebaut ist. Dieses Instrument besitzt eine Taste für fis und eine andere für ges. Jede
schwarze Taste ist in sich unterteilt, zusätzlich gibt es auch jeweils eine schwarze Taste
zwischen h/c und e/f, insgesamt existieren also 19 Tasten pro Oktave. Da es sich um ein
experimentelles Instrument handelte und nicht um ein konzertantes, ist das cembalo
universale heute relativ unbekannt und nur in bestimmten Museen vorhanden. In den
1970er Jahren rekonstruierte der deutsche Organist und Musikwissenschaftler Harald
Vogel das Instrument. Dank der Beschäftigung mit diesem änderte sich Hubers Auffassung
der Enharmonik und verstärkte sich seine Sensibilität nach Differenzierung der
enharmonischen Töne: „Ich behandelte enharmonische Töne nicht mehr gleich, sondern
differenziert.“136 In Bezug auf die Beschäftigung mit cembalo universale äußerte sich
Huber folgendermaßen: „Daraus ergab sich ein ganz anderer Umgang mit dem GesualdoModell der Responsorien aus deren spiraliger Enharmonik, ich – wenn auch indirekt – die
Intervallik der Lamentationes sacrae et profanae ableitete. So kann ich sagen, dass sich die
gesamte motivisch-intervallische und damit die harmonische Welt des Werkes auf
Gesualdo bezieht.“137
Wenn man die Einflüsse von Gesualdos Musik an Huber studieren möchte, sollte man sich
– so Martin Zenck – mit folgenden Aspekten beschäftigen bzw. sie in Betracht ziehen:
„eine historisch-stilistische Zäsur/Ruptur“138 steht zwischen Gesualdos Responsorien und
Hubers Lamentationes sacrae et profanae ad responsoria Iesualdi (1993) und es besteht
135
Zenck, Transformationen, S. 85.
136
Huber / Mahnkopf, Von Zeit zu Zeit, S. 100.
137
Huber, Lamentationes sacrae et profanae ad responsoria Iesualdi, S. 9.
138
Zenck, Transformationen, S. 104.
65
„eine
wechselseitige
Beziehung
von
Antizipation
und
doch
weiterführender
Realisierung“139 zwischen den beiden Werken. Zudem ist auf zwei weitere wichtige Werke
Hubers zu verweisen, die ebenfalls an die Musikgeschichte anknüpfen, in denen aber auch
Kritik am Weltzustand mitklingt: Lamentationes de fine vicesimi saeculi (1992-1994) und
die Oper Schwarzerde (1997-2001).140 In der Partitur von Schwarzerde finden sich mit
„Gesualdissimo“ bezeichnete Passagen, die auf eine bestimmte Gesualdo-bezogene
Klangästhetik hinweisen. Die Oper basiert u. a. auch auf arabischen Modi, wobei sich auf
der Drittel- und Dreivierteltönigkeit berühren. Diese untemperierte Musik ist das
Bindeglied zwischen Gesualdos Enharmonik und der arabischen Musik.141 In den
Gesängen der Knaben fügt Huber Akkorde ein, die anhand von Gesualdos Enharmonik
entwickelt wurden.142 Die Harmonik dieser Passage ist auch nach dem Vorbild Gesualdos
entstanden; am Anfang herrscht f-Moll, dann kommt Ges-Dur und Es-Moll bzw. EsDur.143 Die Akkorde treten aber nicht nacheinander auf, sondern erscheinen bei
bestimmten Stellen innerhalb der Passage. In der Motivik ist ebenfalls Gesualdo erkennbar.
Vorhalt-Dissonanzen, homophone Momente (gleichzeitiger Eintritt aller Stimmen),
Kadenzbildungen in der Einzelstimme etc. Aber wie auch in der Lamentationes sacrae et
profanae ad responsoria Iesualdi möchte Huber auch hier Gesualdos Stil nicht kopieren:
„Eigentlich ist es [‚Gesualdissimo‛] durchgehend vorhanden, es ist nicht so, daß ich irgend
etwas zitieren oder einen Stil nachahmen würde.“144
139
Zenck, Transformationen, S. 104.
140
Zenck, Transformationen, S. 105.
141
Zenck, Klaus Huber, S. 95.
142
Huber / Haefeli, Unterbrochene Zeit, S. 49.
143
Zenck, Transformationen, S. 79.
144
Huber / Haefeli, Unterbrochene Zeit, S. 49.
66
3.5. Lamentationes sacrae et profanae ad responsoria Iesualdi
Das Bindeglied zwischen Sciarrinos 12 Madrigali und Klaus Hubers Lamentationes
sacrae et profanae ad responsoria iesualdi ist Gesualdos Musik. Im Gegensatz zu
Sciarrino spielt der historische Aspekt bei Hubers Werk eine deutlich prominentere Rolle.
Die Lamentationens sind eigentlich als eine „Ergänzung“ zu Gesualdos Responsorien
komponiert. Die Idee zu diesem Werk stammte von Rachid Safir, Begründer des
Ensembles Les Jeunes Solistes, mit dem Huber immer wieder zusammenarbeitete (z. B. in
Quod est pax? – Vers la raison du cœur..., Agnus Dei cum recordatione, Cantiones de
circulo gyrante, Miserere hominibus u. a.).
Huber knüpft in vieler Hinsicht direkt an Gesualdo an. Die Lamentationes sacrae et
profanae ad responsoria Iesualdi sind für die gleiche Besetzung (cantus, sextus, altus,
tenor, quintus und bassus bzw. Sopran, Mezzosopran, Kontratenor, zwei Tenöre und Bass)
geschrieben, wie sie sich in Gesualdos Responsorien findet. Die Responsorien sind ein
Zyklus von insgesamt 27 Stücken (3x9), die in der Karwoche gesungen werden. 1611
komponiert, wurden sie erst im 20. Jahrhundert wiederentdeckt. Drei dieser Stücke; Vines
mea, Tenebrae factae sunt, Caligaverunt; werden bei kombinierten Aufführungen durch
die fünf Sätze von Hubers Lamentationes (Exaudi vocem meam, Lectio prima, Lectio
secunda, Lectio tertia, Benedictus) ersetzt (Tab. 5).
Tab. 5 Formübersicht
Satznummer:
Titel:
Komponist:
1.
Exaudi vocem meam
Huber
2.
Lectio prima
Huber
3.
Vines mea
Gesualdo
4.
Lectio secunda
Huber
5.
Tenebrae factae sunt
Gesualdo
6.
Lectio tertia
Huber
7.
Caligaverunt
Gesualdo
8.
Benedictus
Huber
67
Auf den Vorschlag Safirs hin, ein Instrument zur Stützung der Intonation
hinzuzufügen145 setzte Huber zu Lectio prima nachträglich eine Theorbe bzw. eine Gitarre
sowie ein Bassethorn („als Melodieinstrument, um den Historismus zu brechen“146) bzw.
eine Bassklarinette hinzu. Die instrumentale Begleitung ist hier aber nicht essentiell. Die
Sänger können frei entscheiden, ob sie mit oder ohne Begleitung singen möchten. In der
Lectio secunda dagegen spielen die Instrumente eine wichtigere Rolle. Sie übernehmen
teils die Aufgabe von Soloinstrumenten, teils spielen sie reine Begleitung. Bei diesem Satz
waren sie von vornherein Teil der Konzeption. Neben Gesualdo knüpft Huber an zwei
Klagelieder-Kompositionen des 20. Jahrhunderts an: Ernst Křeneks Lamentationes
Jeremiae Prophetae (1957) sowie Igor Strawinskis Threni (1957-58). „Beide Werke haben
meine kompositorischen Anfänge wesentlich mitgeprägt. Warum sollte ich mich im Alter
nicht dazu bekennen? Ansätze zu einer diatonischen Zwölftönigkeit, wie ich sie bei Krenek
und dann bei Strawinski finde, habe ich in enharmonischem Sinne weiterentwickelt.“147
Als Textunterlage wählte Huber auch hier mehrere Texte:
Meine Komposition basiert auf drei Textebenen. Grundlage bildet das Lateinische. Alle Aussagen, deren
Aktualität ich unterstreichen wollte, habe ich zusätzlich in französischer Übersetzung, der Sprache der
Interpreten, komponiert. In sie eingelassen ist die zeitgenössische Ebene. Bruchstücke aus Texten von
Ernesto Cardenal und Mahmud Doulatabadi stehen neben eigenen Textfragmenten, die die Klagelieder
infiltrieren und in ihrer Aktualität schärfen.148
Die modernen Texte sollen den Sinn von Hubers Lamentationes vermitteln: „Ich wollte
die Lamentationes auf die Gegenwart beziehen, auf die ich reagiere. Deshalb suchte ich
nach Lamentationes der Gegenwart, auch in der Poetik. In Doulatabadi und Cardenal gibt
es sie, beim letzteren als Protest.“149 Die Auswahl von verschiedenen Texten deutet auf
Hubers Überzeugung hin, dass jedes Volk in seiner Vergangenheit und auch in der
Gegenwart „erschreckenden Tatbestände“ vorfindet: „ein Sicher- und Auf-Dauer-Stellen
nicht nur des entsprechenden Sinns innerhalb der kulturellen Überlieferung, sondern der
Aufweis eines erschreckenden Tatbestands durch alle Kulturen und Sprachen hindurch.“150
145
Huber / Mahnkopf, Von Zeit zu Zeit, S. 100.
146
Huber / Mahnkopf, Von Zeit zu Zeit S. 100.
147
Ebda.
148
Ebda.
149
Huber / Mahnkopf, Das Werk, S. 102.
150
Zenck, Gesualdissimo, S. 88.
68
Hier kommt Hubers Auseinandersetzung mit aktuellen Geschehnissen in der Welt und
seine Empathie für diejenigen, die leiden, zum Ausdruck.
Insgesamt umschreiben Hubers Lamentationes also einen Prozess, der von der unmittelbaren Gegenwart
des Komponisten/Geschichtsschreibers ausgeht, um von dort einen vielfältigen, nicht geradlinigen Blick
zurück in die unerlöste Vergangenheit zu werfen, die immer wieder von schmerzenden und aggressiven
Versatzstücken durchwirkt wird. 151
3.5.1. Lamentationes sacrae et profanae ad responsoria iesualdi, Analyse
In seinem Lamentationes wollte Huber nicht Gesualdos Perspektive weiterführen: „Die
Lamentationes sacrae et profanae ad responsoria iesualdi gehen weit über das hinaus;
deren sechsstimmige Vokalpolyphonie hätte ich aber ohne diese ‚Vorarbeit‘ nicht leisten
können.“152 Die ‚Vorarbeit‘, über die Huber spricht, bezieht sich an seine ausführliche
Analyse von zwei Responsorien Gesualdos: Omnes amici mei und Vinea mea electa und
Gesualdos Vokalstücke überhaupt. Anhand dieser Studien hat Huber sein harmonisch–
intervallisches Material entwickelt. Nun, das ist nicht die einzige Ebene, auf die sich Huber
zu Gesualdo nähert; er macht das auch mit der Struktur einiger Abschnitte. Oft treten die
Stimmen nacheinander auf und so entwickelt sich die Kontrapunktik; wie in Madrigale.
Auch die dichten Abschnitte mit gleichem Rhythmus in allen Stimmen erinnern an die
homophonen Passagen bei Gesualdo. Martin Zenck spricht über die drei Arten, mit
welchen Huber zu Gesualdo zutritt: „a) als Gegensatz und Kommentar von originaler
Lectio und eigenständigem Responsorium Gesualdos, das zwischen den Lectiones zur
Aufführung gebracht wird; b) als intervallische ‚Contraffatura‘, welche verschlüsselt
Gesualdos enharmonisches Denken widerspiegelt und c) als ausdrucksmäßiges Zitat, das
über die Enharmonik sogar das Timbre einschließt.“153
Die Lectio prima beginnt vierstimmig, mit einer Einleitung, der der Text des Propheten
Jeremia De Lamentatione Jeremiae zugrunde liegt. Der Tenor singt eine Cantus-firmusMelodie, in der Tradition der Cantus-firmus-Messen. Sie ist im Ansatz rhythmisiert,
verläuft aber hauptsächlich in punktierten Vierteln (Bsp. 23).
151
Zenck, Politisches Denken und Transkulturalität in Klaus Hubers Oper Schwarzerde nach Ossip
Mandelstam, S. 98.
152
Hubert, Das Werk, S. 79.
153
Zenck, Gesualdissimo; S. 97.
69
Bsp. 23, Lectio prima, T. 1-2
Das Material der anderen drei Stimmen besteht aus einer Kombination großer Sprünge
(Oktav, None, Septim u.a.) mit Sekundschritten. Sie sind kontrapunktisch gesetzt und
treten mit ähnlicher Motivik nacheinander auf: der Septim- bzw. Nonsprung und
Sekundschritt aufwärts und der Sekundschritt nach oben (Bassus) bzw. nach unten (Altus,
Quintus). Man bemerkt einige Motive, die immer wiederkehren, z. B. ein dreitöniges
chromatisches Motiv, das verschiedenartig kombiniert wird. Dabei nutzt Huber größere
Sprünge bzw. geht in extreme Lagen, die die Sänger stark fordern. Nach einem eintaktigen
Einschub auf einen altfranzösischen Text folgt „eine harmonische Passage“154, die an
homophone Abschnitte in Gesualdos Madrigalen erinnert. Es handelt sich um Akkorde,
welche voller Dissonanzen sind, es gibt kein tonales Zentrum. Am Ende dieser Passage
mündet dieser homophone Satz in g-Moll (Bsp. 24).
154
Huber / Mahnkopf, Das Werk, S. 99.
70
Bsp. 24, Lectio prima, T. 10
Danach folgt ein kontrapunktischer Teil mit Sprechgesang und zwei Sprachen:
Lateinisch und Französisch. Ab T. 33 setzen die Stimmen imitatorisch ein. Der Anfang
bleibt in der imitierenden Stimme unverändert und entwickelt sich in freier Kontrapunktik
weiter (Bsp. 25).
71
Bsp. 25, Lectio prima, T. 33
Bassetthorn und Theorbe sind hier im Unterschied zur Einleitung (Exaudi vocem meam)
nur als Stützstimme gedacht. Es gibt viele kleine Einheiten, die durch die Fermaten geteilt
sind; ähnlich wie die Phrasen in Gesualdos Madrigalen und Responsorien, die durch
Soggetti gegliedert sind (Bsp. 26).
Bsp. 26, Responsoria I, Gesualdo
72
In der Lectio secunda erscheint zum ersten Mal in diesem Zyklus ein arabisches
Schlagzeuginstrument, die Darabuka (T. 75). Es spielt ein Wazn in der Dauer von 19
Achtel. Dieser Rhythmus dominiert durch diesen Abschnitt; alles ist energisch und nach
dem Rhythmus orientiert.
Der Babylon Abschnitt ist im völligen Kontrast zum vorigen Rhythmus-Teil. Es fängt
sechsstimmig mit langliegenden Tönen im dreifachen piano an; es ist melismatisch, ruhig
Ab T. 106, wo sich die Instrumente dazu schließen, erschienen im Stimmenpart schnelle
Figurationen, die an arabische Arabesken erinnern (Bsp. 27).
Bsp. 27, Lectio secunda, T. 106
Den gleichen, ruhigen Charakter hat der Schlussteil von Lectio secunda, Jerusalem,
convertere. Alles mündet in f-Moll wie auch in der Lectio prima.
In der Lectio tertia kehrt Huber zurück zur Dritteltönigkeit. Es ist die komplexeste
Lectio; es gibt viele verschiedene Abschnitte. Zu Beginn spielt anstatt Theorbe die
dritteltönige Gitarre. Zu Stimmen und Bassklarinette kommen auch ab und zu die
Dritteltöne; die Kommunikation mit Gitarre. Das Stimmenmaterial sind hauptsächlich
Einzeltöne, die gesungen oder gesprochen werden.
. Wenn die Gitarre nicht mitspielt (T. 9 - T. 39), treten auch keine Dritteltöne vor. Der
Babylone Teil erscheint zweimal; sein Tonmaterial ist von Babylone der Lectio secunda
übergenommen. Hier kommt er das erste Mal um die kleine Sekund höher und das zweite
Mal um die große Sekund nach unten transponiert.
Der Teil Circumae dificavit (T. 72) und Conclusit vias meas (T. 99) erinnern an den
Anfang. Wieder spielt die Gitarre, das Tempo ist gleich (lentissimo) und es gibt
73
Sprechgesang, Einzeltöne und Dritteltönigkeit. Nun, hier ist der Satz dichter, alle Stimmen
nehmen teil.
Der Satz schließt mit Jerusalem, convertere, der genauso wie Lectio prima und Lectio
secunda mit f-Moll Dreiklang endet.
3.5.2. Textbehandlung
Die Textfragmente auf Französisch sind eng mit Jeremias Lamentationes verbunden.
Sie kommen in zwei Kontexten vor; entweder als Übersetzung des biblischen Textes oder
als Kommentar dieser Texte (Tab. 6); dabei gibt es unterschiedliche Möglichkeiten der
Textkombination:
Tab. 6
1.
Französisch
als
Kommentar
des
2. Französisch als Übersetzung des biblischen Textes
biblischen Textes
a) beide Texte verlaufen nacheinander
(Exaudi vocem meam T. 20)
b) beide Texte verlaufen gleichzeitig
(Lectio secunda T. 11-23)
a) Französisch erscheint gleichzeitig mit hebräischen
Buchstaben (Lectio tertia T. 7)
b) die Silben von beiden Texte vermischen sich in
einer Textphrase (Benedictus T. 31)
In der Einleitung (Hoquetus, T. 20) findet sich die erste Kategorie (Tab. 6, 1a).
Bsp. 28, Exaudi vocem meam, Hoquetus, T.20
74
Nach der erschütternden Beschreibung der Leiden Christi am Kreuz aus Psalm 21
Foderunt manus meas, et pedes meos (Sie haben meine Hände und Füße durchbohrt155)
folgen Textfragmente aus Ernesto Cardenals Gedicht Por Qué Me Has Abandonado.
Beiden Texten ist die Klage über die unbegreifliche Aggression der Menschen gemeinsam.
In Cardenals Text wird über die Leiden der Juden im Zweiten Weltkrieg gesprochen: „Ils
m’ont conduit nu à la chambre à gaz“. Durch die Konfrontation von zwei historisch weit
entfernten Texten wollte Huber darlegen, dass sich Hass und Intoleranz durch die
Menschheitsgeschichte immer wieder wiederholen:
Da im Anfang, im biblischen Beginn bereits der Riss, die Gewalt in der Ursprungsgeschichte lokalisiert
wird, durchherrscht dieser auch mit zunehmender Brutalität die Historie bis in unsere Gegenwart hinein: den
„durchbohrten Händen und Füßen“ („Foderunt manus meas et pedes meos“) korrespondiert die Vernichtung
in der Gaskammer.156
Die Überlappung von zwei Textebenen (Tab. 6, 1b) ist mit verschiedenen
Gesangstechniken verbunden; daneben gibt es Passagen, in denen die Textebenen durch
Singen und Sprechen ausgeführt werden. In Lectio prima wird der französische Text
gesungen, während das Lateinische zwischen Singen und Sprechen pendelt. In Lectio
secunda gibt es nur eine mehrtextige Passage (T. 11-23). Dort spricht der Altus den
französischen Text, während die andere Stimmen im gleichen Rhythmus aus Jeremias’
Lamentationes singen.
In der dritten Lectio werden in mehrtextigen Passagen beide Textebenen gesprochen
(Tab. 6, 2.b). Dazu erscheinen ab und zu Einzeltöne, die auf Lateinisch gesungen werden.
Auf diese Weise differenziert Huber den historischen Text von den modernen, aber
gleichzeitig zeigt sich, wie die Geschehnisse der Vergangenheit und die der Gegenwart
nahe beieinander stehen.
Die Auskomponierung von hebräischen Buchstaben (Heth, Teth, Jod, Caph, u.a.) hat
Huber von Křenek und Stravinsky übernommen:
Ich hielt mich an die Tradition. Ich studierte Křeneks Lamentatio Jeremiae prophetae, die sich auch auf
diese Texte bezieht, und Threni von Strawinsky. In beiden Fällen, das hatte ich aus meinen jungen Jahren in
Erinnerung, werden die hebräischen Buchstaben gesungen.
155
Zenck, Gesualdissimo, S. 87.
156
Ebda.
157
Huber / Mahnkopf, Das Werk, S. 99.
157
75
Am Anfang jeder Strophe in Jeremias Lamentationes steht ein hebräischer Buchstabe.
Wenn Huber (in jeder Lectio) einen hebräischen Buchstaben vertont, wird dieser immer
von vier bzw. zwei Stimmen (Lectio tertia) gesungen, bevor der lateinische Text beginnt.
Die Vertonugn der hebräischen Buchstaben dient also jeweils als kurze Einleitung.
Gleichzeitig wird in den zwei verbleibenden Stimmen die Übersetzung des ersten Satzes
des biblischen Lamentationes, der folgt, auf Französisch gesprochen. Die Ausnahme ist
Ghimel in Lectio tertia wo es keinen französischen Vorbereitungstext gibt.
Obwohl Huber sehr gut passende Texte zur Jeremias’ Lamentationes gefunden hat,
wollte er noch weitere aktuelle Lamentationes integrieren. Daher setzte er zwischen diese
Texte auch seine eigenen Lamentationes Le capitalisme, le péché accumulé / sa pierre
angulaire / c’est l’inégalité:
Da ich in der Sprache der Sänger komponieren wollte, also französisch, und keine modernen Lamentationes
in dieser Sprache fand, habe ich einen kleinen Text selber geschrieben. Leute meinten zu mir, er sei naiv. Ich
erwiderte, es wäre wunderbar, es wäre es. Leider ist es viel realer wahr, als es mir lieb ist. 158
Hubers Text bezieht sich auf ein Gedicht Cardenals, welches die Ungleichheit zwischen
den Menschen kritisiert.
Mehrere Texte, in verschiedenen Sprachen und von verschiedenen Autoren, verlaufen
also gleichzeitig. Dieses Verfahren von Mehrtextigkeit ist aus der Manierismus-Tradition
übernommen:
Bereits in dieser Komplexität der Über- und Ineinanderschichtung von Texten [...] kann ein erstes
Zeichen für Manierismus gesehen werden. Statt einfacher und direkter Zuordnungen werden vielfältige
Zwischen- und Verbindungslinien, auch im Sinne einer Interlinearversion aufgesucht. Dabei kann in erster
oder
auch
letzter
Instanz
die
Musik
wiederum
als
eine
grundierende
oder
auch
überschriebene/überschreibende Schicht verstanden werden. 159
158
Ebda., S. 103.
159
Zenck, Gesualdissimo, S. 87.
76
3.5.3. Formübersicht
Tab. 7 Formübersicht
Exaudi
Lectio prima
Lectio secunda
Lectio tertia
Benedictus
Que clamavi T. 1
Lamed
Semitas meas T. 1
De
vocem meam
Exaudi
vocem meam
Hoquetus T. 1
Cantico
Zacharie T. 1
Hoquetus
Exaudi
Heth T. 5
Elle pleura T. 11
Mem
Aleph
Sicut
Cui comparabo te? T. 22
Ego vir videns T. 7
est T. 11
Magna est enim T. 35
Babylone T. 33
Ad dandam
vocem meam
locutus
T. 26
Teth T. 14
Nun
Puante ta suffisance
Per
viscera
- Prophetae tui T. 44
T. 37
misericordiae
T. 31
Jod T. 22
Samech T. 75
Beth
Vetustam fecit T. 40
Caph T. 32
Babylon T. 102
Aedigicavit T. 48
Jerusalem T. 46
Jerusalem T. 115
L’ hemisphere T. 66
Ghimel
Circumaedificavit T.
72
Babylon T. 82
Puante ta suffisance
T. 84
Meuretriers
tes mensonges! T. 87
Se ed cum clamavero
T. 91
Conclusit vias meas
T. 99
Tant que tu adores
T. 109
Détourne toi T. 129
Jerusalem T. 140
77
Obwohl jede Lectio eine kleine Einheit für sich ist, gibt es einige Elemente bzw.
Abschnitte, die sich durch alle drei Sätze ziehen. Ein von diesen ist der Schlussteil jeder
Lectio: Jerusalem, convertere ad dominum Deum tuum. Den ganzen Abschnitt hat Huber
nur einmal komponiert und dreimal angewendet. Das Tonmaterial des Jerusalem
convertere erscheint zum ersten Mal am Anfang von Lectio prima bzw. in der Tenor- und
Altusmelodie (Bsp. 29).
Bsp. 29, Lectio prima, T. 47
Abweichungen von den beiden vorangegangenen Jerusalem convertere finden sich am
Ende der Lectio tertia, wo die Altuslinie nach einem lange liegenden c2 noch eine
aufsteigende Quintolen-Figur singt. In der Lectio secunda wird zudem die Bassklarinette
zur Theorbe hinzugefügt. Alle drei Lectiones schließen mit einem f-Moll Dreiklang, der
unerwartet am Ende jeder Lectio erscheint.
Der zweite gemeinsame Abschnitt ist Babylon. Es handelt sich um einen kurzen
Einschub, der im Unterschied zu Jerusalem, convertere nicht identisch wiederholt wird,
sondern immer um eine Sekund tiefer bzw. höher transponiert wird. Das erste Babylon
erscheint in Lectio secunda und dann noch zweimal in Lectio tertia. Obwohl kurz, ist er
78
ganz wichtig für die weitere Entwicklung der Textebene: „Babylon bildet eine andere Art
Scharnier, einen Kreuzweg, von dort an laufen die Texte anders.“160 Nach den ersten
Babylone (Lectio secunda) folgt ein Einschub Puante ta suffisance! (Stinkend deine
Selbstgefälligkeit!) und Meurtriers tes mensonges!, die mehrmals wiederholt werden „wie
ein Rondell im Kreis, jedesmal weniger klangvoll, die Sprache tritt in den Vordergrund,
die Stimmen steigen aus, es wird eine Oktave tiefer gesungen, damit sie verblassen,
schließlich bis zur Zweistimmigkeit, immer dünner.“161 Mit diesen Verfahren hebt Huber
den unterliegenden Text Tens mensognes (Deine Lügen)162 hervor. Er möchte durch dieses
allmähliches Ausblassen des Materials seinen Standpunkt zeigen; die Lügen können nie
etwas Konstruktives erzeugen: „Das ist eine Aussage, nämlich, daß [sic!] die Lügen tödlich
sind.“163 Das ist ein spezifischer Einschub, welches nicht an das Material vor und nach ihn
anknüpft; es könnte auch ausgelassen sein.
Die Lectiones bestehen aus mehreren kleinen Teilen die oft harmonische bzw.
kontrapunktische Passagen enthalten. Jede Lectio beinhaltet bestimmte Momente, bei
denen man Gesualdo „erkennen“ kann. Ein Beispiel dafür ist gleich am Anfang: die
Zweistimmigkeit von Exaudi vocem meam ist kontrapunktisch komponiert. Die
Imitationsstimme wiederholt das Material in Umkehrung (Bsp. 30).
Bsp. 30, Exaudi vocem meam
T. 6
160
Huber / Mahnkopf, Das Werk, S. 103.
161
Ebda., S. 104.
162
Ebda.
163
Ebda.
79
Dabei wird entweder die Bewegungsrichtung verändert oder beibehalten, aber die
Intervalle verändert. Es gibt daneben auch Passagen im strengen Kontrapunkt bzw. Kanon,
so z. B. die Phrasen Deficerunt prae lacrimis oculi mei, Et fusum est in terra iecur meum
und Cum deficeret parvulus et lactens in Lectio prima oder Nec a periebant iniquitatem
tuam in Lectio secunda (Bsp. 31).
Bsp. 31
Lectio prima, Deficerunt prae lacrimis oculi mei, T. 33
Die Instrumente nehmen an dem Imitationsprinzip teil; entweder übernehmen sie nur
ein Element (Lectio secunda) oder die ganze Phrase (Lectio secunda) bzw. sind mit
Stimmen kanonisch gesetzt.
Homophone Teile sind oft mit forte und klaren Rhythmus verbunden. Ein Beispiel für
den homophonen Teil ist in Lectio prima, wo alle Stimmen mit gleichen Rhythmus
anfangen und sich weiter kompakt entwickeln; wie ein Marsch, energisch und laut. Im
letzten Takt mündet alles in g-Moll Dreiklang (Bsp. 32).
80
Bsp. 32, Lectio prima, T. 10
Noch strengere Homophonie findet man in Lectio secunda (T. 15), wo fast die ganze
Zeit der gleiche Rhythmus in allen Stimmen behalten wird. Lectio tertia, die Phrase
L’hemisphere sud s’enfonce (T. 66) und Tante que tu adores (T. 109) sind stark
homophonisch durchgearbeitet.
Die zwei Sätze, die den Zyklus umrahmen; Exaudi vocem meam und Benedictus,
unterscheiden sich von den drei Lectiones. Sie sind kürzer und von der Struktur her
einfachere Sätze. Exaudi vocem meam steht am Anfang vom Zyklus, als eine Einleitung.
Sie ist nachträglich; nach Lectio prima komponiert. Der Text von der Einleitung kommt
hauptsächlich aus dem Alten Testament, es umfasst die Psalmen 21 und 26, die über
Christi Leiden am Kreuz reden. Die französischen Textfragmente von Cardenals Gedicht
(Hoquetus) laufen gleichzeitig mit Psalm 21. Es gibt keine kleineren Einheiten, wie das in
Lectiones der Fall ist, sondern die ganze Form ist in drei große Abschnitte aufgeteilt (Tab.
8).
81
Tab. 8 Form
Titel:
Exaudi vocem meam (T.1-
Hoquetus (T. 20-41)
Exaudi vocem meam
19)
(T.42-46)
Abschn
A
Text:
Text aus Psalm 26
A’
B
itt:
Text
aus
Ps
21
und
Ps 26
Fragmente aus Cardenals
Gedicht
Die Instrumente (Theorbe und Bassetthorn) sind hier keine Stütze, sondern nehmen teil
an der Kontrapunktik, die sich in Stimmen entwickelt und dadurch als Stimmen wirken:
„Das Bassetthorn ist teilweise richtig solistisch, es gibt auch zweistimmige Vokalsätze,
zusammen mit diesen beiden Instrumenten zu einem Quartett zu erweitert.“164 Die
Imitation ist nicht streng, manchmal wird die Tonhöhe oder Bewegungsrichtung verändert,
aber das Gestus der Figur bleibt gleich, das heißt, alles, was für diese Figur charakteristisch
ist (große Sprünge, Rhythmus, usw.), wird behalten.
Der Hoquetus von Lectiones ist dynamischer und dichter von Exaudi vocem meam; das
Material entwickelt sich schneller. Bei der Phrase Ils mont enlevé toute identité (T. 21)
verdoppelt sich die Anzahl der Stimmen; von Zweistimmigkeit entwickelt sich die
Vierstimmigkeit.
Benedictus ist ein a cappella-Satz, deren Musik an die Jerusalem, convertere ad
dominum Deum tuum zurückgeht. Dieser Satz ist das einzige, wo Huber nicht an Gesualdo
anknüpft: „In Absetzung vom obigen harmonischen Prozeß (der zu Gesualdo hin- und
dann wieder wegführt) habe ich hier bereits von Gesualdo entfernt begonnen und mich
dann in sozusagen noch weitere Ferne begeben.“165 In Bezug auf die vorigen Sätze ist das
ganze Material vereinfacht bzw. reduziert. Ein ruhiger Satz, in dem der Text aus dem
Lukasevangelium Der Lobgesang des Zacharias betont wird, schließt den gesamten
Zyklus im heiteren Ton. Zacharias bedankt sich bei Gott für die Geburt seines Sohns;
Johannes der Täufer. Er spricht über ihm als jemanden, der dem Herrn vorangehen wird: Et
tu puer, propheta Altissimi vocaberis: praeibis enim ante faciem Domini parare vias ejus /
Und du, Kindlein, wirst ein Prophet des Höchsten heißen. Denn du wirst dem Herrn
164
Ebda., S. 100.
165
Ebda., S. 105.
82
vorangehen, dass du seinen Weg bereitest. Diese Sätze sind hoffnungsvoll, es kommt
jemand, der dem Volk die Erlösung bringen wird: Per viscera misericordiae Dei nostri, in
quibus visitavit nos, oriens ex alto: illuminare his qui in tenebris et in umbra mortis sedent:
ad dirigendos pedes nostros in viam pacis. / Durch die herzliche Barmherzigkeit unseres
Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe, damit es
erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße
auf den Weg des Friedens.
3.5.4. Harmonik und Intervallik
Den Abschnitt Magna est enim. Velut mare contritia tua (Bsp.33) in Lectio secunda
bezeichnete Huber selbst als Gesualdissimo:
Ich übernahm eine enharmonisch-chromatische Passage von Gesualdo, eine Akkordsequenz von vier, fünf
Akkorden, in ihrer Superchromatik, behandelte sie durch Transposition und Rotation und entwickelte daraus
einen Akkordprozeß, der an einer Stelle zu Gesualdo wird, davor und danach ist er ganz anders. 166
166
Huber / Mahnkopf, Von Zeit zu Zeit, S. 100.
83
Bsp. 33, Lectio secunda, Magna est enim. Velut mare contritia tua, T. 35-43
Außer der harmonischen Ebene erinnert auch die kontrapunktische Struktur, die sich da
entwickelt, an Gesualdo. Die Stimmen setzten nacheinander, aber über die Imitation kann
man nicht reden. Es gibt keine Elemente, die sich identisch wiederholen; das Material
besteht hauptsächlich aus liegenden Tönen, die in ihrer Dauer variieren. Am Ende dieses
Abschnitts erscheinen die Dreiklänge b-Moll, f-Moll, F-Dur, Es-Dur: „Das harmonische
84
Wendung am Ende mit f-Moll und Es-Dur ist von Gesualdo. Ich wollte das gleichsam
aufleuchten lassen, wobei es metrisch, rhythmisch und agogisch gesehen nicht Gesualdo
ist, aber nach ihm klingt.“167 An solche Momente denkt Zenck, wenn er über
„ausdrucksmäßigen Zitat“ und „Timbre“ schreibt (siehe Kapitel 3.4.1.). Den gleichen
Prozess hat Huber auch in Jerusalem convertere angewendet. Die Conductus-Linie es-ddes (cis)-b-c-h, ist „aus dem systematisch zusammengefassten Tonmaterial“168 einer
enharmonisch-chromatischen Passage von Gesualdos ersten Responsorium der Feria VI
entstanden. Er transponiert und rotiert ein paar Akkorde von dieser Passage und macht eine
Akkordreihe, die einerseits an Gesualdo erinnert und andererseits weg von ihm geht: „Ich
möchte, wie schon im Zusammenhang mit Senfkorn ausgeführt, eine andere Erscheinung,
nicht eine Reminiszenz, sondern eine andere Dimension.“169 Ab und zu treten durch die
Lectioni die Dreiklänge am Ende eines Abschnittes hervor (Bsp. 34,).
Bsp. 34
Lectio prima T. 4
Diese Harmonien sind völlig unerwartet, sie haben keine Verbindung mit dem Material,
das sie umkreist. Nach solchen Momenten entwickelt sich das Material fern von Gesualdo,
167
Ebda., S. 101.
168
Zenck, Gesualdissimo, S. 96.
169
Huber / Mahnkopf, Das Werk, S. 102.
85
bis es wieder in einige Abschnitte - durch die unerwarteten Dreiklänge, Kontrapunktik
oder bestimmten Intervallfolgen - zurück zu Gesualdo kommt:
Dieses komplexe Verhältnis von Distanz und Nähe, die Trennung der Weltalter des Manierismus und der
Postmoderne und die unterschiedlichen Zugangsformen zu Gesualdo bis zur dichtesten Annäherung im
Gesualdissimo erzeugt erst zusammen die Trans-Epochalität, eine Nähe und Verwandtschaft nicht
kontinuierlich durch die Epochen hindurch, sondern übergreifend über sie hinweg. 170
Neben den Abschnitten gibt es auch die Melodie, die von einer in die andere Lectio
übergeht. In Lectio prima, wenn der erste hebräische Buchstabe vorkommt, singt Cantus
eine diatonische Phrase, die als ein Leitmotiv durch alle drei Lectioni, immer wenn ein
neuer Buchstabe erscheint, vortritt. Sie geht immer von einem anderen Ton aus, aber die
Intervallik wird beibehalten. Diese Melodie ist ein kurzer Ausschnitt von Tenorus vom
Anfang der gleiche Lectio (Bsp. 35)
Bsp. 35, Lectio prima, T. 3-4
Es handelt sich um die Phrase, die in punktierten Vierteln ausgesungen wird. Ihre
Struktur (gleichmäßiger Rhythmus, Diatonik, Bewegung in Sekunden und kleiner Umfang)
erinnert an das Soggetto In sidi antes mihi aus Gesualdos Responsoria Omnes amici mei
(Bsp. 36).
Bsp. 36, Omnes amici mei, In sidi antes mihi, T. 8-14
Der Prozess von Transformation und Rotation nutzt Huber auch an der Intervallik –
Ebene. Wenn man die Huber-Skizze zu Gesualdos Responsorien Omnes amici mei ansieht
170
Zenck, Gesualdissimo, S. 85.
86
(Bsp. 37), merkt man eine Linie, die er von Gesualdo übernommen und danach
transponiert hat.
Bsp. 37, Transformationen, S. 99
Es handelt sich um ein Motiv, welches aus zwei Intervallen - die große Sekund und das
kleine Terz - besteht. Dieses Motiv durchzieht sich durch alle fünf Sätze von Hubers
Lamentationes. Er hat das Motiv auf verschiedene Weise modifiziert und durch die
verschiedenen Möglichkeiten das Material erweitert (Bsp. 38)
In Prophetae tui von Lectio secunda entsteht zwischen der Stimmen ein Kanon „der mit
den Tönen c-h-as und seinen Transpositionen zwar eindeutig, aber auch verdeckt auf
Gesualdo [...] anspielt“.171 In diesem Kontext kommt er noch deutlicher zum Ausdruck, er
tritt als Kopfmotiv auf und wird im engen Raum noch dreimal wiederholt (Bsp. 83).
171
Zenck, Gesualdissimo, S. 97.
87
Bsp. 38, Lectio secunda, T. 46-48
Die Form des Imitationsverfahrens, das in Hubers Lamentationes am häufigsten auftritt,
kann man in zwei Gruppen teilen:
1) strenge Imitation
a) Imitation als Verdoppelung; die Intervalle und Tonhöhen bleiben
unverändert (Bsp. 39)
b) Transposition (Bsp. 39)
88
Bsp. 39
a) Exaudi vocem meam, T. 16
b) Lectio secunda, T. 55
2)
variierte Imitation - Manchmal rotiert Huber die Tonhöhen oder Intervalle in der
Imitation einer Figur, sie treten umgekehrt ein (Bsp. 40), manchmal ändert sich nur ein
Ton, Bewegungsrichtung oder Intervall. Es gibt auch die Phrasen, wo nur die
Rhythmusfiguren behalten werden und die Intervalle werden modifiziert, man könnte es
als Rhythmus Kanon bezeichnen (Bsp. 41).
89
Bsp. 40, Exaudi, T.13
Bsp. 41, Lectio Secunda, T.24
Ein weiterer Aspekt der Musik Gesualdos ist die Enharmonik.
Bei der Interpretation der enharmonischen Töne müssen die Sänger darauf achten, dass
sie sie korrekt absingen. Die Anweisung dafür schreibt Huber gleich auf der ersten Seite
von Exaudi vocem meam (NB: tons le ь plus haut que les #). Das wird deutlich an den
Stellen, wo nebeneinander z. B. fes und e steht (Bsp. 42) oder bei Imitationen, wo ein Ton
enharmonisch verändert wird (Bsp. 42)Exaudi, T. 5 und 16, L. Prima T. 43 Quintus). Bei
solchen Momenten ist klar, dass Huber diese Differenzierung ganz wichtig ist.
90
Bsp. 42
Lectio secunda, T. 15
Exaudi vocem meam, T. 5
In Lamentationes integriert Huber auch einige Elemente der arabischen Musiktradition.
Der arabischen Bechertrommel Darabuka und der Rahmentrommel Mazhar werden in der
Lectio secunda bzw. Lectio tertia ein ganzer Abschnitt gewidmet. Einer der Sänger spielt
auf der Trommel das bestimmte Wazn, das sich gegen das Metrum verschiebt. Analog mit
Rhythmusverschiebung ändert sich in Stimmen die Achtelgruppierung; fast von Takt zu
Takt ändert sich das Metrum.
Die Verzierungen, die in Stimmen im Abschnitt Détourne toi vorkommen, erinnern an
die arabischen Arabesken. Sie variieren zwischen einfachen bis zu ganz virtuosen
Modellen (siehe Bsp. Altus und Quintus).
Die Basis für Lectio tertia ist die Dritteltönigkeit, die sowohl Stimmen als auch
Instrumente umfasst. Wegen der Intonations- bzw. Interpretationsschwierigkeiten spielt
hier anstatt Theorbe die dritteltönige Gitarre. Die Dritteltöne werden mit Diatonik,
Chromatik und Enharmonik kombiniert.
91
4. Zusammenfassung
Die Rezeption von Gesualdos Musik ist bei Sciarrino und Huber unterschiedlich
akzentuiert. In dieser Arbeit versuchte ich diese beiden verschiedene Zugänge zur
Tradition anhand von Sciarrinos 12 Madrigali und Hubers Lamentationes sacrae et
profanae ad responsoria iesualdi im Detail darzustellen. Sciarrino nähert sich vor allem
über einen Wechsel kontrastierender Satztechniken (homophone vs. kontrapunktische
Texturen) sowie über eine affektbetonte Textausdeutung an Gesualdo an, wobei er selbst
jeglichen Bezug auf die Tradition dementiert. Die Analyse hat gezeigt, auf welche Weise
die Elemente, aus welchen Sciarrinos Madrigale aufgebaut sind, in bestimmten Kontexten
die Ästhetik der Madrigale der Renaissance erzeugen. Das ist besonders bei der Änderung
der Satzdichte, die den Austausch von homophonen und kontrapunktischen Passagen der
historischen Madrigale „nachahmen“, zu sehen.
Auf der anderen Seite steht Hubers emphatischer Bezug auf Gesualdos Musik und
Kompositionstechniken, die so weit geht, dass Huber einige Stellen in seinem Werk als
„Gesualdissimo“ bezeichnet. Er knüpft dabei direkt an die Harmonik bzw. harmonischen
Wendungen Gesualdos an. Das belegen Hubers zahlreichen analytischen und historischen
Studien zu Gesualdo sowie die Intervallik und Harmonik, die Huber von Gesualdo
übernommen hat. Außer dem letzten Satz von Lamentationes; Benedictus verwendet Huber
konsequent durch die Einleitung und die drei Lectiones die Elemente der Musik Gesualdos.
Da er die Intervalle ständig modifiziert, kann man sie nicht so gut wie die Harmonik bzw.
die harmonischen Passagen mit Gesualdo verbinden. Huber pendelt ständig zwischen zwei
Polen: ein Pol ist sein persönlicher Stil und der Andere ist Gesualdo.
Auf Grundlage der beiden Werke kann man gut beobachten, wie Elemente der Tradition in
einem anderen Kontext sich klanglich nicht zwangsläufig als „Abweichung“ oder gar
„Fremdkörper“ manifestieren müssen. Ein anderer Blick auf die Vergangenheit; befreit
von Vorurteilen, dass man von der Tradition nicht mehr viel nutzen kann, eröffnet
zahlreiche Möglichkeiten für die Komponisten. Sie geben der alten Musik; durch ihre
Integration in eigenen Werken, eine völlig neue Bedeutung.
92
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