picture-alliance/dpa/Nabil Mounzer Nach der Veröffentlichung von einem Dutzend Karikaturen des muslimischen Propheten Mohammed in einer dänischen Zeitung sowie wenig später auch in französischen, deutschen und anderen Printmedien im Jahre 2005 kam es in einigen islamisch geprägten Ländern zu gewalttätigen Demonstrationen. Westliche Botschaften – im Bild der Brand des dänischen Konsulats am 5. Februar 2006 in Beirut – wurden attackiert, Menschen kamen zu Schaden. Im September 2006 ermittelte die deutsche Polizei zwei libanesische junge Männer, die erfolglos versucht hatten, Bomben in zwei Regionalzügen zu zünden. Als ein Motiv gaben sie ihre Wut auf die Zeichnungen des Propheten an. Sie seien beleidigend, ja Teil eines weltweiten »Kreuzzuges« gegen den Islam, und sie als Muslime sähen sich in der Pflicht, dagegen vorzugehen. Im September 2007 schließlich verhinderten Sicherheitskräfte in Nordrhein-Westfalen den geplanten Terroranschlag dreier in Deutschland aufgewachsener Männer zwischen 19 und 28 Jahren – zwei von ihnen zum Islam konvertierte Deutsche –, die mit der Gruppe »Islamische Dschihad Union« in Verbindung standen. Will man den »Karikaturenstreit« und die Gewaltbereitschaft der Islamisten verstehen, muss man wissen, welch zentrale Bedeutung der Verehrung Mohammeds im Islam zukommt. Religiöse Texte und religiöse Gewalt in der islamischen Welt Die Kommentatoren der Presse und aus der Wissenscha� nannten zahlreiche Gründe für die Gewaltakte im Rahmen des sogenannten Karikaturenstreits vom Frühjahr 2006: Im Wesentlichen würden sie aus einem Gefühl der politischen und militärischen Erniedrigung des Islams durch »den Westen« resultieren, sagten manche. Hinzu komme die soziale Ausgrenzung von Muslimen in Europa, die Perspektivlosigkeit in islamischen Ländern und eine Vielzahl weiterer sozialer sowie sozial-psychischer Motive. Einige Journalisten gingen sogar so weit zu behaupten, dass religiöse Motive beim Karikaturenstreit gar keine Rolle spielten. Manche Muslime erklärten, die gewal�ätigen Reaktionen verstießen gegen die Gebote des Islams, weil er Gewalt ablehne. Eine verwirrende Vielzahl von Deutungen entfaltete sich. Eine Analyse der Ursache religiöser Gewalt im Karikaturenstreit bliebe unvollständig, berücksichtigte man nicht auch die zahlreichen religiösen Überzeugungen des Islams. Deren Geschichte reicht o� weit zurück. Es ist vor allem wichtig, die unterschiedlichen Zugangsweisen zu den religiösen Basistexten zu kennen, ebenso deren Interpretation durch Gelehrte und Intellektuelle sowie ihre Vermi�lung an die Masse der Gläubigen. Mohammed als Sti�er des Islams Dass Mohammed nicht nur Prophet und Übermi�ler der letzten gö�lichen Offenbarung ist, sondern auch als Mensch Vorbildcharakter für das Verhalten der Gläubigen hat, werden die meisten Muslime, jedenfalls die bekennenden, nicht infrage stellen. Das Bild, das sich Muslime von Mohammed machen, ist allerdings nicht einheitlich. Es hängt in hohem Maße davon ab, woher ihre Informationen über den Propheten stammen. Sicher kennen nicht sehr viele Muslime die überaus umfangreichen, seit dem 8. Jahrhundert entstandenen Lebensgeschichten Mohammeds, die auf arabisch »Sira« heißen, und die vielen Überlieferungen (Hadith) über seine Lebenspraxis (Sunna), sein Verhalten in be229 II. Strukturen und Lebenswelten stimmten Situationen sowie seine Aussprüche. Sira und Hadith, im Original arabisch und nach dem Koran die zweite Textbasis des Islams, werden vielmehr meist in bearbeiteter Form zur Kenntnis genommen – aus Schulbüchern, Predigten und zunehmend aus Internetforen. Einige übereinstimmende Bestandteile im Leben des Propheten lassen sich aber doch hervorheben: Mohammed hat seine Jugend in Mekka als geachtetes Mitglied im Stamm der arabischen Koreischiten (arab. Quraish) verbracht. Dann aber überwarf er sich mit den Führern der Koreischiten, als er behauptete, gö�liche Offenbarungen empfangen zu haben, die die Gö�er des Stammes, viele seiner Traditionen und Gesetze ablehnten und zur Unterwerfung (arab. Islâm) unter den einzigen Go� Allah aufriefen. Obwohl sich einige Einwohner Mekkas Mohammed anschlossen und er versuchte, andere zu überzeugen, kam es schließlich zur Auswanderung (Hidschra) der Muslime in die nicht weit entfernte Stadt Medina. Dort erkannten die meisten Bewohner Mohammed als Propheten und als Führer eines muslimischen Gemeinwesens an. Wenige Monate nach der Ankun� Mohammeds begannen die Muslime von Medina Expeditionen gegen verschiedene Stämme in Arabien, darunter auch die Koreischiten in Mekka. Nach zahlreichen Kämpfen mit wechselha�em Erfolg kapitulierte Mekka schließlich. Mohammed konnte zurückkehren, dieses Mal als unbestri�ene Autorität, der bald die anderen Stämme Arabiens folgten. Er starb laut Überlieferung kurz danach im Jahre 632. Die Frage ist nun, wie diese Geschichte, hier in sehr vereinfachter Form erzählt, von Muslimen gedeutet wird und welche Konsequenzen das für ihr Handeln hat. Eine Möglichkeit ist, dass Muslime sich auch heute aufgerufen sehen, gegen Ungläubige zu kämpfen, so wie einst Mohammed gegen die heidnischen Koreischiten. Andere Muslime wollen dem Verhalten Mohammeds in Mekka folgen, wo er als Prediger versucht habe, mit Argumenten für den Islam zu werben. Manche machen auch geltend, die damalige Situation lasse sich überhaupt nicht direkt auf heutige Zeiten übertragen. 230 Religiöse Texte und religiöse Gewalt 231 II. Strukturen und Lebenswelten Lesarten des Korans picture-alliance/dpa/Lehtikuva Sari Gustafsson Ähnlich unterschiedlich sind die Interpretationen des Korans (arab. für »Rezitation«), für Muslime das Wort Go�es, das Mohammed über mehr als zehn Jahre hinweg in Arabisch offenbart hat und das etliche Jahre nach seinem Tod niedergeschrieben wurde. Gegliedert in 114 Suren, Kapitel von verschiedener Länge, Form und Inhalt, ist es ein Text, der muslimische Koranwissenscha�ler seit den islamischen Ursprüngen bis heute immer wieder neu beschä�igt. Über die Bedeutung vieler Stellen waren sie sich zu keiner Zeit einig; ebenso wenig darüber, welche Konsequenzen für das Handeln und Denken der Gläubigen daraus zu ziehen seien. So ist es auch nicht verwunderlich, dass unter heutigen Muslimen ganz unterschiedliche Interpretationen des Korans existieren. Die meisten Muslime, vor allem die, die kein Arabisch lesen können, haben nicht einmal einen direkten Zugang zur Offenbarung; Übersetzungen existieren zwar, gelten aber vielen als Verformung der gö�lichen Worte und werden selten genutzt. Über Umfang und Art der Korankenntnis entscheidet die Vermi�lung durch die Gelehrten. Neben den Basistexten des Korans, Hadith und Sira gründet muslimisches Denken und Handeln auf der auslegenden Literatur, etwa auf den Werken von Juristen und Theologen, um nur zwei Zweige islamischer Wissenscha�en zu nennen. Es sind vor allem die Juristen, die als Deuter der Scharia, der gö�lichen Normen, praxisgerechte Regeln für ein richtiges muslimisches Leben formulieren wollen, die teilweise aus dem Koran und der Pro- Muslime beim Koranstudium 232 Religiöse Texte und religiöse Gewalt Der Dschihad Der Dschihad (arab. jihad, wörtlich aus dem Arabischen: sich bemühen) zählt nicht zu den fünf klassischen Säulen des Islams (Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten, Almosen, Pilgerfahrt), doch misst ihm diese Weltreligion erhebliche Bedeutung zu. Die klassische juristischmoralische Lehre des Islams unterscheidet zwei Formen des Dschihad. Der »große Dschihad« meint das Streben, die eigenen Schwächen und Laster zu überwinden, ein go�gefälliges leben zu führen und den islamischen Glauben durch Wort und vorbildha�es Verhalten zu verbreiten. Der »kleine Dschihad« verlangt von den Gläubigen das Gebiet des Islams zu verteidigen und auszudehnen, wenn nicht anders, dann auch durch Gewaltanwendung innerhalb der von den muslimischen Juristen gesetzten Grenzen. Ein Koranvers, der o� als Grundlage der kriegerischen Form des Dschihad herangezogen wird, lautet: »Kämp� gegen diejenigen, die nicht an Allah und an den Jüngsten Tag glauben, und die das nicht für verboten erklären, was Allah und Sein Gesandter für verboten erklärt haben, und die nicht dem wahren Glauben folgen – von denen, die die Schri� erhalten haben, bis sie eigenhändig den Tribut in voller Unterwerfung entrichten.« (Sure 9, 29) phetenüberlieferung abgeleitet sind, teilweise aber auch aus eigenen Interpretationen. Eine einheitliche Meinung gibt es nicht. Vielmehr existieren mehrere Rechtsschulen oder Tendenzen der Jurisprudenz mit o� großen Unterschieden im sunnitischen und schiitischen Islam. Sunniten und Schiiten sind die beiden größten Konfessionen der Muslime, wobei die Schiiten etwa 15 Prozent ausmachen (vgl. den Infokasten auf S. 231). Einer der zahlreichen Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten besteht darin, dass die Schiiten ihren hochrangigen Gelehrten, etwa denen auf der Stufe des »Ayatollah« (= Zeichen Go�es), in gewissem Maße freie Auslegung der Basistexte zubilligen, während die Sunniten im Allgemeinen die ausschließliche Autorität klassischer Rechtswerke betonen. In beiden Richtungen aber war islamische Jurisprudenz nie unveränderlich; immer gaben etwa Rechtsgutachter (Mu�is) ihre Meinung zu neuen Rechtsfragen ab und betrieben damit eine Art von Rechtsfortbildung. Eine tiefgehende Änderung der staatlichen Rechtspra233 II. Strukturen und Lebenswelten xis fand in der Kolonialzeit im 19. und 20. Jahrhundert sta�, als große Teile islamischen Rechts durch europäisches Recht ersetzt und islamische Normen etwa für Personenstandsfragen, Ehe, Scheidung und Erbscha� reformiert wurden. Islamisches Recht in der Gegenwart Staatliches Rechtswesen in islamischen Ländern ist heute eine Mischung aus islamischen und westlichen Elementen, was von manchen Muslimen kritisiert wird. Rufe zur »Re-Islamisierung« und »Wiedereinführung der Scharia« sind zwar schon früher, aber besonders massiv im 20. Jahrhundert laut geworden. Vorreiter dieser Bewegung waren sowohl einzelne Gelehrte als auch islamische Gruppen wie die ägyptische Muslimbruderscha�, gegründet 1928 durch Hassan al-Banna im ägyptischen Ismailiya – ihrerseits wiederum Ursprung vieler weiterer, darunter auch militanter Organisationen. Deba�en um die heutige Gültigkeit der Scharia drehen sich o� um Fragen des islamischen Strafrechts, das nur in einigen islamischen Ländern angewandt wird. Sie betreffen korrekte Wirtscha�sformen, aber auch religiöse Gewalt. Die traditionellen, grundlegenden Rechtswerke enthalten Kapitel über den »Dschihad«, verstanden als bewaffneter Kampf zur Ausdehnung und Verteidigung des islamischen Herrscha�sbereichs. Sie formulieren eine Art islamisches Kriegs- und Völkerrecht. Dschihad wird dabei als Pflicht für Muslime beschrieben – im Verteidigungsfall sogar für jeden einzelnen –, darf allerdings nicht willkürlich geführt werden. So gibt es Regelungen, dass Nichtkämpfer nicht angegriffen werden dürfen oder ein Waffenstillstand nur auf begrenzte Zeit geschlossen werden darf und vieles mehr. Da heutige muslimisch geprägte Staaten meist die Regeln des modernen internationalen Völkerrechts anerkannt haben, ist für sie allerdings das Dschihad-Recht außer Kra� gesetzt. Gruppen, die für »Re-Islamisierung« oder die »Verteidigung des Islams« kämpfen, sehen sich jedoch nicht an diese internationalen Übereinkün�e gebunden. Wenn etwa junge Muslime in Deutschland sich entschließen, eine Bombe zu werfen, weil sie den Islam gegen Angriffe der »Kreuzfahrer« (USA, »der Wes234 Religiöse Texte und religiöse Gewalt ten«, »die Zionisten«) schützen wollen, werden sie, auch wenn sie keine Gelehrten sind, auf Grund des Dschihad-Rechts darüber nachdenken, ob das erlaubt oder gar geboten ist. Sie mögen sich Anregungen bei Predigern, Mu�is oder auch in Internetforen holen, die sich mit islamischem Rechtsdenken befassen. Rechtlich-moralische Erwägungen stellen auch jene Muslime an, denen solche militanten Akte als völlig unangebracht erscheinen und welche diese nicht als Dschihad, sondern als Verbrechen ansehen. Ausgangspunkt für eine solche Bewertung ist die Ablehnung der These, die Muslime befänden sich im Krieg. Viele Muslime leben selbstverständlich und friedlich in den »verwestlichten« Rechtsordnungen islamischer Länder oder in nicht-islamischen Staaten. Selbst wenn sie sehr fromm sind und sich an die Grundpflichten der Gläubigen halten (Gebet, Fasten im Ramadan, mindestens einmal im Leben die Pilgerfahrt nach Mekka und die Almosenspende), heißt das nicht zwangsläufig, dass solche Muslime eine islamische Staatsordnung wollen. Militante Muslime haben allerdings wirksame Argumente, wenn sie sich auf die Gemeinde ihrer ersten Glaubensbrüder in Medina berufen, wo Glaube und Staat nicht getrennt gewesen seien. Um Gewaltanwendung zu rechtfertigen, verweisen sie auch auf besonders militante Suren des Korans. Dazu zählen Sure 8 und 9, die Mohammed A�a, einer der A�entäter des 11. September 2001, in seinem Testament angehenden »Glaubenskämpfern« zur moralischen Stärkung empfahl. Zu fragen ist, ob solche militanten Botscha�en hinkün�ig an Mobilisierungskra� gewinnen oder verlieren werden. Derzeit lassen innermuslimische Deba�en zur Frage der Legitimität religiöser Gewalt kaum einen sicheren Schluss zu. Neuere Ansätze der Koraninterpretation wollen militante Aussagen relativieren. Manche muslimische Intellektuelle streben dabei nach einer »islamischen Au�lärung«, welche die Bindungskra� religiös abgeleiteter Normen verringern oder gar au�eben soll. Schwierig ist die Deba�e, weil die Au�lärer von den Exponenten der Islamisierung o� als Feinde des Islams bezeichnet und bedroht werden. Ralf Elger 235